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Inhaltsverzeichnis
Magazin
3 Editorial 4 Inhaltsverzeichnis
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6Meine Grosseltern
Wie ein gemeinsamer Theaterbesuch mit seinem Grosi den Berner Artisten Timmermahn nachhaltig beeinflusst hat.
9Philosophieren mit Kindern
Die grossen Fragen
12 Juli meint
Unsere jüngste Kolumnistin über den Social Media Hype um BeReal
16 Freiwilliges Engagement
Anna-Maria Müller verbringt einige Nächte pro Monat auf der Notschlafstelle.
22 Anderswo: Bulgarien
Dina Koleva ist eine Bewahrerin des polyphonen Gesangs. Diese Tradition gibt sie auch an ihre Enkelin weiter.
34 Kolumne: Grossmütterrevolution
Solidarität mit der Ukraine
35 Kolumne: Meine Kinder, meine Enkel
Win-Win-Situation
Hintergrund Service
26 Sehnsucht nach den Enkeln
Enkelkinder oder Grosseltern, die im Ausland leben. Wie bleibt man einander trotzdem nahe?
32 Briefe des Urgrossonkels
Eine junge Baslerin hat über die Briefe ihres Urgrossonkels aus dem 2. Weltkrieg ihre Maturaarbeit geschrieben.
36 Jakub Samochowiec
Der Trendforscher spricht im Interview darüber, wie wir unsere Enkel in Krisenzeiten hoffnungsvoll stimmen können.
40 Bericht aus dem Wochenbett
Grosseltern Cora und Henk waren bei der Geburt ihres zweiten Enkels ganz nah dabei. Eine Bildergeschichte
48
DOSSIER Spielen
Kinder spielen in den ersten sechs Lebensjahren rund 15 000 Stunden. Ein Dossier über die wichtigste Tätigkeit Ihrer Enkelkinder.
56 Aus der Praxis
56 Hausarzt Edy Riesen 58 Hebamme Carole Lüscher 59 Psychologin Dagmar Schifferli
60 Unterwegs
60 Weihnachtliche Ausflüge 62 Wanderung 62 Hotel 63 Kulturtipps 64 Museumstesterin
66 Kaufen & Spielen
66 Einkaufstipps mit Stil 67 Licht
68 Basteln und Stricken
68 Weihnachtsschmuck 70 Cooler Pulli für kleine Enkel
72 Experimentieren Körperpass
75 Kochen
Kartoffelstock mit Seeli
76 Lesen
76 Bilderbuch über den ersten Übernachtungsbesuch der Enkelin 77 Buchtipps im Dezember und Januar
82 Das Schlusswort
Von François Höpflinger
78 Rätsel 81 Impressum/Vorschau
Foto: PD TIMMERMAHN (80) sagt über sich selber: «Ich mag das Wort Künstler nicht, wenn schon, bin ich Artist.» Der Berner gehört zu den festen Grössen der Schweizer Kunst- und Kulturszene. Er ist Kunstmaler, Poet, Erzähler, Autor und Regisseur. Zu seinem Achtzigsten hat er nun ein Buch mit achtzig seiner berndeutschen Geschichten veröffentlicht. Eine Geschichte trägt den Titel «Usflug mit Grosi». Timmermahn: «80 – bärndütschi Gschichte», Wörterseh Verlag 2022, 400 Seiten, 49.90 Franken timmermahn.ch
Von TIMMERMAHN (Text)
Wie es sich gehört, hatte auch ich damals zweierlei Grosseltern. Die von Basel und die von Langenthal. Die Basler waren Emilie-Leonie und André Klein. Grosspapa war gelernter Confiseur und Kapitalist und gründete 1906 die Firma André Klein AG NEUEWELT. Grosspapa hat drei berühmte Schweizer Süssigkeiten erfunden, die auch heute noch in aller Munde sind: Basler Läckerli, Halsfeger und Klein’s Peppermint. André Klein fuhr einen Bentley. Die von Langenthal waren Emma und Walter Binggeli. Grossvater war Maschinenmeister in der Leinenweberei, Sozialist und Mitbegründer der Gewerkschaft, und er half, Massenkundgebungen wie den «Marsch nach Bern» und etliche Streiks zu organisieren. Walter Binggeli hatte einen Velosolex. Ich hatte alle vier Grosseltern lieb, aber in der Villa in Basel war alles so streng und geregelt und die Gouvernante Claire beobachtete alles. Im Arbeiterhaus, im Haldeli in Langenthal, durfte ich Kind sein, wie ich wollte. Grossvater roch immer so fein nach Maschinenöl und machte unter der Woche Mittagsschlaf. Grosi servierte mir täglich ein frisches Eibierli. (In Milch geschlagenes Ei mit Zucker). Ein paar Mal im Jahr kamen sonntags alle Familienmitglieder zum Mittagessen. Eigener Chüngel mit Stock und Gartengemüse. Nach dem Essen versammelten sich Frauen und Kinder in der grossen Küche und die Männer blieben in der Stube und politisierten. Zum Dessert kamen wieder alle zusammen und danach gings auf den Sonntagsspaziergang zum Schorenweiher. Vom Langenthaler Grosi habe ich das Erzählen gelernt und die Affinität zum Theater. Das kam so: Jeden Abend setzte sich Grosi zu mir aufs Bett und erzählte mir die wunderbarsten Guetnachtgeschichten. Sie erzählte dermassen grandios und eindringlich, dass ich jeweils die Fortsetzung träumte. Sie lehrte mich, wie wichtig die Fantasie sei, und dass es alles, was wir uns vorstellen können, auch gebe. Eines Tages besuchten wir beide im Stadttheater die Abo-Vorstellung «Rotkäppchen». Als der Wolf sich, als Grosi verkleidet, ins Bett vom Grosi legte, um danach das arme Rotkäppchen aufzuessen, hatte ich bedauern mit dem armen Mädchen und ich war etwas bedrückt. Als Grosi mir dann, auf dem Heimweg, ein Säcklein Magenbrot kaufte, war alles wieder okay. Irgendwo musste ich mich erkältet haben und ich bekam hohes Fieber. Grosi machte mir Zibele-Fusswickel, und als diese nichts halfen, kam Frau Lappert und setzte mir Schröpfgläser an den Rücken. Das Fieber blieb hoch und so kam nach drei Tagen der Doktor Bitterli und untersuchte mich. Tags darauf wurde mein Zustand kritisch und der smarte Dr. Bitterli fragte Grosi, ob ich etwas Ausserordentliches erlebt habe, und so kam der Theaterbesuch zur Sprache. Das war dann auch der Nachweis für die Richtigkeit seiner Vermutung, und Dr. Bitterli setzte sich zu mir und erklärte, der Wolf und das Rotkäppchen seien verkleidete Schauspieler und das Rotkäppchen habe sich einfach hinters Bett fallen lassen und sei nicht gegessen worden. So gehe das auf der Bühne. Am anderen Morgen war ich fieberfrei, aber etwas enttäuscht vom Theater. Aber auch über diese schwierige Situation half mir mein geliebtes Grosi hinweg, indem es mir erklärte, ich könne ja dann einmal selber Theaterstücke machen. Mit einem Happy End. •
~ Aktuell ~ NATUR. UND WIR?
Wir lieben, verehren und schützen die Natur. Wir erforschen, erobern und verkaufen sie. Was aber ist Natur eigentlich? Wem gehört sie? Und muss sie gerettet werden oder rettet sie sich selbst? Die neue interaktive Ausstellung im preisgekrönten Museum Stapferhaus in Lenzburg fordert die Besucher:innen dazu auf, das eigene Verhältnis zur Natur zu entdecken und mitzureden, wohin die Reise gehen soll. So viel sei verraten: Die Ausstellung gibt keine Antwort. Sie regt dazu an, nachzudenken, eine eigene Position zu beziehen, den inneren Kompass neu auszurichten. ~KD
NEUE AUSSTELLUNG IM STAPFERHAUS Natur. Und wir? Stapferhaus, Lenzburg (AG) Öffnungszeiten: Di–So 9–17 Uhr Do 9–20 Uhr stapferhaus.ch
~ Aktuell ~ GESCHENKT
Unsere Weihnachtsgeschenktipps bei Le Carrousel Eine schöne Qual der Wahl: Die Redaktion von «Grosseltern» durfte beim Spielzeug-Onlineshop Le Carrousel aus dem gesamten Sortiment 15 Empfehlungen abgeben. Wir haben uns durch die liebevoll kuratierten Spielsachen geklickt und herausgepickt, was den kleinen und grossen Enkelkindern langfristig Freude machen könnte. Ob Musikinstrumente, Kasperlitheater oder Stifte – es sollte für jeden Geschmack etwas dabei sein. lecarrousel.ch/de/weihnachten/grosseltern-das-magazin
~ Kindermund ~
ALT NICHT WÜST
Julia und Leo schauen der Grossmutter beim Kochen zu. Julia: «s Grosi isch kei alti Frau.» Leo: «Mol, aber alt isch ned wüescht.»
Von Susan Lerch
Was hat Ihr Enkelkind Lustiges gesagt? redaktion@grosseltern-magazin.ch
~ Aktuell ~ EHRE...
... wem Ehre gebührt: Unser Bilderbuchexperte Hans ten Doornkaat wurde mit dem Dreitannen Ehrenpreis ausgezeichnet. Der Verein Buchfestival Olten vergibt den Preis zusammen mit der Hans und Beatrice Maurer-Billeter-Stiftung. In der Ankündigung schreiben sie: «Hans ten Doornkaat ist ein Glücksfall für die Schweizer Kinderbuchszene.» Wir gratulieren.
Einen Augenblick staunen Thomas Gröbly, 2022 Verlag Edition Volleshaus, 172 Seiten, Fr. 31.90
~ Aktuell ~
LEBEN & TOD
Er ist gelernter Bauer und reformierter Theologe: Der Aargauer Thomas Gröbly. Bis 2018 war er Dozent für Ethik und Nachhaltigkeit. Er ist ein Denker. Und er ist stolzer Grossvater. Im Frühling 2016 wurde bei ihm Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) diagnostiziert. Diese Diagnose hat ihn zu seinem neuen Buch «Einen Augenblick staunen» inspiriert. Es sind «Variationen über Sterben, Nachhaltigkeit und friedfertiges Leben». Thomas Gröbly nimmt seine Krankheit und die Zukunft seines zweijährigen Enkels als Ausgangspunkt für Fragen zu Leben und Tod. Das Buch eröffnet und schliesst er mit einem Brief an seinen zweijährigen Enkel Norin, dem das Werk auch gewidmet ist. Er schliesst mit den Worten: «Höre auf dein Herz! Dein Grossvater.»
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~ Juli meint ~ LET'S BE REAL
Lasst uns mal ein bisschen echt sein – so will es die App, die sich gerade bei vielen Jugendlichen auf dem Handy befindet. Echt sein – das ist der Sinn der Sache. Und so funktioniert’s: Einmal pro Tag erhalten alle Appbenutzer gleichzeitig eine Nachricht: «Time to BeReal!» Dann hat man zwei Minuten Zeit, ein Bild davon zu posten, was man gerade tut. Die Handykamera schiesst auf beide Seiten gleichzeitig ein Bild, das heisst, auf der einen Seite ist man meistens selber drauf und auf der anderen die «Aussicht», die man gerade hat. Wann diese Nachricht kommt, ist völlig unterschiedlich. Man kann also nicht voraussehen, wann man «BeReal» sein muss. Verpasst man die Nachricht und die zwei Minu-
ten, ist das kein Problem. Man macht es einfach, sobald man die Nachricht auf dem Handy aus dem Leben einer 14-Jährigen sieht. Dieses Bild sehen dann alle, die die App auch haben und denen man erlaubt hat, die eigenen «BeReals» zu sehen. Meistens sind das bloss die engsten Freunde. So hat man auch keine Hemmungen, sich wirklich «real» zu zeigen.
Die Idee ist, dass man, im Gegensatz zu anderen Apps, zum Beispiel Instagram, auch die Orte oder Tätigkeiten zeigt, die es eigentlich nicht würdig sind, zu posten.
So sieht man, dass eben nicht alle andern nur Spass haben und tolle Sachen erleben, sondern auch mal bloss lernen oder putzen oder einfach nichts tun.
Ich finde es eine sehr schöne Sache. Mir selbst macht es meistens Spass. Klar gibt es auch problematische Seiten. Zum Beispiel wenn man sieht, dass alle aus deiner Klasse bereits für den Test in zwei
Wochen am Lernen sind. Mich persönlich stresst das dann sehr. Aber im Grossen und Ganzen geht «BeReal» mit einer guten
Botschaft voran: Das Leben besteht nicht nur aus schönen und ästhetischen Momenten. Und dass dieser Umstand nichts ist, was man irgendwie verstecken müsste. Deshalb: Let‘s just Be Real. •
Juli ist Schülerin an der Kantonsschule Wettingen (AG).
~ Aktuell ~
SENIOREN UNIVERSITÄT
Forschungsorientiert, niederschwellig, unabhängig und innovativ: Die Seniorenuniversität gibt es seit 1985, sie richtet sich als Bildungseinrichtung der Universität Zürich und der ETH Zürich an alle Bürgerinnen und Bürger im Dritten Lebensalter – unabhängig ihrer bisherigen Bildung. Teilnahmeberechtigt sind Personen über 60 Jahre. Für einen Jahresbeitrag von 150 Franken pro Kalenderjahr haben die Mitglieder freien Zugang zu den ausgeschriebenen Vorlesungen und Sonderveranstaltungen. Die Vorlesungen finden als Präsenzveranstaltungen an der Universität Zürich Irchel statt, die Sonderveranstaltungen auch an anderen Orten. Zusätzlich werden sie per Zoom/Livestream übertragen. Solange Plätze vorhanden sind, können auch nicht registrierte Seniorinnen und Senioren an der Kasse vor dem Hörsaal Einzeleintritte kaufen.
NÄCHSTE VERANSTALTUNG
DIENSTAG, 18. JANUAR Nachlassplanung – Was ändert sich durch die Erbrechtsrevision? Wie verfasse ich ein Testament? Wen kann ich begünstigen? Was passiert, wenn ich kein Testament hinterlasse? Was ändert sich durch das neue Erbrecht?
RECHTSANWÄLTIN SANDRA SPIRIG, Zürich UZH Foundation 14–16.30 Uhr
DONNERSTAG, 22. DEZEMBER Astronomie in der vormodernen islamischen Welt: Entstehung, Ausbreitung und Wirkung in Westeuropa
DR. JOHANNES THOMANN, Universität Zürich-Irchel 14.15–15.45 Uhr
Das Vorlesungsverzeichnis inkl. Sonderveranstaltungen, Anmeldung und Infos auf seniorenuni.uzh.ch
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~ Aktuell ~ ARM IM ALTER
Rund 300 000 Menschen über 65 Jahren leben aktuell in der Schweiz an der Armutsgrenze. 46 000 von ihnen sind ausweglos arm. Dies sind die Ergebnisse des neuen Altersmonitors von Pro Senectute Schweiz. «Die Schweiz hat eines der weltweit besten Altersvorsorgesysteme. Trotzdem nimmt die Problematik der Altersarmut zu», sagt Geschäftsleitungsmitglied Alexander Widmer, der den Altersmonitor bei Pro Senectute Schweiz verantwortet. Die Studie untersuchte ausserdem Gründe respektive Risikofaktoren für Altersarmut. Neben Frauen und ausländischen Staatsangehörigen sind vor allem Personen ohne sekundäre oder tertiäre Ausbildung betroffen. Menschen auf dem Land laufen ebenfalls eher Gefahr, im Alter wenig zum Leben zu haben, als die ältere Bevölkerung in den Städten.
Quelle: Pro Senectute
Jetzt
~ Zitat ~
«JETZT KANN ICH ES ENDLICH OFFIZIELL MACHEN: ICH BIN FRISCH VERLIEBT, UND ERST NOCH IN EINEN SEHR VIEL JÜNGEREN MANN.»
«SPORTDATE»-MODERATORIN REGULA SPÄNI VERKÜNDET AUF INSTAGRAM DIE GEBURT IHRES ERSTEN ENKELS
Foto: zvg
~ Getestet ~
KEINE ZU KLEIN...
TUKI-LERNTURM ab ca. 299 Franken, tuki.ch
... eine Meisterköchin zu sein. Kochen, rüsten, waschen: für viele Enkel das Grösste. Das ist doch schön, oder? Noch schöner, wenn die Kleinköch:innen dabei geschützt sind, nicht von der Küchenablage runterpurzeln oder man nicht ständig den Stuhl wieder ranschieben muss, weil der nach hinten rutscht. Deshalb haben wir den Tuki-Lernturm getestet. Was für eine Erfindung! Der steht fest da, man kann nicht hinten rausfallen und die Höhe lässt sich anpassen. Während unser dreijähriger Testkoch also wichtig ein Rüebli schälte, konnte die Grossmutter daneben in aller Ruhe kochen. Nachdem das Rüebli zu Rüeblisalat fertig geschält wurde, haben wir den Lernturm ganz leicht zum Lavabo verschoben. Dort durfte der Dreijährige abwaschen, was er sehr gern und mit viel Schaum macht - wenn auch nicht gründlich. Aber dafür kann ja der Tuki nichts. Und ausserhalb der Küche? Da ist der Tuki gern zu Diensten im Bad zum Zähneputzen oder als Schiffsmast in der Stube fürs wilde Piratenfest. Der Tuki-Lernturm stammt vom Schweizer Start-up mimodo von Dominic Ill (20) und Simon Thut (21). Die beiden sind seit ihrer Kindheit eng befreundet und haben schon früh beschlossen, zusammen ein Unternehmen aufzubauen. Die Tuki-Lerntürme sind aus Buchenholz. ~CAP
«WENN ALLE BETTEN BELEGT SIND, MÜSSEN WIR NOTSUCHENDE ABWEISEN»
Mein FREIWILLIGES ENGAGEMENT
WER
Anna-Maria Müller (61) aus Leibstadt (AG)
WOFÜR
Notschlafstelle Baden
FUNKTION
Freiwillige Betreuerin
«Die Notschlafstelle in Baden wurde vor 3 Jahren eröffnet. Im Auftrag des Vereins Notschlafstelle Aargau wird sie vom Christlichen Sozialwerk HOPE betrieben. Für die Gäste stehen insgesamt 12 Betten zur Verfügung. Die Notschläfer müssen um 20 Uhr hier sein. Die Vergabe der Betten funktioniert nach dem Prinzip ‹first come, first served›. Ja, das ist nicht immer einfach, jemanden wegweisen zu müssen, wenn die Plätze alle belegt sind. Das muss ich als Freiwillige aber nicht machen. Auch Streit schlichten unter den Gästen muss ich nicht. Das macht jeweils die fest angestellte und dafür ausgebildete Person. Wir sind immer zu zweit: Eine Festangestellte und eine Freiwillige. Ich bin für die Küche zuständig. Kochen, tischen, abwaschen. Die Gäste haben die Möglichkeit, sich zu duschen und wir waschen ihnen auf Wunsch auch ihre Kleidung. Hat jemand keine frischen Kleider dabei, haben wir einen Fundus an gespendeter Ware, aus dem sie sich etwas aussuchen dürfen. Nicht alle unsere Gäste leben tagsüber auf der Strasse. Es hat immer auch solche, die gehen einer Arbeit nach. Aber die, die den ganzen Tag draussen sind, sind oft sehr müde. Sie gehen nach dem Essen schon bald ins Bett. Grundsätzlich ist aber erst um Mitternacht Nachtruhe. So lange bleiben wir bei den Gästen sitzen. Manchmal gehen sie nach dem Essen auch nochmals auf die Gasse. Sie müssen aber bis 23 Uhr zurück sein. Drogen und Alkohol dürfen in den Räumen der Notschlafstelle keine konsumiert werden. Kommt jemand zu ‹verladen› zu uns, wird vor Ort entschieden, ob er oder sie trotzdem reinkommen darf. Da kann es auch mal vorkommen, dass wir die Polizei um Hilfe rufen müssen, wenn jemand beginnt zu randalieren. Aber eine gefährliche Situation oder eine, in der ich Angst haben musste, habe ich noch nie erlebt. Die meisten Gäste sind auch einfach dankbar und froh um unser Angebot. Ich höre mir die Lebensgeschichten an und urteile nicht. Ich kann mich auch gut abgrenzen. Gegen ein Uhr morgens wird es meist ruhig und wir legen uns ebenfalls schlafen. Manchmal müssen wir nochmals auf, wenn die Polizei jemanden vorbeibringt oder wenn einer der Gäste im Haus ‹herumgeistert›. Meist komme ich aber zu ein paar Stunden Schlaf. Am nächsten Morgen servieren wir ein kleines Frühstück und danach helfe ich beim Bettenabziehen und Putzen. Bis 9 Uhr müssen alle Gäste wieder draussen sein. HOPE bietet einen kostenlosen Sozialdienst an, der Obdachlose dabei unterstützt, ihr Leben wieder in geordnete Bahnen zu bringen. Das funktioniert nicht immer, aber es gibt sie, die Erfolgsgeschichten.»
hope-baden.ch
Für was engagieren Sie sich freiwillig? Wir freuen uns über Ihre Zuschrift. redaktion@grosseltern-magazin.ch
Zwischen den Zeilen: Hunde, Weihnachtsbeleuchtung, Glühwein in Weiss, Blumen, Cappuccino, saure Zungen, Gipfeli, Gin Tonic, Cordon Bleu, Lifecoach, Lifestyleberaterin, Bastelmaster, Total Eclipse of the Heart, Yoga, Wandern, Fluchen, Musikraten, Teppich in der Gasse, Käse, reden, lachen
«Unser Abfalltrennsystem gibt viel zu erklären»
Die Plattform UBS Helpetica bringt gemeinnützige Projekte und Menschen auf der Suche nach einem freiwilligen Engagement zusammen. Ineke Irniger hat auf diese Weise zu «Wohnstart» gefunden, einem vom Kanton Aargau finanzierten Pilotprojekt der Caritas.
«Wohnstart» von Caritas Aargau richtet sich an Geflüchtete, die in der Schweiz zum ersten Mal in eine eigene Wohnung ziehen und dabei praktische Unterstützung brauchen. Freiwillige besuchen die Familien oder Einzelpersonen und erklären ihnen die Hausordnung, wie die Haushaltsgeräte funktionieren oder wofür der Hauswart zuständig ist. Eine dieser freiwillig Engagierten ist Ineke Irniger (61): «Ich bin der Meinung, wir sollten alles dafür tun, damit sich Menschen, die hierher geflüchtet sind, schnell integrieren und wohlfühlen.» Ineke Irniger betreut zurzeit eine kurdische Familie mit vier Buben. «Viele Geflüchtete wollen alles richtig machen. Die meisten besuchen in den kantonalen Unterkünften Sprachkurse und lernen bereits da viel über die Lebensweise in der Schweiz», berichtet sie. Gibt es ein Problem oder offene Fragen beim Umzug, so bietet «Wohnstart» Hilfe zur Selbsthilfe. «Das ist ganz wichtig», so Irniger. «Ich rufe nicht für meine Mentées beim Hauswart an, sondern ich bereite sie auf das Gespräch vor. Die Idee ist, dass sie lernen, sich selbständig zurechtzufinden.» Spricht eine Familie zu wenig Deutsch, wird Ineke Irniger bei ihrer Aufgabe eine Übersetzerin zur Seite gestellt. Zwei bis vier solcher Besuche macht sie innerhalb eines halben Jahres, ausgerüstet mit einer
Ineke Irniger und die kurdische Familie, die sie nach ihrem Einzug in die eigene Wohnung betreut.
Foto: Caritas Aargau
Checkliste für die verschiedenen Tücken unseres Mietwesens. «Das Schweizer Trennsystem für den Abfall gibt jeweils viel zu erklären», lacht sie. Daneben werfen Hausordnung, geeignete Putzmittel, was man in Mietwohnungen darf oder nicht Fragen auf. «Glücklicherweise habe ich bis jetzt die Nachbarn der Familien stets als sehr hilfsbereit erlebt.» Ineke Irniger nimmt die Flüchtlingsfamilien als sehr interessiert am Austausch mit Schweizerinnen und Schweizern wahr. «Und mir selbst ermöglicht dieses Engagement einen Einblick in eine fremde Kultur und einen anderen Lebensalltag. Es fördert das gegenseitige Verständnis.»
Sind auch Sie an einem freiwilligen Einsatz für «Wohnstart» oder einem anderen gemeinnützigen Projekt interessiert? ubs-helpetica.ch
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~ Kinderkunst ~
ENKELS
PERSPEKTIVE
Wie Jana (damals 5 Jahre alt) ihr Grosi sieht: Partner Hansueli (li) mit Grosi (unten Mitte) und den beiden Enkelinnen Jana und Alina in den Skiferien. Oft und jeweils in kürzester Zeit zaubert Jana Familiensituationen aufs Papier, die uns schmunzeln lassen und dann meine Türen und Wände dekorieren. Es sind wunderschöne Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit, die auch meine Besucher erfreuen.
Regula Suter per Mail
Wie hat Ihr Enkelkind Sie gezeichnet? redaktion@grosseltern-magazin.ch
~ Aktuell ~ INSPIRATION – IMITATION
Das Glarnertüechli ist eines der bekanntesten Symbole für Swissness. Und für den Glarner Textildruck. Seit dem 18. Jahrhundert bedruckten Glarner Druckerinnen und Drucker Stoffe, die die Farbigkeit und Formensprache gewobener, bestickter oder bemalter Stoffe imitierten. Diese wurden anschliessend wieder auf den ganzen Kontinent exportiert. Eine nicht überblickbare Vielfalt an Mustern und Farben entstand: leuchtend rote orientalische Tücher, geometrische Ornamente aus Java, Rosenbouquets oder Palmenblattmotive aus Kaschmir auf Kopf-, Schulter- oder Hüfttücher gedruckt. Die Autorin Bettina Giersberg zeigt diese Epoche der Schweizer Industrie- und Kulturgeschichte in ihrem Buch «Die Kunst der Imitation» auf – mit vielen Bildern auch schön zum Anschauen. ~CAP
Baumwolltuch der Textildruckerei Bartholome Jenny & Cie., Ennenda, um 1880/1890
DIE KUNST DER IMITATION Bettina Giersberg, Hier & Jetzt 2022, 132 Seiten, 38.90 Franken
~ Aktuell ~ WINTERRITUALE
1. KERZEN – ihr Licht macht alles wärmer. Auch den kältesten und grausten Wintermorgen oder -abend. 2. Und apropos: Kerzenziehen. Macht Gross und Klein Spass. 3. Maroni essen: Ob gekauft oder selber geröstet. Bei Letzterem vor dem Rösten unbedingt lang genug im Wasser einweichen. 4. Kaffeepause: Gönnen Sie sich und Ihren Enkeln ein Wohlfühlheissgetränk. Einen Cappuccino für Sie und Babyccino für die Enkel. Einfach Milch aufschäumen, mit Zimt, kleinen Zuckerperlen oder Schoggipulver bestreuen. Fertig. 4. Backen: Im Advent Grittibänze, Guezli. Im Januar Schokoladenkuchen aus der übrig gebliebenen Weihnachtsschokolade.
5. Bücher erzählen und lesen: Gehen Sie mit Ihren Enkeln in die Bibliothek. Viele haben eine Themen-Ecke, wo sie zur Saison oder zum Anlass passende Bilder- und Erzählbücher sortiert aufstellen. Man kann sie gleich da erzählen und anschauen oder man nimmt sie mit nach Hause. 6. Ein Winterfeuer machen: Stiefelen Sie zusammen in den Wald und machen Sie ein Feuer. Nehmen Sie zwei Thermoskannen mit: eine mit Glühwein, eine mit heisser Schokolade. 7. Draussen Seifenblasen machen. Im besten Fall gibts gefrorene Regenbogenbälle. 8. Machen Sie kunstvolle Eisfiguren: Förmli (z.b. vom Sändele oder Muffinblech) mit Wasser und Zäpfen, Tannennadeln, Hagebutten füllen und über Nacht auf dem Balkon gefrieren lassen. ~CAP
~ Buch ~ FÜR DIE ENKEL GEMACHT
Wenn Grosseltern für ihre Enkel kreativ werden, kommen immer liebevolle Sachen dabei raus. Die wollen wir in unregelmässigen Abständen mit anderen Grosseltern teilen. Als Inspiration oder einfach nur zum Anschauen. Zum Beispiel Familie Meier aus Zürich: Sie hat zum ersten Geburtstag der ersten Enkelin ein kleines Büchlein mit Kinderreimem und Zeichnungen verfasst. Die Illustrationen stammen von Martina Forster. Sie ist die Tante der kleinen Luzia.
FRÖHLICHES GEZWITSCHER
Kurz und knapp: Auf der Plattform Twitter können Userinnen und User Kurznachrichten oder Kommentare verbreiten. Über Politik, Gesellschaft. Oder die Grosseltern. Alles, was einem halt wichtig ist und auf der Zunge brennt. Twitter-perlen.de sammelt Tweets zu verschiedenen Themen, so auch zu Grosi und Opa. Quelle: Twitterperlen.de
~ Bildarchiv ~ LUFT
AUFNAHME
Foto: ETH Bildarchiv
Dieser Kantonshauptort weist dank seiner Föhnlage eine der höchsten Durchschnittstemperaturen in unserem Land auf. Sie ist vermutlich auch die älteste Schweizer Stadt. ~KD
Die Lösung finden Sie auf Seite 78.
~ Die Zahl ~ 242
Milliarden Franken ist die Care-Arbeit von Frauen wert.
Quelle: bfs
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Aarau | Amriswil | Arbon | Bad Ragaz | Basel Bern | Biel | Brig | Buchs | Luzern | Lyss | Marbach Mels | Olten | Seewen | Solothurn | Stans St. Gallen | Sursee | Thun | Visp | Wil | Winterthur Würenlingen | Zug | Zürich | rhomberg.ch
«Schütze die Lieder!»
Von MICHAELA SCHNEIDER (Text und Fotos)
Der polyphone Gesang wird in Bulgarien von der Grossmutter zur Mutter zur Enkelin weitergegeben. Eine der Bewahrerinnen dieser jahrhundertealten Tradition ist Dina Koleva. Den Grundstein für die Passion legte Dinas Grossmutter.
Auf CD und live: Das Repertoire der Bistritsa Babi umfasst rund 300 Lieder. Dina Koleva sorgt dafür, dass dieses Kulturgut nicht in Vergessenheit gerät.
Foto ganz rechts: Das Initiationsritual «Lazaruvane».
Foto: Simone Weiss
SOFIA
BISTRITSA Die klaren, kräftigen A-cappella-Stimmen der Grossmütter tönen fremdartig. In würdevoller Haltung stehen die Bistritsa Babi auf der Bühne und nehmen das Publikum mit auf eine Reise in die Vergangenheit. In melancholisch anmutendem, wechselseitigem Sprechgesang erzählen sie Geschichten aus ihrem Dorf. Beschreiben Alltagserlebnisse wie die Arbeit auf dem Feld, das Werben um eine Braut, das Segnen eines Neugeborenen oder auch Fehden zwischen einzelnen Familien. In Friedens- wie in Kriegszeiten wurden diese archaische Form des polyphonen weiblichen Gesangs, alte Tänze und vorchristliche rituelle Praktiken in den südlichen Balkanländern gepflegt und weitergegeben. Bis heute. Der Stolz darüber, in einer jahrhundertealten kulturellen Tradition zu stehen, kommt auch im Gespräch mit Dina Koleva zum Ausdruck. Die 69-Jährige ist die älteste der acht Babi aus dem bulgarischen Dorf Bistritsa, in der Shoplouk-Region. Sie ist Mutter und Grossmutter und sagt: «Ich bin schon mit dieser Tradition aufgewachsen, sie wird immer weitergegeben, von Grossmutter zu Mutter zur Enkelin. Als Mädchen, so mit 14 oder 15 Jahren, geht man vier bis fünf Jahre mit den Älteren mit, um die Lieder und Tänze zu üben. Ich habe das geliebt.» Ausführlich, unaufgeregt und bescheiden schildert sie die Besonderheiten der sogenannten «Shop»-Polyphonie (von Shoplouk). Sie wird auch als Diaphonie bezeichnet, denn während die Melodie von der einen Hälfte der Sängerinnen gerufen wird, hält die andere Hälfte einen monotonen, fast dröhnenden Ton. Das reichhaltige Repertoire der Bistritsa Babi umfasst mehr als 300 Lieder. Fast jede Tätigkeit im bäuerlichen Alltag wurde singend begleitet. Im Lauf der Zeit entstand so ein genau festgelegtes System, erläutert Dina Koleva. «Wenn Frauen morgens zum Feld gingen, wurde ein bestimmtes Lied gesungen, mittags wieder ein anderes. Wenn die Arbeit auf dem Acker beendet war, ~
BULGARIEN Fläche 110.994 km² Hauptstadt/Regierungssitz Sophia Amtssprache Bulgarisch. Sie gilt als älteste slawische Sprache und wird von ca. 2 Mio. Menschen ausserhalb Bulgariens gesprochen. Schriftlich wird die kyrillische Schreibweise verwendet. Minderheitensprachen sind Romani und Armenisch sowie ein türkischer Dialekt. Bevölkerung ca. 6.78 Millionen; seit dem Zerfall der Sowjetunion sinkt die Population kontinuierlich von ehemals ca. 9 Mio durch Abwanderung in EU-Länder, niedrige Geburtenraten und geringere Lebenserwartung. Ethnien Die Bevölkerung besteht zu ca. 85 % aus ethnischen Bulgaren. Türken (ca. 8.8%) und Roma (4.9 %) sind die grössten Minderheiten. Die Roma gelten als stigmatisierte Bevölkerungsgruppe, viele von ihnen leben in Armut. Sie haben besonders schwer unter Ausgrenzungen während der Coronakrise gelitten. Religion die Verfassung garantiert Glaubensfreiheit, das östlich-orthodoxe Christentum wird jedoch als traditionelle Religion betont. Nationalspeisen Tarator, kalte Gurkensuppe. Banitsa, Käsekuchen mit Käse, Joghurt und Eiern, auch mit Kohl, Spinat oder Kürbis gefüllt, wird zum Frühstück gegessen. Dschuwetsch ist ein traditionelles Schmorgericht aus Gemüse und Lammfleisch. Gepflogenheit Kopfnicken gilt als Verneinung; Kopfschütteln als Bejahung. Diese Konvention geht der Sage nach auf einen Freiheitskämpfer zurück, der mit einer Schwertspitze unter dem Kinn gefragt wurde, ob er am Leben bleiben wolle. Nationalfeiertag: 3. März «Der Tag der Befreiung vom türkischen Joch» 1878. ~MS
standen alle auf und sangen noch mal ein Lied. Auch auf dem Heimweg, wenn man sich auf dem Dorfplatz versammelte, um Wasser zu holen oder Handarbeiten zu machen, sang man. Es waren immer verschiedene Lieder und nur die Frauen sangen auf diese Weise.» Jahrhundertelang war es Aufgabe der Grossmütter, für die mündliche Überlieferung dieser Tradition an die nachfolgenden Generationen zu sorgen. Das Erlernen des Liedgutes und der Tänze war wichtiger Bestandteil der Erziehung von Mädchen und jungen Frauen und fand ausschliesslich in der Familie statt. Bis 1937 vier Grossmütter begannen, das Bistritsa Chetvorka oder Bistritsa-Quartett vokal zu begleiten. Dadurch wurde diese Tradition einer breiteren Öffentlichkeit in Form von kulturellen Auftritten zugänglich gemacht. Während der polyphone Gesang früher vor allem der Ablenkung vom anstrengenden bäuerlichen Arbeitsalltag diente, wird seine Einzigartigkeit heute als Teil des folkloristischen Erbes Bulgariens geschätzt. Dennoch sind die alten Klänge in den meisten Regionen des Landes verstummt. In der Dorfgemeinschaft von Bistritsa sind sie, ebenso wie die traditionellen Feste, bis heute fest verankert und lebendig geblieben. So wird etwa jeden Samstag vor Palmsonntag «Lazariza» gefeiert. Das Fest war Bestandteil bäuerlicher Traditionen in den südlichen Balkanländern, lange bevor diese christianisiert wurden. Damit sollten im Frühling die Naturkräfte aus dem Wintertod erweckt werden und Fruchtbarkeitsgeister den Bauern eine reiche Ernte bescheren. Mädchen und junge Frauen repräsentierten als zukünftige Lebensspenderinnen diese Hoffnung. Sie sangen und tanzten, um so das Gedeihen der Saat und das Wohlergehen von Mensch und Tier im Dorf zu sichern. Mit zunehmendem Einfluss eines argwöhnischen Klerus passten die Bauern diesen heidnischen Brauch den Vorgaben der Kirche an. Das Fest verschmolz mit der biblischen Geschichte. «Lazaruvane» ist ein facettenreiches Initiationsritual, bei dem junge Frauen im heiratsfähigen Alter zum ersten Mal der Dorfgemeinschaft vorgestellt werden. «Alle Frauen in meiner Familie hatten ihren Lazarov-Tag, als sie Mädchen waren. Meine Urgrossmütter, Grossmütter, meine Mutter und meine Schwester waren Lazarizi. Und nun wird meine Enkelin Iliana Lazaruva daran teilnehmen bis sie heiratet», sagt Dina Koleva. Und die Enkelin Iliana mag es. «Weil ich mich an diesem Tag besonders fühle.» In farbenfrohen Kostümen und prächtigem Kopfschmuck ziehen sie durch den Ort. «Sie wollen den Familien Glück bringen. Und Ältere oder Kranke erfreuen, indem sie sie fragen, ob sie ein besonderes Lied wünschen. Das ganze Dorf ist voller Mädchen, die zu sechst unterwegs sind. Immer zwei tanzen und jeweils vier singen, wobei die Grossmütter bestimmen, welches Mädchen welche Stimme singt.» «Lerne die Tradition und schütze die Lieder!» Es war Dinas Grossmutter, die den Grundstein für eine lebenslange Passion legte, indem sie ihr Liedrepertoire der Enkelin aufschrieb mit der Bitte, es ihrerseits weiterzugeben. Es ist auch Dina Koleva zu verdanken, dass die soziale Funktion dieser Traditionen in Bistritsa beibehalten wurde. Seit Jahrzehnten bemüht sie sich um die Einbindung von Mädchen, um das Vermitteln der Lieder, das Einüben von Tänzen. Sie ist die «Seele» der Bistritsa Babi. Ihr leidenschaftlicher Einsatz hat sich ausgezahlt – vor einigen Jahren trat eine Gruppe Enkelinnen der Gruppe bei. Stolz erwähnt Dina Koleva, dass die Bistritsa Babi 2008 von der UNESCO in die «Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit» aufgenommen wurden. Die Auszeichnung kam mit der Auflage, «alles an die Mädchen und jungen Frauen so weiterzugegeben, wie es die Tradition verlangt». Sie legt grossen Wert darauf, dass die sorgsam geschneiderten Trachten «absolut authentisch» sind und nur in der Familie weitergegeben werden. «Ich habe mit ‹Lazariza› angefangen, es war ein schwieriger, langsamer Prozess. Aber die jungen Frauen, die heute daran teilnehmen, sprechen mit Liebe über die Tradition, das gibt mir die Hoffnung, dass sie nicht ausstirbt.» •
Von GERALDINE CAPAUL (Redaktion)
Fernbeziehung Fernbeziehung
Fünf Grosseltern erzählen, wie sie die Beziehung zu ihren Enkeln über Grenzen hinweg leben und erleben.
Immer wieder Abschied nehmen für wer-weiss-wie-lang, nicht da sein beim ersten Schultag, keine wöchentlichen Hüteeinsätze. Dafür intensiv genutzte Wochen des engen Zusammenseins, Briefe und Skypetelefonate, die über den Alltag hinaus Sachen behandeln: Wenn die Enkel in einem anderen Land leben, bringt das andere Herausforderungen, anderes Zusammensein mit sich, als wenn sie die Strasse runter wohnen. Wir haben Grosseltern gefragt, wie das ist, wenn die Enkelkinder in einem anderen Land leben? Wenn man für einen Besuch ein paar Stunden reisen muss? Und wie es gelingt, eine nahe Beziehung auf Distanz zu führen? «Grundsätzlich muss eine Fernbeziehung zum Enkelkind kein Nachteil sein. Wenn man sie bedürfnis- und altersgerecht für alle Beteiligten gestaltet, kann sie ebenso bereichernd sein», sagt Beatrice Beutler, Beraterin Frühe Kindheit und Grosselternberaterin bei der Mütter- und Väterberatung Kanton Bern. «Distanz kann zudem helfen, das Beziehungsdreieck Eltern-Kind-Grosseltern klarer zu definieren.» Wieviele Enkel und Grosseltern tatsächlich eine Fernbeziehung führen, ist statistisch nicht erfasst. Da wir aber in einer immer globaler werdenden Welt leben, dürften es einige sein. So haben wir in kürzester Zeit fünf Familien gefunden, die von ihrem Leben über Grenzen hinweg erzählen.
Schweiz-USA
MICHAELA SCHNEIDER
Erneut nehme ich Abschied von meinen beiden kleinen Enkeln, Simon (4) und Noah (3). Die Umarmungen am Flughafen in New York nehmen kein Ende, sie laufen mir noch in die Security Line hinterher. Mir ist bewusst, dass wir uns nun wochenlang nicht sehen werden. Aber die Wehmut darüber hält nicht lange an, denn ich weiss um unsere innige Beziehung. Fast fünf Jahre teilten meine Tochter und ihre Familie mit uns unser Haus in Kalifornien. Mein Mann und ich lebten meistens in der Schweiz, verbrachten aber immer wieder mehrere Wochen bei ihnen, gemeinsam oder einzeln. Vollständig und intensiv tauchten wir ein in den Alltag einer Grossfamilie, waren Teil ihres Lebens. Mehrmals nutzten die Eltern unseren Aufenthalt für einem Urlaub zu zweit und vertrauten uns mit grosser Selbstverständlichkeit ihre Buben an. Highlights für Grosseltern und Enkel: Zeit für Ausflüge zum Strand und in die Redwood-Wälder, für das Lieblingscafé mit Live-Musik und Eis, für eine Fahrt mit dem Scooter über die Golden Gate Bridge, einen Bummel am Hafen von San Francisco. Geschlafen wurde – ausnahmsweise! – bei uns im Bett. Am gemütlichsten aber waren die Morgen dort. Mit Tee und einer weiteren Geschichte von zwei Brüdern – die, oh Wunder, Simon und Noah heissen – und deren abenteuerlicher Reise durch Amerika – immer auf Deutsch. Denn die Eltern legen grossen Wert darauf, dass die europäische Verwandtschaft nur deutsch mit den Buben spricht. So kann es passieren, dass Simon scherzhaft meint: Nanni, du bist aber wirklich eine Schlumpumpe, oder Noah sich amüsiert: Grandpa macht wieder Spökes. Für die beiden ist unser Kommen und Gehen zur Selbstverständlichkeit geworden. Sie folgen unserer Reiseroute auf dem Globus, finden die Schweiz, und werden meistens vom kleinen Zwerg Muggestutz aus dem Haslital, der an ihren Rücksäcken hängt, begleitet. Die Zeiten der Trennung überbrücke ich mit häufiger Post. Statt zappelige Skype-Sitzungen vor dem Computer, gibt es persönliche Briefe, die aus der Mailbox geholt werden, und jedes Mal etwas anderes enthalten: Fotos von unserem letzten Aufenthalt oder Tiergeschichten mit Aufnahmen aus dem Haslital. Einen kommenden Besuch von Nanni und Grandpa kündige ich mit einer Postkarte von Janosch oder Petterson & Findus an – dann werden wir mit strahlenden Gesichtern, selbst gemalten Bildern oder auch der Puppe Lola am Flughafen wieder in Empfang genommen. In diesem Sommer ist die Familie nun an die Ostküste umgezogen. Damit verbunden werden unsere Besuche einen anderen Charakter erhalten, ihre Wohnung ist zu klein, um dort für längere Zeit mit uns Grosseltern zu verbleiben. Auch unsere Beziehung wird sich anders gestalten. In einer Ferienwohnung untergebracht, werden wir nicht mehr die gleiche Nähe in ihrem Alltag erleben. Aber ich vertraue darauf, dass die enge Beziehung, die wir in den ersten Jahren ihres Lebens aufbauen konnten, eine solide Grundlage hat. Die vielen gemeinsamen Erinnerungen verbinden uns, werden uns weiter tragen. Bald sind sie alt genug, um mit uns ohne Eltern den Sommer im Haslital zu verbringen – natürlich auf Muggestutz’ Spuren!
Michaela Schneider und Martin Reinhard mit ihren beiden Enkeln.
Deutschland-Island
RENATA ALF
Island ist als Touristenziel ja gerade der Renner: Geysire, Gletscher, Wasserfälle, heisse Quellen, sogar ein aktiver Vulkan … Ich komme allerdings nicht als Touristin, sondern als Oma. Was verleitet Töchter, in diese kalte und unwirtliche Gegend zu ziehen? Ganz einfach: Es sind die Pferde! Dazu die wunderbare Natur, in der man nach Herzenslust ausreiten kann. Schon in den Schulferien wird dort auf einem Reiterhof gejobbt. Irgendwann landet man ganz dort, findet Arbeit, findet einen netten Isländer, bekommt Kinder … Ich kenne drei solche Fälle, allein aus unserem Bekanntenkreis. Die deutschen Grosseltern müssen sich nun regelmässig ins Flugzeug setzen, denn anders geht es nicht, wenn man die Enkel besuchen will. Zweimal komme ich etwas länger, nach der Geburt von Gabríel Tumi (2019) und von Emílía Ylja (2022). Mein Job beide Male: Das Baby hoppeln und bespassen und dafür sorgen, dass es regelmässig einen kleinen Snack gibt. Stillende Mütter brauchen Kalorien! Da ich selbst fünf Mahlzeiten am Tag gewohnt bin, passt das. Abends kocht häufig Papa Helgi: Lammkeule, Burritos, Gegrilltes … Beim ersten Mal wohne ich bei der jungen Familie, das ist eng, aber es geht. Beim zweiten Mal merke ich im Vorfeld: Jetzt mit zwei Kindern (und zwei Kaninchen) in der kleinen Wohnung – darauf kann ich mich gar nicht richtig freuen. Darum miete ich ein Zimmerchen in zwei Kilometer Entfernung. Von der isländischen Oma kann ich ein Fahrrad leihen, und so radle ich munter hin und her, ziemlich allein auf den grosszügigen Fahrradwegen. Isländer haben schicke Fahrräder im Keller, benutzen sie aber selten. Eine eigene Bleibe: Das finde ich ideal. Gabríel Tumi ist ein temperamentvolles Kerlchen und hat das plötzliche Auftauchen einer niedlichen kleinen Schwester noch nicht ganz verdaut. Da geht es manchmal stürmisch zu, und es tut gut, sich auch mal abzuseilen. Morgens fahre ich beim Bäcker vorbei und hole Brot fürs zweite Frühstück. Alles nicht viel anders als in einer anderen europäischen Stadt. Obwohl es natürlich lokale Besonderheiten gibt. Im Sommer wird es nie richtig dunkel. Das warme Wasser aus der Leitung kommt direkt aus der Erde und riecht schweflig. Zum Kochen immer kaltes Wasser aufsetzen! Einmal, im Sommer vor Emílías Geburt, lassen wir Gabríel beim Papa und wandern zum Vulkan, eine Dreiviertelstunde Autofahrt von Reykjavik entfernt. Ein urzeitliches Erlebnis! Und da ist natürlich diese sonderbare altnordische Sprache mit eigentümlichen Lauten und Buchstaben und einer hochkomplizierten Grammatik. Sie wird schnell und nuschelig gesprochen, sodass ich kaum ein Wort verstehe, obwohl ich doch einen Band «Isländisch für Anfänger» durchgeackert habe. Schwierig, im Alter noch eine neue Sprache zu lernen, vor allem, wenn man leicht schwerhörig ist! Neuerdings habe ich ein Hörgerät, und wer weiss: Vielleicht wird es doch noch was? Immerhin können alle Isländer Englisch. Meine Tochter spricht mit den Kindern konsequent deutsch. Gabriel versteht jedes Wort, redet aber nur isländisch. Auch mit mir. Erst am Ende der drei Wochen erlebe ich, wie er sich einmal schwer konzentriert und dann äussert: «Oma? Spielen!» Wohlgemerkt bin ich nicht die einzige Oma. Da ist die besagte isländische Grossmutter («amma») und der dazugehörige Grossvater («afi», sprich «awe»). Es gibt sogar zwei etwas gebrechliche Urgrossmütter («langamma») sowie einen Urgrossvater («langafi»). Amma und Afi gehen demnächst in Rente. Langweilig wird ihnen sicher nicht. Sie spielen Golf, bauen ein Ferienhäuschen in den Bergen und helfen tatkräftig bei der Betreuung ihrer sechs Enkelkinder. Ich mag die beiden sehr gern und ich bin superfroh, sie dort zu wissen: vor Ort!
Allgäu-Schweiz
GABI UND PETER PIEKENBROCK
Wir leben im Allgäu, unsere Tochter mit den beiden Kindern Juri (7) und Nora (10) in der Nähe von Baden (AG). Mit dem Auto dauert die Fahrt drei Stunden. Keine besonders lange Distanz zwar, aber eben doch nicht kurz genug, um einfach mal so für den Tag hinzufahren. Nach Möglichkeit sehen wir uns alle sechs bis acht Wochen. Wir fahren für die Geburtstage in die Schweiz und verbringen natürlich Ostern und Weihnachten zusammen. In den Schulferien kommen die Kinder auch meist mehrere Tage zu uns. Ostern und Weihnachten ohne sie während der Pandemie war etwas vom Traurigsten. Als Juri und Nora noch kleiner waren, haben wir oft geskypt, mittlerweile telefonieren wir. Unsere Tochter sagt, Nora rede mit niemandem so lange am Telefon wie mit ihrer Oma. Dann erzählt sie von der Schule, von Ferienlagern, was sie am Wochenende vorhat. Ja, wir glauben, die Kinder vermissen uns nach einer gewissen Zeit, dennoch ist es sicher wichtig, dass die Mutter den Kontakt herleitet. Ich weiss ja selbst, wie es ist. Kinder vergessen in ihrem Alltag vieles, was nicht unmittelbar ist. Eifersüchtig auf unsere Freunde, deren Enkelkinder in der Nähe wohnen, sind wir nicht. Erstens haben wir noch zwei Enkelinnen – sie sind bereits 16 und 19 –, die nur wenige Kilometer entfernt leben, und die wir, als sie noch klein waren, jeweils einen Tag pro Woche gehütet hatten. Andererseits bedeutet nahe zu wohnen ja auch nicht automatisch, eine enge Bindung zu den Enkelkindern zu haben. Wenn Juri und Nora zu uns kommen oder wir bei ihnen sind, so haben wir das Gefühl, ist die Vertrautheit immer sofort da. Das ist uns wichtig und dafür muss man auch etwas tun. Das geht auch aus der Ferne. Was wir bedauern, ist, dass wir nicht einfach mal schnell herkommen und unsere Tochter unterstützen können, wenn sie Not an der Frau hat, krank ist oder die Kinder krank sind und sie arbeiten muss. Das tut uns jeweils am meisten weh.
Schweiz-Italien
ROLF UND MARIANN WALTHER
Unsere Tochter Carol (42) lebt mit ihrem Mann Fabio und den beiden Kindern Gian (6) und Livia (4) in Rom. Die Familie wohnt nach typisch italienischem Muster in einem Mehrgenerationenhaus mit Nonnis, Zias und Zios. Die Kinder sind also fast lückenlos von Familienmitgliedern betreut. Im Durchschnitt sehen wir unsere Enkelkinder zwei bis drei Mal pro Jahr, dann jeweils für mehrere Tage. Das ist nicht besonders häufig, dennoch fremdeln die Kinder überhaupt nicht, wenn sie uns nach längerer Zeit wiedersehen. Im Gegenteil, die Begrüssungen sind immer freudig und herzlich. Die Kinder erwarten dann jeweils von uns ein «spezielles» Tagesprogramm. Weil wir halt nicht zu ihrem Alltag gehören. Das kann mitunter etwas anstrengend sein. Wanderungen oder lange Spaziergänge mögen sie nicht besonders. Wir gehen mit ihnen auf Spielplätze, fahren Velo, gehen schwimmen. Leider ist unser Garten nicht besonders geeignet für Kinder. Schön ist es immer wieder, zu beobachten, wie unsere Enkelkinder, egal ob in Italien oder in der Schweiz, zu anderen Kindern den Kontakt suchen und stets leicht finden. Zu Diskussionen Anlass gibt der Konsum von Fernsehsendungen oder generell ihr Mediengebrauch. In den Zeiten zwischen Besuchen sind wir mittels Telefon oder Videocalls mit den Eltern der Kinder in Kontakt. Die Enkel finden im Moment leider beide Kommunikationsmittel nicht so toll. Den gegenseitigen Besuchen geht neben der grossen Vorfreude immer auch eine gewisse Spannung voraus: Wie sehr haben sich die Kinder verändert, welche Fortschritte haben sie gemacht? Schon heute freuen wir uns auf die Zeit, wenn unsere Schätze ganz allein zu uns in die Ferien kommen dürfen und wir dann auch länger und intensiver Zeit mit ihnen haben werden, ihnen ihre zweite Heimat näherbringen, eine Art kurzfristigen gemeinsamen Alltag mit ihnen leben können.
Hilda und Edy Riesen mit der ganzen Familie in Holland.
HILDA RIESEN
Die Familie unserer ältesten Tochter lebt in Holland. Ich erlebe sie aber oft tiefer und intensiver als die drei Familien meiner anderen Kinder, die bei uns im Dorf wohnen. Sonja aus Holland kommt oft mit Tessel (16), Siem (14), Tjalling (12) und ihrem Mann Wopko zu uns. Wenn sie in der Schweiz sind, wohnen sie im oberen Stock unseres Hauses und essen bei uns im Parterre. Wir reden dann viel und ausführlich. Wir nehmen uns Zeit für eine Standortbestimmung, holen Verpasstes nach und schauen zusammen in die Zukunft. Mit den ansässigen Familien geht es oft um Alltägliches, Dorfgeschichten, praktische Dinge eben, eher Kurzfutter. Auch ist es für uns spannend,
Schweiz-Holland
weiter mit Holland – unserer zweiten Heimat – verbunden zu bleiben. Wir bleiben à jour betreffend Schulsystem, Sport, Festtagen, Politik ... Ich lebte meine ersten 22 Jahre in Holland. Edy hat sich in den fast 50 Jahren Beziehung fast ein bisschen zum Holländer entwickelt und spricht die Sprache fliessend. Manchmal frage ich ihn, wie etwas auf Holländisch heisst. Mit den Grosskindern aus der Niederlande unterhalte ich mich in beiden Sprachen, da sie gut schwizerdütsch sprechen. Sie stehen mir gleich nahe wie die Enkelkinder im Dorf. Aber ja, es wäre trotz allem schön, sie näher zu haben.
«Das Bedürfnis nach Kontakt ist sehr individuell»
NACHGEFRAGT BEI DER GROSSELTERNBERATERIN BEATRICE BEUTLER
Wie schafft man eine nahe Beziehung zu Enkeln, die im Ausland leben? Bei der Gestaltung von Beziehungen gibt es kein allgemein gültiges Rezept. Im Babyalter wird der Kontakt zur Umwelt sowieso durch die Eltern bestimmt und organisiert. Grosseltern und Baby sind also abhängig von deren Bereitschaft. Erst, wenn die Kinder eine gewisse sprachliche Kompetenz entwickelt haben, können sie ihre Beziehung zu Oma und Opa selber gestalten. Das alles hat aber wenig mit der Distanz zu tun. Das gilt auch, wenn die Grosseltern im Haus nebenan leben. Ich erlebe im Beratungsalltag nicht selten, dass mir die Grosseltern sagen, sie haben auf Distanz mehr Kontakt zu ihren Kindern respektive zu den Enkeln als vorher. Es liegt vielleicht auch daran, dass es den Eltern im Ausland wichtig ist, die Grosseltern bestmöglich einzubeziehen.
Wie oft sollte man telefonieren, Briefe schreiben? Das Bedürfnis nach Kontakt und Häufigkeit ist sehr individuell. Heute bieten sich verschiedene Möglichkeiten an, um in Kontakt zu bleiben. Natürlich ist der persönliche Kontakt der beste. Moderne Technik macht es möglich, dass man via Telefon, über Online-Medien wie Zoom und Co. den Kontakt aufrechterhalten kann. Doch auch hier ist ein altersgerechter Umgang mit den Medien ratsam. Kleinkinder können Oma und Opa in diesem Kasten oft nicht mit ihrer Realität und Wahrnehmungsgabe in Einklang bringen. Als Kleinkind lernen und «be-greifen» sie ihr Umfeld vor allem über ihren Körper. Sie sind darum vielleicht verwirrt, weil sie Oma nicht küssen, Opa nicht umarmen können. Solche Medien werden für Kinder ab 5 bis 6 Jahren fassbarer. Grosseltern sollten zudem nicht allzu grosse Erwartungen haben: Die Aufmerksamkeitsspanne der Kleinen im Zusammenhang mit Online-Medien ist in der Regel begrenzt. Sie sagen vielleicht kurz «Hallo» und spielen dann im Hintergrund weiter. Aber auch so eine kurze Sequenz kann wichtig für die Beziehung sein. Bei Hausbesuchen erlebe ich, dass die Grosseltern im Heimatland durch ihre Präsenz am Bildschirm doch auch einen wichtigen Teil des Familienlebens hier in der Schweiz darstellen können.
Das ganze Interview lesen Sie auf grosseltern-magazin.ch/fernbeziehung
Beatrice Beutler ist Beraterin Frühe Kindheit und Grosselternberaterin bei der Mütter- und Väterberatung Kanton Bern. Die kantonale Fachstelle unterstützt Eltern und Bezugspersonen, explizit auch Grosseltern, von Kindern bis 5-jährig bei Fragen zur Entwicklung und Erziehung. Beratungen sind möglich vor Ort oder online, telefonisch, in Gruppen, bei Hausbesuchen sowie an Treffpunkten. mvb-be.ch
Die Briefe meines Urgrossonkels
«Der Finder dieses Büchleins wird Von CLARA KÖHNLEIN (Text) gebeten, an folgende Adressen daselbe zu schicken: Laufende Adressnummer 6 Unsere Autorin hat sich für oder Nr.19 oder 26! Bertsch Wm.» ihre Maturaarbeit mit den Ein kleiner, in braunen Stoff eingebundener TaschenBriefen ihres Urgrossonkels kalender, auf dessen erster Seite dieser Satz steht, auseinandergesetzt, Wehr- war obenauf gelegen, als ich eine kleine silberne machtssoldat im Zweiten Weltkrieg. Die Arbeit wurde Dose aus dem Regal meiner Eltern öffnete. Datiert auf das Jahr 1944 war es zweifelsfrei zu spät, um das Büchlein an seinen ehemaligen Besitzer zurückzuvon Schweizer Jugend schicken. forscht ausgezeichnet. Doch auch zurück in die Dose war keine Option, denn Für «Grosseltern» beschreibt mein Interesse war geweckt und fast 76 Jahre nachsie ihr Vorgehen – und dem diese Zeilen verfasst wurden, begann ich meine ihre Gefühle. Nachforschungen: Wer ist «Bertsch Wm.»? Und wie ist der Taschenkalender in die Dose im Regal meiner Eltern gekommen?
Antworten fand ich in der Dose selbst: Feldpostbriefe, Fotografien, ein zweiter Taschenkalender und weitere Schreiben suggerierten auf den ersten Blick eine schnelle Beantwortung meiner Fragen, doch ganz so leicht sollte es nicht werden: Die Feldpostbriefe waren alle in Sütterlinschrift verfasst. Buchstabe für Buchstabe entschlüsselte ich die mir fremde Schrift. Im Zusammenspiel mit Aussagen von Verwandten und Auskünften des deutschen Bundesarchivs ergab sich aus den Transkripten allmählich ein Bild. Der Wachtmeister (hierfür steht die Abkürzung Wm.) Bertsch war ein 26jähriger Wehrmachtssoldat gewesen, der im Zweiten Weltkrieg als Teil eines NachrichtenRegiments auf der Krim stationiert war. Sein Vorname war Richard. Und Richard Bertsch war mein Urgrossonkel. Ich machte es mir zur Aufgabe, ein Bild von Richards soldatischem Alltag zu rekonstruieren. Dazu musste ich die Aussagen aus den Briefen analysieren und mit Fachliteratur abgleichen, um sie auf ihre historische Richtigkeit hin zu prüfen. Ist es beispielsweise realistisch, dass er so gut mit Lebensmitteln versorgt war, wie er es schreibt? Was lässt er in seinen Ausführungen (absichtlich) aus? Ich setzte mich intensiv mit den Dokumenten auseinander und konnte so in das Leben einer Person eintauchen, deren Alltag weit von meinem entfernt ist. Dabei lernte ich viel über das Leben im Krieg aus den Augen eines Mannes, der mittendrin stand. Ich blickte gewissermassen durch Richards runde Militärbrille – Anlass genug, meiner Arbeit den Titel «Durch die runde Brille» zu geben. Schaut man durch die Brille eines anderen, so verzerrt sich schnell einmal das Bild, und die eigene kritische Objektivität kann verschwimmen. Ich konnte und wollte mir beispielsweise nicht vorstellen, dass mein eigener Urgrossonkel brutaler Völkermörder war oder dass die eigene Familie stramm auf der nationalsozialistischen Seite stand. Im Verlauf meiner Recherchen konnte ich derartige Tendenzen jedoch nicht nachweisen. Im Gegenteil: Leicht systemkritische Aussagen in den Briefen und die Information, dass Richard nicht Mitglied in der NSDAP war, deuten zumindest auf eine passive Haltung meines Urgrossonkels gegenüber dem Regime hin. Gleichzeitig verliert ein Brief, den man so akribisch
Wort für Wort oder Buchstabe für Buchstabe transkribiert, wie ich es zu tun gezwungen war, um in den wenigen Quellen nichts zu übersehen, schnell an persönlichem Bezug und Emotion. Ich musste mir immer wieder vor Augen führen, dass die Briefe und
Taschenkalender von einer realen Person in einem komplexen familiären, biografischen, religiösen und militärischen Zusammenhang stammten. Um den
Blick auf das Ganze und insbesondere den Menschen Schaut man durch die Brille eines anderen, so verzerrt sich schnell einmal das Bild, und die eigene kritische Objektivität kann verschwimmen. nicht zu verlieren, stellte ich mir während dem Arbeiten manchmal eines der Bilder von Richard auf den Schreibtisch.
So kam es, dass ich mich ihm mehr und mehr emotional verbunden fühlte. Als mir beim Arbeiten eines
Tages die Gefallenenbenachrichtigung in die Hände fiel, sass ich einige Minuten mit Tränen in den Augen vor dem maschinenbeschriebenen Durchschlagpapier und las vom Sterben eines Soldaten, der mir auf so einzigartige Weise vertraut war – es war Richards 77. Todestag.
Fast ein ganzes Jahr später öffnete mir meine fertiggestellte Maturaarbeit die Tür zum Finale des 56. Nationalen Wettbewerbs von Schweizer Jugend forscht in Lugano. Hier konnte ich während drei Tagen meine
Arbeit präsentieren, erklären und diskutieren und darüber hinaus viele Kontakte knüpfen. Schliesslich wurde meine Arbeit mit dem Prädikat «sehr gut» gewürdigt.
Richard hat mir knapp 80 Jahre nach seinem Tod eine der spannendsten und berührendsten Erfahrungen meines bisherigen Lebens ermöglicht. Gerne würde ich ihm einen Brief schreiben und ihm dafür danken – und ihm all die Fragen stellen, auf die ich keine Antworten finden konnte. •
Eine Zusammenfassung und ein Video der Arbeit: grosseltern-magazin.ch/forschung
Solidarität mit der Ukraine
Als ich an meinem 69. Geburtstag in
Uschgorod eine Sitzung eröffnete, fragte ich unsere jungen Projektpartnerinnen: «Könnt ihr euch eine gleichaltrige Ukrainerin an meiner Stelle vorstellen?» Sie schüttelten lachend den Kopf: «Unsere Grossmütter hüten die Enkelkinder, sie versorgen ihre Tiere und den Garten oder sie verkaufen ihre Ware auf dem Markt, weil die Rente nicht zum Leben reicht.» Wie oft bedauerte ich beim Fundraising für das Pionierprojekts Parasolka (parasolka.ch), dass sich in der Schweiz kaum jemand für die Ukraine interessiert. Das Land war für die meisten ein blinder Fleck auf der Landkarte. Seither sind acht Jahre vergangen. Seit Februar ist das Land bekannt durch die Bilder von Krieg und Zerstörung oder durch Kontakte mit geflüchteten Menschen. Oft ärgere ich mich über die Medienberichte, die dem Land und den Menschen in der Kriegssituation nicht gerecht werden. Wie froh bin ich, dass unsere Projekte in der Westukraine bisher nicht gefährdet sind. Unsere Projektpartnerinnen, seit Kriegsbeginn fast pausenlos in der Nothilfe tätig, sind erschöpft und desillusioniert. Sie erzählen vom Schrecken der Gewalt, von
Armut und Not im ganzen Land und empfinden ihre Arbeit wie ein Fass ohne Boden. Immer wieder bin ich auch in Kontakt mit MONIKA FISCHER (1944) betroffenen Grossmüttern: Mit unserer langist Journalistin und neunfache jährigen Freundin Nina in Kiew, die in stänGrossmutter. Seit 2012 macht sie diger Sorge lebt, ihre beiden Enkel könnten bei der GrossmütterRevolution mit eingezogen werden. Mit der elffachen Grossmutter Mariia, die im Kinderheim Vilshany arbeitet und trotz Drängen ihrer im Ausland lebenden Kinder nicht flüchten möchte mit der Begründung: «Ich werde hier dringend gebraucht, sind doch zu den 180 Mädchen und Buben noch weitere 34 zum Teil schwer behinderte Kinder aus den Kriegsgebieten bei uns aufgenommen worden.» Oder mit Grossmüttern, die in die Schweiz geflüchtet sind: Mit Tamara aus Charkiw, die so gerne ihre Enkelin und ihre Urenkelin wieder einmal sehen möchte. Und mit Switlana, die stundenlang mit ihren Enkelkindern Mischa und Mascha spazieren geht, damit sie in der Wohnung niemanden stören. Ich fühle mit den Ukrainerinnen und Ukrainern hier und dort und hoffe, dass die beispiellose Solidarität in der Schweiz über das Kriegsende hinaus anhalten wird. Die Ukraine darf nie mehr alleingelassen und vergessen werden. •
GROSSMÜTTERREVOLUTION EIN GUTES LEBEN FÜR ALLE
Grossmütter und Revolution? Immer wieder wird die Frage gestellt, worin die Revolution der alten Frauen besteht. Sie besteht aus kleinen Schritten. Doch auch solche können zu Veränderungen beitragen. Was das konkret heisst, zeigt das neue Manifest auf. Es wurde im Hinblick auf die Vereinsgründung erarbeitet. Wie in den ersten 12 Jahren ihres Bestehens möchte die GrossmütterRevolution Einfluss nehmen auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen und Entscheidungen. So fordert sie eine Alterspolitik, die Menschen aller sozialen Schichten ein Alter in Würde garantiert und die finanzielle Sicherheit im Alter für alle gewährleistet. Sie setzt sich ein für die Aufwertung von bezahlter und unbezahlter Carearbeit und anderen für das Wohlergehen wichtigen Tätigkeiten. Angesichts der weltweiten Krisen ist es der GrossmütterRevolution wichtig, dass auch die Enkelgeneration ein gutes Leben haben kann. «Wir setzen uns ein für eine Gesellschaft, die das Sorgetragen für Mensch und Natur (Care) als Fundament für das Zusammenleben versteht», heisst eines der Ziele des Manifests der GrossmütterRevolution 2022. Infos und Anmeldung: grossmuetter.ch
Win-win-Situation
HANNES BUCHER (69) hat bis zu seiner Pensionierung als Schulleiter gearbeitet. Er ist verheiratet und hat einen Sohn und zwei Töchter. Seine sieben Grosskinder sind zwischen dreieinhalb und neun Jahre alt. Er wohnt im Kanton Luzern und schreibt als freier Journalist. FABIAN BUCHER (39) ist Produzent beim Schweizer Fernsehen SRF. Er ist verheiratet und Vater von Jan, dreieinhalb, und Mara, fünf Jahre alt. Fabian arbeitet in einem Teilzeitpensum und hat so zwei Tage pro Woche, die er allein mit den Kindern ist. Er lebt mit seiner Familie in Zürich.
Ein Spiel machen, dafür sind alle Enkelkinder stets zu haben: Zu jeder Tages- und gerade auch zur «GutNacht»-Zeit. Nur noch ein kleines Spiel – und dann ab ins Bett. Und nein, noch gar nie war beim Wunsch, ein Spiel zu spielen, nur ansatzweise die Rede von irgendeinem Computerspiel. Mit «ein Spiel» sind etwa «Brändi Dog», «Das verrückte Labyrinth», «Tschau-Sepp» und immer auch wieder Memorys gemeint. Letzteres ist die besondere Spezialität von Jan. Der kleine Tausendsassa will dabei (leider) keinesfalls die Memory-Karten in einer Weise anordnen, die irgendwie einen Ansatz von Ordnung oder System hätten, was der Wunsch von Grosspapi wäre. Weil er nur dann überhaupt eine Chance hat, sich die Positionen der einzelnen Bilder zu merken. Jan will es anders haben. Wild ungeordnet sollen die Karten liegen. «Das ist viel lustiger so …», sagt der kleine Chaot (aus Sicht des Grosspapi). «Aber auch schwieriger – zumindest für mich», sagt Grosspapi. Aber das ist nicht Jans Problem. «Du musst dem Grosspapi ‹e chli hälfe›», schlägt Mara vor. Es bleibt beim Vorschlag. Also ist Verlieren angesagt für Grosspapi. Und damit habe ich als Grosspapi gar keine Mühe. Auch Grossmami nicht. So gern mögen wir den Enkeln das Gewinnen gönnen – im Wissen zwar, dass die Kinder ja auch lernen müssen zu verlieren. Aber doch nicht gerade jetzt … Wann dann?, fragt die «innere pädagogische Stimme». Das nächste Mal vielleicht … wenn es wieder heisst: Machen wir ein Spiel … F rüher hab ich noch geschummelt, das mache ich jetzt aber nicht mehr.» Mara schaut mich vom Sofa aus treuherzig an. Zusammen mit ihrem Bruder spielt sie seit fast einer Stunde «Dog», während ich mich um den Haushalt kümmere. Das finde ich grossartig. Interessanterweise aber gewinnt immer die grosse Schwester. Auch scheinen die Regeln dehnbar, sie ändern immer mal wieder. Nicht nur zur Freude von Jan. Das finde ich weniger grossartig. Ich zögere: Grundsätzlich versuchen wir, uns beim Kinderspiel so wenig wie möglich einzumischen, selbst wenn die Versuchung gross ist. Wie hier. Häufig klären sie das unter sich. Und wir als Eltern müssen nicht Schiedsrichter spielen – eine meiner Meinung nach sowieso undankbare Rolle, in der man fast nur verlieren kann. Also konzentriere ich mich aufs Gemüserüsten, versuche, nicht hinzuschauen. Später, als die Kinder im Bett sind, setze ich mich hin für eine kleine Recherche. Die Situation lässt mich nicht ganz los. Und siehe da: Mal schummeln, nicht die Wahrheit sagen, sich einen Vorteil verschaffen – dieses Verhalten gehört gemäss verschiedener Entwicklungspsychologen exakt zum Alter meiner Tochter. Nicht, dass ich das deswegen gut finde. Das habe ich ihr später auch erklärt. Aber innerlich atme ich trotzdem auf. Und beisse mir seither konsequenter auf die Lippen, wenn am Ende des Spiels auf die Frage, wer gewonnen hat, Jan wie aus der Pistole geschossen sagt: «Mara, wie immer.» •
«Wir müssen nach vorne schauen»
Der Trendforscher Jakub Samochowiec im Interview über Wege aus der Krise. Und darüber, wie wir unsere Enkel in dieser schwierigen Zeit hoffnungsvoll stimmen können.
Foto: GDI Gottlieb Duttweiler Institute, Fotografin Sandra Blaser
JAKUB SAMOCHOWIEC (44) ist Senior Researcher und Speaker am Gottlieb Duttweiler Institut. Der promovierte Sozialpsychologe analysiert gesellschaftliche, wirtschaftliche und technologische Veränderungen mit den Schwerpunkten Entscheidung, Alter, Medien und Konsum. Daneben interessiert er sich für Videoproduktionen, engagiert sich als DJ und Musiker. gdi.ch Von GERALDINE CAPAUL (Interview)
Jakub Samochowiec, wir stecken in einer Krisenzeit. Warum sollten wir trotzdem optimistisch bleiben? Ich kann Gründe für Optimismus nennen. Ob diese oder die Gründe für Pessimismus überwiegen, muss jede:r für sich selber entscheiden.
Fangen wir bei den Gründen für Optimismus an. Betrachten wir ein paar globale Daten aus der menschlichen Entwicklung. In den letzten Jahrzehnten haben wir im Bereich extreme Armut, Geburtensterblichkeit, Bildung für Frauen etc. durchs Band enorm grosse Fortschritte gemacht. In den meisten Ländern steigt etwa die Lebenserwartung. Es ist zwar so, dass diese Entwicklung durch Covid ins Stocken geraten ist. Als Optimist:in könnte man davon ausgehen, dass das nur ein kurzes Stocken des Trends ist und nicht dessen Umkehr.
Warum? Weil – und das ist ein weiterer Grund für Optimismus – der Mensch einfach wahnsinnig anpassungsfähig ist und durchaus mit widrigen Umständen umgehen kann. Wir sehen weltweit, wie der Mensch an unterschiedlichsten Orten leben und auch in schwierigen Umständen gedeihen kann.
Also müssen wir uns keine Sorgen um unsere Enkel machen? Doch, durchaus. Es ist sicher so, dass es auch viele negative Aspekte gibt. Energiekrise, Pandemie, Klimakrise, Krieg. Auch wenn nur die Klimakrise langfristig bedeutsam bleiben sollte und die anderen Krisen vorübergehend sind, glaube ich schon, dass man sich Sorgen machen kann. Aber besser, als sich Sorgen zu machen, ist, sich dafür einzusetzen, dass die Zukunft besser wird.
Was halten Sie von den Schuldzuweisungen der jüngeren an die ältere Generation? Schuldzuweisungen sind nicht besonders hilfreich, weil wir nach vorne schauen müssen. Wenn man jemandem etwas vorwerfen will, dann höchstens, dass er jetzt nichts macht. Und nicht, dass er in der Vergangenheit etwas nicht gut gemacht hätte.
Was können wir denn für eine bessere Zukunft konkret tun? Man kann sich zum Beispiel politisch einsetzen. Oder man kann sein Verhalten ändern, Möglichkeiten schaffen, um ökologischer zu leben. Wenn man den Enkeln nicht einfach nur sagt, es kommt schon alles gut, sondern ihnen zeigt, dass man sich engagiert, gibt ihnen das Hoffnung und zeigt: Wir sorgen uns darum. Das ist sicher besser als eine Nachmirdie SintflutEinstellung, wir jetten jetzt mal kurz in die Karibik, das haben wir uns verdient. Wir sollten den Jungen zeigen, dass wir ihre Sorgen ernst nehmen. Es ist doch fast beschämend, dass 15Jährige fürs Klima auf die Strasse gehen müssen.
Jetzt reden wir vom Klimawandel. Ja, der ist im Moment auch sehr akut. Wir hatten viele Hitzetage im Sommer in der Schweiz, Wirbelstürme in Florida, Monstermonsunregen in Pakistan. Der zunehmende Klimawandel ist eine der sichersten Zukunftsprognosen, die man machen kann. Wie sich die Gesellschaft in Zukunft verändert, ist schwierig zu sagen, aber dass das Wetter immer extremer wird, ist doch sehr, sehr wahrscheinlich.
Wir sollten unsere Gewohnheiten ändern. Weniger Fleisch essen, weniger fliegen. Bleiben diese Forderungen oder Ansprüche an uns selbst auch dann bestehen, wenn die Klimakrise mal kein grosses mediales Thema mehr ist? Ich glaube nicht, dass die Klimakrise mal nicht mehr Thema sein wird. Weil uns wiederkehrende Extremwettersituationen wie Überschwemmungen, Hitzewellen und Dürren immer wieder daran erinnern werden.
Wie sehr haben wir unsere Gewohnheiten bereits geändert? Seit 2015 ist der Fleischkonsum stabil geblieben. Wir haben im Moment sicher weniger Flugverkehr, aber das hat mit Covid zu tun. Vor der Pandemie hat der Flugbetrieb stetig zugenommen. Wir dürfen von den Menschen keine Erleuchtung, kein Erwachen erwarten.
Wie meinen Sie das? Wir Menschen sind Produkte unserer Lebensumstände. Anstatt die Verantwortung einzig dem Individuum zu überlassen, sollten wir auch die Rahmenbedingungen – die Infrastruktur – so gestalten, dass nachhaltiges Verhalten möglich ist. Das könnte bedeuten, dass wir sichere Velowege bauen, die mehr sind, als nur aufgemalte gelbe Linien, oder europaweit attraktivere Zugverbindungen anbieten. Im Jahr 2017 wurden weltweit 6,5% der globalen BIPs für die Subventionierung von fossilen Energien ausgegeben! In der Schweiz wird Fleischwerbung staatlich subventioniert. Den individuellen CO²Fussabdruck zu berechnen, ist ja nett, doch kann das von strukturellen Faktoren ablenken, die viel bedeutsamer sind.
Ist die Welt heute schlechter als früher? Das kommt drauf an, wie man misst. Es gibt global betrachtet wie gesagt durchaus Punkte, die besser geworden sind. Aber es ist schon so, dass es auch Grund zu Pessimismus gibt. Junge Menschen sagen, dass sie sich glücklich schätzen können, wenn es ihnen mal so gut gehen wird wie ihren Eltern. Auch in der Schweiz. Das ist seit dem Zweiten Weltkrieg ein historisches Unikum. Der Glaube an «immer mehr», «immer besser», an ein ewiges Wachstum, scheint ins Wanken zu geraten. ~
Der Jugend fehlt die Sorglosigkeit. Ja, definitiv. Der holländische Historiker Rutger Bregman bringt es gut auf den Punkt: «Das Problem unserer Zeit ist nicht, dass es uns nicht gut ginge oder dass es uns in Zukunft schlechter gehen könnte. Das Problem unserer Zeit ist, dass wir uns nichts Besseres vorstellen können.» Das heisst: Es gibt eigentlich nur das Jetzt und die Vergangenheit, mit der man sich messen kann. Es sollten wieder mutige Ziele formuliert werden, wie in den Sechzigern, als die USA sagte, Ende dieses Jahrzehnts werden wir auf dem Mond stehen. Wir könnten zum Beispiel sagen: Im Jahr soundso werden wir klimaneutral sein, ohne dass wir das Gefühl haben, uns einschränken zu müssen. Es fehlen positive Visionen für die Zukunft. Es gibt nur die Angst davor, etwas zu verlieren. Auch in der Politik ist es so, dass meistens stark verwaltet wird, aber mutige Ziele fast nicht existieren. Wussten Sie, dass in den 80er-Jahren die Schweiz das erste Land in Europa war, das die Katalysatorpflicht eingeführt hat?
Nein, das wusste ich nicht. Das kann man sich heute nicht mehr vorstellen. Ja, oder? Dass man damals sagte, das machen wir jetzt einfach, anstatt vor Aktionismus oder Alleingängen zu warnen. Das hängt mit dieser Zukunftsvorstellung zusammen, die heutzutage scheinbar nur auf der individuellen Ebene existiert. Also im Sinne von: «Werde ich noch einen Job haben?» Aber nicht auf einer kollektiven Ebene, im Sinne von: «Wie wollen wir den Arbeitsmarkt der Zukunft gestalten?» Gemeinsam können wir etwas ändern.
Kann man denn als Einzelner etwas dafür unternehmen, dass es uns als Gesellschaft besser geht? Als Individuum allein kann man relativ wenig verändern. Ausser man ist Elon Musk und hat das nötige Geld. Grundsätzlich muss man sich mit anderen zusammenschliessen. Einerseits in der Politik, mit mutigen Schritten, andererseits in kleinen Projekten. Grosseltern, die mit ihren Nachbarn und den Enkeln einen Garten anlegen und sich teilweise davon ernähren. Oder man probiert im Kleinen zukunftsfähige Lebensformen aus und schaut, wie es funktioniert. Viele Sachen, die eben Zukunftsvisionen sind, werden schnell als naiv abgetan. Das sei zwar eine schöne Vorstellung, aber der Mensch sei halt mal nicht so. Das Argument haben wir auch gehört, als man früher nach dem Homeoffice verlangte: Eine schöne Idee, aber zu Hause werden die Leute eh nicht arbeiten. Dann wurden wir dazu gezwungen und haben gesehen: Ah, es geht ja doch. Da gibt es noch andere Themen, die in diese Richtung gehen. Etwa das Grundeinkommen. Vielleicht ist es naiv, vielleicht ist es nicht naiv. Es gibt nichts anderes, als es auszuprobieren. Wenn Experimente erfolgreich sind, werden andere folgen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Wandel in der Drogenpolitik in Zürich in den 90er-Jahren.
Als man sich entschied, Drogen kontrolliert und legal abzugeben. Das war ein Experiment, das weltweit für Aufsehen sorgte, weil man gemerkt hat, dass es funktioniert. Heute werden weniger solche mutige Schritte gewagt.
Wir haben über eine Erhöhung des Rentenalters abgestimmt. Wie lange werden wir in 30 Jahren arbeiten? Die Erhöhung des Rentenalters wird ja als etwas Unweigerliches dargestellt, als eine Naturkraft, die einfach stattfinden wird. Dabei könnte man auch sie infrage stellen. Vor mehr als hundert Jahren hat der Ökonom John Maynard Keynes gesagt, dass Menschen in Zukunft nur noch 15 Stunden pro Woche arbeiten werden. Weil die Effizienz zunimmt, wir weniger zu arbeiten haben. Tatsächlich arbeiten die Leute immer weniger oder Teilzeit. Es ist ja auch durchaus erstrebenswert, dass man weniger arbeiten muss. Das heisst nicht, dass man den Rest der Zeit untätig ist. Viele der Arbeiten, die wir machen, werden nicht vergütet und sind dennoch enorm wertvoll. Arbeit, die nicht finanziell vergütet wird, sollte mehr wertgeschätzt werden. Es gibt weiss Gott genug Arbeit, die finanziell vergütet wird, die wirklich unnötig ist.
Welche Arbeitsformen wird es vermehrt geben? Denkbar wäre, dass es in Zukunft mehr Projektarbeit gibt und weniger Festanstellungen. Dabei wird es ein Dilemma geben zwischen einerseits mehr Freiheiten dank der Technologie,
aber andererseits mehr Kontrolle – auch dank der Technologie. Wenn etwa im Homeoffice die Tastenanschläge gezählt werden. Am Ende ist es eine Frage des Vertrauens, das man in die Menschen setzt, und des Menschenbilds, das man grundsätzlich hat. Ich bin überzeugt, dass Kontrolle nicht zielführend ist. Weil die Leute dann irgendwann anfangen, nur den kontrollierten Messwert zu optimieren und nicht mehr grundsätzlich gut arbeiten.
Vom Beruflichen zum Familiären: Wird die Bedeutung der Familie zunehmen? Auch hier kann ich Gründe nennen, die für das eine oder andere sprechen. Bei einer Individualisierung in einer Gesellschaft sind auch die familiären Banden eher rückläufig. Das ist eine Entwicklung, die man in den letzten Jahrzehnten beobachtet hat. Zudem haben wir viel mehr Optionen und dadurch grössere Mühe, uns auf etwas festzulegen oder Verbindlichkeiten an den Tag zu legen.
Welche Gründe weisen in die andere Richtung? Umfragen, die über mehrere Jahre bei jungen Menschen in verschiedenen Ländern durchgeführt wurden, ergaben, dass weniger Jugendliche betrunken gewesen waren, weniger Jugendliche Sex haben. Und dass sie öfter Gespräche mit ihren Vätern führen. Eltern sind heutzutage tatsächlich engagierter. Das sehe ich auch bei mir persönlich. Ich habe eine kleine Tochter. Kürzlich war ich mit zwei Freunden und vier kleinen Kindern in den Ferien – ohne die Mütter. Von der älteren Generation höre ich oft, dass es so etwas bei ihnen nie gegeben hat. Die Familie hat also durchaus einen Wandel erfahren, vor allem auch die Rolle des Vaters.
lebe in einer Genossenschaft, in der untereinander ein nahes Verhältnis gepflegt wird. Entspricht das der Norm? Die meisten Schweizer haben eher ein distanziertes Verhältnis zu ihren Nachbarn: Sie helfen sich durchaus, wenn es notwendig ist. Aber danach ist dann auch wieder gut. Ganz enge Nachbarschaften pflegen vielleicht 10 bis 20 Prozent. Aber ich würde die Nachbarschaft nicht als Familienersatz anschauen. Hier greift dieses Argument mit der Infrastruktur übrigens auch: Wenn man architektonisch Möglichkeiten schafft, bei denen sich Menschen begegnen können, wird schneller Vertrauen aufgebaut. Beispielsweise in meinem Fall: Wir wohnen an einem Kehrplatz, es gibt also praktisch keinen Verkehr. Dieser Platz ist in Kinderhand. Er ist voller Kreidemalereien, die Kinder fahren mit Trottis. Meine Tochter ist zwar erst anderthalb, aber die Kinder klingeln bereits an der Türe und fragen, ob sie zum Spielen rauskommt. Da entstehen Banden, die an einer befahrenen Strasse kaum möglich wären.
Welche Superpower würden Sie sich für Ihre Tochter wünschen, damit sie für die Zukunft gerüstet ist? Die Fähigkeit, selbstständige Entscheidungen treffen zu können. In einer Zeit, in der es immer mehr Optionen gibt und in der sich immer mehr verändert, ist das sehr wichtig. Womit will ich mich beschäftigen? Mit welchem Thema auseinandersetzen? Dazu kommen die neuen technischen Mittel. Mittlerweile können sogenannte künstliche Intelligenzen beispielsweise Bilder malen basierend auf Text-Instruktionen! Schüler:innen werden Aufsätze abgeben, die eigentlich von einer Maschine geschrieben wurden. Entscheidend ist nicht die Fähigkeit zu malen, sondern kreative Ideen zu haben, was gemalt werden soll. Das heisst, wir müssen junge Menschen befähigen, selber Entscheidungen zu treffen und Ziele zu formulieren.
Sind diese vielen Möglichkeiten Fluch oder Segen? Sie können einen sicher auch lähmen. Von was man alles werden oder tun könnte bis hin zu wer man eigentlich sein will sind die Möglichkeiten grenzenlos. Darum wird es immer wichtiger, dass man Entscheidungen treffen kann. Sei es allein, sei es gemeinsam. Genauso wichtig ist, dass man etwas ausprobiert.
Wie bringen wir den Kindern diese Superpower bei? Wir müssen den Kindern und Jugendlichen mehr Freiräume erlauben. Nicht ihre ganze Freizeit durchstrukturieren und sie nicht mit dem Auto in die Schule fahren. Diese Fähigkeit, selbstständig Entscheidungen zu treffen, hilft auch bei den Zukunftsvisionen, über die wir gesprochen haben. Man muss Ideen haben. Wo will man hin? Was wäre spannend? Wofür brenne ich? Das ist in einer sich schnell wandelnden Welt relevant. •
Das ungeborene Baby von Marleen und Rafael war seit vier Tagen überfällig. Der Koffer fürs Spital stand bereit, die Grosseltern mütterlicherseits zur Unterstützung der grösser werdenden Familie aus den Niederlanden angereist. «Bei unserem ersten Sohn Rulf ging die Geburt verhältnismässig schnell», erinnert sich die frischgebackene Zweifach-Mama Marleen. «Ich stellte mich darauf ein, dass es auch beim zweiten Kind schnell gehen könnte.» Und wie schnell das ging! So schnell, dass es nicht mehr zu einer Geburt im Spital reichte. Als Marleens Wehen regelmässig wurden, rief Rafael die Hebamme Meret Scheidegger an und teilte mit, dass sie Richtung Spital Winterthur aufbrechen würden. Nur, bis sie dann endlich loswollten, waren die Wehen bereits zu stark. «Ich wusste, es würde nicht mehr reichen», sagt Marleen, «aber Rafael war der Meinung, ich würde das wegen der Schmerzen nicht mehr richtig einschätzen können. Als er nachsah, erkannte er dann Roderiks Köpfchen.» Per Telefon gab Hebamme Meret Anweisung für die Austreibungsphase und raste per Ambulanz los Richtung Marleens und Rafaels Wohnug. Logisch, dass der zukünftige grosse Bruder, Rulf, bei all dieser Aufregung mitten in der Nacht erwachte. Und genau in diesem Moment erwies sich die Anwesenheit der Grosseltern, Cora und Henk, als ganz besonderer Glücksfall. Sie kümmerten sich um den Zweieinhalbjährigen. In seinem Zimmer lenkten sie ihn so lange ab, bis Brüderchen Roderik auf der Welt war. «Als Willkommensgeschenk brachte er ihm dann eine Kaffeekapsel aus der Küche», lacht Marleen. Sie ist erstaunt, wie wenig eifersüchtig der ältere Bruder jetzt, eine Woche nach der Geburt, auf den jüngeren ist. Sicherheitshalber verbrachten Mutter und Sohn die restliche erste Nacht und den folgenden Tag im Spital, bevor sie wieder nach Hause entlassen wurden, wo die drei Generationen gemeinsam die ersten zwei Wochen von Roderiks Leben verbringen. •
Bei Rulfs Geburt 2020 konnten die Grosseltern während des Lockdowns nicht aus den Niederlanden anreisen. Umso mehr geniessen sie es, bei Tochter Marleens zweitem Kind von Anfang an dabei zu sein.
Ein Kinderspiel
DOSSIER
Kinder spielen in den ersten sechs Lebensjahren rund 15 000 Stunden. Dabei eignen sie sich vielfältige, wertvolle Fähigkeiten an. Wie Eltern und Grosseltern das kindliche Spiel unterstützen können.
Von KARIN DEHMER (Text)
Haben Sie schon mal Ihr Enkelkind dabei beobachtet, wie es komplett ins Spiel versunken auf dem Boden sitzt, möglicherweise Selbstgespräche führt, abgetaucht ist in einer eigenen, für Sie unsichtbaren Welt? In solchen Momenten ist besonders leicht erkennbar, dass das kindliche Spiel mehr ist als blosser Zeitvertreib. Aus Sicht der Hirnforschung fördert das frühkindliche Spielen den Aufbau und die Verbindung zwischen verschiedenen Hirnregionen. Ebenso stellte die Forschung bei spielenden Kindern eine Ausschüttung des stressmindernden Hormons Cortisol fest. Aus entwicklungspädiatrischer Sicht gilt die Gestaltung einer anregenden Spielumgebung sowie eine aufmerksame Spielbegleitung durch eine erwachsene Bezugsperson als zentrale erzieherische Aufgabe neben dem Stillen von Grundbedürfnissen. Wobei «aufmerksam» nicht bedeutet, dass Eltern oder ~
Die Fotos auf diesen Seiten entstammen «Basteln mit Grosseltern», der Bastelbox mit 40 Bastelideen des Grosseltern-Magazins. Sie ist erhältlich unter grosseltern-magazin.ch
Grosseltern stundenlang neben ihren Kindern am Boden kriechen oder ihnen ausgeklügelte Spielwelten präsentieren müssen. Aufmerksam heisst, sich in Intervallen zur Verfügung stellen, Impulse und Ideen geben, vor allem aber, sich geistig einlassen auf die Fantasie- und die Spielrealität der Kinder. Erzählen unsere erwachsenen Freunde von ihren Leidenschaften, die wir nicht teilen – Tage auf dem Golfplatz, Triathlon-Ergebnisse oder Kulturreisen – schütteln wir schliesslich auch nicht unsere Köpfe, sondern wir hören
zu, freuen uns bestenfalls mit ihnen. Dasselbe trifft auf das kindliche Spiel und dessen Bedeutung fürs Kind zu. Man sollte seinem Spielinhalt nie abwertend begegnen. Was nicht heisst, dass Erwachsene nicht ihre Vorlieben äussern dürfen, wenn es ans gemeinsame Spielen geht. Nicht jeder Opa verkleidet sich gern als Sträfling und kriecht in eine Kartonschachtel, die sein Gefängnis ist. «Ich verkleide mich nicht besonders gern. Lass uns einen Legoturm bauen», ist eine durchaus legitime Hintertür. Oskar Jenny, Leiter der Entwicklungspädiatrie am Universitäts-Kinderspital Zürich, geht noch einen Schritt weiter: «Wenn man das Gefühl hat, mit den Kindern spielen zu ‹müssen›, geht man davon aus, dass Spielen einen Zweck erfüllt, dass damit etwas erreicht werden muss. Das ist aber nicht so. Es geht darum, eine gemeinsame Aktivität mit dem Kind zu erleben, es bei einer Tätigkeit oder Aktivität zu begleiten. Das muss nicht unbedingt Spielen sein, wenn man nicht gerne spielt. Man kann auch einen Spaziergang machen, gemeinsam die Natur beobachten, zusammen backen oder gärtnern. Der Spieldrang kommt vom Kind allein und sollte nicht von aussen aktiv beeinflusst werden.» Zur «anregenden Spielumgebung» gilt es zu sagen, dass Kinder gern in der Nähe Erwachsener spielen. Sie sollten im Wohnraum spielen dürfen, nicht abgeschottet im Kinderzimmer. Es gibt ihnen ein Gefühl von Sicherheit. Auch fahren Sie gut damit, nicht zu wenig, aber auch nicht zu viel Spielmaterial bereitzustellen. Tipp: Räumen sie öfter mal eine Kiste mit Spielsachen in den Keller oder auf den Estrich. Wenn die Sachen dann nach ein paar Monaten wieder auftauchen, gibts ein freudiges Hallo, als wäre der Kisteninhalt ein brandneues Geschenk.
UND WENN ES STREIT GIBT? Im Spiel mit anderen gibt es immer Missverständnisse und Konflikte. Eltern und Grosseltern tun gut daran, nicht sofort einzugreifen. «Bei Kindergartenkindern sollte man versuchen zu verstehen, worum es geht, wie der Konflikt entstanden ist, und erst dann vermitteln, wenn sie ihn nicht selber lösen können», empfiehlt Oskar Jenny. «Auch bei älteren Kindern ist das Beobachten wichtig. Man sollte in der Nähe bleiben und nur bei Bedarf Hilfe leisten.» Glücklich sind Kinder, die in ihrem Spiel viel ausprobieren dürfen, drinnen und draussen. Sie lernen Neues, erweitern ihren Horizont. Das stärkt das Selbstwertgefühl und das Vertrauen in sich selbst.•
Was bedeutet «pädagogisch wertvoll»?
Kreativität: Gutes Spielzeug lässt dem Kind einen gewissen Freiraum, um seine Fantasie einfliessen zu lassen: Autos, Holzfiguren, Puppen, Bauklötze eignen sich ideal, um eigene Spiellandschaften und -realitäten zu kreieren. Förderung: Das Spielzeug stellt das Kind vor Aufgaben, die es selbst lösen muss, ohne es zu überfordern. Deshalb ist das Einhalten von Altersangaben wichtig. Puzzles, Memory, für Babys Motorik- oder Zuordnungssspiele fördern spielerisch gleich mehrere Fähigkeiten. Interaktivität: Bunte Blingbling-Spielsachen ziehen Kinder magisch an, und man soll und darf ihnen getrost auch mal eines schenken. Sofern die Kinder auch Dinge haben, die sie selbst bespielen müssen, und die sie nicht im wahrsten Sinne auf Knopfdruck unterhalten.
Onlinespiele – ab wann?
Medienpsychologen kommen zurzeit davon weg, genaue Zeitangaben vorzuschreiben. Einerseits weil man erkannt hat, dass jedes Kind anders auf Darstellungen oder Anforderungen von Onlinespielen reagiert, unabhängig von seinem Alter. Der Fokus beim Mediengebrauch hat sich auf den Ausgleich verschoben: Welchen Aktivitäten gehen die Kinder neben der Medienzeit nach? Treffen sie Freunde? Haben sie genug Bewegung? Wissen sie sich auch ohne digitales Gerät zu beschäftigen? Bezugspersonen sollten sich von den Kindern die Onlinespiele erklären lassen, die sie mögen. So finden sie am besten heraus, welche Games für das Kind geeignet sind und welche weniger. Medienzeit sollte zudem nicht als Belohnungs- oder Bestrafungsmittel eingesetzt werden, die Spiele bekommen sonst eine viel zu grosse Bedeutung. Die folgenden Eckdaten sind grundsätzlich sicher nicht verkehrt: Spielen am Tablet oder Smartphone nicht unter drei Jahren. Von 3 bis 5 Jahren nicht länger als eine halbe Stunde pro Tag, von 6 bis 7 Jahren nicht länger als eine Stunde pro Tag.
Wenn Kinder nicht alleine spielen wollen
•Beim gemeinsamen Spielen nicht die Führung übernehmen, sondern diese dem Kind überlassen. Sobald das Kind vertieft ist, sich zurückziehen. • In der Nähe des spielenden Kindes bleiben. Viele Kinder brauchen die Nähe von vertrauten Erwachsenen, um sich beim Alleinespielen wohlzufühlen. • Das Kind darf gelobt werden dafür, dass es alleine spielt und sich beschäftigt. So vermittelt man ihm, dass es durchaus eine wichtige Fähigkeit ist, sich alleine auf etwas konzentrieren zu können. • Das Kind möglichst nicht unterbrechen, wenn es allein in ein Spiel versunken ist.
Was spielen wir?
Die Entwicklungspsychologie unterscheidet fünf Spielformen, die sich Kinder mit zunehmendem Alter aneignen.
1. SPIEL MIT GEGENSTÄNDEN
Erkundung der gegenständlichen Umwelt, visuell, oral oder manuell: Schon nach den ersten Lebenswochen beginnt das Baby immer mehr koordinierte, willkürliche Bewegungen zu machen, angefangen mit den Händen. Der Säugling betastet sie, befühlt sie mit dem Mund oder betrachtet mit den Augen seine Hände – die sogenannte «Hand-Hand-Koordination» entsteht. Danach folgt das orale Erkunden, später das manuelle: Befühlen, tasten, klopfen mit Gegenständen.
2. BEWEGUNGSSPIELE
Zu den Bewegungsspielen zählen grobmotorische Tätigkeiten wie Springen, Klettern, Tanzen sowie feinmotorisches Malen, Schneiden, Basteln. Nicht alle Kinder haben denselben Bewegungsdrang und nicht alle sind gleich geschickt oder interessiert an handwerklichen Tätigkeiten.
3. SYMBOLSPIELE
Als Symbolspiele bezeichnet man Fantasiespiele, die das Kind alleine spielt. «So tun als ob»: Ein Tannzapfen wird zum Autobus, ein grosses Blatt auf dem Teich zum Schiffchen. Restaurant spielen oder «Verkäuferlis», imaginäre Freunde, Puppenstubenspiel – je älter das Kind, desto ausgefeilter werden die imaginären Lebensfelder, die es entwirft.
4. ROLLENSPIELE
Rollenspiele sind Symbolspiele mit anderen Kindern oder mit Erwachsenen. Das Kind verteilt Rollen, Regeln werden bestimmt, Rollen und Regeln müssen während des Spiels angepasst und abgesprochen werden. Dies schult das soziale Verhalten. Schlüpfen Kinder in ungewohnte Rollen, sehen sie die Welt aus einer anderen Perspektive. Sie lernen, sich in andere hineinzuversetzen.
5. REGELSPIELE Hier geht es ums Gewinnen und Verlieren, darum, sich zu messen, mit Würfeln, Karten und Brettspielen. Bei Regelspielen müssen Kinder lernen, mit Misserfolg umzugehen, und wie es der Ausdruck sagt, sich an Regeln zu halten: Regeln, die das Spiel vorgibt, und nicht solche, die die Kinder selber machen.
Wann spielen wir es?
Kinder suchen von sich aus und ganz automatisch nach spielerischer Anregung, die zu ihrer aktuellen Entwicklung passt.
0 BIS 18 MONATE
Entwicklung der Grob- und später der Feinmotorik, spielerische Entwicklung der Sinneswahrnehmung, Dinge in den Mund nehmen, tasten, Mimik und Gestik der Erwachsenen nachahmen (winken, lachen). Dieses Spiel ermüdet ein Baby schnell und überreizt es. Sobald es den Kopf abwendet, den Augenkontakt unterbricht, sollte man damit aufhören. Ab sechs Monaten ist Greifen mit beiden Händen möglich. Ab zehn Monaten werden Rasseln und Greiflinge interessant. Vor allem solche mit verschiedenen Oberflächenstrukturen sind beliebt. Gut zu wissen: Das orale Erkunden nimmt nach dem ersten Geburtstag langsam ab und verschwindet bis zum Alter von 15 Monaten ganz. Am Ende des ersten Lebensjahres kann das Kind kleine Gegenstände mit Daumen und Zeigfinger greifen. Kontrolliert loslassen können Babys aber erst zu Beginn des zweiten Lebensjahrs, deshalb schütteln sie Dinge, die sie loswerden wollen, und die fliegen dann durch die Luft. Mit 18 Monaten beginnen Kinder mit Symbolspielen wie «Verkäuferlis» und Puppenspielen.
18 MONATE BIS 3 JAHRE
Das Spielfeld verlagert sich aufs unmittelbare Umfeld, Schubladen werden ein- und ausgeräumt. Jetzt werden Bauklötze gestapelt, Wassser hin- und hergeleert. Gut zu wissen: Bis 3 oder 4 Jahre spielen mehrere Kinder stets nebeneinander, erst danach miteinander.
3 BIS 6 JAHRE
Das Regelspiel gilt als höchste Entwicklungsstufe, da es das Verstehen und Einhalten von Regeln voraussetzt und die Fähigkeit, in einer Gruppe zu agieren, sich ein- und unterzuordnen.
AB 10 JAHREN
Entwicklung sozialer Fähigkeiten wie Teilen, Kommunizieren, Verhandeln sowie Fantasie- und Rollenspiele. Kinder beginnen ihren Zeichnungen eine Bedeutung zu geben, auch wenn diese für Erwachsene nicht erkennbar sind.
«Das Rollenspiel ist die Kür des Spielens»
Wenn Erwachsene Kinder übermässig fördern, hemmt das die Spielbereitschaft der Kinder eher, dass sie sie fördert, findet Entwicklungspädiater Oskar Jenni. Ein Gespräch über die optimale Begleitung der Kinder bei ihrem Spiel.
Von KARIN DEHMER (Interview)
Foto: zvg
OSKAR JENNI Ist Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin. Er leitet die Abteilung Entwicklungspädiatrie am Universitäts-Kinderspital Zürich und ist Professor für Entwicklungspädiatrie an der Universität Zürich. Viele Kinder tauchen beim Spiel völlig ab. Sie nehmen nichts mehr um sich herum wahr. Ist es erforscht, was in diesen Momenten in ihnen abgeht? Ja, das ist psychologisch relativ gut erforscht. Man nennt das den sogenannten Flow, ein Begriff, den der ungarische Psychologe und Glücksforscher Mihaly Csikszentmihalyi geprägt hat. Den Flow kennen wir Erwachsenen auch. Es ist der Zustand einer totalen Vertiefung, eines Aufgehens in einer Tätigkeit. Eine Art Rausch. Die Flow-Zustände wurden auch physiologisch gut erforscht: Der Puls nimmt ab, der Blutdruck sinkt. Das Kind fühlt sich den selbst gestellten Anforderungen und den Erwartungen des Umfelds gewachsen, alles passt perfekt.
Herr Jenni, ein Zitat, das man im Zusammenhang mit Kindern und Spielen öfters liest ist «Spielen ist der Beruf des Kindes». Ich nehme an, dem würden Sie auch zustimmen? Nein, das würde ich so nicht unterschreiben. Kinder spielen, worauf sie gerade Lust haben. Spielen ist spontan und freiwillig. Es hat keinen eigentlichen Zweck oder ein Ziel, ganz im Unterschied zur Arbeit, die eine konkrete Absicht hat. Das einzige, was die beiden Tätigkeiten verbindet – und ich vermute da auch den Ursprung des Zitats –, ist, dass Arbeiten und Spielen sehr viel Zeit in Anspruch nehmen. Es ist jeweils schwierig, die Kinder aus diesem Zustand herauszureissen, wenn es Essen gibt oder Zeit ist, ins Bett zu gehen. Sollte man sie in ihrem Flow lassen? Nein. Denn als Eltern und Grosseltern ist es ja auch wichtig, den Kindern einen Rahmen zu bieten, innerhalb dessen sie sich orientieren können. Essens- und Schlafenszeiten haben dabei eine besonders grosse Bedeutung. Ich denke, es ist die Hauptaufgabe von Bezugspersonen, den Kindern möglichst viele Freiheiten zur Entfaltung zu lassen, aber stets innerhalb eines vorgegebenen Rahmens.
Kinder führen oft Selbstgespräche während des Spielens. Lohnt es sich, da genauer hinzuhören? Vielleicht, weil man etwas erfahren könnte, das das Kind beschäftigt? Ob Selbstgespräche während des Spiels einen Zusammenhang haben mit der emotionalen Verarbeitung von Erlebnissen oder gar mit Belastungen, ist wissenschaftlich nicht ausreichend untersucht. Worüber solche Gespräche aber durchaus Auskunft geben können, ist die Lebenswelt der einzelnen Kinder, wie sie über gewisse Themen nachdenken, die Welt sehen, was ihnen Beziehungen bedeuten und so weiter. Die Kinder geben bei solchen Selbstgesprächen also ganz viel preis, was für die Beziehungsgestaltung allenfalls wertvoll sein kann.
Gibt es Spiele, von denen Sie denken, dass sie unterschätzt sind, oder die zugunsten neuer Trends in Vergessenheit geraten sind? Grundsätzlich gibt es zwei Gruppen von Spielen: Auf der einen Seite das freie Spiel und auf der anderen das Regelspiel. Das freie Spiel ist in den ersten acht bis zehn Jahren wichtig und wird danach teilweise durchs Regelspiel ersetzt. Ein Kind, das in den ersten Jahren vieles entdeckt, tut dies während des freien Spiels, und zwar von sich aus. Auch das Rollenspiel – für mich die Kür des Spielens – ist Teil der normalen kindlichen Entwicklung und findet von Trends unabhängig statt. Aber natürlich haben sich in den letzten 20 Jahren gerade durch die digitalen Medien neue Trends ergeben. Ich selber habe keine übermässig kritische Haltung gegenüber digitalen Medien. Wichtig ist einfach, dass Bezugspersonen besonders das junge Kind in der digitalen Welt begleiten, die Kinder daneben auch noch anderen Aktivitäten nachgehen und sie ein möglichst vielseitiges Spielangebot haben.
Sie raten auch dazu, den Kindern die Initiative fürs Spielen zu überlassen, oder? Ja, das ist so. Es ist relativ gut erforscht, dass eine aktive und übermässige Förderung durch Erwachsene die Spielbereitschaft der Kinder eher beeinträchtigt als fördert. Bezugspersonen sollten vielmehr die Interessen des Kindes im Spiel begleitend aufnehmen, dem Kind offene Fragen stellen und Impulse zu weiteren Spielformen geben. Auf diese Weise öffnen sie dem Kind neue Wege zu Spielerfahrungen.
Was, wenn ein Kind sehr einseitig interessiert ist? Soll man auch da nicht Gegensteuer bieten? Natürlich gibt es Kinder mit Entwicklungsverzögerungen, die ein sehr einseitiges, monotones Spielverhalten zeigen. Aber wenn das Kind in seiner Entwicklung unauffällig ist, dann ist auch ein eher einseitiges Spiel völlig okay.
Gibt es Vor- und Nachteile des Spielens miteinander und gegeneinander? Nein. Weil eben beides wichtig ist. Gerade das bei tendenziell mehr Buben vorhandene Raufen ist wichtig. Es hilft dem Kind in komplexen Situationen, die Gefühle zu regulieren, sprachliche und soziale Fähigkeiten zu schärfen. Natürlich muss man zusehen, dass sie sich nicht verletzen. Abe es ist wichtig, dieses Gegeneinander.
Gibt es einen Trick, wie man Kindern, die schlechte Verlierer:innen sind, das Konzept des Gewinnens und Verlierens begreifbar machen kann? Eine interessante Frage. Damit Kinder die Regeln einen Spieles verstehen und somit auch, wie man als Gewinner:in oder Verlierer:in daraus hervorgeht, brauchen sie die «Theory of mind», die Fähigkeit, die Perspektive des anderen einnehmen zu können. Diese entwickelt sich zwischen vier und sechs Jahren. Wenn das Kind noch nicht so weit ist, scheitert man mit Erklärungen über Gewinnen und Verlieren.
Also lohnt es sich nicht, mit Kindern Regelspiele zu spielen, wenn sie noch nicht so weit entwickelt sind, die Regeln mit allen Konsequenzen zu akzeptieren? Genau. •
Die kindliche Entwicklung verstehen Oskar Jenni, Springer Verlag, 2021 66 Franken.