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Inhaltsverzeichnis

Magazin

3 Editorial 4 Inhaltsverzeichnis

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6Meine Grosseltern

Die ehemalige Skirennfahrerin Dominique Gisin über ihre Grosseltern.

9Juli meint

Unsere Kolumnistin über Lust und Frust mit dem Handy.

14 Philosophieren mit Kindern

Die grossen Fragen.

16 Freiwilliges Engagement

Margot Bryner engagiert sich als Moderatorin bei der Sendung «Seniorama» beim Radio Stadtfilter.

20 Kolumne: Meine Kinder, meine Enkel

22 Anderswo: Kenia

Die Maasai Nesurai hat eine enge Beziehung zu ihren Enkeln und Urenkeln. Es sind insgesamt 74.

30 Kolumne: Grossmütterrevolution

Glückliche Ferientage

aus dem Leben einer 14-Jährigen

Hintergrund Service

26 Inwiefern sind Grosseltern für Heimkinder wichtig?

Interview mit Sergio Devecchi (75), der in Kinderheimen aufwuchs und später Heimleiter wurde.

32 Auf der Flucht

Grossmutter, Tochter und Enkelinnen fliehen vor dem Krieg in der Ukraine. Unser Autor hat sie begleitet.

38 Mit Anhang

Mit dem Velo von A nach B – mit dabei: Die Enkel. Wir stellen Velo-Anhänger und -sitzli vor. Plus Sicherheitstipps.

40 Kleine Baumeister

Baustellen-Spielplätze sind ein wahrgewordener Kindertraum. Augenschein auf dem Bauplatz in St. Gallen.

48 Ist doch nicht wahr!

Was gehört zur Entwicklung, was geht zu weit? Kinderlügen erfordern von Eltern und Grosseltern Fingerspitzengefühl und viel Vertrauen.

DOSSIER

56 Aus der Praxis

56 Hausarzt Edy Riesen 58 Hebamme Carole Lüscher 59 Psychologin Dagmar Schifferli

60 Unterwegs

60 Nachterlebnisse 62 Wanderung und Hotel 63 Kulturtipps 64 Museumstesterin

65 Kaufen, Spielen

65 Einkaufstipps mit Stil 66 Spiele zum Thema Konstruieren

68 Stricken und Basteln

68 Muttertagstöpfli 70 Strickaffe

72 Experimentieren

72 Löwenzahn

75 Backen

75 Gewürznüsse

76 Lesen

76 Bilderbücher zum Thema Krieg 77 Buchtipps im Mai/Juni

82 Das Schlusswort

Von François Höpflinger

67 Wettbewerb 78 Rätsel 80 Kurs: Biografie 81 Impressum / Vorschau

Die Grosseltern väterlicherseits leben nicht mehr, aber ich habe glücklicherweise viele Erinnerungen an sie. Meine Familie wohnte im Engadin und sie im Kanton Aargau. Im Frühling und Sommer verbrachten mein Bruder Marc und ich immer je eine Woche bei ihnen. Frühling war auch die Zeit der grossen Familienfeste, weil meine Grossmutter im Mai Geburtstag feierte. Dann kamen alle Geschwister meines Vaters, die Cousins und Cousinen zusammen im riesigen Garten. Der Garten war für uns Kinder ein Paradies. Nicht nur für uns, auch für die Grossen waren diese Zusammenkünfte jedes Mal ein Heimkommen. Ein weiteres jährliches Highlight war die gemeinsame Kirschenernte. Grossvater unternahm mit uns Kindern die klassischen Schweizerreisen: mit dem Dampfschiff zur Tellsplatte, Besuche im Nationalmuseum. Meine Grossmutter mütterlicherseits, Omi, ist mein letzter verbleibender Grosselternteil. Wir telefonieren oft und ich besuche sie, wenn ich bei ihr in der Nähe bin. Gerade kürzlich habe ich spontan mit zwei Pizzen unter dem Arm bei ihr geklingelt. Sie und mein Opa waren beide angefressene Skifahrer. Sie hatten eine Ferienwohnung in Andermatt und jeden Winter verbrachten wir eine Woche bei ihnen zum Skifahren. Die erste Bahn am Morgen war heilig! Das Skifahren beigebacht haben uns unsere Eltern, aber die Leidenschaft meiner Grosseltern hat sicher das ihre dazugetan. Skifahren war für Opa das

Grösste. Er kannte keinen SchlechtwetSkifahren war für tertag, es ging rauf und runter, den ganzen Tag. Ich war abends immer total k.o., Opa das Grösste. und das auch noch, als ich mit 13 oder 14 Jahren bereits in einem Kader trainierte. Omi und Opa haben meine Erfolge im Skisport miterlebt. Sie waren auch bei meiner ersten SkiWM 2007 in Are dabei. Während der langen Jahre meiner schlimmen Verletzungen wurden die beiden zu einer Art Gasteltern, weil sie unmittelbar neben der RehaKlinik wohnten. Sie versuchten nie, mir den Skisport auszureden, was ja rückblickend schon krass ist, weil sie miterlebten, wie schlecht es mir teilweise ging, welche Zweifel ich hatte. Wenn ich nachmittags aus der Reha kam, warteten sie mit Kaffee und Kuchen auf mich und hörten mir zu, und am nächsten Tag begleitete Opa mich wieder in die Klinik. Er starb 2014 während des WeltcupFinals. Meine Eltern wollten eigentlich zum Rennen kommen. Sie riefen dann an, dass Opa gestorben sei. Ich musste mich entscheiden, ob ich fahren wollte oder nicht. Aber er hätte sicher gewollt, dass ich das Rennen fahre, also habe ich das dann auch getan. Meine Grosseltern führten, soweit ich das beurteilen kann, immer eine entspannte Beziehung, aber es war schon eindrücklich, wie die beiden in der Zeit vor seinem Tod nochmals näher zusammengefunden haben, wie zärtlich sie miteinander gewesen sind bis zum Schluss. Das zu beobachten war traurig und schön zugleich. •

DOMINIQUE GISIN (36) ist ehemalige Skirennfahrerin und Olympiasiegerin. 2014 gewann sie an den Olympischen Spielen in Sotschi Gold in der Abfahrt. Im Februar hat sie ihren Master in Astrophysik an der ETH Zürich abgeschlossen. Daneben hält sie Motivationsreferate und engagiert sich für die Schweizer Sporthilfe. dominiquegisin.ch

Foto: zVg

~ Juli meint ~

LUST UND FRUST MIT DEM HANDY

FÜR VIELE JUNGE MENSCHEN SPIELT DAS HANDY EINE NOCH ZENTRALERE ROLLE IM TÄGLICHEN LEBEN, ALS DIES FÜR DIE ÄLTERE GENERATION DER FALL IST. UNSERE KOLUMNISTIN IST DANKBAR FÜR DESSEN ERFINDUNG, OBWOHL ES IHR IMMER WIEDER VIEL ZU VIEL ZEIT RAUBT.

aus dem Leben einer 14-Jährigen Meine Meinung über das Handy ist gemischt. Ich halte es für nützlich, bereichernd und unterhaltsam, aber manchmal erscheint es mir auch nur störend und zeitraubend. Das Smartphone hat durchaus seine guten Seiten. Den meisten Leuten erleichtert es den Alltag in vielen Bereichen. Es dient als Merkhilfe, Kalender, Telefon, Kamera, Ticketautomat, Radio, Landkarte, Fitnesscoach – die Möglichkeiten sind unendlich. Mir persönlich gefällt es, dass ich damit jederzeit Musik hören, ein Foto machen, jemanden anrufen oder in Notfällen bezahlen kann. Auf Apps wie Instagram, TikTok oder Snapchat sind vor allem Jugendliche aktiv. Es gilt als Standard, ein Profil auf mindestens einer dieser Plattformen zu haben. Diese Apps geben einem die Möglichkeit, sich online zu präsentieren, und zwar so, wie man auf andere Leute wirken will. Das ist meiner Meinung nach einerseits eine gute Sache. Es hilft einem, herauszufinden, wer man sein will und wie man gesehen werden will. Andererseits kann das auch ernsthafte Probleme auslösen. Es sind nämlich auch Leute darauf tätig, die sehr viel von ihrem Leben zeigen. Das sind sogenannte Influencer. Dadurch, dass diese aber häufig nur die besten, interessantesten Seiten ihres Lebens preisgeben, beginnt man schnell einmal am eigenen Lebensstil zu zweifeln. Dies sorgt häufig auch für Komplexe über das Aussehen oder den Körper. Man kann Filter benutzen, die Pickel oder andere Makel verschwinden lassen. Folgendes bemerke ich häufig bei mir selbst: Wenn mir langweilig ist, greife ich schnell einmal zum Handy, lege mich aufs Bett und merke gar nicht, wie schnell die Zeit vergeht, in der ich produktiv oder kreativ hätte sein können. Mein Vater sagt immer, dass in der Langeweile die besten Ideen entstehen. Aber weil man immer ein Handy zur Hand hat, das einen unterhält, verschwindet die Langeweile mehr und mehr. Oft bin ich dann unzufrieden, weil ich nichts erledigt habe und nur auf dem Bett rumgehangen bin. Das Handy hat also seine guten und schlechten Seiten. Ich bin sehr dankbar für all die Möglichkeiten, die es bietet. Aber manchmal denke ich, dass vieles auch einfacher wäre, wenn es nie erfunden worden wäre. •

Juli ist Schülerin an der Bezirksschule Baden (AG).

Vorlese

Tag

Am 18. Mai ist Schweizer Vorlesetag. Das Grosseltern-Magazin macht wieder mit. Kommen Sie mit Ihren Enkelkindern und Kindern, hören Sie zu und tauchen Sie ein in die Geschichten. Es lesen, singen und fabulieren verschiedene Vorleserinnen und Vorleser um 14 Uhr, um 15 Uhr und um 16 Uhr. Bei schönem Wetter stellen wir das Lese-Sofa vor unsere Redaktions-Türe in die Gasse. Bei schlechtem Wetter sind wir drinnen. Wer sich einen Platz reservieren will, kann das tun, per Mail an verlag@grosseltern-magazin.ch. Wir freuen uns auf viele lauschende Kinderohren. Der Schweizer Vorlesetag ist eine nationale Leseförderungskampagne des Schweizerischen Instituts für Kinder- und Jugendmedien SIKJM in Kooperation mit 20 Minuten, welche die Wichtigkeit des Vorlesens ins Zentrum stellt. Am Vorlesetag 2021 fanden in der Deutschschweiz über 150 öffentliche Vorleseveranstaltungen statt: in Schulen, Bibliotheken, Spielgruppen, Quartier- und Familienzentren, in Cafés, Buchhandlungen und Museen. Auch dieses Jahr wird an zahlreichen Orten gelesen – unter anderem beim Grosseltern-Magazin. Alle Vorlese-Veranstaltungen vom 18. Mai auf schweizervorlesetag.ch. ~CAP

EIN FILM VON JOHANNES SCHMID NACH DEN BÜCHERN VON CHRISTINE NÖSTLINGER

MIT JOSSI JANTSCHITSCH NORA REIDINGER LEO WACHA URSULA STRAUSS SIMON SCHWARZ

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JETZT IM KINO

SONGS MARCO WANDA

~ Getestet ~

DAS KLINGT GUT

Ein neues Audioprodukt für Kinder ist da – und wir haben es getestet: Die Kekz-Kopfhörer funktionieren unabhängig vom Handy oder Tablet der Grosseltern – und damit auch ohne Bildschirm, ohne Internet und ohne Kabel. Alle verfügbaren Audioinhalte sind bereits auf dem Kopfhörer vorinstalliert. Erst durch die Verbindung mit einem Audiochip werden die Musikalben und Hörbücher freigeschaltet. Den magnetischen Audiochip seitlich in den Kekzhörer klicken und los geht’s. UNSER FAZIT: toll, weil so simpel. Die Kopfhörer sind einfach zu bedienen, aufzuladen, mitzunehmen, abzuschalten. Die Lautstärke kann maximal auf die von Kinderärzten empfohlene Stufe eingestellt werden.

Foto: Privat

Die Chips sind klein und leicht. Das testende Kind (6) ist begeistert. Zwei Schönheitsfehler: Es gibt keinen Pausenknopf. Bei Unterbrüchen muss zuerst wieder an die entsprechende Stelle gespult werde. Und: Die Hörer sind an die Audiochips gekoppelt. Andere Musik oder Hörbücher abzuspielen, ist nicht möglich. Die Kekz-Kopfhörer eignen sich prima für Reisen, für die Mittagspause auf dem Balkon und natürlich für die Aufenthalte bei den Grosseltern. ~CAP

store.kekz.com Kekz-Starterset, ca. 79 Franken, u. a. bei books.ch

~ Kinderkunst ~

ENKELS PERSPEKTIVE

Erstklässlerin Julia hat Oma und Opa anlässlich deren 40. Hochzeitstag gezeichnet.

Beat Jossen per Mail

Wie hat Ihr Enkelkind Sie gezeichnet? redaktion@grosseltern-magazin.ch

~ Neu aufgelegt ~

COVERS

und ihre Geschichte

EMERSON, LAKE & PALMER – BRAIN SALAD SURGERY

Auf der Suche nach neuen Ideen für das Albumcover ihres vierten Studioalbums schlug Emerson, Lake & Palmers Schweizer Promoter Gustav Zumsteg den Künstler HR Giger vor. Als die britische Band dann im April 1973 im Rahmen ihrer Europatournee in Zürich weilte, besuchten Keith Emerson und Gustav Zumsteg nach einem Konzert den Künstler in seinem Haus. Keith Emerson war von der Arbeit so begeistert, dass er seine Bandkollegen Greg Lake und Carl Palmer überzeugte. Sie entschieden sich für die beiden Werke «Work 217» und «Work 218», die in etwa der tatsächlichen Grösse eines Vinylplattencovers entsprachen. Bis heute sind leider beide Originalgemälde unauffindbar. Vermutlich wurden sie nach dem Ende einer Ausstellung von HR Gigers Werken 2005 in Prag gestohlen. Auf der offiziellen Webseite von HR Giger ist ein Finderlohn von je 5000 Dollar ausgesetzt. ~JL

JEANNINE LAMPREU betreibt das Schallplattengeschäft «Recordroom» in Baden (AG). recordroom.ch

Geschenke mit persönlicher Gravur

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Ausführliche Infos zu den Gravuren finden Sie unter rhomberg.ch/gravuren

Zur Kollektion: QR-Code scannen oder unter schmuck.ch/p2pam

Aarau | Amriswil | Arbon | Bad Ragaz | Basel Bern | Brig | Buchs | Luzern | Lyss | Marbach | Mels Olten | Seewen | Solothurn | Stans | St. Gallen Sursee | Thun | Visp | Wil | Winterthur Würenlingen | Zug | Zürich | rhomberg.ch

ANREGEND, AUFREGEND, INTERESSANT UND EINE HERAUSFORDERUNG

Das ist es, mein Engagement beim Radio Stadtfilter Winterthur. Eine liebe Kollegin war freiwillige Mitarbeiterin in der Sendung «Seniorama», einer monatlich ausgestrahlten, einstündigen Magazinsendung. Sie machte mich mit ihrer Erzählung richtig «gluschtig», da mitzutun. Die Teilnahme an der monatlichen Redaktionssitzung war mein Einstieg ins Team. An der Redaktionssitzung werden die vergangene Sendung besprochen und die Beiträge für das nächste Magazin festgelegt. Mein Vorschlag, ein Interview mit der Leiterin meiner Tanzstunde «Everdance» von der Pro Senectute zu machen, wurde angenommen. Ein Kollege begleitete mich und führte das Interview. Ich sass staunend daneben und begriff, dass ich doch einiges lernen musste, um stotterfrei ins Mikrophon zu sprechen. Das nächste Magazin wurde mit dem Titel «Weisch no?» ausgestrahlt. Das fand ich herrlich und ich verfasste einen Beitrag über meine Ferien in der Kinder- und Jugendzeit bei meinem Onkel im Kino Capitol in Reiden und die Filme, die damals gezeigt wurden. Mich an diese Zeit zu erinnern, machte Spass, und alles in einem 3-Minuten-Beitrag zu formulieren, war eine Herausforderung. Jeweils am Samstag, eine Woche vor der Sonntagsausstrahlung der Sendung, treffen wir uns im Radiostudio. Damals sprach ich das erste Mal meinen

WER Margot Bryner (75) aus Winterthur, 2 Enkelkinder (12) WOFÜR Radio Stadtfilter, Winterthur, Seniorama Mein FREIWILLIGES ENGAGEMENT FUNKTION vorbereiteten Text ins Mikrofon. Eine technisch versierte Kollegin musste nachbessern und die vielen hörbaren Radiomoderatorin Atemzüge herausschneiden. Wenn ich nach dreieinhalb Jahren heute meine ersten Beiträge höre, dann habe ich doch echt Fortschritte gemacht. Am 16. Februar 2020 machte ich meine erste Magazinsendung alleine. Das war mit viel Arbeit und Lampenfieber verbunden. Es ist gar nicht einfach, mit Begrüssung, Beiträgen der Kolleg:innen, Musik, Zwischenmoderationen und Verabschiedung genau auf 60 Sendeminuten zu kommen. Damit das Timing stimmte, musste ich kürzen, neue Formulierungen erarbeiten … es war eine spannende und schwierige Aufgabe. Als dann aber die Sendung ausgestrahlt wurde, war das ein tolles Gefühl. Der zeitliche Aufwand ist je nach Beteiligung an der Sendung unterschiedlich und kann für einen Beitrag zwei bis drei Stunden, für die Aufnahme im Studio 30 Minuten bis zwei Stunden in Anspruch nehmen. Manchmal gehen wir auch noch Kaffee trinken. Die monatliche Redaktionssitzung ist Pflicht und die Weiterbildung, das Schuelreisli und die Plenumssitzungen machen pro Jahr drei bis vier Tage aus. Die Coronazeit war eine Herausforderung, weil wir die Sitzungen via Zoom machten und die Aufnahmen zu Hause erstellen und an die Moderator:innen im Studio senden mussten. Ich freue mich sehr, wenn wir wieder selbst ins Studio gehen können, weil es für mich authentischer ist. Wenn Sie Lust haben, hören Sie doch mal rein: Radio Stadtfilter Winterthur, Seniorama, jeweils am Sonntag um 13 Uhr, immer Mitte Monat oder zu anderen Zeiten im Podcast. Sogar meine beiden 12-jährigen Enkelsöhne haben sich schon mal den einen oder anderen Beitrag von mir «reingezogen». Jedenfalls hat den einen auch das Radiofieber gepackt. Er ist jetzt Kinderreporter beim Zambo-Bus von Radio SRF. Er geht mit dem Mikrofon so locker um, dass ich neidisch werde. • stadtfilter.ch

Für was engagieren Sie sich freiwillig? Wir freuen uns über Ihre Zuschrift. redaktion@grosseltern-magazin.ch

~ Aktuell ~

WIE HELFE ICH DEM PLANETEN?

Sind die Enkelkinder noch zu klein, um sich der Klimajugend anzuschliessen, aber alt genug, um zu verstehen, dass es fünf vor zwölf ist? Dann können Sie einen Anfang machen mit der Umsetzung der Ideen zur Müllreduktion im soeben erschienenen Buch «Kein Müll mehr». Geschrieben wurde das Buch von Kathryn Kellogg, einer der führenden Stimmen der Zero-Waste-Bewegung.

Aus: Kein Müll mehr! 30 Ideen, dieses Ziel zu erreichen. Kathryn Kellogg, Laurence King Verlag, 2021, 24 Franken, ab 10 Jahren

~ Bildarchiv ~ LUFT-

AUFNAHME

Diese Kleinstadt ist grösser als der Hauptort des Kantons, in dem sie liegt. Wegen ihrer zentralen Lage im Schweizer Mittelland ist sie beliebter Austragungsort für Kongresse und Tagungen. Interessant für Literaten: Hier findet man den Schweizer Schriftstellerweg. ~KD

Die Lösung finden Sie auf Seite 78. .

~ Kolumne ~ MEINE KINDER, MEINE ENKEL Geht's euch gut?

FABIAN BUCHER (39) ist Produzent beim Schweizer Fernsehen SRF. Er ist verheiratet und Vater von Jan, dreieinhalb, und Mara, fünf Jahre alt. Fabian arbeitet in einem Teilzeitpensum und hat so zwei Tage pro Woche, die er allein mit den Kindern ist. Er lebt mit seiner Familie in Zürich. HANNES BUCHER (69) hat bis zu seiner Pensionierung als Schulleiter gearbeitet. Er ist verheiratet und hat einen Sohn und zwei Töchter. Seine sieben Grosskinder sind zwischen dreieinhalb und neun Jahren alt. Er wohnt im Kanton Luzern und schreibt als freier Journalist.

Kürzlich musste Jan ins Spital. Nichts Grosses, auch nicht zum ersten Mal. Es ging um einen geplanten Eingriff an den Ohren mit einer kurzen Vollnarkose. Kleine Wehwehchen sind wir uns mittlerweile gewohnt: Kinder sind dutzendfach erkältet, immer mal wieder rumpelt der Magen, auch hohes Fieber bringt uns nicht mehr so schnell aus der Ruhe. Aber ein Besuch im Spital geht trotzdem unter die Haut. Ich habe Jan begleitet, weil ich selbst schon so oft auf dem OP-Schragen gelegen habe, dass mir die ganze Prozedur etwas weniger ausmacht als meiner Frau. Bloss: Sich selbst unter das Messer zu legen, ist das eine. Sein Kind auf den Armen zu halten, während die Vollnarkose eingeleitet wird, und dann den kleinen bewusstlosen Körper auf den Operationstisch zu legen, rauszulaufen und mit bangem Blick auf die Uhr zu warten, bis alles vorbei ist – das ist eine andere Liga. Und es ist ein Moment, der mich zutiefst demütig werden lässt: Unsere Kinder sind gesund. Wenn mal was nicht stimmt (zum Beispiel Jans Ohren), so können wir uns den Arzt oder die Ärztin aussuchen, welche:r den Eingriff durchführt. Trotzdem scheinen dann die Sorgen übergross. Wie muss es erst Eltern ergehen, die – wie jetzt aktuell wieder – tausendfach auf der Flucht sind? Die nicht wissen, wo sie sich und die Kinder in Sicherheit bringen sollen. Nicht ins nächstbeste Spital gehen können, wenn die Kleinen krank oder verletzt sind. Es geht uns unglaublich gut. Dafür bin ich dankbar. Erst recht, nachdem die bangen Minuten von Jans Operation vorbei sind, nachdem er aufwacht und morgens um neun fröhlich eine Schoggiglace verdrücken darf. • «Hallo zäme, hallo Fabian. Wie geht’s? Gut, schön! Alle gesund?!» Fast formelhaft erscheint es, wenn die Telefonanrufe an die erwachsenen Kinder, die eben jetzt selber Eltern sind, so eröffnet werden. Und trotzdem: ein Aufatmen, zumindest ein innerliches, gibt es, wenn die Antwort kommt: Ja, alle gesund, alle «zwäg». Schön! Wirklich schön. Die Gesundheit als schönstes, vielmehr noch, als wertvollstes Gut überhaupt. Diese ist auch nicht ernsthaft bedroht, wenn es bei einem Anruf aus Zürich etwa heisst: «Weisst du, Mara oder Jan sind ein wenig erkältet, haben e chli Fieber, eine schlechte Nacht gehabt.» Wegen Ohrenweh etwa, wie es gerade beim kleinen Jan häufig der Fall ist. Als Grosspapi gebe ich dann gerne den Hörer weiter an Grossmami. Sie ist da erfahrener. Sie kann das Geschilderte einordnen, weiss auch, wenn sie bestätigen soll: «Ja, geht doch vielleicht trotzdem zum Arzt und klärt es ab.» So weit, so fast alltäglich. Aber wenn bei der Frage «Wie geht's?» Sohn oder Schwiegertochter, Töchter oder Schwiegersöhne etwas zögern mit der Antwort, dann ahnt man als Grosseltern bereits: Nein, nicht alles ist gut. Da ist «etwas». Nun, es war bisher glücklicherweise trotzdem nie etwas ganz Schlimmes. Aber in jedem Fall ist da unbedingt das Grossmami gefragt. Sie reagiert überlegter, erschrickt natürlich auch, kann aber die eigenen und gerade auch die Emotionen des Sohnes, der Tochter besser auffangen. Und muss dann auch noch mich als Grosspapi beruhigen …

Wie kann ich helfen?

Die UBS hat mit UBS Helpetica eine Vermittlungsplattform lanciert, die gemeinnützige Projekte und freiwillige Helferinnen und Helfer zusammenbringt.

Generationen im Klassenzimmer: Geben Sie Ihre vielseitigen Lebenserfahrungen den Kindern weiter und lernen sie Neues dazu.

Gutes tun, tut gut. Und zwar nachweislich: Die Überzeugung, etwas Sinnvolles für die Gesellschaft zu leisten, scheint einen günstigen Einfluss auf die eigene Gesundheit zu haben. Die UBS hat mit UBS Helpetica eine Vermittlungsplattform lanciert, die gemeinnützige Projekte und freiwillige Helferinnen und Helfer zusammenbringt. Gesellschaftliches Engagement spielt eine tragende Rolle in der Schweiz. Die UBS will dieses Engagement weiter stärken und gleichzeitig einen aktiven Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung leisten. Auf UBS Helpetica haben gemeinnützige Organisationen die Möglichkeit, nachhaltige Freiwilligenprojekte in den Bereichen Umwelt, Soziales, Bildung und Unternehmertum auszuschreiben und Personen zu finden, die sich engagieren möchten. Interessierte Helferinnen und Helfer wiederum können Einsatzmöglichkeiten suchen und sich direkt auf UBS Helpetica für ein Projekt anmelden. Ausserdem können Privatpersonen eigene Projektideen für Freiwilligen-Engagements einreichen. Viele der Projekte richten sich auch an vitale und aktive Seniorinnen und Senioren. Unter anderem: Incluso Um die Chancengleichheit der Jugendlichen mit Migrationshintergrund auf dem Lehrstellenmarkt zu fördern, bringt incluso freiwillige Mentorinnen und Mentoren mit jungen Migrantinnen und Migranten zusammen. Es werden Tandems gebildet, die während einem Schuljahr zusammenarbeiten. Einsatz: 1 bis 2 Stunden pro Woche.

Generationen in Schulklasse Ältere Menschen besuchen im Rahmen des Angebots «Generationen im Klassenzimmer» regelmässig eine Schulklasse. Der Austausch zwischen verschiedenen Generationen fördert das gegenseitige Verständnis und bereichert den Alltag. Einsatz: 2 bis 4 Stunden pro Woche.

Natureinsatz im Neeracherried (Juni, Juli, Sept) Das Neeracherried bietet Lebensraum für viele Tiere und Pflanzen – darunter auch Bestände von landesweiter Bedeutung. Diese werden aber von eingeschleppten Pflanzen bedrängt. Mit dem Ausreissen der Neophyten samt Wurzeln leistet man einen wichtigen Beitrag zum Erhalt der Biodiversität. Einsatz: 1 Tag.

Mehr Informationen finden Sie unter ubs-helpetica.ch

Gutes tun tut gut.

Jetzt tatkräft ig mithelfen

Das Dorf der Maasai liegt am Rand des Hell’s Gate Nationalparks im Herzen von Kenia. Hier leben die Maasai in Nachbarschaft mit Büffeln, Zebras, Giraffen und manchmal sogar Löwen. Es ist später Nachmittag, als Joseph uns das Tor zum Gelände öffnet, auf dem er mit seiner Frau Mary, den fünf Kindern und seiner Mutter Nesurai zu Hause ist. Die schöne alte Maasai-Frau, die in ihrem Clan als Heilerin und Weise verehrt wird, begrüsst uns mit einem Kopfnicken. Ihre Enkelinnen und Enkel lächeln scheu. Sie neigen ihre Köpfe vor uns, auf die wir zur Begrüssung, wie es Brauch ist, die Hand legen. Wir werden ins Haus gebeten. Im Wohnzimmer läuft Maasai-TV, doch kaum jemand interessiert sich für die lokalen Tänze auf dem Bildschirm. Alle sind gespannt, was die weisse Journalistin aus Europa von Grossmutter und Enkeln erfahren möchte. Die zierliche alte Frau mit dem leuchtend roten Maasai-Tuch um die hageren Schultern und dem traditionellen bunten Perlenschmuck um Hals, Handgelenke und an den Ohren setzt sich in einen riesigen Polstersessel, in dem sie fast verschwindet. Sie wirkt fremd in diesem Wohnzimmer und lebt tatsächlich lieber in ihrer Lehmhütte neben dem Haus. Inzwischen kommt sie jedoch gerne in die Stube, um Maasai-TV zu schauen. Die Grosskinder gruppieren sich auf Sofa und Sesseln um Nesurai herum, deren Vorname eigentlich Sempewuan lautet. Der Kosename Nesurai bedeutet passenderweise Baum mit vielen Ästen und Blättern. Am liebsten nennen die Enkel sie aber Kokoo, Grossmutter. Purity, die Zweitälteste, übersetzt, was sie in der lokalen Maasai-Sprache Maa erzählt. Kokoo sitzt mal aufrecht und feierlich im Sessel, mal lehnt sie sich bequem zurück. Wenn sie mit leiser Stimme spricht, klimpern geheimnisvoll ihre grossen Ohrringe, als würden unsichtbare Wesen flüstern, kichern und mitdiskutieren. Ihre Rolle als Grossmutter sei wichtig, betont sie, die Beziehung zu Enkelinnen und En-

KENIA

Einwohner 50 Mio. Hauptstadt Nairobi Fläche 580 367km² Währung Kenia-Schilling Amtssprachen Swahili und Englisch Staatsform Republik Religion Über 80 Prozent der Bevölkerung sind Christen Sport Iten (nahe Kabarnet) ist bekannt für sein Höhentrainingszentrum. Itens Oberschule St. Patricks brachte viele WeltspitzenLangstreckenläuferinnen und -läufer hervor, wie etwa Ibrahim Hussein und Peter Rono. Wirtschaft Kenia lebt vom Kaffee- und TeeExport, von der Industrie (Maschinen- und Fahrzeugbau, Textil und Bekleidung, Ernährung und Genussmittel) und vom Tourismus. Kaffee Obwohl Kaffee eines der wichtigsten Exportprodukte ist, trinken Kenianer selber lieber Tee. Sie nennen ihn «Chai». Volksgruppen In Kenia gibt es mehr als 40 Volksgruppen, die über 50 verschiedene Sprachen und Dialekte sprechen. Maasai In Ostafrika leben vermutlich etwa eine halbe bis zu einer Million Maasai. Die Mehrzahl der Maasai lebt im Süden Kenias. Die Schreibweise variiert. Die besuchte Familie bevorzugt «Maasai». ~KD keln eng. Grossmütter seien die Quelle unendlich vieler Geschichten. Symbolischen Geschichten, aber auch realen, die von Generation zu Generation weitergegeben werden, um die Tradition aufrechtzuerhalten. Kann sich Nesurai an ihre Grosseltern erinnern? Die alte Frau lacht und entblösst ihre makellosen Zähne. «Natürlich! Auch sie erzählten uns Kindern Geschichten, abends in der Hütte am Feuer. Ich tue es heute genauso, einfach im Wohnzimmer den fünf Enkeln.» Gelegentlich besucht sie die anderen Grosskinder und erzählt auch ihnen Geschichten. Insgesamt hat Nesurai 74 Enkel und Urenkel. Sie kennt sie alle. Was erwartet Nesurai von ihren Enkelkindern? Auf Sofa und Sesseln wird diskutiert. «Respekt gegenüber Erwachsenen und Lehrpersonen», übersetzt Purity die Antwort der Grossmutter. «Dass sie hart arbeiten, demütig und bescheiden sind, einen guten Charakter haben und über Geschichten unsere Tradition weitergeben.» Was bedeutet Kokoo ihren Enkeln? Verlegenes Grinsen bei Gross und Klein. Purity antwortet schliesslich: «Meine Grossmutter ist eine weise Frau. Sie lehrt mich alles. Einerseits Alltägliches wie Kochen, Haushaltführung, Kindererziehung. Aber auch, Respekt vor Mutter und Vater zu haben. Und sie lehrt mich, weise zu sein.» Und umgekehrt, was bedeuten Kokoo ihre Enkelinnen und Enkel? Verlegenheit im Raum, dann wird angeregt diskutiert, das Maasai-Programm auf dem Bildschirm interessiert schon lange niemanden mehr. Purity fasst zusammen, was die Grossmutter erzählt. Die Enkelkinder seien ihr sehr wichtig. Sie kümmerten sich um sie, kauften für sie ein. Und sie bedeuteten ihr Glück. Ob das bei den eigenen Kindern auch so war, möchte ich wissen. Wieder angeregte Diskussion. Scheinbar hat sich diese Frage bisher noch keiner überlegt. «Ja», sagt sie schliesslich. «Es gibt einen Unterschied. Wenn Töchter heiraten, ziehen sie weg. Enkelinnen bleiben.» ~

Auch Nesurai hat einst geheiratet und ist aus ihrem Dorf weggezogen. Sie war damals sehr jung. Doch sie erinnert sich, als ob es gestern gewesen wäre. Die Mutter ihres Zukünftigen hatte sie als Braut ausgewählt, da war sie noch ein Kind. «Ich sah meinen künftigen Mann oft von fern und fürchtete mich sehr vor ihm. Er hatte schon Frauen und Kinder. Als der Hochzeitstag kam, weinte ich auf dem ganzen Weg zu seinem Dorf und bei der Trauung. Ich war nicht bereit für die Ehe.» Nesurai zog in die Hütte der Schwiegermutter, lernte die anderen Frauen ihres Mannes und deren Kinder kennen. Mit ihrem herzlichen, liebevollen Wesen und weil sie alle akzeptierte, wie sie waren, wurde sie von Gross und Klein geliebt. Sie brachte zehn Kinder zur Welt. Ob ich Nesurai nach ihrem Alter fragen darf? Sie strahlt, und auch Purity antwortet sichtlich stolz. «Kokoo ist etwa 120 Jahre alt! Ihre älteste Tochter, meine Tante, ist 80 und geht im Gegensatz zur Mutter schon am Stock!» Alte Menschen in Kenia wissen nicht, wann sie geboren sind, da es früher keine Geburtsdokumente gab. Ihr Alter wird nach Geschehnissen in Natur oder Geschichte berechnet. Als Nesurai klein war, gab es eine grosse Dürre und Hungersnot. Weil Kühe, Schafe und Ziegen verendeten, wilderten die Maasai Büffel und Giraffen. Und sie kochten getrocknete Kuhhäute weich, die ihnen als Matratzen dienten, um sie auszukauen. Jene Dürre wird auf das Jahr 1902 datiert. «Ich konnte gerade gehen», sagt die alte Frau, «war also etwa zwei Jahre alt». Kokoo erinnert sich gut an ihre Kindheit. Sie war eine ausgezeichnete Läuferin und wurde mit Botschaften zu anderen Leuten geschickt. Etwa, wenn diese sich treffen oder einander Nachrichten übermitteln wollten. Alle mochten sie. Sie war ein spezielles Mädchen, das sich auch für das Heilen mit Kräutern interessierte. Später führte ihre Schwiegermutter sie in die Heilkunst ein. Bis heute ist Nesurai eine gefragte Heilerin, die ihr Wissen auch gerne ihren Enkeln weitergibt. Da drängt sich eine Frage auf: Wie ist die alte Frau mit den feinen Fältchen und dem lebensfrohen Strahlen so jung und schön geblieben? Kennt sie dafür auch ein Kraut? Nesurai lacht verlegen wie ein junges Mädchen. Das Geheimnis, sagt sie, sei die Nahrung. Sie ernähre sich ausschliesslich von Pflanzen und einem Mix aus Milch und Blut. Blut von lebenden Kühen, roh oder gekocht. Dafür werde die Kuh am Hals geritzt, was ihr nicht schade. Was ist mit Pasta? Schokolade? «Nie im Leben! Ich brauche nicht viel», sagt die alte Maasai, die bestimmt kein Gramm Fett an sich hat. Die Maasai, das Volk der

Unsere Autorin im Gespräch mit Nesurai. Die Maasai «ist etwa 120 Jahre alt».

Halbnomaden, die mit ihren grossen Herden von Weideplatz zu Weideplatz zogen und teilweise heute noch ziehen, können tagelang ohne Essen sein. Es ist spät geworden, die alte Dame zeigt keine Spur von Müdigkeit. Sie ist es gewohnt, Geschichten zu erzählen. Warum sind sie in ihrer Kultur so wichtig? «Weil wir gute Menschen sein wollen auf diesem Planeten. Gut zu den Menschen und zur Natur. Vorbilder für die folgenden Generationen.» Wenn sie dereinst nicht mehr auf dieser Erde weilt, wird sie dann immer noch bei ihrer Familie sein? Diesmal kommt die Antwort postwendend: «Ja!», sagt sie, und ihre Ohrringe flüstern aufgeregt. «Von der geistigen Welt aus werde ich sehen, was passiert, Einfluss nehmen können und noch immer mit meiner Familie verbunden sein.» Ich spüre, das ist etwas ganz Grosses, woran ich nicht rühren will. Ich wechsle zurück ins Hier und Jetzt. Die Ohrringe, frage ich, ob sie mit ihnen schlafen könne? «Nein», lacht Nesurai. «Natürlich nicht. Meinen Schmuck lege ich zum Schlafen ab, auch die Ohrringe.» Wie zum Einverständnis rascheln diese aufgeregt, als würden sie leise kichern. •

«Ein Heimkind zu sein, ist noch immer

ein Stigma» Von KARIN DEHMER (Interview)

Sergio Devecchi (75) verbrachte seine Kindheit und Jugend in Kinderheimen im Tessin und im Bündner Rheintal. Später bildete er sich zum Sozialpädagogen weiter und wurde selbst Heimleiter. Ein Gespräch darüber, was es bedeutet, Heimkind zu sein, was sich im Heimwesen alles geändert hat und über die wichtige Rolle der Grosseltern von Heimkindern.

Herr Devecchi, in Kürze, was sind die grössten Unterschiede zwischen einem Heimalltag heute und damals, als Sie ein Heimkind waren? Die individuelle Betreuung, der Fokus auf Probleme und Bedürfnisse der einzelnen Kinder. Früher haben alle Kinder dasselbe durchlaufen. Man war Teil eines Grosskollektivs. Auch geändert hat sich die Privatsphäre: Gerade Jugendliche haben heute fast immer ein Einzelzimmer. Und die «Einmischung» von Seiten der Behörden hat sich glücklicherweise intensiviert: Auflagen, Regeln, Vorschriften. Zu meiner Zeit als Heimkind war der Heimleiter König und regierte, wie er wollte.

Wann kamen Sie zum ersten Mal in den Genuss eines eigenen Zimmers? Mit 15. Ich kam zehn Tage nach meiner Geburt ins Heim und bin mit 17 entlassen worden. Privatsphäre kannte ich nicht. Abgesehen von einer Zeit mit 15, als ich in unserem Heim Stallbursche war. Da gab man mir ein Einzelzimmer, weil ich morgens sehr früh aufstehen musste. Damit ich niemanden weckte. Was macht das mit jemandem, stets bloss ein kleiner Teil einer grossen Gruppe zu sein? Man lernt in diesem Schwimmbecken schwimmen, sich durchzuschlagen. Aber was man nicht lernt, ist, verlässliche Beziehungen einzugehen, zu realisieren, dass man geliebt werden kann, dass man Zuwendung kriegt und diese auch annehmen darf.

Welche Erinnerungen an Ihre Heimzeit sind die prägendsten? Die schönsten Erinnerungen sind geografischer Natur. Die ersten Jahre verbrachte ich in einem Kinderheim im Tessin mit Blick auf den Luganersee, den San Salvatore und den Monte Bré. Die Schönheit dieser Lage habe ich unbewusst wahrgenommen. Später war ich in Zizers im Churer Rheintal. Auch da war es sehr schön. Das ist ja das Paradoxe in der Schweiz: Die Heime liegen oft sehr schön. Rückblickend ist diese Tatsache für mich wie ein Trost. Schön waren auch die Weihnachts- und Osterfeiern. Wir kriegten kleine Geschenke, ein Minimum an Aufmerksamkeit. Der arbeitsreiche Alltag wurde unterbrochen.

Als Heimkind hat man das Gefühl, es stimme etwas nicht mit einem, oder? Fremdplatziert zu werden ist etwas sehr Schwieriges für Kinder. Damals wie heute. Man muss sich trennen von der Familie. Das ist schwierig, egal wie belastend die Zustände zu Hause sind. Kinder beziehen das auf sich, haben das Gefühl, Schuld daran zu sein.

Das war auch bei Ihnen so? Ja. Ich kam in einer sehr armen Familie als uneheliches erstes Kind meiner Mutter zur Welt. Ich dachte viele Jahre, ich wäre zu wenig gut für die Familie gewesen und man habe mich deshalb weggegeben. So etwas zieht sich durchs ganze Leben weiter. Deshalb stellt man heute die Zusammenarbeit mit der Herkunftsfamilie eines Heimkindes viel stärker ins Zentrum. Mutter, Vater, Lehrer, Freunde … man bezieht diese Menschen mit ein, ermöglicht Besuche und fordert Gespräche ein. Diese Verbindung muss aufrechterhalten werden.

Das ist sehr wichtig. Ich habe in meiner Zeit in Zizers während sechs Jahren meine Mutter, meine Schwestern und alle anderen Mitglieder der Familie nie gesehen.

In einer Pflegefamilie waren Sie nie untergebracht? Nein. Das kannte man damals noch nicht. Eher wurde man ein Verdingkind.

Können Sie trotzdem eine Aussage darüber machen, wie entschieden wird, ob ein Kind in eine Pflegfamilie kommt oder in ein Heim? Das Alter des Kindes ist ausschlaggebend. Für jüngere Kinder ist es vielleicht besser, in einer Familie untergebracht zu werden, wo es bestenfalls bis zum Erreichen des Erwachsenenalters aufgehoben ist. Das macht bei Jugendlichen nicht mehr gleich viel Sinn. Da ist ein Jugendheim oft die geeignetere Lösung.

Wie ist es mit Geschwistern? Schaut man, dass die am gleichen Ort untergebracht sind? Ja. Im Gegensatz zu früher, wo man Geschwister auseinandergerissen hat. Oder wenn sie Geschwister im gleichen Heim waren, hat man es ihnen verschwiegen. Das gab viele tragische Geschichten. Meine drei Schwestern hat man später auch in drei verschiedenen Heimen untergebracht. Daran nagen sie bis heute.

Wann kam der grosse Umbruch im Heimwesen? War das gleichzeitig mit der sogenannten «Heimkampagne» (s. Box)? Die Heimkampagne hat sicher einen wichtigen Impuls gegeben. Aber die treibende Kraft waren unabhängig davon die Behörden, der Bund und die Kantone. Es gab immer mehr Forschungsergebnisse, auf die man sich stützen konnte. Diese Heimreformen habe ich als Heimleiter miterlebt. Subventionen wurden an Qualität geknüpft. Das war pragmatisch, aber sehr wirksam. Personalschlüssel, Quadratmeterzahlen der Zimmer, alles wurde vorgegeben und auch kontrolliert. Mich freute das sehr. Hatten Sie das Bedürfnis, etwas korrigieren zu müssen, als Sie entschieden, selbst Heimleiter zu werden? Nein, so würde ich das nicht sagen. Ich wurde mit 17 entlassen und war vollkommen verloren. Ich vermisste die Tiere, die ich im Heim betreut hatte, die Gruppe, das Aufgehobensein. Ich hatte grosses Heimweh. Ich habe dann das KV gemacht und irgendwann wurde jemand auf mich aufmerksam, realisierte, dass ich Unterstützung nötig hatte. Ein Sozialarbeiter meinte dann, ich sollte Sozialpädagogik studieren. Darauf wäre ich selbst nie gekommen. Es war eine Art Zurückgehen zu dem, was ich kenne.

Weshalb überträgt man eigentlich nicht öfter den Grosseltern die Obhut für Kinder? Wir hören immer wieder von Fällen, in denen sich Grosseltern dazu bereit erklären, die Kinder dann aber trotzdem nicht erhalten. Bei einer Fremdplatzierung schauen die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) sehr genau, was die beste Lösung für das Kind ist. Dabei spielen ~

Sergio Devecchi mit seinen Söhnen bei einem seltenen Besuch seiner Mutter, mit Grossmutter, Tante und zwei Halbschwestern im Heim in Pura (TI) sowie als angehender Heimerzieher während eines Praktikums im Tessin (im Uhrzeigersinn).

Viele Jahre dachte ich, ich wäre zu wenig gut für die Familie gewesen und man habe mich deshalb weggegeben. Ich warne davor, Kinder nicht mehr in den Arm nehmen zu dürfen.

Alter, Gesundheit, Wohnort der Pflegeeltern eine wichtige Rolle. Grundsätzlich geht es sicher, dass Grosseltern die Kinder zu sich nehmen, und das kommt auch vor, aber sie werden ebenso genau unter die Lupe genommen wie andere mögliche Pflegeplätze.

Inwiefern sind Grosseltern für Heimkinder wichtig? Sie sind sehr zentral und wichtig. Während meiner Zeit als Heimleiter kam es immer wieder vor, dass Jugendliche, nachdem sie ein Jahr bei uns verbracht haben – wenn sich ihre Situation etwas beruhigt hat –, zu den Grosseltern gezogen sind. Das waren immer Grosseltern, die regelmässig an Gesprächen und Sitzungen teilgenommen haben, die sich während der Zeit, die das Kind im Heim verbracht hatte, aktiv gekümmert haben.

Ist es heute noch ein Stigma, ein Heimkind zu sein, oder schafft man es, das Selbstbewusstsein der Kinder diesbezüglich zu stärken? Es ist immer noch ein Stigma. Die Gesellschaft hat sich von den Vorurteilen Heimkindern gegenüber nicht emanzipiert. Die Reformen und die Entwicklung, die in den Heimen stattgefunden hat, hat die breite Öffentlichkeit nicht wahrgenommen, leider. Denn im Heim zu enden, ist längst keine Sackgasse mehr. Absolut nicht. Bildung ist in Kinder- und Jugendheimen einer der wichtigsten Faktoren. Damit die Kinder und Jugendlichen eine Möglichkeit haben, schulisch so weit zu kommen wie möglich. Auch was Ausbildungsplätze betrifft, wird alles dafür getan, dass sie, wenn sie entlassen werden, einen Boden unter den Füssen haben, auf dem sie aufbauen können.

Mit welchem Blick schauen heutige ehemalige Heimkinder auf ihre Zeit im Heim zurück? Der ist aus meinen persönlichen Erfahrungen sehr positiv. Ich habe mit vielen ehemaligen Heimkindern Kontakt und keines hat je gesagt, dass das Heim nicht gut gewesen sei. Wenn sie im Heim sind, finden viele alles schlecht. Das hat aber oft mit ihrem Alter zu tun, mit der Pubertät. Wenn sie wieder draussen sind, merken sie, wie gut es ihnen gegangen ist.

Im letzten Jahr haben ehemalige Heimkinder den Verein «Careleaver» (s. Box Seite 27) gegründet. Unter anderem wollen sie damit eine Lücke schliessen für die Zeit, wenn Heimkinder entlassen werden. Ja, dieses Loch, in das Heimkinder nach der Entlassung fallen, gibt es immer noch. Es fehlt an einer Übergangsbetreuung? Ganz sicher, ja. Wenn die Jugendlichen entlassen werden, ziehen sich die Behörden von einem Tag auf den anderen zurück, auch finanziell. Das ist ein wunder Punkt in der heutigen Heimerziehung. Man sagt, das Kind ist erwachsen, aber es braucht noch immer schrittweise Betreuung.

Werden die behördlichen Instanzen hellhörig auf das Problem? Ja, langsam. Gerade dank der Bemühungen von «Careleaver». Auch an den Fachhochschulen wird vermehrt zur Problematik geforscht. Es braucht immer viel Zeit, bis sich etwas bewegt. Ich hoffe, dass eine Anschlussfinanzierung und eine Begleitung bald gesichert sein werden.

Ist es ein Klischee, dass Heimkinder als Erwachsene vermehrt in mögliche Verhaltensmuster ihrer Eltern fallen? Kinder werden geprägt von den Eltern, das ist einfach so. Aber auch die Zeit im Heim prägt sie zum Glück. Am schlimmsten wäre es, wenn man die Kinder einfach in den hoffnungslosen Situationen zurücklässt, in denen sie stecken.

Ein Umstand, dem heute die KESB effizient entgegenwirkt. Für die hohen Kosten eine Fremdplatzierung müssen auch heute noch mehrheitlich die Gemeinden aufkommen. Aus diesem Grund haben die Gemeinden oft gezögert und lange zugewartet. Mit der KESB ist nun eine unabhängige Behörde dafür zuständig und sie allein fällt die Entscheide. So kommen Kinder und Jugendliche früher aus belastenden Situationen heraus.

Eine letzte Frage: Ich habe gelesen, dass aus Angst vor Anklagen von sexuellen Übergriffen viele Heimmitarbeiter:innen die Kinder auf Distanz halten, worunter gerade jüngere Kinder leiden. Stimmt das? Ja, das ist die Schattenseite dieses sicher richtigen Fortschritts. Ich bedaure das sehr. Unter dem Heimpersonal ist es ein grosses Thema. Ich weiss nicht, wie man damit umgehen soll. Ich warne davor, Kinder nicht mehr in den Arm nehmen zu dürfen. Es ist ein neues Problem, das aufgrund der gesellschaftlichen Sensibilisierung auf ein anderes Problem entstanden ist. •

SERGIO DEVECCHI (1947) war 10 Tage alt, als er als erstes Kind einer unverheirateten Mutter ins Heim gebracht wurde, wo er seine gesamte Kindheit und Jugend verbrachte. Der Heimbub ergriff später selbst den Erzieherberuf. Er wurde Heimleiter und später Präsident von Integras, dem Schweizerischen Fachverband für Sozial- und Sonderpädagogik. Auch nach seiner Pensionierung ist Sergio Devecchi im In- und Ausland als Experte und Berater in Sachen Heimwesen gefragt. Sergio Devecchi ist Vater von zwei erwachsenen Söhnen. Seine persönliche Geschichte hat er in «Heimweh – Vom Heimbub zum Heimleiter» aufgeschrieben, Stämpfli Verlag 2017, 37 Franken.

VEREIN CARELEAVER

Der Verein Careleaver Schweiz setzt sich mit verschiedenen regionalen Netzwerken für Heim- und Pflegekinder in deren Übergang vom Heim zur Selbstständigkeit ein. Die Initiant:innen sind alles ehemalige Heim- oder Pflegekinder. Betroffene finden über Careleaver Infos rund um Auszug, Beruf, Versicherungen, Vorsorge oder den Umgang mit Behörden. Ausserdem ermöglicht der Verein einen Austausch mit anderen ehemaligen Heimkindern in ähnlichen Situationen.

careleaver.ch

HEIMKAMPAGNE

Am 28. September 1971 demonstrierten Aktivistinnen und Aktivisten der Gruppierung «Heimkampagne» vor der Arbeitserziehungsanstalt Uitikon (ZH) gegen repressive Erziehungsmethoden. Die anschliessende Flucht von 17 jugendlichen Heiminsassen war der Höhepunkt einer Kampagne, in deren Mittelpunkt die Kritik an der Einweisung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Erziehungsanstalten und an deren Praktiken stand. Als direktes Vorbild für die Deutschschweizer Kampagne diente die gleichnamige Gruppierung in Deutschland. Die Heimkampagne hatte ihren Ursprung in der institutionenkritischen 68er-Bewegung und war Teil einer internationalen Debatte über die Demokratisierung von Gefängnissen, Heimen und psychiatrischen Kliniken. Die medienwirksamen Aktionen trugen zur Debatte bei, die in den 70er-Jahren zu Reformen in der Heimerziehung und im Jugendstrafvollzug führte.

Das ist

Glück

Mein Mann und ich haben zweimal im Jahr das Glück, einige Ferientage mit unserer Tochter und ihrer Familie zu verbringen. Leider wohnen wir nicht ganz nah von ihnen. Die Ferien ermöglichen uns, jeweils unseren Grosskindern etwas länger nahe zu sein. Zugegeben, Ferien sind es keine. Im Gegenteil, physisch war es diesmal ziemlich streng, aber mental unglaublich erfrischend. Schon am ersten Morgen wurden wir aus unserem Schlafhimmel geblitzt. Licht an: «Groma, Gropa aufstehen, frühstücken.» Nachdem wir uns vom Schreck erholt hatten, kam die Dreijährige zu uns ins Bett. Sie war so warm, anhänglich und süss, dass wir den Schreckmoment schnell vergessen konnten. Programm gabs für alle Erwachsenen von früh bis spät: spielen, singen, aufräumen, rüsten, kochen, Windeln wechseln, beruhigen, Tränen abwischen … Alle halfen mit. Wir waren ein gutes Team. Unsere Tochter stillte den Neugeborenen im Zweistundentakt, und für alle Erwachsenen war das Hallenbad angesagt. Und trotzdem schafften wir es, dass alle von uns vielleicht eine Stunde pro Tag für sich hatten. Das ist der Vorteil des Mehrpersonen-Haushalts in den Ferien. «Wer wickelt den Kleinen?» fragte meine Tochter oft mit einem Schmunzeln. Sie wusste genau, dass es dafür immer eine Frei-

willige gab: Groma. Tatsächlich, es war Glück pur, den zweimonatigen Süssling auszuziehen, sein perfektes Körperchen zu betrachten, es zu streicheln und wieder einzupacken. Ich wähnte mich in meinen Kinderjahren, als ich stundenlang mit Passion meine Bäbis an- und auszog. Und was machte dieser Winzling mit mir? Er schaute mich an und lächelte. Und als ich mit ihm plauderte, verzog er sein Gesicht und machte so etwas wie eine Erwiderung. Unglaublich, dieser kleine Mensch, vollständig abhängig von seiner Umwelt, hat mit mir Kontakt aufgenommen, und begrüsste mich. Mein Gott, wie war ich gerührt!BERNADETTE KURMANN (1950) aus

Ebikon LU ist Krankenschwester An den Nachmittagen waren Spaziergänge und Journalistin, Mutter von drei angesagt – meistens in Richtung Spielplatz.

Töchtern und Grossmutter. Zweimal fuhren wir mit der Gondel auf einen Berg und wanderten hinunter. Die grösste Arbeit dabei war, die Dreijährige zum Gehen zu motivieren. Meine Tochter ist Meisterin darin. Sie hat tausend Ideen, wie das gelingen kann: «Siehst du den Hasen dort? Wo ist der nächste rote Stab? Wer findet zuerst einen grossen Stein? Wer ist zuerst bei der grossen Tanne angelangt?» Bei einem Abstieg durfte ich den Säugling im Känguru-Sack tragen. Kaum zu glauben, ich war aufgeregter als bei meinen Kindern, ob er auch wirklich atmet. Immer wieder musste ich mich versichern. Mit der Zeit kam die Sicherheit, und ich genoss die Nähe zu meinem kleinen Enkel. Es fühlte sich fast noch einmal an, wie das eigene Baby im Bauch. Ja, diese Ferien waren Glück pur! •

Die ersten sieben Tage des Krieges verbrachte Elena (68) in einem Bunker bei Kiew. Dann machte sie sich mit ihrer Tochter und zwei Enkelinnen auf die Flucht Richtung Deutschland.

Und dann waren sie plötzlich überall, sie besetzten Regierungsgebäude, fuhren mit den Panzern durch die Strassen, versteckten ihre Heckenschützen. Später warfen sie Bomben auf den Flughafen nur wenige Kilometer ausserhalb der Stadt. Da begannen die Menschen zu fliehen. Zuerst waren es nur wenige, die Sack und Pack auf das Dach ihres Autos schnürten, dann tausende, zehntausende. Viele fuhren nach Westen, manche ostwärts, von wo noch mehr Panzer anrollten. Auch Elena* hatte Angst. Das Donnern der Raketen wurde lauter mit jedem ~

Wie alle Ukrainer zwischen 18 und 60 Jahren wurden die beiden Männer ins Militär eingezogen. Für wie lange und was sie erwartet, das wissen sie nicht.

Tag. Sie sass in ihrem Haus am Stadtrand, allein, der Mann voriges Jahr verstorben, ihre Tochter Nadja mit dem Ehemann und den beiden Kindern 700 Kilometer weit weg. «Pack das Nötigste zusammen, komm zu uns», hatte Nadja am Telefon gesagt. Elena zögerte. Hier war sie geboren worden, hier war sie zur Schule gegangen, hatte geheiratet und gearbeitet. Irgendwann lagen Tote auf der Strasse vor ihrem Haus. Mit dem Koffer und einer Handtasche stieg sie in den Zug und fuhr zu ihrer Tochter.

DIE ZWEITE FLUCHT Das war im April 2014 in Donetsk, ganz im Osten der Ukraine. Fast acht Jahre später, am 25. Februar 2022, und dreissig Kilometer nördlich von Kyiv holten Sirenen, Schüsse und Sprengsätze die inzwischen 68-jährige Elena wieder ein. Ihre Enkelin Diana (15) wird es später so schildern: Zuerst sei da nur ein grelles Licht gewesen, das sich ausdehnte vor ihren Augen wie ein grosser weisser Ballon, dann kam der Knall, dumpf, ein zweiter und ein dritter, Menschen hätten geschrien und seien in alle Richtungen gerannt und der Himmel habe sich verfärbt, grosse schwarze Wolken überall, wie in einem Trickfilm sei das gewesen. Eine halbe Stunde später hatten sie ihre Rucksäcke gepackt: Pässe, Kleider und Schuhe, ein paar Andenken, Schminke, ein Buch, den Laptop. Als Elena und die Familie am selben Abend bei Freunden in einem Luftschutzkeller Unterschlupf fanden, gingen die Bilder von den Raketeneinschlägen und zerstörten Brücken in der Ortschaft Irpin, nur wenige Kilometer von ihrem Zuhause entfernt, bereits um die Welt. Sieben Tage harrte die Familie im Bunker aus, dann fuhren sie im Bus nach Kyiv, wo Kristina, Elenas ältere Enkelin und Nadjas Tochter, sie erwartete. Dort nahmen sie Abschied: von Evgeni, Nadjas Ehemann, und von Kristinas Freund, bei dem sie wohnte. Wie alle Ukrainer zwischen 18 und 60 Jahren wurden die beiden Männer ins Militär eingezogen. Für wie lange und was sie erwartet, das wissen sie nicht. Mit dem Nachtzug fuhren die Frauen nach Záhony, einem kleinen Grenzbahnhof auf der ungarischen Seite. Dort wurden ihre Pässe kontrolliert, Hilfsorganisationen, unter ihnen viele christliche, nahmen sie in Empfang, sprachen tröstende Worte, schöpften warmes Essen. Die Nacht verbrachten sie in der Turnhalle der Schule, die im Auftrag der Gemeinde von Záhony in ein Massenlager umfunktioniert wurde. Wie viele der hunderttausenden Ukrainer, die bis jetzt die ungarische Grenze überquert haben, haben die vier Frauen ein Ziel; sie wollen nach Deutschland. Dort leben Bekannte von Elena. Sie stammen ebenfalls aus Donetsk in der Ostukraine und mussten 2014 in den Westen fliehen. «Viele vergessen, dass in unserem Land schon seit acht Jahren Krieg ist», sagt Nadja. Nach den Maidan-Protesten im November 2013 in Kyiv nahm Wladimir Putin im März 2014 die Halbinsel Krim ein und sicherte wenig später den prorussischen Separatisten im Donbas, wie die umkämpfte Region in der Ostukraine genannt wird, seine unbedingte Unterstützung zu. Daraufhin besetzten diese die Gebiete um Donetsk und Luhansk und riefen sie als unabhängige Volksrepubliken aus. Als Reaktion schickte die ukrainische Regierung ihr Militär in die Ostukraine. Der seit damals andauernde Krieg trieb 1,5 Millionen Menschen in die Flucht und forderte 13 000 Tote, unter ihnen 3300 Zivilisten – die Opfer seit diesem Februar nicht mitgezählt. Für die 47-jährige Nadja, die ihre Kindheit im Donbas verbrachte, war ein Leben in Ungewissheit lange Zeit Normalität. Erst als sie Anfang zwanzig und frisch verheiratet mit

Pässe, Kleider und Schuhe, ein paar Andenken, Schminke, ein Buch, den Laptop: Diana besteigt den Zug nach Budapest – mit wenig Gepäck.

ihrem Ehemann in die Nähe von Kyiv zog – dort fand sie, anders als im wirtschaftlich maroden Osten, wenigstens Arbeit –, kehrte so etwas wie Ruhe in ihr Leben ein. Ihre Mutter dachte keinen Moment daran, wegzuziehen. «Was soll ich in einer Stadt wie Kyiv?», fragte Elena damals. Der Westen ist ihr bis heute irgendwie fremd geblieben, vielleicht zu modern; Elena ist gläubig, spricht russisch, sie schaute russisches Fernsehen, hörte russisches Radio. In Donetsk sei sie aber nicht aus politischen Gründen geblieben, mit dem Kreml habe sie nichts am Hut, sagt Elena. «Ich will bloss, dass dieser Krieg endlich aufhört, nach so langen Jahren.» Tatsächlich wird vieles, was Putin diese Tage verlauten lässt, Elena bekannt vorkommen. Von «guten Ukrainern» redet der russische Präsident nun schon seit Jahren und meint damit die Bewohner von «Neurussland», ein Ausdruck aus der Zarenzeit, der die südliche und östliche Ukraine benennt. Nur sie gehörten, wie die Belarussen, zum Brudervolk Russlands. Die «schlechten Ukrainer» dagegen kämen aus dem Westen und seien darauf aus, den Menschen im Osten ihre Werte aufzuzwingen. Schon bald bezeichneten die prorussischen Separatisten im Donbas sie als «Nazis». Diesem Narrativ entsprechend sprach Putin kurz nach dem Angriff denn auch davon, die Ukraine zu «entnazifizieren». «Putin gefällt nicht, in welche Richtung sich unser Land entwickelt», sagt Kristina, die 26-jährige Enkelin von Elena. Alle wüssten, dass eine unabhängige, ins westliche Bündnis strebende Ukraine für den russischen Präsidenten einen Affront auf der ganzen Linie darstelle. Und doch seien die meisten überrascht gewesen. Dass Putin im Frühjahr 2021 seinen Angriff in die Wege leitete, wie Geheimdienste warnten, nahm die ukrainische Bevölkerung kaum wahr. Damals stationierten sich im Rahmen einer russisch-belarussischen Militärübung an der ukrainischen Grenze Truppen, die nach Ende des Manövers nicht mehr abzogen. Die «Washington Post» zitierte eine anonyme Quelle aus dem US-Geheimdienst, wonach Putins Regierung Anfang 2022 eine Grossoffensive auf die Ukraine plane. Auch Kristina fürchtet inzwischen das Schlimmste: «Sie werden sich Kyiv holen. Erst kommen sie mit ihren ~

«Viele vergessen, dass in unserem Land schon seit acht Jahren Krieg ist», sagt Nadja.

Grossmutter Elena (68) mit ihrer Tochter Nadja und den beiden Enkelinnen Diana und Kristina (vrnl.) auf ihrer Flucht von Kiew über Budapest nach Deutschland.

Der Westen ist ihr bis heute irgendwie fremd geblieben, vielleicht zu modern; Elena ist gläubig, spricht russisch, sie schaute russisches Fernsehen, hörte russisches Radio.

Panzern, und wenn das nicht reicht, werfen sie Bomben über die Stadt.» Sie ruft jeden Tag den Vater an und redet mit ihrem Freund, er sei in Sorge, er fürchte sich und wisse nicht, was als Nächstes komme. «Ich versuche, ihn zu unterstützen so gut es geht, erzähle ihm, dass wir in Sicherheit sind und es uns an nichts fehlt.» Am liebsten wäre Kristina geblieben. Ihr Freund, ein paar Jahre älter als sie, ist Uhrenmechaniker, sie hat Biologie studiert, arbeitete bis vor vierzehn Tagen im Büro eines Unternehmens. Ein gutes Leben war das, sagt sie, als wäre es für immer vorbei. Eigentlich hätten Elena und ihre Familie das Land über die polnische Grenze verlassen wollen, dann aber war von langen Wartezeiten die Rede. Als sie in Záhony ankamen, waren sie überrascht, wie unkompliziert sie einreisen konnten, wie herzlich sie am Bahnhof empfangen wurden. Tatsächlich können Geflüchtete aus der Ukraine ohne Visabestimmungen mit einem «Solidaritätsticket» problemlos etwa nach Budapest weiterreisen. Damit trägt Ungarn den Entscheid der EU für eine schnelle und unkomplizierte Aufnahme ukrainischer Geflüchteter vollumfänglich mit. Was erstaunen mag, hat sich doch der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán seit dem Beginn der sogenannten Migrationskrise 2015 innerhalb der EU mit einer teils offen rassistischen Migrationspolitik positioniert. Inzwischen ist am Bahnhof von Záhony auf Gleis 1 der Zug nach Budapest eingefahren. Kristina hat sich den zu grossen Pullover ihres Freundes übergezogen, Diana stapft in ihrer Astronautenjacke voran, Nadja und Elena folgen ihnen. Die Zugreise nach Budapest wird vier Stunden dauern, dann will die Familie weiter nach Deutschland. Tags darauf poppt auf dem Handy eine Nachricht einer der Enkelinnen auf: «Sind angekommen, müde, aber es geht uns gut.» •

Bei Redaktionsschluss war die Familie in Deutschland, Diana hat die Schule begonnen, Kristina sucht Arbeit, bis dahin vergeblich. Vater und Freund sind beide in der Nähe von Kiew, sie waren bis jetzt nicht in Kriegshandlungen involviert und entsprechend wohlauf.

Mit Anhang

Von GERALDINE CAPAUL (Text) und IRENE MEIER (Illustration)

Schnell, unkompliziert, umweltfreundlich: Auch mit kleinen Enkelkindern kann man gut mit dem Velo unterwegs sein. Einfach in einen Velo-Anhänger oder auf ein Velositzli packen und los geht's. Aber worauf muss man beim Kauf achten? Und welche Sicherheitstipps sind entscheidend?

Yepp Maxi Seatpost

nhänger oder Sitzli? Im Velo-Anhänger mit Nutzlast von 45 Kilo haben zwei Kinder Platz. Er kann gleichzeitig als Kinderwagen die-A nen oder als Transportwägeli beim Ausflug zu Fuss. Ausserdem ist die Fallhöhe tiefer als beim Sitzli. Grundsätzlich: Der Veloanhänger braucht zwar mehr Kraft und bessere Bremsen, ist im Vergleich zum Kindersitz aber sicherer. Beim Sitzli fällt das An- und Abmontieren weg. Ausserdem bleibt man im Verkehr wendiger, weil es auf der Strasse weniger Platz braucht. Weniger Platz braucht das Sitzli auch im Keller.

VELO-KINDERSITZ HINTEN AUF DEM VELO, FÜR KINDER BIS 22 KG

TIPPS FÜR DEN KAUF DES KINDERSITZES • Sitz mit 5-Punkt-Gurt wählen, den das Kind nicht selbst öffnen kann. • Die Rückenlehne sollte mindestens 40 cm hoch sein. • Besonders praktisch: höhenverstellbare

Fussstützen. So «wächst» der Kindersitz mit. • Zulässiges Gewicht, Firmenzeichen und

Fabrikationsdatum – all das sollte auf dem Sitz markiert sein. • Sitze mit der Norm EN 14344 erfüllen wichtige Sicherheitsempfehlungen.

WEITERE TIPPS ZUM SITZLI • Ob E-Bike oder herkömmliches Velo:

Nehmen Sie das Velo gleich mit zum Kauf des Kindersitzlis. • Achten Sie auf die korrekte Montage der

Halterung am Rahmen des Velos. • Ist der Sitz hinten montiert, hat man freie Sicht. • Ein solider Hinterbau- oder Zweibeinständer macht das Hineinsetzen des Kindes einfacher. • Sitzt das Kind hinten, ist es wichtig, dass es den Sicherheitsgurt nicht selber öffnen kann.

von Thule, 140 Franken Caress C2

von Hamax, 179 Franken One Maxi

von Bobike, 89 Franken

Hinweis für beide Varianten: Am besten auf unbefahrenen Strecken üben, da das Zusatzgewicht Auswirkungen hat. Insbesondere das Kurvenfahren und Bremsen oder beides gleichzeitig sollten geübt werden. Nicht zu unterschätzen ist auch das Be- und Entladen, da dies meistens unter Last auf dem Ständer des Velos geschieht und ebenfalls etwas Übung benötigt. Velos mit Zentralständer (Zweibein) sind da wesentlich stabiler als Seitenständer (zentral oder hinten). Der Kindersitz auf dem Velo übt wegen des höheren Schwerpunkts sicher die grösseren Kräfte auf die fahrende Person aus als ein Anhänger und ist also etwas schwieriger im Handling – vor allem im Stillstand und bei langsamer Fahrt. •

Mitarbeit: Stefan Thalmann; Quelle: Bfu, TCS, Kassensturz SRF, Stiftung Warentest.

VELO-ANHÄNGER

TIPPS FÜR DEN KAUF EINES ANHÄNGERS • Veloanhänger mit der Normbezeichnung EN 15918 entsprechen den aktuellen Sicherheitsempfehlungen. • Achten Sie auf robusten Aufbau und einen stabilen

Überrollbügel mit ausreichend Kopffreiheit. • Wählen Sie ein Modell mit verstellbaren

Hosenträgergurten für jedes mitgeführte Kind. • Der Anhänger sollte mit Front-, Rück- und

Seitenreflektoren ausgestattet sein. • Ein Fangriemen an der Anhängerkupplung bietet zusätzlichen Schutz, falls diese versagen sollte.

TIPPS FÜR DEN GEBRAUCH DES ANHÄNGERS • Kinder auch auf kurzen Fahrten anschnallen. • Sowohl auf dem Velo als auch im Anhänger einen Helm tragen. • Veränderte Fahreigenschaften mit

Anhänger nicht unterschätzen (besonders bei Nässe und Gefälle). • Abends, nachts sowie bei Regen und

Nebel ein rotes, ruhendes Rücklicht am

Anhänger montieren. • Dreieck-Flagge aus orangefarbenem Material gut sichtbar am Veloanhänger befestigen. • Gute Bremsen sind ein Muss, Scheibenbremsen haben eine höhere Bremsleistung als Felgenbremsen, und das auch bei nasser Witterung.

Burley D'Lite

Leicht zu bedienen, ruhige und stabile Fahrweise, ca. 890 Franken Croozer Kids Plus

Intelligente Kupplung, integrierte Leuchtlampen, ca. 900 Franken Thule Chariot light 2

Einfach zu handhaben, kompakt zu verstauen, ca. 880 Franken

Kaisa (10) und André-Jakob (6) knien auf dem Steg zwischen den Baumhäusern und ziehen an der Handsäge. Die Bretter sind noch zu lang und müssen zurechtgeschnitten werden. Das braucht Kraft und Ausdauer. Aber bald haben sie es geschafft. Unten auf der Wiese steht Paul Furrer mit Amina vor einer Holzkiste. «Hilfst du mir?», fragt der pensionierte Modellschreiner die Sechsjährige, die sich noch etwas schüchtern auf dem Gelände bewegt, und reicht ihr eine Zange. «Wir müssen die Nägel und Schrauben aus diesen Latten entfernen. Schau, so packst du sie an.» Und schon macht sich das Mädchen an die Arbeit. Ritschratsch geht das. Es herrscht ein geschäftiges Treiben an diesem sonnigen Samstagnachmittag auf der Kinderbaustelle im Quartier St. Fiden in St. Gallen. Rund vierzig Kinder im Alter zwischen vier und zwölf Jahren tummeln sich auf dem Platz am Rand des Areals Bach beim Bahnhof. Sie bohren, hämmern, sägen, malen und schrauben, was das Zeug hält. Das 1600 Quadratmeter grosse Gelände liegt am Hang zwischen Bäumen und gehört der Migros-Genossenschaft. Da noch kein spruchreifes Bauprojekt besteht, kann das Reservebauland zwischengenutzt werden. Trägerin dieses Freizeitangebots ist die Abteilung Offene Arbeit mit Kindern der Stadt St. Gallen. «Die Nachfrage ist riesig», freut sich Samuel Roth, der Verantwortliche der «Offenen Kinderbaustelle». Ziel der Kinderbaustelle ist es, den Kindern einen Freiraum zu bieten, wo sie eigenständig und selbstbestimmt wirken können. «Das kann mitunter auch etwas chaotisch sein», meint Roth schmunzelnd. «Wir möchten aber möglichst wenig vorgeben, damit sie eigene Lösungsansätze entwickeln. Wir unterstützen sie nur dann, wenn sie nicht mehr weiterwissen.» Ein weiterer wichtiger Aspekt: «Alles, was

Ausmessen, «Ritschratsch», malen: André-Jakob mit Paul Furrer (rechts) und zusammen mit anderen Kindern – eigenständig und selbstbestimmt (unten).

wir auf der Kinderbaustelle bauen, gehört allen Kindern und bleibt hier», steht auf einer Tafel gleich beim Eingang. Dieses Freizeitangebot ist in der Schweiz nicht ganz neu. Schon seit einigen Jahren gibt es Kinderbaustellen an verschiedenen Orten in der Schweiz (siehe Box). Sie sind jeweils über die Sommermonate geöffnet und erfreuen sich grosser Beliebtheit. Meist befinden sie sich auf Arealen, die zwischengenutzt werden und so freie Zonen bieten, wo alles möglich ist. Wie hier in St. Fiden. Pippi Langstrumpf würde sich bestimmt wohlfühlen zwischen all den kunterbunten Häusern, manche sogar zweistöckig und mit Stegen miteinander verbunden. Unter einem Sonnensegel befindet sich ein Sandplatz, wo die Kinder nach Gold graben können. Daneben lädt eine Feuerstelle zum Grillieren von Würsten oder Schlangenbrot ein. Und da gibt es auch eine Sirup-Bar, die von den Kindern selbst betrieben wird. Beim Eingang schreiben sich die Kinder

an der Theke mit Namen und Adresse ein. Dann geht es vorbei an der Materialstelle, wo sie sich mit den nötigen Werkzeugen eindecken. Kisten mit Zangen, Meisseln und Laubsägen, Helmen, Handschuhen und Übergwändli stehen bereit, daneben Bretter, Balken, Seile, Stoff und Ketten. Alles darf benutzt werden. Mit einer Ausnahme: die Kreissäge. Die wird nur vom Team bedient. Amina hat die Nägel und Schrauben mit Paul entfernt. Jetzt will sie selbst etwas bauen. Sie hat bereits die nötigen Holzbalken und ein Brett zusammengesucht. «Ich baue mir einen Tisch», erklärt sie. Paul muss sie nicht mehr anleiten. «Sie hat das voll im Griff», meint er. Er freut sich, dass er sein Wissen nun den jungen Baumeisterinnen und Baumeistern weitergeben kann. Der zweifache Grossvater bedauert es, dass die Kinder oft nicht mehr die Möglichkeit hätten, solche Erfahrungen zu sammeln. «Früher war es doch ganz normal, dass die Kinder von den Eltern ~

mitbekamen, wie man einen Hammer oder einen Bohrer benutzt.» Das ist für Vincent kein Problem. Er steht oben auf dem zweistöckigen Haus und ruft: «Oma, kommst du mal rauf, ich muss dir was zeigen!» Der 9-Jährige war schon mehrere Male mit seinem Bruder und seinem Vater hier und bewegt sich wie ein Routinier auf dem Gelände. Auch sein Vater Julian findet Freude am Werkeln und hilft mit. Er habe als Kind selbst oft mit Holz gearbeitet. «Ich möchte, dass das meine Jungs auch lernen.» Heute sind Vincents Grosseltern aus München zu Besuch. Oma Regina klettert die wacklige Brücke hinauf. «Endlich sehe ich mal live, was meine Enkel hier bauen», freut sie sich. Bisher musste sie sich mit Whatsapp-Bildern begnügen. Vincent streckt ihr einen Akku-Bohrer hin. «Hier, da müssen noch ein paar Schrauben rein», fordert er seine Oma zum Mitarbeiten auf. Man spürt die besondere Stimmung an diesem Ort, der so ganz anders ist als ein Spielplatz, wo alles fixfertig vorgegeben ist. Die kleinen Baumeister:innen sind mit grosser Ernsthaftigkeit am Werk – und in erstaunlicher Eintracht. «Bei uns gestalten die Kinder ihre eigene Spiellandschaft», betont Samuel Roth. Das sei sehr wichtig in der heutigen Zeit mit ihrer verdichteten Bauweise. «Sie lernen hier unglaublich viel.» Etwa, wie man seine Ideen umsetzt. «Dazu gehört auch, mit Misserfolgen umgehen oder teilen zu können.» Taktile Fähigkeiten sind ebenso gefragt wie die räumliche Einschätzung, wenn es darum geht, seine Traumhütte zu bauen. Um Punkt 16.10 Uhr erklingt das Horn – das Zeichen, die Werkzeuge und Materialien aufzuräumen. Vincent befestigt die letzten Schrauben, Kaisa und AndréJakob bringen die letzten Pinselstriche auf ihrem Bauwerk an, auch Amina schlägt noch schnell die letzten Nägel ein – und fertig ist der Tisch. Zufrieden bringen alle ihre Werkzeuge zurück. Vielleicht reicht es noch für ein Schlangenbrot – schliesslich ist Bauen harte Arbeit und macht hungrig. •

Man spürt die besondere Stimmung an diesem Ort, der ganz anders ist als ein Spielplatz, wo alles fixfertig vorgegeben ist.

KINDERBAUSTELLEN – EINE AUSWAHL

Biel Terrain Gurzelen, Champagneallee 2, ab 27. April, Mittwoch-, Freitag- und Samstagnachmittag von 14–18 Uhr zwischen den Bieler Frühlings- und Herbstferien (Während den Sommerferien geschlossen), kinderbaustelle.ch

Emmen Hämmerplatz Kinderbaustelle, Mooshüsliwald, ab 4. Mai bis Oktober, Mittwoch 14–17 Uhr, themenspielplatz-emmen.ch/haemmerplatz

Glarus Süd Kinderbaustelle Baumgärtli, Tschächli 8, Luchsingen, ab 4. Mai, in der Regel jeweils Mittwoch- und Samstagnachmittag, 13.30–17.30 Uhr, die genauen Daten sind auf der Website angegeben, hoehenzug.ch/kinderbaustelle

Interlaken Kinderbaustelle Bödeli neben dem GeneralGuisan-Schulhaus, ab Ende März bis zu den Herbstferien, Mittwoch und Freitag, 13.30–16.30 Uhr, jabinfo.ch/kinder/kinderbaustelle

Luzern Eisenplatz an der Industriestrasse 13, ab Mai jeweils Mittwoch und Samstag, 14–18 Uhr, kinderbaustelleluzern.ch

Rorschach auf der Wiese neben dem Robinsonspielplatz zwischen der PHSG und der kleinen Migros an der Seminarstrasse, 7. Mai bis 14. September, jeweils Mittwochnachmittag, 14–17.30 Uhr sowie jeden zweiten Samstag, 10–16 Uhr, kinder-baustelle.ch

St. Gallen Areal Bach in St. Fiden, Passarellenweg, ab 7. Mai bis 24. September, Samstag, 13.30–17 Uhr, stadtsg.ch/kinderbaustelle

Wattwil Churfirstenstrasse, 14. Mai bis 24. September, Mittwoch, 14–18 Uhr und Samstag, 10–16 Uhr, jugendarbeit-wattwil.ch/informationen-kinderbaustelle

Wil auf dem ehemaligen Zeughausareal zwischen Zeughausweg und Thuraustrasse, ab 7. Mai bis Ende September jeden Mittwoch mit Ausnahme der Sommerferien offen. In den Sommerferien in der ersten und letzten Ferienwoche von Montag bis Freitag offen sowie an folgenden Samstagen: 7./21.5., 4./11./25.6., 10./24.9., kinderbaustelle-wil.ch

Von ANNA GIELAS (Text) und RETO CRAMERI (Illustration)

Zu schön, um wahr zu sein

DOSSIER

Ein lockerer Umgang mit der Wahrheit gehört zur kindlichen Entwicklung. Gleichzeitig sollten Kinder darin bestärkt werden, offen und ehrlich zu sein. Kinderlügen erfordern von Eltern und Grosseltern Fingerspitzengefühl und viel Vertrauen.

Jetzt bloss nicht lachen! Das denkt sich Esther Thieme, als ihr dreijähriger Sohn Tristan mit ernster Miene behauptet, er habe nicht mit der Topfpflanze gespielt. «Habe ich nicht, Mama!», sagt der kleine Schwindler. An seinen Fingern klebt Erde, die Hose ist mit schwarzen Flecken übersät. Seine Mama schmunzelt. Nicht alle Eltern reagieren so entspannt und amüsiert wie Thieme. Einige sehen die Flunkereien ihrer Kinder ~

ganz und gar nicht gerne – egal, in welchem Alter der Nachwuchs sich gerade befindet. Andere fragen sich gar, ob aus ihren kleinen Schwindlern noch ehrliche Menschen werden können. Besorgte Eltern können aufatmen: Flunkern gehört zum kindlichen Entwicklungsprozess – und das Ehrlichsein können sie den kleinen Märchenerzählern vermitteln. Dafür gilt es erst einmal zu verstehen, wieso Kinder generell schwindeln und lügen. «Das tun sie aus verschiedenen Gründen», sagt die Psychologin Marielle Donzé vom Elternnotruf in Zürich. «Der häufigste Grund ist die Angst vor der Reaktion der Eltern.» Etwa wenn das Kind im Haushalt etwas kaputtmacht oder in der Schule eine schlechte Note bekommt. Kinder schwindeln auch, um die eigenen Wünsche durchzusetzen. Beispielsweise, um ein paar Kekse mehr zu bekommen oder länger am Computer spielen zu dürfen. Manche erfinden Geschichten, weil sie sich mehr Anerkennung und Lob wünschen. «Ich habe gestern fünf Saltos auf dem Trampolin geschafft!», erzählt Mirja. Ein Salto ist der Neunjährigen in Wirklichkeit noch nie geglückt. Wenn das Selbstvertrauen des Kindes gering ist oder es sich kaum beachtet fühlt, dient Flunkern auch dazu, sich bei Mama und Papa oder bei den Grosseltern interessant zu machen. Aber sollen die Erwachsenen das Verhalten als unbedeutende Flunkerei ansehen – oder als eine Lüge, auf die sie reagieren müssen? Das hängt unter anderem vom Entwicklungsstand der Heranwachsenden ab. Kinder bis etwa drei Jahre kennen die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fantasie nicht. Sie erzählen Dinge, die nicht stimmen – und sind sich der vermeintlichen Wahrheit ganz sicher. Wie der dreijährige Tristan. Dagegen setzt bewusstes Schwindeln beachtliche kognitive Fähigkeiten voraus: Das Kind muss zwischen sich und anderen Personen unterscheiden können. Es muss sich seiner eigenen Gedankengänge bewusst sein – und verstehen, dass andere Menschen andere Gedanken und Ziele haben. Ausserdem muss sich ein kleiner Schwindler

Kinder schwindeln, um eigene Wünsche durchzusetzen.

Flunkern dient auch dazu, sich bei den Grosseltern interessant zu machen.

in andere hineinversetzen können, um zu wissen, was sie von ihm hören möchten – und was nicht. Er bedarf all der Fähigkeiten, die Psychologen als «Theory of Mind» bezeichnen. Diese entwickeln sich im Alter von etwa drei bis fünf Jahren. In dieser Phase sind Schwindeleien sowohl ein erster Ausdruck als auch eine Erprobung der eigenen Identität. «Es ist normal, dass die Heranwachsenden experimentieren und sich ausprobieren», sagt der Entwicklungspsychologe Luciano Gasser von der Pädagogischen Hochschule Luzern. «Eltern müssen sich keine Sorgen machen, wenn Kinder in diesem Alter hin und wieder flunkern.» Aber die Erwachsenen sollten diese Flunkereien nicht ignorieren – sondern sie als günstige Momente betrachten, um dem Kind den Wert von Ehrlichkeit zu vermitteln. Ertappen sie den Märchenerzähler auf frischer Tat, sollten sie ihn darauf ansprechen. Bei kleineren Kindern können sie humor- und fantasievoll reagieren. Etwa das Kind nach dem unsichtbaren Freund fragen, der angeblich den letzten Keks stibitzt hat. Dabei sollten sie vermitteln: Schwindeln ist nicht nötig. Sie können beispielsweise sagen: «Du magst etwas Verbotenes gemacht haben – kannst es aber immer offen sagen.» Gewöhnt sich das Kleinkind daran, dass Schwindeln unnötig und Ehrlichkeit willkommen ist, wird es mit zunehmendem Alter generell seltener lügen. Bei Kindern ab etwa fünf Jahren sollten sich Eltern und Grosseltern mehr Zeit nehmen. Bei diesem Gespräch sollten sie respektvoll bleiben: Sie können das kindliche Verhalten kritisieren, aber nicht das Kind. Den Heranwachsenden gar als Lügner zu beschimpfen ist tabu. Solches Schimpfen verletzt das Kind. Es schämt sich – und lernt, ähnlichen Situationen aus dem Weg zu gehen, indem es nicht weniger, sondern womöglich mehr flunkert. «Deshalb sollten Eltern und Grosseltern die Schwindelei möglichst nicht dramatisieren», rät Marielle Donzé vom Elternnotruf. Die Eltern können dem Kind sagen: «Ich bin zwar ein wenig enttäuscht – aber trotzdem sehr froh, dass du uns die

Wahrheit gesagt hast.» Im gemeinsamen Gespräch können die Erwachsenen den Gründen des Schwindelns nachgehen. Dabei könnten sie fragen: «Hast du Angst, dass wir dich bestrafen?» oder «Hast du dich in der Situation überfordert oder ängstlich gefühlt und deshalb geschwindelt?» Wissen die Eltern und Grosseltern, wieso ihr Kind geschwindelt hat, können sie entscheiden, ob sie etwas unternehmen müssen. Hat es beispielsweise einen Grund erfunden, um nicht mit dem Nachbarsburschen zu spielen, weil dieser es bedroht hat? Oder flunkerte es lediglich aus der Situation heraus, ohne ernste Ursachen? Ernste von harmlosen Lügen unterscheiden zu können, ist ein Ziel des Gesprächs. Ein anderes Ziel lautet: Eltern und Grosseltern sollten deutlich machen, dass

Im gemeinsamen Gespräch sollten Eltern den Gründen des Schwindelns nachgehen.

Wahrheit wichtig und positiv ist. Sie können zum Beispiel betonen, dass Ehrlichkeit gegenseitiges Vertrauen fördert – und so die Beziehung zwischen dem Kind und ihnen noch stärker macht. «Nicht zu lügen ist auch ein Zeichen von Respekt», sagt Donzé und rät, solche positiven Seiten von Ehrlichkeit zu betonen. Gleichzeitig sollten Eltern ihren Nachwuchs durchaus auf die Nachteile des Lügens aufmerksam machen. Durch Schwindeln und Lügen, so ein denkbares Argument, mache es sich das Kind unnötig schwer – weil es allein mit einem Problem kämpft, bei dem seine erwachsenen Vertrauenspersonen ihm sehr gerne helfen würden. Anschliessend können Eltern im Gespräch mit dem Kind überlegen: Wie kann es den Fehler, den es mit seinem Schwindeln verheimlichen wollte, wiedergut- ~

machen? Kann es die Vase der Nachbarn, die es kaputtgemacht hat, aus seinem Taschengeld ersetzen? Sieht das Kind, dass es seine Fehler aus der Welt schaffen kann, wird es langfristig selbstbewusster mit ihnen umgehen. Schwindeleien, die der Angst und der Unsicherheit entspringen und diese Fehler vertuschen sollen, werden dadurch weniger. Doch was tun bei Schwindeleien, die im Grunde gut gemeint sind? Etwa wenn das Kind ein Geschenk der Oma nicht mag – ihr aber sagt, es gefalle ihm sehr gut. Das schützt die Gefühle und die Beziehung zur Grossmutter, ist aber streng genommen eine Lüge. «Diese ‹weisse› Lüge kann als soziale Kompetenz und Empathie betrachtet werden», sagt Luciano Gasser. «Da müssen die Eltern selbst entscheiden, ob sie diese soziale Fähigkeit ihres Kindes oder aber die rigorose Ehrlichkeit fördern.» In diesem Fall müssen Eltern für sich selbst klären: Wo sollen wir die Grenze ziehen zwischen erwünschtem und unerwünschtem Schwindeln? Die Antwort finden die Erwachsenen ausgehend von ihrem eigenen Verhalten: Eltern, die stets ehrlich sind – ohne auf die Gefühle anderer Rücksicht zu nehmen – werden ihrem Nachwuchs kaum vermitteln können, dass er in manchen Situationen zum Wohl der Verwandten flunkern soll. Denn das Kind schaut sich ehrliches und unehrliches Verhalten auch von den Eltern ab. Über ihre Vorbildfunktion prägen Mutter und Vater den Nachwuchs – und können so bewusst auch seine Ehrlichkeit fördern. Auch der Erziehungsstil prägt den kindlichen Umgang mit der Wahrheit. Ein Elternhaus, das rigorose Regeln vorschreibt, viel Kontrolle ausübt und dem Kind kaum Freiraum lässt, führt zu Schwindeleien. Die Heranwachsenden lügen, um Aufmerksamkeit für ihre Bedürfnisse zu bekommen. Ein Elternhaus, das offene Gespräche und respektvollen Austausch favorisiert, begünstigt die Wahrheit. Hier merkt das Kind: «Meine Ehrlichkeit wird nicht bestraft, sondern hilft mir, Fehler und Probleme aus der Welt zu schaffen.» So vermitteln Eltern ihrem Kind die entscheidende Lektion: Es lohnt sich viel mehr, die Wahrheit zu sagen, als zu lügen. «Jede Entwicklungsphase des Kindes basiert auch darauf, Fehler zu machen – dazu gehören ebenfalls moralische Fehler», sagt Gasser. Doch erlebt das Kind die Ehrlichkeit und Wahrheit in seinem Elternhaus als etwas Positives, wird es auch ehrlich in die Welt hinausgehen. • Dieser Artikel erschien zuerst in «Wir Eltern» .

GENUG IST GENUG

Sobald Eltern oder Grosseltern sich von Schwindeleien überfordert fühlen und ein Leidensdruck entsteht, sollten sie fachlichen Rat einholen. Auch ein Austausch mit anderen Eltern oder den Grosseltern kann hilfreich sein.

Wird das Lügen des Kindes zwanghaft, könnte sich dahinter eine Entwicklungsstörung verbergen, die sich unter anderem in Lügen äussert.

FLUNKERN NACH ALTER

2–4 Jahre Kinder beginnen zu schwindeln. Diese Flunkereien sind oftmals ungeschickt und simpel, sodass Erwachsene sie gleich durchschauen.

4–8 Jahre Die Kinder flunkern und können dabei ernst bleiben. Sie können ihre Flunkereien jedoch für gewöhnlich nicht lange aufrechterhalten, etwa weil sie schliesslich versehentlich die Wahrheit sagen.

9–12 Jahre Die kognitiven Fähigkeiten der Kinder sind so weit entwickelt, dass sie Flunkereien auch über längeren Zeitraum beibehalten können. Allerdings ist in diesem Alter auch ihr Gespür für richtig und falsch so weit ausgeprägt, dass die Kinder wissen, dass sie sich nach dem Flunkern unwohl fühlen werden. Das hält viele vom Schwindeln ab.

WIE SOLLEN SICH ERWACHSENE VERHALTEN, WENN KINDER LÜGEN?

Bemühen Sie sich um Ehrlichkeit und Offenheit im Alltag und leben Sie so Ihre eigene Werthaltung vor. Das gilt auch bei unangenehmen oder schmerzhaften Kinderfragen, die bestmöglich ehrlich beantwortet werden.

Bestehen Sie nicht rigoros auf einem Schuldeingeständnis. Geben Sie dem Kind stets die Möglichkeit, das Gesicht zu wahren, indem es beispielsweise etwas Gestohlenes zurücklegen darf, wenn niemand anwesend ist.

Wenn das Kind einen offenkundigen Vorfall hartnäckig leugnet: Fragen Sie nach, wovor es sich fürchtet, falls die Sache ans Licht käme. Diese Furcht können Sie ihm dann durch geeignete Unterstützung nehmen.

Stellen Sie dem Kind keine Fallen, sondern sprechen sie es direkt an, wenn Sie eine Lüge vermuten.

Wenn die Situation für das Kind völlig verfahren ist: Suchen Sie gemeinsam einen Ausweg. Das Kind lernt so Bewältigungsstrategien kennen.

Blamieren Sie das Kind nicht, indem Sie es vor andern der Lüge überführen. Klären Sie die Sache unter vier Augen.

Je öfter Kinder positive Reaktionen auf Ehrlichkeit erleben, desto eher lassen sie das Schwindeln.

«Viele Lügen sind auch Wunschvorstellungen der Kinder»

ERZÄHLT DAS KIND LÜGEN, ZWEIFELN ELTERN SCHNELL AN IHRER ERZIEHUNG ODER AN DER PERSÖNLICHKEIT IHRER KINDER. FAMILIENTHERAPEUTIN MARIELLE DONZÉ ERKLÄRT, WESHALB DAS ÜBERTRIEBENE SORGEN SIND.

Von KARIN DEHMER (Interview)

Frau Donzé, der Entwicklungsforscher Kang Lee sagt: «Wenn Sie realisieren, dass Ihr Zweijähriger zum ersten Mal lügt, haben Sie Grund zum Feiern», stimmen Sie dem zu? Es ist schon so, um lügen zu können, müssen Kinder kreativ sein, über eine gewisse Intelligenz verfügen und kommunizieren können. Lügen verlangt auch Selbstkontrolle. Sonst kann man die Lüge ja nicht für sich behalten.

So weit sind aber Zweijährige noch nicht. Nein. Erst ungefähr im Schulalter kommen Kinder zur Erkenntnis, dass man andere Menschen mit einer Falschinformation täuschen und dies zu seinem persönlichen Vorteil nutzen kann. Ein zwei- oder dreijähriges Kind lügt aus anderen Gründen als ein achtjähriges.

Wo liegt der Unterschied? Ein Kleinkind lügt nicht im klassischen Sinn einer Täuschung, sondern die Lüge ist Teil eines Spiels, das Resultat von Fantasie.

Nochmals zurück zum Anfang: Lügen gehört also zur normalen kindlichen Entwicklung? Unbedingt, ja. Ich erlebe immer wieder Eltern, die schockiert sind über die Lügen ihrer Kinder. Sie nehmen die Lügen viel zu persönlich. Aber eine Kinderlüge ist nicht der Ausdruck eines schlechten Charakters oder einer ungenügenden Erziehung. Viele Lügen sind auch Wunschvorstellungen der Kinder. Sie erzählen, dass sie in Amerika waren oder super Ski fahren können, obwohl beides nicht stimmt. Da muss man als Erwachsener nicht immer gleich sagen «Das stimmt doch gar nicht!». Man kann auch zu einem gewissen Grad mitspielen: «Was hast du in Amerika alles gesehen?»

So weit so gut. Aber wie sieht es mit Lügen aus, die etwas Unschönes verheimlichen sollen? Wenn die Kinder etwas gestohlen oder kaputtgemacht haben? In solchen Fällen rate ich den Eltern und Grosseltern, den Kindern zu erklären, weshalb die Wahrheit immer der bessere Weg ist, anstatt sie zu bestrafen. Die Kinder sollten darin gestärkt werden, die Wahrheit zu sagen. Man kann auch fragen, ob es noch eine andere Motivation für die Lüge gibt, abgesehen von der Angst einer Bestrafung. Wichtig bei solchen Gesprächen ist, dass sie immer allein mit dem Kind geführt werden, nicht in Anwesenheit anderer Kinder, und vor allem erst, wenn sich nach einer möglichen Aufregung alle wieder beruhigt haben. Ist es ein Klischee oder Vorurteil, dass Kinder, die von ihren Eltern stark kontrolliert aufwachsen, tendenziell eher lügen? Kinder, die sich vor harten Strafen fürchten müssen, neigen natürlich eher dazu, zu lügen. Und wenn sie das öfter tun müssen, werden sie auch immer besser darin. Kinder brauchen Freiraum, um sich entwickeln zu können. Je grösser der moralische Druck in der Erziehung, desto grösser die Möglichkeit, dass sich das Kind irgendwann zu einer Lüge gezwungen sieht. Ich rate den Eltern immer zu Vertrauen statt zu Kontrolle. Dazu gehört es, in Kauf zu nehmen, dass auch mal etwas schief läuft.

Was halten Sie von Notlügen? Ich erlebe, dass Kinder oder Teenager Gleichaltrige nicht vor den Kopf stossen wollen und darum sagen, sie hätten bereits etwas vor anstelle von «Ich habe keine Lust auf diese Party». Also ganz so, wie wir Erwachsenen das unter Umständen auch mal machen. Sehr viele Leute finden Notlügen okay, wenn diese aus Höflichkeit geschehen – wie in Ihrem Beispiel beschrieben. Und es ist schon so, ohne Notlügen wäre unser gesellschaftliches Zusammensein sicher schwieriger. Trotzdem bin ich ambivalent. Ich bin der Ansicht,

dass man stets klar Stellung zu etwas beziehen sollte und dass man dies den Kindern auch so vorlebt.

Keine Notlügen also? Ein Teil von mir findet wie gesagt, dass Notlügen Teil der Basis unseres täglichen Nebeneinanders sind. Jeder muss für sich entscheiden, welches Mass an Ehrlichkeit für ihn richtig ist. Gleichzeitig sollten Kinder lernen, Verantwortung zu übernehmen, dazu zu stehen, wenn sie etwas falsch gemacht oder keine Lust auf etwas haben. Da hilft es nicht, wenn die Eltern ihnen erlauben, sich stets mit einer Notlüge aus solchen Situationen herauszustehlen.

Kinder lügen ja auch, um Geheimnisse zu wahren – eigene oder solche von Freunden. Das sollte respektiert werden? Grundsätzlich sollen Erwachsene nicht nachbohren, nein. Sie sollen dem Kind Vertrauen schenken, dass es weiss, was es tut. Aber natürlich kommt es darauf an, was der Inhalt des Geheimnisses ist und wie es dem Kind mit diesem Geheimnis geht. Sollte es sich sichtlich unwohl fühlen, ist es wichtig, dem Kind zu signalisieren, dass es sich Eltern oder Grosseltern anvertrauen kann und man gemeinsam eine Lösung suchen wird. Gerade wenn Kinder für sich behalten, dass es anderen Kindern schlecht geht oder diese grosse Probleme haben, ist es besonders wichtig, den Geheimnisträgern diese Last abzunehmen und ihnen aufzuzeigen, wie wichtig es sein kann, dass sie ihr Geheimnis einer erwachsenen Person anvertrauen. Das braucht Fingerspitzengefühl und sollte ohne Ausübung von Druck geschehen. •

MARIELLE DONZÉ ist Familien- und Paartherapeutin in Erlenbach (ZH). Zudem ist sie Beraterin beim Elternnotruf.

LESETIPPS

Pinocchio, Carlo Collodi, NordSüd Verlag, 2018, 35 Franken

Der Marionettenschnitzer Geppetto traut seinen Augen nicht, als die von ihm gefertigte Puppe plötzlich lebendig wird. Er tauft die Puppe Pinocchio und kümmert sich fortan um sie wie um einen richtigen Sohn. Doch bereits auf dem Weg zur Schule gerät Pinocchio in Not, und das ist erst der Anfang einer Odyssee, bei der er von einem Abenteuer ins nächste schlittert. Dass Pinocchio es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt, ihm aber bei jeder Lüge die Nase wächst, macht die Sache nicht einfacher. Schön illustrierte Ausgabe des Klassikers.

Eine dicke Lüge, Thierry Robberecht, Baeschlin Verlag, 2021, 15 Franken Lucas ist ein guter Fussballspieler. Aber dann kickt er versehentlich den Ball durchs Küchenfenster. Sein Papa ist so wütend, dass Lucas seine kleine Schwester bezichtigt. Am Abend liegt ihm dann etwas Schweres auf dem Magen. Ist es vielleicht das Dessert? Aber nein, es ist nicht das Dessert, es ist die Lüge, und sie ist so gross und schwer wie ein Elefant! Ein Bilderbuch, das die Themen Lügen und Schuldgefühle aus der Perspektive des Kindes beleuchtet.

Füchse lügen nicht, Ulrich Hub, Carlsen Verlag, 2016, ca. 9 Franken Auf einem verlassenen Flughafen sitzen Panda, Affe, Gans, Tiger, zwei Schafe und ein Hund fest. Dann taucht der feuerrote Fuchs auf und gewinnt in null Komma nichts das Vertrauen der Tiere. Eigentlich will er ihnen nur die Reisepässe stehlen. Aber braucht ein einsamer Fuchs nicht auch Freunde?

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