Aus den Archiven des Marxismus No 1

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GESCHICHTE Beilage zu KLASSENKAMPF Nr. 29 / Einzelpreis: 1,--

Ein Interview mit Leo Trotzki vom Januar 1918

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Vorwort von Manfred Scharinger Am 24. Februar 1918 erschien in der Neuen Freien Presse in Wien auf den Seiten 3 und 4 ein großes Interview mit Leo Trotzki, damals Volkskommissar für äußere Angelegenheiten. Das Interview war bereits am 25. Januar 1918 in Petrograd im Smolny-Institut aufgenommen worden, jenem ursprünglich als Kloster konzipierten Komplex, der unter dem Zarismus als Bildungsanstalt für adelige Mädchen und 1917 dem Petrograder Sowjet als Tagungsort gedient hatte. In der Folge hatte nach der Revolution der Rat der Volkskommissare, die erste Revolutionsregierung, hier ihren Sitz. Das Interview mit Leo Trotzki fand in einer besonders kritischen Phase der Räteregierung statt: Am 19. Januar war die Konstituante aufgelöst worden (nach dem alten Kalender am 6. Januar, wir verwenden hier, wenn nicht anders angegeben, die Zählung nach dem neuen Kalender). Die noch vor der Oktoberrevolution von der provisorischen Regierung angesetzten Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung waren von der neuen Räteregierung erlaubt und am 12./25. November 1917 durchgeführt worden. Das Ergebnis war, dass die Bolschewiki etwa ein Viertel der Stimmen erhielten und dabei klare Gewinner in russischen Städten und unter den Soldaten der Westfront waren. Die Sozialrevolutionäre hatten knapp 60 Prozent erhalten und waren besonders unter der Landbevölkerung präsent. Nach einer Spaltung unterstützten die linken Sozialrevolutionäre aber nun die Bolschewiki und traten in die Räteregierung ein. So stellte sich also die Frage, ob sich im Zweifelsfall die Sowjets der Konstituante oder die Verfassunggebende Versammlung den Räten unterordnen sollten. Hätten die Bolschewiki vorbehaltlos das Wahlergebnis der Konstituante anerkannt, hätten Sozialrevolutionäre und Menschewiki die Regierung gebildet, die Revolution wäre verloren gewesen.

Klassenkampf 29 | 2018

Am 26. Dezember hatte Lenin Thesen zur konstituierenden Versammlung publiziert, in denen er argumentierte, dass die Sowjets eine höhere Form der Demokratie seien als die gewöhnliche bürgerliche Republik mit einer Versammlung. Die Interessen der Revolution stünden höher als die formalen Rechte der Versammlung. Am 6./19. Januar war die Frage jedenfalls durch die Auflösung der Konstituante von den Bolschewiki entschieden worden. Die entscheidende außenpolitische Frage dieser Wochen war aber natürlich die Frage der Beendigung des Krieges. Am 15. Dezember 1917 war der Waffenstillstand mit der deutschen Heeresleitung in Brest-Litowsk unterzeichnet worden, am 22. Dezember hatten die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk begonnen. Und am 9. Januar 1918 hatte Leo Trotzki die Leitung der russischen Delegation in Brest-Litowsk übernommen. Unter den Bolschewiki standen sich mehrere Strömungen gegenüber: Lenin argumentierte, dass die einzige Möglichkeit der sofortige Abschluss eines Separatfriedens mit Deutschland sei, während Bucharin für die Fortführung eines „revolutionären Krieges“ argumentierte. Trotzkis Formel „Weder Krieg noch Frieden“ erhielt im Zentralkomitee die Mehrheit. Am 7. Januar 1918 hatte Trotzki Joffe als Delegationsführer in Brest-Litowsk abgelöst. Trotzkis Taktik war es, den Fortgang der Gespräche zu verlangsamen, denn er setzte seine Hoffnungen auf einen raschen Fortschritt der Revolution in Österreich-Ungarn und Deutschland – wir erinnern uns, dass es schon Anfang 1917 in Wien aufgrund der Nahrungsmittelknappheit zu Streiks gekommen war und sich im Winter 1917/18 die Lage dramatisch zugespitzt hatte. Zwischen dem 3. und 25. Jänner 1918 erfasste der Jännerstreik weite Teile der Donau-Monarchie. Über 700.000 Arbeiter traten in den

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