KLASSENKAMPF 26

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Nummer 26 / September 2016 Zeitung der Gruppe Klassenkampf - für Rätemacht und Revolution 2.-- Euro

Die „soziale Heimatpartei“ ohne Maske:

FPÖ - Partei für die Reichen und Abzocker, gegen die arbeitende Bevölkerung! ISSN: 2220­0657

www.klassenkampf.net


Innenpolitik

FPÖ-Hofer: Der Freund der G’stopften und Abzocker Glaubt man den rot-weißblauen Großkampf – pardon: Wahlkampfplakaten der FPÖ (denn deren „Volks“kandidat ist ja der heldisch starrende Bertl), dann soll man „Aufstehen für Österreich“, denn „Die Heimat braucht dich jetzt”. Und überhaupt – das „Volk” ist überall präsent, und die Heimat ruft aus allen Ecken und Enden. Nach dem Bertl? Wirklich?

schwer erkennen kann, in wessen Lager die FPÖ wirk­ lich steht:

Es lebe der Zinsgeier! 2011 wollte die FPÖ die Be­ seitigung der seit 2010 gelten­ den Beschränkungen der Maklergebühren auf höchs­ tens zwei Monatsmieten durchsetzen. Warum? „Die Än­ derungen sind für viele Immo­ bilienmakler existenzbedro­ hend und haben mittlerweile auch zu erheblichen Um­ satzeinbußen in der Branche geführt.“

ständigen diene, denen nicht vorgeschrieben werde, wofür sie ihr Weihnachts­ und Ur­ laubsgeld verwenden”. Klingt ein bisschen zynisch, oder? Aber man kann den Freiheitli­ chen nicht vorwerfen, dass sie keinen Blick für die echten Sorgen der kleinen Leute ha­ ben: die Parlamentskorre­ spondenz protokolliert: „Einen FPÖ­Entschließungsan­ trag zugunsten des Reit­ sports, den die Antragsteller mit dem Hinweis auf finanziel­ le Belastungen durch die neue Umsatzsteuerpflicht für das Einstellen von Pferden bei Bauern begründeten, vertagte der Ausschuss mehrheitlich”. Klar, da muss man drauf schauen, dass der Simmerin­ ger Hackler sein Ross steuer­ begünstigt unterstellen kann, net wahr?

tron des kleinen Mannes (aber nicht der kleinen Frau? Das wäre vermutlich „Gender­ wahnsinn”) per APA­Aussen­ dung. „’Vermögensbezogene Steuern, wie heute von Bun­ deskanzler Faymann am SPÖ­ Parteitag gefordert, sind abso­ lut ungerecht und asozial’, be­ tonte der freiheitliche Bunde­ sparteiobmann Heinz­Christi­ an Strache. ‘Vermögenssteu­ ern sind ein Diebstahl an den arbeitenden Menschen, da diese nochmals bereits ver­ steuertes Einkommen und langfristige abbezahlte Kredi­ te für Immobilien versteuern sollen’, so Strache". Am 7. Dezember 2015 ant­ wortete ein geifernder Strache dann auf seiner Facebookseite auf einen Eintrag, in dem ge­ fragt wurde, warum denn die Effen gegen Vermögenssteu­ ern seien: „Welchen Unsinn schreiben sie hier? Genau das Gegenteil ist der Fall! Wieder so ein linkes Fake­Profil”.

Wahr ist vielmehr: Herr Ho­ fer ist der Mann, den die Rei­ chen jetzt brauchen, und of­ fenbar müssen viele Berufstä­ tige und Arbeitslose, die aus Protest gegen das bestehende Hü und Hott, politische System bei den bis­ wenn’s um Priviherigen Wahlgängen (viel­ legien der leicht gibt’s ja noch ein paar, bis die Strache­Partie zufrie­ G’stopften geht! den ist?) Hofer gewählt haben, nicht „aufstehen”, sondern aufwachen, um zu erkennen, In der Sitzung des Fi­ wofür der beredte Bursche nanzausschusses vom 13. Fe­ steht. bruar 2014 stimmte die FPÖ gegen eine Vielzahl von Be­ Wir haben uns schon vor stimmungen, die Reiche und den Wiener Gemeinderats­ Superreiche getroffen hätten. Vermögenssteuwahlen mit dem Mythos von Die Parlamentskorrespondenz ern sind der „Sozialen Heimatpartei” Nr. 104 vom gleichen Tag be­ Der fesche Karl„asozial”, außer auseinandergesetzt, dieses richtet: „Abgeordneter Hubert Heinz tritt auf Flugblatt kann man auf unse­ Fuchs (F) kritisierte, dass Un­ in Wahlkampfrer Website herunterladen, es ternehmen beim Gewinnfrei­ den Plan zeiten ist nach wie vor aktuell. Wir betrag Realinvestitionen vor­ wollen nur ein paar Highlights geschrieben werden, obwohl aus den vergangenen Jahren der Gewinnfreibetrag der Am 13. Oktober 2012 verlau­ Unser volkstümlicher Bertl aufzeigen, an denen man un­ Gleichstellung mit Unselbst­ tete H.C. Strache, Schutzpa­ ist bekanntlich stolz darauf,

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Innenpolitik dass „die Elite” nicht in sei­ nem Lager steht – wen immer er damit auch meinen mag. Ei­ ner, der also nicht elitär ist, hat jetzt endlich seinen Senf zur 3. Runde abgegeben: Karl­ Heinz Grasser (für ihn gilt na­ türlich die Umschuldsvermu­ tung!), der nach jahrelangen Ermittlungen nun wegen mas­ siver Korruptionsvorwürfe demnächst angeklagte ehema­ lige Finanzminister und Jörg­ Haider­Bube. „Van der Bellen hat sicher Qualitäten, aber Hofer hat das bessere Alter und scheint das Amt lebendi­ ger interpretieren zu wollen”. Na, wenn das der Autotand­ lersohn aus Kärnten sagt, wird’s schon stimmen.

„Und am Kai geht Mackie Messer, der von allem nichts gewußt”...

...heißt es in Brechts „Drei­ groschenoper”. Leicht abge­ wandelt: Und um’s Eck geht H.­C. Strache, der von allem nichts gewusst. Korruption? Freunderlwirtschaft? Hypo­Al­ pe­Adria? Der rechtschaffene Zahntechniker hat vermutlich immer gerade in irgendeine aufgerissene Gosch’n ge­ schaut, wenn was passiert ist. Am 6. September 2011 gibt Strache der „Presse” gegen­ über bekannt: „FPÖ­Obmann Heinz­Christian Strache übt im Zuge der Telekom­Affäre Distanz zur früheren freiheitli­ chen Regierungsmannschaft. ‘Meine heutige FPÖ hat nicht das geringste mit diesen Ma­ chenschaften zu tun’, beteu­ erte er am Dienstag. Bereits zu schwarz­blauen Zeiten sei­ en ‘Gerüchte’ kursiert, weswe­ gen man sich schließlich poli­ tisch getrennt habe. ‘Die heu­ tige FPÖ hat sich 2005 von diesem schüssel'schen Un­ geist befreit’, so Strache. ‘Un­

ter meiner Führung gibt es keine Korruption, keine Freunderlwirtschaft’. Alle Ver­ suche, die ‘heutige FPÖ in die­ se damaligen Machenschaften hineinzuziehen’, würden ‘völ­ lig ins Leere’ gehen”

FPÖ” entgegenzutreten. Damit enttäuschte Arbeiterinnen und Arbeiter nicht mehr glau­ ben, dass sie von den feinen Burschen mit ihren Kornblu­ men etwas zu erwarten hät­ ten.

Immerhin war Strache ab 2004 Mitglied des FPÖ­Bunde­ sparteivorstandes, und Hai­ der liebäugelte vor seinem Rückzug nach Kärnten damit, seiner Schwester Ursula Haubner den geschmeidigen Wiener Landesvorsitzenden als Stellvertreter anzudienen. Aber 2005 kam es dann zum Zerwürfnis zwischen FPÖ und BZÖ…

Mit diesem QR­Code kommst Du zu unserem Text über die „soziale Heimat­ partei" auf unserer Home­ page:

Die Liste der blauen Wider­ sprüche – hie „soziale Heimat­ partei”, da Klassenpartei der Kapitalisten, Abräumer und Glücksritter – lässt sich fort­ setzen, und wir werden das auch tun. Denn es ist bitter notwendig, der infamen Lüge von der „neuen Arbeiterpartei

Achtung, Achtung: Hier spricht ein Experte der sozialen Heimatpartei!

Kollektivverträge brauch ma net Abgeordneter Bernhard Themessl (FPÖ), hat sich im „Sommergespräch” der „Vor­ arlberger Nachrichten” in ge­ wohnt kompetenter Weise zum Thema Kollektivverträge geäußert: „Themessl stellte im Interview die Frage, ob es Kol­ lektivverträge wirklich brau­ che. Betriebsvereinbarungen seien individueller und des­ halb sinnvoller: ‘Man kann doch nicht einen Kollektivver­ trag über das ganze Bundesge­ biet legen, obwohl die Situati­ on in den Bundesländern so unterschiedlich ist.’ Außerdem gebe es ein paar Hundert Kol­ September 2016 | Nummer 26

lektivverträge in Österreich.” Tatsächlich finden sich un­ ter den rund 450 jährlich in Österreich abgeschlossenen Kollektivverträgen eine große Zahl auf Bundesländer abge­ stimmte Verträge; weiters gibt es Branchen­ und sogar „Fir­ men”­Kollektivverträge, die stark individuell ausgehandelt werden. Herr Themessl, von H.C. Strache im Oktober 2014 ab­ gesägter Wirtschaftssprecher der „sozialen Heimatpartei” (seine parlamentarischen An­ fragen seien „Rohrkrepierer” gewesen, habe der Obmann

dem Vorarlberger vorgewor­ fen, munkeln blaue Insider) reitet hier eines der alten Ste­ ckenpferde der Freiheitlichen: Den Generalangriff auf über­ betriebliche Tarifverträge und die Propagierung der Verle­ gung der Verhandlungen über Löhne, Arbeitszeiten und So­ zialleistungen auf die betrieb­ liche Ebene. Das ist natürlich zugleich ein Angriff auf die Gewerkschaften. Gerade Vor­ arlberg, die politische Heimat Themessls, ist ja nicht gerade als gewerkschaftsfreundlichs­ tes Bundesland verschrien. Die Möglichkeit, sich in Ge­

Parlamentsdiretion / (c) Foto Simonis

werkschaften zusammenzu­ schließen, um aus einer mög­ lichst starken Position mit den Kapitalisten über den Preis der Ware Arbeitskraft verhandeln zu können, war ein bedeutender Durchbruch für die frühe Arbeiterbewe­ gung. Das will die „soziale Heimatpartei” jetzt rückgän­ gig machen. Themessl ist ja in sozialen Fragen höchst bewandert, wie ein Diskussionsbeitrag im Na­

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Innenpolitik tionalrat gegen eine von ihm befürchtete „Reichensteuer” beweist: „Sie müssen die Debatte an­ ders führen, nämlich: Sie müs­ sen mit den Reichen normal umgehen, Sie müssen mit den Reichen über eine eventuelle Solidarabgabe reden, wofür wir auch eintreten, und dann werden Sie sehen – und davon sind wir überzeugt –, dass die wirklich reichen Österreicher so viel Patriotismus an den Tag legen, dass sie bereit sind, in schwierigen Situationen zu helfen. Aber mit dieser Neidde­ batte, wo Sie mit ideologi­ schen Scheuklappen, wie Sie es genannt haben, diese Dis­ kussion führen, sind Sie auf dem Holzweg. Das können Sie mir glauben. (Lebhafter Beifall bei FPÖ, ÖVP und BZÖ.”) 6.12. 2011, 135. Sitzung des Natio­ narats, zitiert aus dem Steno­ grafischen Protokoll, S. 46) Da ist er ja, der vielbe­ schworene Patriotismus der Freiheitlichen! Bei den Rei­ chen, die liebend gern freiwil­ lig zur Kasse gebeten werden. Themessl, selbst erfolgrei­ cher (?) Unternehmer in Ho­ henems, muss es ja wissen. Übrigens: Im Sommer 2012, ein halbes Jahr nach seiner beherzten Verteidigung der patriotischen Reichen, war Themessl in die Schlagzeilen geraten, weil er zur Abde­ ckung seiner privaten Schul­ den von 1,85 Millionen Euro die Partner seines Versiche­ rungsmaklerbüros um einen Betrag von einer halben Milli­ on Euro geprellt und ihre Existenzgrundlage gefährdet haben soll. [Wie immer in die­ sen Kreisen gilt auch hier die Un­ schuldvermutung, wir zitieren le­ diglich aus den Vorarlberger Nachrichten!]

IMPRESSUM: Die Zeitung KLASSENKAMPF wird von der politischen Partei GRUPPE KLASSENKAMPF (früher: Trotzkistische Gruppe Österreichs) herausgegeben. Offenlegung nach § 25 Mediengesetz: Die politische Partei GKK ist finanziell an keinen anderen Druckwerken oder Unternehmen beteiligt. Druckort: Wien Verleger: GKK

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ARBEITSLOSE IM FADENKREUZ DES KLASSENFEINDS Die Jagdsaison ist eröffnet. Klubobmann Lopatka, der Mann fürs Grobe in der ÖVP sinniert einmal mehr über die Zumutbarkeitsbestimmungen für Arbeitssuchende. Wenn es nach der ÖVP geht, sollen künftig die Annahme eines Jobs mit 2,5 statt 2 Stunden täglicher Wegzeit zum Arbeitsplatz die Voraussetzung sein, um weiterhin Arbeitslosengeld beziehen zu können. Die bürgerlichen Medien haben Jahre und Jahrzehnte hindurch das Trugbild des schmarotzenden und arbeitsscheuen Arbeitssuchenden gezeichnet und diese dadurch an den Rand des gesellschaftlichen Daseins gedrängt. Die Wahrheit ist viel mehr: Die vom AMS angebotenen Stellen sind oft längst schon besetzt oder entsprechen nicht im Geringsten den Qua­ lifikationen der Arbeitssu­ chenden. Jugendliche mit nicht ganz so tollem Zeugnis schaffen es oft gar nicht zu einem Bewerbungsgespräch für den ersten Job. Ortswech­ sel in oft hunderte Kilometer entfernte Städte werden von AMS Betreuern nahe gelegt, weil dort gerade ein angeb­ lich passender Job frei ge­ worden sein soll. Mittlerweile gelten bereits 45­jährige als „ältere Arbeitssuchende“, de­ ren Chancen am Arbeits­ markt stark reduziert sind. Oft werden vom AMS ver­ pflichtend offensichtlich sinnlose Kurse verordnet (et­ wa EDV Basisschulungen für IT Experten) oder der Weg in die (Schein)selbstständigkeit

vorgeschlagen, um die Ar­ beitslosenstatistik zu schö­ nen. Findet sich nach langer Suche endlich Arbeit, so ist diese oft zeitlich oder sai­ sonal begrenzt und wird von den Unternehmern gekün­ digt, sobald der Kollege aus der Karenz oder dem Kran­ kenstand zurück bzw. die Sai­ son zu Ende ist. Fast immer ist der neue Job nach der Ar­ beitslosigkeit schlechter be­ zahlt als der alte. Es ist eine Lüge, dass die Menschen in Österreich trotz dieser widri­ gen Bedingungen nicht arbei­ ten wollen. Im 1. Halbjahr 2016 wurden 216.000 der 246.000 vom AMS vermittel­ ten Stellen angenommen. Zur Jagdgesellschaft gesellt haben sich neben Lopatka auch die ÖVP dominierten Wirtschaftskammern in Ober­ österreich und Tirol. Diese rufen ihre Mitglieder dazu auf, vom AMS vermittelte Ar­ beitssuchende zu melden, wenn diese keinen arbeitswil­ ligen Eindruck machen soll­ ten. Ein Verfahren der Daten­ schutzbehörde dazu läuft. Ins selbe Horn stößt die ÖVP Wi­ en, die eine „Leistungskam­ pagne“ gestartet hat. Zum Leistungsbegriff äußert sich ÖVP Wien Chef Gernot Blü­ mel in der Wiener Bezirkszei­ tung „Stadtleben“ vom 10./11.8.2016 wie folgt:“Es geht hier um die soziale Fra­ ge unserer Zeit. Im 19. Jahr­ hundert ging es um die aus­ gebeuteten Arbeiter, heute geht es um den Mittelstand. Diese Menschen finanzieren das System, während andere in unserer Gesellschaft EUR 850 fürs Nichtstun bekom­ men.“

Die Verschleierung der Klassenverhältnisse gehört zu den Kampfmethoden der Ausbeuterklasse. Nach wie vor findet die Ausbeutung der Lohnabhängigen – unabhän­ gig von den rechtlichen Kon­ struktionen ihrer Arbeitsver­ hältnisse – täglich statt, wird der von ihnen produzierte durch den Verkauf ihres Ar­ beitsprodukts für die von Blü­ mel als „Mittelstand“ bezeich­ neten Kapitalisten in Profit verwandelt. Entgegen den Be­ hauptsungen von Blümel wird das System nicht vorwiegend durch Unternehmenssteuern sondern zu mehr als 80 % durch Lohnsteuer, Umsatz­ steuer und sonstige Massen­ steuern, welche von der Ar­ beiterInnenklasse stammen finanziert. Mindestsicherungsbeziehe­ rInnen stehen in der gesell­ schaftlichen Hierarchie ganz unten. Dabei wird Minstestsi­ cherung meist nur als finanzi­ elle Ergänzung zu Arbeitslo­ sengeld oder Teilzeitbeschäf­ tigung ausbezahlt. Dennoch befinden sich Mindstsiche­ rungsbezieherInnen im Brennpunkt von Angriffen bürgerlicher PolitikerInnen. Niederösterreich und Ober­ österreich haben bereits Kür­ zungen beschlossen, ÖVP In­ nenminister Sobotka will eine Obergrenze von EUR 1.500 und eine Mindestaufenthalts­ dauer von fünf Jahren in Ös­ terreich. Verpflichtung von Mindestsicherungsbeziehe­ rInnen zu sozialer Arbeit wird angedacht. Die ideologische Vorarbeit zu einer Neuauflage von Schwarzblau auf Bundes­ ebene ist also geleistet. Parallel dazu läuft die Um­ September 2016 | Nummer 26


Innenpolitik verteilung von Lohnabhängi­ gen zu Kapitalisten auf Hoch­ touren. Von 2000 bis 2014 ist die Produktivität in Österreich um 18,2 % gestiegen, die Löh­ ne hingegen nur um 8,6 %. Die Lohnabhängigen mussten in dieser Zeit Reallohnverluste hinnehmen. Eine weitere Ver­ schärfung der Lage am Ar­ beitsmarkt wird die von FPÖ Chef Strache und Außenminis­ ter Kurz vorgeschlagene Ein­ führung von verpflichtenden 1 Euro Jobs für Flüchtlinge brin­ gen. Diese bedeutet bis zu 30 Stunden wöchentliche ge­ meinnützige Arbeit für Ge­ meinden zu einem Hunger­ lohn nach Hartz 4­Modell. Gebetsmühlenartig wird von bürgerlichen PolitikerInnen la­ mentiert, dass Arbeitslose an ihrer Situation vorwiegend selbst schuld sind, dass sie doch gefälligst ihre Ausbil­ dung zu verbessern und gene­ rell mehr Eigeninitiative zei­ gen sollen, damit alles gut wird. Dabei ist die Ursache für das Entstehen der Geißel Massenarbeitslosigkeit im ka­ pitalistischen Wirtschaftssys­ tem zu finden. Die Lohnab­ hängigen produzieren Mehr­ wert, welcher durch den Ver­

Wir vermuten: Würden Arbeitslose seltsame Kopfbedeckungen tragen, wäre Lopatka freundlicher zu ihnen.

kauf ihres Arbeitsprodukts zu Profit für die Kapitalisten wird. Diese häufen (akkumu­ lieren) Kapital an und inves­ tieren es teilweise in neue Produktionsmittel (Maschi­ nen, Rohstoffe, Arbeitskraft), um die Produktion zu erhöhen und noch mehr Profit aus dem Mehrwert, den die Lohn­ abhängigen produzieren, zie­

hen zu können. Kann die er­ höhte Produktion nicht mehr verkauft werden, ist der wirt­ schaftliche Aufschwung zu Ende. Die kapitalistische Krise beginnt. Lohnabhängige wer­ den auf die Straße gesetzt, so­ ziale Errungenschaften ange­ griffen. Nur wenn die Lohnabhängi­ gen dieses krisenhafte System

genannt Kapitalismus in einer sozialistischen Revolution hinwegfegen und selbst die Herrschaft über die Produkti­ onsmittel übernehmen, kann mit Rassismus, Ausbeutung und Unterdrückung Schluss gemacht und mit dem Aufbau des Sozialismus begonnen werden.

GRUPPE KLASSENKAMPF Die Gruppe Klassenkampf (GKK) ist die österreichische Sektion des Kollektivs Permanente Revolution, das aus Sektionen in Frankreich, Peru und Österreich besteht und eng mit der Bewegung zum Sozialismus in Russland zusammenarbeitet. Die GKK gibt die Zeitung KLASSENKAMPF heraus, organisiert den Marxistischen Studienzirkel (MSZ) und

beteiligt sich an politischen Aktionen im Interesse der österreichischen und internationalen Werktätigen. Unter anderem haben wir in Japan mit der radikalen Eisenbahnergewerkschaft Doro Chiba bei der Solidaritätsarbeit für die Opfer der Katastrophe von Fukushima zusammen gearbeitet.

www.klassenkampf.net | gruppe.klassenkampf@gmail.com Öst. Sektion des Kollektivs permanente Revolution (CoReP)

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EDITORIAL

Die Reaktion in der Offensive Der folgende Text ist die Zusammenfassung einer Diskussion in der Gruppe Klassenkampf zur Einschätzung der Situation in Österreich nach der 2. Runde der Präsidentenwahlen. Er steckt den politischen Rahmen für unsere Arbeit in der kommenden Periode ab.

Nach dem 2. Wahlgang der diesjährigen Bundespräsidenten­ wahl ging ein hörbares Aufatmen durch das Lager der klein­ bürgerlichen Demokratie: Mit 50,3 gegen 49,7 hatte Alexander Van der Bellen nun doch noch über seinen freiheitlichen Kon­ trahenten Norbert Hofer gesiegt, damit schien der „Griff nach der Macht” der FPÖ zumindest bis zu den kommenden Natio­ nalratswahlen (fahrplanmäßig 2018) verzögert worden zu sein. Diese erste Euphorie war in vielerlei Hinsicht unverständ­ lich. 2,22 Millionen Stimmen für den Vertreter einer arbeiter­ feindlichen, rassistischen, frauenfeindlichen, nationalistischen Partei alleine sind schon eine ernste Warnung für alle werktäti­ gen Menschen in diesem Land, die sich ihrer Lage auch nur halbwegs bewusst sind; 2,25 Millionen Stimmen für einen ein­ gefleischten Verfechter des seinem Ende entgegentaumelnden EU­Projekts, das europaweit das Feigenblatt für Sozialabbau, Sparpakete und den Abbau demokratischer Rechte der Arbei­ terinnen und Arbeiter (das Proletariat) ist, als positiv anzu­ preisen, ist unverfroren und zynisch. Dass das Ergebnis Van der Bellens bis weit hinein in Kreise der Sozialdemokratie und der kritischen Jugend als „Sieg” auf­ gefasst wurde, ist das Ergebnis des jahrzehntelangen Verrats der sozialdemokratischen Parteibürokratie an den Interessen der arbeitenden Bevölkerung und der Jugend. Als Stütze der bestehenden kapitalistischen Wirtschaftsordnung haben sich die Funktionäre der traditionellen österreichischen Arbeiter­ partei schon seit Beginn des 1. Weltkriegs an die herrschende Klasse (Bourgeoisie) verkauft und wurden mit staatlichen oder kommunalen Posten oder Pöstchen belohnt. Solange sie für das regierende bürgerliche System nützlich waren, indem sie die Arbeiterinnen und Arbeiter vom Klassenkampf für ihre In­ teressen ablenkten, sie angesichts der bürgerlichen Angriffe entwaffneten, wurden sie von der Bourgeoisie gefüttert. Als die Masse der Arbeiterbewegung dann schon so demoralisiert und verwirrt war, dass sie sich nicht mehr in großer Zahl wehren konnte (1934), wurde nicht nur das Proletariat niedergeworfen, auch die sozialdemokratischen Bonzen bekamen einen Tritt, wurden ebenso verfolgt und eingesperrt wie ihre Basis, die sie wehrlos gemacht hatten. Nach der Zerschlagung des Nationalsozialismus setzte die alte Führung der österreichischen Sozialdemokratie ihr altes

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Spiel, wenngleich anfangs unter dem neuen Markennamen „So­ zialistische Partei” fort. Der im Vergleich zu „Sozialdemokrati­ sche Partei” kämpferische Name war ein Zugeständnis an den linken Flügel der Partei, an jene Arbeiterinnen und Arbeiter, die in der Illegalität gegen die aufeinanderfolgenden faschisti­ schen Regime in diesem Land gekämpft hatten. Die Worte waren andere als in der 1. Republik, die (Un)Taten die gleichen: Statt Klassenkampf Sozialpartnerschaft, statt ei­ ner Politik, die visionär das Ziel des Sozialismus propagierte, das muckerische bescheidene Predigen der „Realpolitik”, der „kleinen Schritte”. In der Aufschwungphase des österreichischen und interna­ tionalen Imperialismus ab den 50er Jahren („Wiederaufbau”) genügte die objektive Stärke der Arbeiterklasse, um der herr­ schenden Klasse soziale und politische Zugeständnisse abzu­ trotzen. Die gewerkschaftlich hochorganisierten österreichi­ schen Arbeiter waren für die Unternehmer potenziell gefähr­ lich, also gönnte man nach Außen hin ihren sozialdemokrati­ schen Führern den einen oder anderen Erfolg in der Sozialpoli­ tik, damit die SPÖ­Bonzen weiter die Kontrolle über die Partei­ und Gewerkschaftsbasis behalten konnten. In den 70er Jahren, der Kreisky­Ära, konnte die Sozialdemo­ kratie erfolgreich ihre Rolle im Dienste des Kapitals erfüllen: Im Gegensatz zur behebigen Volkspartei, die Rücksicht auf ihre bäuerliche, kleinbürgerliche und beamtete Basis nehmen musste, konnte die SPÖ Österreich modern gestalten, wie einer ihrer Wahlslogans lautete. Im Gegenzug konnten Reformen im gesellschaftlichen Bereich (mehr Rechte für Frauen und Ju­ gendliche, frischer Wind in der antiquierten Kulturpolitik, Re­ formen im Bildungsbereich…) und eine Anhebung der Sozial­ leistungen durchgesetzt werden. Die SPÖ als „Staatspartei” verlor allerdings in weiterer Folge deutlich an Schwung: Der Glaube, dass nun ein lange anhalten­ des „sozialdemokratisches Zeitalter” angebrochen wäre, muss­ te bald korrigiert werden. International gingen die reaktio­ nären Kräfte in die Offensive ­ der Putsch in Chile 1973, die „is­ lamische Revolution” im Iran 1979, die Niederschlagung der Arbeiterproteste in Polen 1980 und schließlich die verheeren­ de Niederlage der amerikanischen und englischen Arbeiter­ September 2016 | Nummer 26


Editorial klasse gegen Reagan und Thatcher leiteten auch international eine Wende gegen die Arbeiterklassen ein. Je mehr sich die SPÖ im bürgerlichen Staat heimelig gefühlt hatte, desto mehr löste sie die alten Parteistrukturen auf. Wo­ zu auch nur ansatzweise die Idee einer „Gegenkultur” gegen die herrschende Klasse, wenn man doch ganz famos mit die­ ser kooperieren konnte? Wenn die SPÖ­Führung schon den Ka­ pitalismus modernisiert hatte, dann auch gleich die Partei. Die „Durchflutung aller Lebensbereiche mit Demokratie” machte die innerparteiliche De­ mokratie hinfällig, die Schulungstätigkeit wur­ de zurückgefahren, der kleine Kassier musste dem Bankeinzug wei­ chen. Die SPÖ als Partei rea­ gierte wie der vereinzel­ te und verängstigte Ar­ beiter oder Angestellte, dem vom Chef immer mehr aufgebürdet wird, nach dem Motto: „Geht’s dem Herrl gut gehts dem Hunderl gut”. Statt sich mit den anderen Gedemütigten, Übervorteilten und Aus­ genützten zusammenzu­ schließen, kriecht der verängstigte Werkttätige noch mehr vor seinem Boss, will ja alles Recht machen, damit er seinen (immer schlechter wer­ denden) Arbeitsplatz halten kann. Am Ende der Erniedrigung steht dann, wenn sich die Kolleginnen und Kollegen wehren, die Rolle des Streikbrechers ­ dem Tritt in den Hintern, der ihn hinausbefördert, entgeht er trotzdem nicht. Und so machten sich die aufeinander folgenden SPÖ­Regie­ rungen (egal, in welcher Koalitionskonstellation) zu braven Verwaltern der kapitalistischen Krise. Sie waren die ersten, die Sparpakete schnürten; die von ihnen dominierten Gewerk­ schaften befleißigten sich einer „vernünftigen” Lohnpolitik, d.h., sie trugen dazu bei, dass die Schere zwischen Kapital und Arbeit immer weiter aufging. 2000 kam dann der Tritt: Die „Wenderegierung” von FPÖVP begann ­ getreu dem Motto „Speed kills” ­ mit massivem Sozi­ alabbau (Stichwort: Pensionsreform), eine ihrer Hauptstoß­ richtungen ging in Richtung Verlagerung von Lohnverhandlun­ gen weg von Kollektivverträgen hin zu Vereinbarungen auf Be­ triebsebene. Während sich die FPÖ im Wahlkampf als die „Partei des klei­ nen Mannes” verkauft (ein Vorgeschmack auf die „Soziale Hei­ matpartei”) und gegen die „korrupten Altparteien” gewettert hatte, bugsierte sie in der Regierung sofort ihre Parteigänger in gut bezahlte Positionen und Jörg Haider, seit 1999 Landes­ hauptmann von Kärnten, bescherte der Republik mit seinen zwielichtigen Bankgeschäften (Hypo Alpe Adria) einen „Bei­ trag” zum Budgetdefizit von 19 Milliarden Euro und richtete seine Wahlheimat finanziell zu Grunde. Mittlerweile schwadro­ September 2016 | Nummer 26

nierte sein gegelter Finanzsunnyboy Grasser was von Nulldefi­ ziten und propagierte für die sozial Schwachen eine neue Run­ de des Gürtel­enger­Schnallens… Dass vor dem Hintergrund einer solchen abenteuerlichen Abzockpolitik die FPÖ über­ haupt noch existiert, verdankt sie der unglaublichen Servilität der sozialdemokratischen Parteibürokatie vor dem herrschen­ den System. Die Jahre 2000 ­ 2003 sahen einen für österreichische Ver­ hältnisse unglaublichen Anstieg der Klassenauseinanderset­ zungen, Mobilisierun­ gen auf der Straße, unter dem Druck aus den Betrieben musste der ÖGB erstmals nach Jahrzehnten wieder massiv mit Streiks auf die Angrif­ fe der Regierung ant­ worten. Aber die ab­ wieglerische Haltung der SP­Führung, ihre Angst vor einer tief­ gehenden Radikalisie­ rung, führte an der Basis zu Enttäu­ schung, Entmutigung, oft zu einer Abkehr von der Politik über­ haupt. Mit Beginn der weltweiten Wirtschaftskrise 2007 wurde die Frage des Wider­ stands der arbeitenden Bevölkerung und der Jugend in allen Ländern auf die Tagesordnung gesetzt. Das bedeutet nicht, dass damit eine vorrevolutionäre Periode eröffnet wurde ­ im Gegenteil. Aber die notwendigen Defensivkämpfe wären eine hervorragende Gelegenheit gewesen, die reaktionären Atta­ cken zumindest zu stoppen, in den Klassenkämpfen Erfahrun­ gen zu sammeln und revolutionäre Organisationen aufzubau­ en, welche die Kerne der künftigen Revolutionären Arbeiter­ partei sind. Zwei Kernsätze des revolutionären Marxismus vom Beginn des vorigen Jahrhunderts bestätigten sich weltweit: „Politi­ sche Reaktion auf der ganzen Linie ist eine Eigenschaft des Imperialismus.” und „Kann man vorwärts gehen, wenn man Angst hat, zum Sozialismus zu gehen?” Die bürgerliche Arbeiterpartei SPÖ ­ denn das ist sie unserer Einschätzung nach nach wie vor ­ kann und will nicht zum So­ zialismus vorangehen. Sie ist der „Transmissionsriemen der herrschenden Klasse” in die organisierte Arbeiterklasse. Die­ ser Transmissionsriemen hat sich über die Jahre abgenützt, wird immer dünner. Die Bindungen zur Klasse lockern sich, weil die Sozialdemokratie immer weniger Zugeständnisse an die arbeitende Bevölkerung und die Jugend machen kann; ihre totale Unterordnung unter die Kapitalsinteressen hat ihren „proletarisch­klientelistischen” Spielraum deutlich verringert. Ihre aktive Mitarbeit an Privatisierungen im staatlichen und kommunalen Bereich hat zur Zerstörung traditioneller ge­ werkschaftlicher Bastionen geführt.

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EDITORIAL Breite Teile der Arbeiterklasse haben das Vertrauen in die SPÖ verloren. Sie sehen in ihr nicht mehr „ihre” Partei. Die Un­ beweglichkeit, Starrheit, Ignorierung der Probleme der arbei­ tenden und arbeitslosen Menschen und der Jugend haben zahlreiche Sympathisanten und Mitglieder der sozialdemokra­ tischen Bewegung aus Protest in die Arme der sich sozial ge­ bärdenden reaktionären FPÖ getrieben. Die bürgerlichen Massenmedien präsentieren die FPÖ als „die neue Arbeiterpartei”. Sie leisten damit der reaktionären, bürgerlichen FPÖ, die sich demagogisch als „soziale Heimat­ partei” bezeichnet, Schützenhilfe. Vor allem die einflussrei­ chen Boulevardgazetten wie Kronen Zei­ tung und Heute agieren unverschämt und unverblümt als Sprachrohre der Freiheit­ lichen. Auffallend ist dabei, wie sie bei dieser „Mission” die Spaltung der Gesell­ schaft in Klassen umlügen, um neue Feindbilder zu schaffen. In den Spalten der Massenblätter stehen einander nicht gesellschaftliche Klassen gegenüber, sondern „die kleinen Leute” der „Elite”. Die „Elite” sind natürlich nicht die Rei­ chen, die Großunternehmer, die Banker ­ das sind Intellektuelle, Künstler, die Kas­ te der Berufspolitiker. Unbildung wird zur Tugend erhoben, während ein wider­ licher Antiintellektualismus gepredigt wird.

Und dann natürlich das Feindbild schlechthin ­ „die Ausländer”, „die Asy­ lanten”, „die Muslims”,„die Flüchtlinge”.

Was den Reaktionären zu Gute kam, waren die massiven Feh­ ler der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften in den vor­ angegangenen Jahrzehnten, als Arbeitsmigranten nach Öster­ reich geholt wurden, um in schlecht bezahlten und wenig at­ traktiven Branchen das Wirtschaftswachstum zu garantieren. Hätten die Gewerkschaften schon damals eine klare internatio­ nalistische Position bezogen ­ die Gleichstellung aller Lohnab­ hängigen in politischen und sozialen Fragen und die Organisie­ rung der beschönigend „Gastarbeiter” genannten Migrantin­ nen und Migranten in den Gewerkschaften ­ wäre das eine Ba­ sis gewesen, die auch in Zukunft dem Rassismus weitgehend den Boden un­ ter den Füßen entzogen hätte.

Kann man vorwärts gehen, wenn man Angst hat, zum Sozialismus zu gehen?

Als im September vergangenen Jahres zum ersten Mal Flüchtlinge ­ von Ungarn kommend ­ in großer Zahl nach Ös­ terreich kamen, gab es eine erste Polarisierung: Einer sponta­ nen Welle der Solidarität und Hilfsbereitschaft, die sich auch öffentlich manifestierte, stand eine Ablehnungsfront gegen­ über, die sich jedoch auf Grund der positiven Massenstim­ mung nicht allzu aggressiv nach Außen kehrte. Klarerweise versuchten die reaktionärsten bis hin zu fa­ schistischen politischen Bewegungen, diese latent ausländer­ feindliche Stimmung politisch auszunützen. Die FPÖ war der Katalysator, der „die Ängste der Bevölkerung” (dazu weiter unten mehr) anheizte, um ein entsprechendes Klima zu schaf­ fen. Das Zusammenspiel zwischen ohnehin weit rechts ange­ siedelten Presseorganen wie der Krone, Heute und Österreich, der FPÖ und faschistischen Kleingruppen machte es erstmals möglich, dass bei von offenen Faschisten organisierten De­ monstrationen (Spielfeld, Graz …) erstmals seit den 60er Jah­ ren ein paar tausend Menschen faktisch ungehindert aufmar­ schieren konnten. Die „parlamentarische” FPÖ goss über ihre facebook­Seiten (die wirkungsvoller sind als ihre Parteihomepages) immer wei­ ter Öl ins Feuer, indem unkommentiert und ungehindert be­ wusste Falschmeldungen (Plünderung von Supermärkten durch Asylwerber, Entführungsversuche von blonden [ari­ schen?] Kindern auf offener Straße, usw.). verbreitet wurden und das Klima der Angst und des daraus resultierenden Has­

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ses weiter geschürt wurde.

Allein: eine sozialdemokratische, vom Geist der Klassenzusammenarbeit und Anpassung an den Kapitalismus erzoge­ ne Gewerkschaftsbürokratie, hätte von sich aus diesen Weg nicht beschritten. Das erdrückende Übergewicht der SPÖ in den Massenorganisationen der Arbei­ terinnen und Arbeiter verhinderte alle möglichen Schritte in diese Richtung.

Zur „traditionellen” Spaltung der Ar­ beiterklasse in männliche und weibli­ che Lohnabhängige, in Junge und Alte, kam nun zusätzlich die Spaltung nach Herkunft und Geburtsort. Die widerwil­ lige Gewährung von sozialen Rechten für migrantische Arbeiter ­ auch in den Gewerkschaften ­ verhindert eine Solidarisierung. So bekom­ men Arbeitsmigranten mit nicht­österreichischer Staatsbür­ gerschaft erst 2006 (!) das passive Wahlrecht für Betriebsrats­ körperschaften (Betriebsräte sind zwar keine gewerkschaftli­ che Institution, starke Gewerlschaften hätten hier aber schon früher eine entsprechende Gesetzsänderung erzwingen kön­ nen). Seit den 90er Jahren hat die FPÖ kontinuierlich und mit wachsender Aggressivität das Ausländerthema zum Kern ihrer Propaganda gemacht. Im Rahmen der allgemeinen Sparpolitik, die von der Sozialdemokratie mitgetragen beziehungsweise vorangetrieben wurde, nahmen die Konfliktpotenziale zu: Ein­ sparungen im Bildungssektor schlugen vor allem auf die ärms­ ten Schichte der Bevölkerung zurück. Kinder aus migranti­ schen Arbeiterfamilien hatten so zwar Zugang zu Kindergärten und Volksschulen, das Sparen bei qualifizierten Lehrkräften verschlechterte aber das allgemeine Lernniveau, was reaktio­ näre Populisten dann den Ausländern anlasteten. Ähnlich in der Wohnungspolitik: Die Wohnungsfrage ist seit dem Entste­ hen des modernen Proletariats ein Dauerbrenner. Die Parallel­ gesellschaft, die Entstehung von Klein Istanbuls oder Klein Sara­ jewos in Wien, liegt nicht ursächlich im Wunsch der migranti­ schen Bevölkerungsschichten „unter sich” zu bleiben ­ hohe Mieten und rassistische Vermieter und Hauseigentümer haben dieses Problem tatkräftig verstärkt. Die Ausgrenzung der migrantischen Werktätigen und ihrer Kinder war natürlich ein Nährboden für reaktionäre, haupt­ September 2016 | Nummer 26


Editorial sächlich nationalistische und religiöse, Strömungen. So, wie wir gegen die Fremdenfeindlichkeit der „einheimischen” Reak­ tionäre (FPÖ, ÖVP, Teile der SPÖ, diverse neofaschistische Kleinparteien und Bewegungen …) kämpfen, müssen wir ge­ gen reaktionäre, nationalistische und faschistische Kräfte un­ ter den Migranten kämpfen. Es ist fatal, aus einem kurzsichti­ gen „antirassisischen” Reflex heraus die Augen vor echten fa­ schistischen oder nationalistisch­reaktionären Bewegungen, die sich aus Migranten rekrutieren, zu verschließen (gemeint sind hier nicht nur Frontorganisa­ tionen der türkischen AKP oder der Gülen­Bewegung, Graue Wölfe, MHP, Salafisten, Dschihadisten und so weiter, sondern auch serbische Tschetniki, kroatische Faschisten, polnische faschistische Klubs, etc.), wobei gerade serbische Reaktio­ näre gern gesehene Bündnispartner der FPÖ sind. Wir müssen klar dazu stehen, dass die revolutionäre Arbeiterbe­ wegung versucht, alle positiven Er­ rungenschaften der vorherigen Ge­ sellschaften aufzugreifen, zu vertei­ digen und voranzutreiben. Das heißt auch, das wir im gemeinsa­ men Kampf mit migrantischen Ar­ beiterinnen und Arbeitern grundle­ gende Positionen beibehalten und nicht opportunistisch aufgeben dür­ fen. Dazu gehört etwa die Gleichbe­ rechtigung und Selbstbestimmung der Frauen; dazu gehört die unzwei­ deutige Trennung von Staat und Re­ ligion. Die Antwort auf den als anti­ muslimisch verkleideten Hass gegen Menschen aus der Türkei, dem Mitt­ leren Osten, Nordafrika und Westasien kann keine Kapitulation vor dem Islam sein. Wir ver­ teidigen das Recht auf freie Religionsausübung, gleichzeitig sind wir aber entschiedene Feinde der Religionen, die in der Geschichte der Menschheit (als Funktion der Klassengesell­ schaften) Verfolgung, Kriege, Vertreibungen, Massenmorde an Minderheiten hervorgebracht haben. Das heißt nicht, dass wir der oder dem individuellen Gläubigen ablehnend gegenüber stehen; wir werden aber die Verbreitung des religiösen Gifts auf keinen Fall unterstützen. Das heißt aber im Umkehrschluss, dass wir genauso ent­ schieden gegen die Mythen von der christlichen Leitkultur kämpfen müssen. Faschistische Bewegungen wie die Identitär­ en suchen den Schulterschluss zwischen alten klerikalfaschis­ tischen und nationalsozialistischen Ideen zu vollziehen. Plötz­ lich sind sie nicht mehr Deutschnational, sondern österreichi­ sche Patrioten; und auf einmal ist das christliche Abendland und die Reconquista hoch in Kurs ­ wo doch das Christentum mit seiner Nächstenliebe den gestandenen Nazis als jüdische Gefühlsduselei immer ein Dorn im Auge war. Unsere Tradition, die Tradition der Arbeiterbewegung, ist ei­ ne andere ­ sie fußt in den revolutionären Ideen der Aufklä­ rung, den fortschrittlichen Ansätzen der Revolutionen von September 2016 | Nummer 26

1848, der Rätemacht der Pariser Commune von 1871… Durch den gemeinsamen Kampf mit den proletarischen oder mit dem Proletariat verbündeten Schichten unter den Migran­ ten aus dem Mittleren Osten, dem Maghreb und Machrek müs­ sen wir nicht nur das verschüttete Klassenbewusstsein der ös­ terreichischen Arbeiterinnen und Arbeiter wieder anheben, wir müssen auch reaktionäre, durch die dort herrschenden Klassengesellschaften zum Massenbewusstsein gewordene, Vorurteile zurückdrängen. Nur wenn wir das glaubhaft vermitteln können, werden wir die fort­ schrittlichsten Elemente der Klas­ se gewinnen können. Wir gehen in die künftigen Aus­ einandersetzungen mit jenen For­ derungen hinein, die wir am 1. Mai den Genossinnen und Genossen der SPÖ vorgeschlagen haben: •Die Gewerkschaften müssen

wieder ihrer ureigensten Aufgabe nachkommen – der Vertretung der grundlegenden Interessen der Werktätigen, unabhängig von Geschlecht, Religion oder Nationalität. •Um Arbeitsplätze für alle zu schaffen und den geflüchteten Arbeiterinnen und Arbeiter die Möglichkeit zu einem menschenwürdigen Leben zu geben und zu verhindern, dass sie von profitgierigen Unternehmern als Lohndrücker eingesetzt werden können: Drastische Verkürzung der Tages­ und Lebensarbeitszeit, bezahlt aus Progressivsteuern auf das Vermögen der Reichen und Superreichen! •Weg mit allen „Notstandsverordnungen“! Sie haben schon einmal dem Faschismus den Weg gebahnt! Offene Grenzen – nicht für das Kapital und die Geldschieber, sondern für die Opfer der imperialistischen Kriege, der raffgierigen herrschenden Eliten und der Islamofaschisten! •Um Arbeitsplätze für alle zu schaffen – öffentliche Bauarbeiten zur Schaffung von leistbarem Wohnraum und Infrastruktur, die den arbeitenden Menschen und der Jugend zu Gute kommt! •Um Arbeitsplätze zu schaffen – Geld für mehr Personal in Kindergärten, Schulen, Universitäten, Spitälern, Gemeinschaftspraxen. Eine Gesellschaft kann nie genug Lehrerinnen, Pflegerinnen oder Ärztinnen haben! •Für kostenlose, qualitativ hochwertige Bildungs­ und Gesundheitseinrichtungen! Errichtung von selbstverwalteten Jugendzentren und entsprechend ausgebildetem Personal, das die Jugendlichen beim Aufbau dieser Zentren unterstützt, ohne sie zu gängeln! •Für echte Reichensteuern, weg mit den Massensteuern (Mehrwertsteuer, Mineralölsteuer etc.)! Steuerliche Entlastung der Klein­ und Kleinstbetriebe, die oft nur versteckte Formen

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EDITORIAL “outgesourcter” Lohnarbeit sind!

Einrichtungen der Arbeiterbewegung!

•Offenlegung der Geschäftsbücher! •Komitees der Beschäftigten sollen – gegebenenfalls unter

Beiziehung von ihnen verantwortlichen Buchprüfern – kontrollieren, ob Vermögenssteuern und Sozialversicherungsabgaben korrekt abgeführt werden! •Enteignung angeblich unrentabler Betriebe unter Arbeiterkontrolle! •Abschaffung des Stiftungsrechts und der Gruppenbesteuerung! •Höhere Grundsteuer für Luxusimmobilien! •Einführung der Erbschaftssteuer für Vermögen über 1 Mio. EUR! • Rücknahme der „Pensionsreform“ von 2004! Senkung des Pensionsantrittsalters für Frauen und Männer auf 60 Jahre! •Gegen den Abbau demokratischer Freiheiten! Gegen Vorratsdatenspeicherung und den Einsatz “verdeckter Ermittler”! Weg mit dem § 278! •Für die völlige Trennung von Religionen und Staat! Keinen Cent für klerikale Erziehung! Pfaffen, Imams, Kleriker aller Religionen raus aus den Schulen! Freiheit der Religionsausübung, finanziert aus den Mitteln der Gläubigen der jeweiligen Religionsgemeinschaften! •Überparteiliche Selbstverteidigungskomitees gegen Angriffe faschistischer Banden auf Migrantinnen und Migranten und

Die SPÖ versucht, mit typisch bürokratischen Methoden noch einmal auf der Wahlebene die FPÖ auszubremsen. Den unseligen Faymann gegen den rhetorisch gewandten Christian Kern auszutauschen, war ein Versuch, das Auseinanderdriften der Partei zu verhindern. Die „linken” Sprüche von Kern ­ pro Wertschöpfungsabgabe, gegen Anhebung des Pesnsionsalters etc. ­ können für uns vielleicht Anknüpfungspunkte in Diskus­ sionen mit SP­Mitgliedern sein; bei den Arbeiterinnen und Ar­ beitern die aus Protest die FPÖ und Hofer wählen, weil sie sich von ihrer ehemaligen Partei im Stich gelassen fühlen, zieht das nur wenig. Kern kann eher bei Anhängern der Grünen und der Neos punkten, das bedeutet aber von einem Klassenstand­ punkt aus betrachtet keinen wirklichen Durchbruch. Die nächste Phase ­ und diese kann Jahre dauern ­ wird für die österreichischen Arbeiterinnen und Arbeiter ­ aber auch international! ­ schwere Belastungen auf allen Ebenen bringen. Der Druck auf die bewussten Elemente der Klasse ­ die politi­ schen Aktivistinnen und Aktivisten ­ wird zunehmen. Darauf müssen wir uns vorbereiten und beharrlich daran arbeiten, unsere Kräfte zu konsolidieren und unsere theoretische Aus­ bildung zu verbessern, um für unsere politische Praxis ein so­ lides Grundgerüst zu schaffen.

Das Kollektiv Permanente Revolution(CoReP) www.revolucionpermanente.com Frankreich: GROUPE MARXISTE INTERNATIONALISTE http://groupemarxiste.info

Peru: REVOLUCION PERMANENTE (PERU) http://luchamarxista.blogspot.fr/

Österreich: GRUPPE KLASSENKAMPF http://klassenkampf.net

gruppe.klassenkampf@gmail.com 10

September 2016 | Nummer 26


Kollektiv Permanente Revolution / CoReP

Erklärung des Kollektivs Permanente Revolution CoReP

Nach dem Brexit Referendum:

Nieder mit dem Chauvinismus! Niederlassungsfreiheit und Arbeitsgenehmigung für die Arbeiterinnen und Arbeiter! Vereinigte Sozialistische Staaten von Europa! Nach dem Brexit Referendum Nieder mit dem Chauvinismus! Niederlassungsfreiheit und Arbeitsgenehmigung für die Arbeiterinnen und Arbeiter! Verei­ nigte Sozialistische Staaten von Europa! Die europäischen Bourgeoisien sind unfähig, Europa in der Epoche des kapitalistischen Niedergangs zu vereinigen, wäh­ rend sie in der Epoche des aufstrebenden Kapitalismus in der Lage waren, Deutschland, Italien und die Vereinigten Staaten von Amerika zu vereinen. Der geplante Austritt Großbritanni­ ens aus der Europäischen Union, die ein Versuch der beiden wichtigsten Bourgeoisien des Kontinents ­ jener von Deutsch­ land und von Frankreich ­ war, die Enge der Grenzen zu über­ winden, legt dafür Zeugnis ab.

Ein reaktionäres Ereignis

Zuerst hatte die britische Regierung angesichts der im Jahr 1957 von sechs Staaten getroffenen Entscheidung für einen ge­ meinsamen Markt (Freihandel und gemeinsame Zolltarife), der zuerst EWG, später EU genannt wurde, versucht, diesen im Jahr 1960 durch ein Freihandelsabkommen (EFTA) zu torpe­ dieren. Danach spaltete sich die britische Bourgeoisie über diese Frage. Die dem Kontinent zugewandten Gruppierungen (und die "City", also die Londoner Börse) neigten dazu, der EWG beizutreten, was sich auf der politischen Ebene in der Li­ beralen Partei (jetzt umbenannt in Liberaldemokraten) und der Mehrheit der "Tories" (konservative Partei) widerspiegel­ te. Die meisten kleinen Unternehmen (und auf andere Konti­ nente fokussierte Kapitalgruppen) waren eher dagegen. Hinter september 2016 | Nummer 26

den Kulissen des Staates, der politischen Parteien, der Medien und Universitäten konnte das Großkapital den Sieg über die kleineren Kapitalisten erringen, so dass das Vereinigte König­ reich 1963 um die Aufnahme in die EWG ersuchte. Zunächst dachte das Vereinigte Königreich, dass es seine besondere Beziehung mit den USA und mit dem Commonwe­ alth beibehalten würde. Zweitens dachte das Vereinigte König­ reich, dass es seine Rolle als Weltmacht erhalten könne... Auf­ grund dieser und anderer Differenzen, zog sich Großbritanni­ en von den Verhandlungen zurück.. Als Reaktion auf die Grün­ dung der EWG bildete das Vereinigte Königreich, gemeinsam mit Norwegen, Schweden, Dänemark und Österreich eine Frei­ handelszone. (Guglielmo Carchedi, Für ein anderes Europa, 2001, Kap. 1) Das Vereinigte Königreich trat 1973 bei, als die französische Regierung, die das Beitrittsansuchen lange blockiert hatte, zu­ stimmte, um ein Gegengewicht zur wachsenden Wirtschafts­ macht Deutschland zu schaffen. Andererseits weigerte sich die britische Regierung 1992, den Euro einzuführen. Die EU mag anfangs gebildet worden sein, um Frankreich und Deutschland enger zusammen zu schweißen, aber in den späteren Jahrzehnten wurde sie zumindest eben so sehr von britischen Werten, Ideen und Entschlusskraft geprägt. Die ehrgeizige Expansion nach Osten, der stetige Aufbau eines integrierten Binnenmarkt, der Fo­ kus auf den internationalen Handel wurden in Großbritannien initiiert. (The Economist, 2. Juli 2016)

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Kollektiv Permanente Revolution / CoReP Es war die untergeordnete Fraktion der nationalen Bourgeoi­ sie, die durch die ausländerfeindliche UKIP vertreten wird, und die Minderheit der Konservativen Partei, die diese Ent­ scheidung mittels eines Referendums nun zu Fall gebracht hat. Bei einer beträchtlichen Beteiligung von 72,2%, haben fast 52% der britischen Wähler am 23. Juni für den Austritt aus der Eu­ ropäischen Union gestimmt. Dieses Ergebnis wird wahrschein­ lich den britischen Kapitalismus in seiner Gesamtheit schädi­ gen. Die wichtigsten Finanz­ und Industriesektoren befürchten zu Recht, in Hinkunft für die Möglichkeit, Geschäfte mit ande­ ren europäischen Ländern zu machen, teuer bezahlen zu müssen. Tatsächlich sind mehrere Alternativen mög­ lich ­ die einfache Anwen­ dung der WTO­Regeln, Son­ derverträge oder bilaterale Verträge, oder ein zweit­ klassige Assoziationsab­ kommen mit dem Europäi­ schen Wirtschaftsraum mit bestimmten Verpflichtun­ gen, aber ohne Stimmrecht in den EU­Gremien. Auf je­ den Fall ist eine Zeit der Un­ sicherheit angebrochen, was die Menschen, die ernsthaft ihr Kapital ver­ mehren wollen, verab­ scheuen. Zudem taucht das Risiko eines Zerbrechens des Vereinigten Königkreichs mit dem Anstieg des schottischen Separatismus (und der Vereini­ gung Irlands) wieder auf. Nur wenige Engländer, die am 23. Juni für den Austritt aus der Europäische Union stimmten zo­ gen in Betracht, dass sie damit den Zerfall einer anderen Union auslösen könnten: nämlich der eigenen (The Economist, 2. Juli, 2016) Aber der Brexit ist keineswegs ein Sieg für die Arbeiterklas­ se. Nur weil viele Werktätige (Arbeiter, Angestellte, Arbeitslo­ se, Kleinhändler, Handwerker ...), die Opfer der globalen kapi­ talistischen Krise und Deindustrialisierung (die sich aus den Entscheidungen der Kapitalisten und der Regierungen in ihren Diensten ergibt) und Opfer von Angriffen gegen das kostenlose Gesundheitssystem (NHS) geworden sind, für den Brexit ge­ stimmt haben, macht das nicht automatisch das Ergebnis zu einer Abstimmung im Sinne der Arbeiterklasse. Viele Arbeiter und Studenten haben für den Verbleib in der EU gestimmt: London ist nicht voll von Kapitalisten und Maklern, Schottland und Nordirland noch weniger. Niemand konnte als Klasse ab­ stimmen, im vollen Bewusstsein seiner Interessen und bereit, die Führung der Nation (oder der Nationen) zu ergreifen, alle sind einer Fraktion ihrer Ausbeuter gefolgt, die entschlossen war, Flüchtlinge und Wirtschaftsmigranten als Sündenböcke hinzustellen. Die entfesselte “Leave”­Kampagne ermutigte einen Faschisten dazu, die Labour­Abgeordnete Jo Cox zu er­ morden. In Wirklichkeit wurden die Arbeiterklasse und die Jugend Großbritanniens in die Falle gelockt, zwischen der Unterstüt­ zung für die Politik Camerons mittels der Verteidigung des Eu­ ropa der Kapitalisten als besten Weg zur Begrenzung der Ein­ wanderung und einem reaktionären Nationalismus, der alle möglichen Lügen verbreitete, zu wählen. Niemals wurde die

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Verantwortung der aufeinanderfolgenden bürgerlichen Regie­ rungen für die Verschlechterungen der Lage der Arbeiter und Jugendlichen von Thatcher (Konservative) bis Blair (Labour Party) und dann bis Cameron offen bloß gelegt, nie der Klas­ senfeind im eigenen Land als Hauptgegner präsentiert. Einer­ seits lobte Cameron die Verdienste der Europäischen Union, die angeblich Wohlstand und Glück für die Werktätigen ge­ bracht hätte, auf der anderen Seite denunzierten Johnson und Farage die “Einwanderer” als verantwortlich für das Elend der einheimischen Bevölkerung, und die Europäischen Union als den Hauptieferanten von Zuwanderern, die von So­ zialleistungen lebten und Jobs stehlen. In dieser Verwirrung wurden alle Klassengrenzen verwischt, fand sich die Labour Party von Corbyn, flankiert von Left Unity, auf der gleichen Linie wie Cameron und pries die Errungenschaf­ ten der Europäischen Uni­ on an, während sich auf Seiten der UKIP nicht nur ein großer Teil der Kon­ servativen Partei wieder­ fand, sondern auch ver­ schiedene Opportunisten der Arbeiterbewegung, darunter die CPB (Kom­ munistische Partei Britanniens), Respect, die SWP, die SPEW (Sozialistische Partei von England und Wales/KAI­CWI) ... In der ganzen Geschichte der britischen Arbei­ terbewegung gab es Druck von Seiten der Bour­ geoisie auf das Proletariat ... (Leo Trotzki, Wo­ hin treibt England?, 1925, Kapitel 4) Diese Stimmenmehrheit für den Brexit bedeutet einen zu­ sätzlichen Erfolg für einen extremen Nationalismus, der nach und nach Europa, aber auch die ganze Welt, erobert. Das be­ deutet, dass sich die Arbeiterklasse auf Grund des Wider­ spruchs zwischen zwei Fraktionen der Ausbeuter gespalten hat und sich Teile von ihr auf das reaktionärste Terrain bege­ ben haben ­ den Hass gegen die Ausländer, die Migranten, die Wiederherstellung der “nationalen Souveränität”, das “Eng­ land zuerst”. Hat nicht UKIP, sondern auch der jämmerliche Clown Boris Johnson, ein Spitzenmann der konservativen Par­ tei und ehemaliger Bürgermeister von London, selbstgefällig das “Leave” als Brüskierung der reichen Eliten hingestellt und alle populistischen Tricks angewandt? Also diejenigen, die selbst der Bourgeoisie angehören und wohl kaum ein Problem damit haben, dass ihnen am Ende des Monats das Geld aus­ geht? Die Verstärkung der Grenzen und der Protektionismus durch ein imperialistisches Land sind ein Rückschritt, dem sich das Proletariat nicht anschließen darf. Sie sind immer Begleiter des Militarismus und internationaler Spannungen. In Deutschland wie in Frankreich, Italien und Rußland wurde die Umkehr zum Schutzzoll Hand in Hand mit Heeresvergrößerungen und in deren Dienste durchgeführt, als Basis des gleich­ zeitig begonnenen Systems des europäischen Wettrüstens erst zu Lande und dann auch zu Wasser. (Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, 1913, Kap. 31) september 2016 | Nummer 26


Kollektiv Permanente Revolution / CoReP

Die Irrationalität der zeitgenössischen Bourgeoisie

ry­Regierung nicht auf der gleichen Wellenlänge. Die Bourgeoi­ sien Zentraleuropas wollen die Gelegenheit nutzen, um den Griff Deutschlands und Frankreichs zu lockern. Die deutsche Premierminister Cameron hatte mit dem Feuer gespielt: um Bourgeoisie, für die Großbritannien ein wichtiger Kunde ist, dem Vormarsch der rassistischen,, ausländerfeindlichen, na­ bleibt vorsichtig. Ihre beherrschende Stellung verleiht ihr die tionalistischen und sich faschisierenden UKIP zu begegnen, die Rolle einer Wächterin über einen gewissen Zusammenhalt, zunehmend Wähler der konservativen Partei ansaugte, ver­ während die anderen keine klare Linie haben. Aber sie will sprach er nach den Wahlen 2015 ein Re­ auch nicht durch eine zu versöhnliche ferendum über den Verbleib in der EU Haltung andere Mitgliedsländer, vor al­ abzuhalten, das er auch als Druckmittel lem im Süden und Osten Europas, zu verwenden wollte, um einige zusätzliche möglichen Abenteuern ermutigen. Die Zugeständnisse von den anderen euro­ französische Bourgeoisie hat kein sol­ päischen Bourgeoisien zu erzwingen. ches Zartgefühl, sie schürt energisch Und das tat er in Brüssel im vergange­ das Feuer, um die englische Bourgeoi­ nen Februar, als er auf den Spuren der sie zu schwächen, vor allem, um die verstorbenen Thatcher gegen die Miss­ City von London zu verdrängen und wirtschaft bei den EU­Ausgaben, laxe die Pariser Börse an ihre Stelle zu set­ Grenzen und viele andere Dinge wetter­ zen. Nun ist die London Stock Ex­ te, um zufrieden heimzukehren, weil er change die Lunge des britischen Kapi­ ja die britischen Interessen so gut ver­ talismus, die das Kapital aus aller Welt teidigt hatte. Er hatte in der Tat das einatmet und einen Bilanzüberschuss Recht erhalten, bestimmte Sozialleistun­ an Dienstleistungen erzeugt, während gen und Zulagen für EU­Bürger in den der Saldo des Warenhandels stark defi­ ersten vier Jahren nach ihrer Ansied­ zitär ist. London verfügt über 250 auslän­ lung in Großbritannien nicht auszahlen Boris Johnson: Soviel zum Thema Irrationalität der dische Banken und 200 auslän­ zu müssen, sowie neuerliche Garantien Bourgeoisie dische Rechtsanwaltsaltskanzlei­ für den "Zugang" der Londoner Börse zur en ... Die Hauptsorge ist, dass die Finanzinstitute EU und das Versprechen, weitere Zugangsbeschränkungen und nicht mehr der gesamten EU dienen können, Normen zu lockern. Deshalb führte Cameron eine Kampagne wenn ­ vermutlich zwei Jahre nach Beginn der für den Verbleib in der EU (“remain”). Austrittsverhandlungen ­ England die EU verlas­ Aber, ach! Der Wind, den er säte, hatte nur das Feuer ge­ sen hat. (The Economist, 2. Juli 2016) schürt, das andere entzündet hatten, und zwar nicht nur UKIP, Für proletarischen Internationalissondern auch ein Gutteil der Konservativen Partei selbst. Es ist jedoch bemerkenswert, dass die Gewinner zunächst vor al­ mus lem durch ihre Fähigkeit glänzten, vor ihrer plötzlich überwäl­ tigenden Verantwortung zu flüchten: Nigel Farage, UKIP­Vorsit­ Nur wenige haben die einzig mögliche Klassenposition ver­ zender trat sofort zurück, und Boris Johnson führte eine er­ treten, indem sie für den Boykott des Referendums aufgerufen bärmliche Farce auf, um ja nicht Premierminister zu werden! haben, zum Kampf für den Sturz der Kapitalistenregierung in Die siegreichen Leave­Kampagnenführer haben Großbritannien, für die Perspektive der Vereinigten Sozialisti­ sich als ein Haufen mittelmäßiger Figuren ge­ schen Staaten von Europa. zeigt, die sich während der Kampagne selbst bla­ Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde der bür­ miert haben Lügen über aufgeblähte Budgetaus­ gerliche Staat mit seinen Armeen und Zollgren­ gaben und türkische Migranten, bevor sie nach zen die stärkste Bremse in der Entwicklung der der Abstimmung einfach verschwanden. (The Produktivkräfte, die eine sehr viel ausgedehntere Economist, 2. Juli 2016) Arena fordern. Ein Sozialist, der heute für die Verteidigung des „Vaterlandes“ eintritt, spielt die­ Für die englische Bourgeoisie und jene des Kontinents sieht selbe reaktionäre Rolle wie die Bauern der Ven­ die Sache nach dieser Runde schwierig aus. Cameron weigerte dée, die zur Verteidigung des feudalen Regimes, sich, vor seinem Rücktritt die Verantwortung für den Austritt d.h. ihrer eigenen Ketten stürmten. (Manifest der zu übernehmen. Er überließ diese Aufgabe der neuen Premier­ IV. Internationale, Mai 1940) ministerin Theresa May, die drei Tory­Anhänger des Brexit zu Ministern in der neuen Regierung ernannte: Johnson als Au­ Im Gegenteil, auch über Großbritannien hinaus sind etliche ßenminister, Davis als EU­Austrittsminister und Fox als Minis­ Organisationen in den Nationalismus abgeglitten oder haben ter für Aussenhandel. May möchte einerseits die wichtigste weitere Schritte in diese Richtung gemacht, die sie schon län­ bürgerliche Partei stabilisieren und andererseits die vom Bre­ ger verteidigen. So die KKE in Griechenland, Die Linke in xit Begeisterten die Verantwortung für die kommenden Deutschland, Mélenchon in Frankreich, ehemaliger Minister Schwierigkeiten tragen lassen. Die Rechtfertigung der SWP, und Gründer der Parti de Gauche, großer Verteidiger der "Na­ diesem Lager beizutreten war das Ziel, Cameron zu verjagen. tion", deren Feind nicht die französische Bourgeoisie, sondern Aber haben die Arbeiter mit May anstelle von Cameron gewon­ Deutschland ist, und der nicht nur den Brexit begrüßte, son­ nen? dern auch am 5. Juli 2016 im Europäischen Parlament die Nachdem sie ihre Regierung gebildet hatte, traf May Merkel “Entsendearbeiter, die den einheimischen Arbeitern das Brot und Hollande, was zeigt, wer "Europa" führt. Sie hat den Aus­ stehlen”, attackierte. „Der Arbeiter hat kein Vaterland" ­ das bedeutet, tritt immer noch nicht formalisiert. Die 27 verbleibenden Staa­ daß a) seine ökonomische Lage (le salariat) ten sind bei den kommenden Verhandlungen mit der neuen To­ september 2016 | Nummer 26

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Kollektiv Permanente Revolution / CoReP nicht national, sondern international ist; b) sein Klassenfeind international ist;c) die Bedingun­ gen für seine Befreiung gleichfalls; daß d) die in­ ternationale Einheit der Arbeiter wichtiger ist als die nationale. (Lenin, Brief an Inessa Armand, 20. November 1916, LW Bd. 35) Die meisten Revisionisten des Trotzkismus (die Morenisten, Cliffisten, Lambertisten, Robertsonisten, die Taffisten, etc.), die sich angewöhnt haben, dem Stalinismus nachzulaufen oder von ihm beeinflusst sind, haben dem Brexit applaudiert. Die britischen Arbeiter haben vom Brexit nicht nur keine Ver­ besserung ihrer Lage zu erwarten, sondern müssen sogar das Gegenteil befürchten. Vor allem haben sie durch größte Ver­ wirrung ihre Klassenunabhängigkeit verloren, was der Bour­ geoisie zusätzliche Waffen in die Hand gibt. Darüber hinaus startete die Rechte in der Labour Party (Arbeiterpartei) un­ verzüglich mit Hilfe der bürgerlichen Medien eine neue Offen­ sive gegen Corbyn, Mittlerweile zerfleischt sich Labour selbst. Am 28. Juni verlor Mr. Corbyn mit 172 zu 40 eine Vertrauensabstimmung unter den Labourabgeor­ deten. Seine Rolle als Parteiführer wird nun her­ ausgefordert. (The Economist, 2. Juli 2016) Das Ergebnis des britischen Referendums ist Teil der starken Zunahme der fremdenfeindlichen oder faschistischen Parteien wie der FPÖ in Österreich, der FN in Frankreich, der AfD in Deutschland Jobbik in Ungarn, der PVV in Holland, der XA in Griechenland, der PIS in Polen, usw. Seit 24. Juni jubelte Le Pen (FN) :"Brexit,und jetzt Frankreich!" Frau Le Pen denkt, dass ihr diese nationalisti­ sche Stimmung helfen wird, die Präsidentschafts­ wahl im nächsten Frühjahr zu gewinnen. (The Economist,2. Juli 2016) Es sind die "demokratischen" Regierungen selbst, die den Kapitalisten freie Hand bei Entlassungen geben, die Steuern der Bosse und Reichen senken, Sozialleistungen einschränken, den Nahen Osten bombardieren, Europa verbarrikadieren und Flüchtlinge an den Toren der EU sterben lassen, die Fremden­ feindlichkeit und Rassismus fördern, die also der Reaktion Treibstoff liefern. Dieser Chauvinismus ist überall an der Ar­ beit. Was soll man zum republikanischen Kandidaten Trump in den USA sagen, der den Protektionismus befürwortet, die Ab­ schiebung aller Einwanderer aus Ländern, die vom US­Imperia­ lismus zerstört wurden und die Errichtung einer Betonwand von Tausenden Kilometern an der mexikanischen Grenze ver­ spricht ... Dieser Nationalismus ist ein grundlegender Ausdruck der historischen Sackgasse der kapitalistischen Produktionsweise in der imperialistischen Phase: im Widerspruch zu den Inter­ essen der wichtigsten Sektoren der Bourgeoisie in den kapita­ listischen Ländern, die, so gut sie können, auf den ungehinder­ ten Fluss von Waren und Kapital drängen, wird das Privatei­ gentum an den Produktionsmitteln und die ständig zunehmen­ de Konzentration des produktiven­, des Handels­ und Bankka­ pitals, die zunehmende Konkurrenz der Bourgeoisien unterein­ ander und die Beherrschung der Welt durch eine Handvoll im­ perialistischen Mächte mehr und mehr zum Hindernis nicht nur für das Kapital selbst, sondern für die Entwicklung der ge­ samten Menschheit. Alle imperialistischen Bourgeoisien haben die Globalisie­ rung mitgemacht, alle kapitalistischen Konzerne träumen von der Öffnung aller Grenzen für ihr Kapital und ihre Waren, aber die dem Kapitalismus eigenen Gesetze machen diese Bemü­

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hungen zunichte, alle Konzerne fordern Hilfe durch ihren Staat gegen die anderen, alle Staaten in ihrem Dienst streiten um die Vorherrschaft über den Planeten. Es ist der Alptraum der Kon­ frontation zwischen den Nationen, der wieder an die Oberflä­ che drängt. Der Kapitalismus im imperialistischen Stadium, das ist die organisierte Konkurrenz zwischen den Arbeiterin­ nen und Arbeitern aus verschiedenen Ländern und innerhalb der einzelnen Länder selbst. Daher brauchen wir eine internationalistische Partei. Diese kann nicht aufgebaut werden, wenn wir der Labour Party und den Gewerkschaften den Rücken kehren. Aber die Labour Par­ ty kann die revolutionäre Arbeiterpartei nicht ersetzen, weil sie seit ihrer Geburt eine "bürgerliche Arbeiterpartei" ist: “Ar­ beiterInnenpartei” durch ihre Wurzeln in der Gewerkschaft und ihre ursprüngliche werktätige Wählerbasis, “bürgerlich” durch ihr Programm und ihren parlamentarischen Kretinis­ mus. Der besitzenden Klasse eröffnen sich große Mög­ lichkeiten der Staatsobstruktion, der gesetzlichen und administrativen Sabotage, denn, gleichgültig, wie die Parlamentsmehrheit beschaffen ist, der ganze Staatsapparat ist in jeder Beziehung aufs engste mit der Bourgeoisie verbunden. Außer­ dem stehen ihr noch zur Verfügung: die gesamte Presse, die wichtigsten Organe der Selbstverwal­ tung, die Universitäten und Schulen, die Kirche, die zahllosen Klubs und sonstige freiwillige Ver­ bände. Zu ihrer Verfügung stehen die Banken und das ganze System des gesellschaftlichen Kre­ dits, endlich der Transport­ und Handelsapparat, so dass der Unterhalt Londons einschließlich der Arbeiterregierung von den großen kapitalisti­ schen Vereinigungen abhängig ist. (Leo Trotzki, Wohin treibt England ?, 1925, Kap. 5) Keine sozialreformerische Politik konnte oder wollte irgend­ eine Aussicht auf eine nachhaltige Verbesserung der Situation der Arbeiterinnen und Arbeiter bieten, geschweige denn das Kapital selbst angreifen. Stattdessen haben die Reformisten ih­ ren Bankrott dadurch bewiesen, dass sie eifrige Erfüllungsge­ hilfen der Wünsche ihrer Bourgeoisie waren. Die Massen, die die Schläge der bürgerlichen Parteien an der Macht einstecken mussten, haben genauso die Nase von den bürgerlichen Arbei­ terparteien voll, wenn diese die offen bürgerliche Regierung abgelöst haben. Mangels einer revolutionären Organisation, welche die Perspektive einer Machtergreifung durch die Arbei­ terklasse, den Sozialismus, den Internationalismus bietet, sind es die reaktionärsten bürgerlichen Strömungen, die punkten können. Genau aus diesem Grund ist eine richtige Orientierung in der Frage des Brexit so wichtig: Der Aufbau einer revolutio­ nären Arbeiterinternationale! Wenn die Massen begreifen, wie lange man sie betrogen hat, machen sie Revolution (Leo Trotz­ ki, Wohin treibt England ?, 1925, Kap. 4)

22 Juli 2016 Internationales Büro des Kollektivs Permanente Revoluti­ on (Frankreich/Österreich/Peru) Marxistisch­Leninistische Tendenz (Brasilien)

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Internationaler Klassenkampf

Türkei: Auf dem Weg in den Islamofaschismus? Der folgende Text ist die Niederschrift eines Referats, das Ende August auf einem Plenum der Gruppe Klassenkampf in Wien gehalten wurde. Verschiedene Punkte, wie etwa eine genauere Einschätzung der kurdischen Frage, wurden aus zeitlichen Gründen nur angeschnitten. Auf der Homepage der Gruppe Klassenkampf www.klassenkampf.net finden sich dazu aber ausführliche Analysen und Stellungnahmen unserer internationalen Strömung, des Kollektivs Permanente Revolution. Nach dem missglückten Putschversuch vom 15./16. Juli 2016 hat Staatspräsident Recep Erdoğan mit der seit dem Militärputsch 1980 um­ fassendsten Säuberung von Staat, Medien, Wirtschaft, Justiz, Polizei und Armee in der Türkei begonnen. Gewiss ­ das AKP­Regime ist noch weit von den mutmaßlich 650.000 damals von der Mili­ tärjunta unter General Evren festgenommenen „Oppositio­ nellen“ entfernt. Aber klare Anzeichen weisen darauf hin, dass Erdo an die Daumen­ September 2016 | Nummer 26

schrauben enger anziehen will ­ unter anderem mit sei­ nen wiederholten Forderun­ gen nach der Wiedereinfüh­ rung der Todesstrafe (1980 wurden 517 Todesurteile ver­ hängt und 50 vollstreckt). Der Putsch hat eine ganze Reihe von Fragen aufgewor­ fen: Wer waren die treiben­ den Kräfte, was waren die Ziele dieser „Militärerhe­ bung“? Warum haben die „Putschisten“ so unprofessio­ nell agiert? (Losschlagen, während Erdoğan nicht in Istanbul ist; keine Besetzung

der Radio­ und Fernsehstatio­ nen; kein Versuch, die Regie­ rungsmitglieder zu verhaften; Luftangriffe auf das leere Par­ lamentsgebäude, aber nicht auf den Sitz des Geheim­ dienstes und Polizeikaser­ nen). Hatten die offenbar di­ lettantisch agierenden „Put­ schisten“ gleichzeitig die In­ telligenz und das Know­How, um das Internet und die so­ zialen Medien abzuschalten? Warum gab es kein Blutbad unter den AKP­Anhängern, die von Erdoğan aufgefordert waren, auf die Straßen zu strömen, wie das bei frühe­ ren Putschversuchen der Fall gewesen wäre? Einen Tag nach dem gescheiterten Coup erklärte Erdoğan: „Der versuchte Putsch war ein Ge­ schenk des Himmels. Jetzt können wir die Armee säu­ bern“. Gleichzeitig begann der Präsident, laut über die rück­

wirkende Einführung der To­ desstrafe nachzudenken. Ein Erklärungsversuch für den Putschversuch könnte eine geplante großangelegte Verhaftungswelle unter Offi­ zieren, Soldaten, Richtern und Staatsbeamten gewesen sein, die in Verbindung mit der Hikmet­Bewegung Fethul­ la Gülens stehen. Gülen, der in zahlreichen westlichen Medien lange Zeit als Verfechter eines modera­ ten, modernen, prowestli­ chen Islam präsentiert wur­ de, verkörpert mit seiner “Bewegung“ lediglich eine Strömung im türkischen Is­ lam, die tatsächlich von den „Hardcore­Islamisten“ teil­ weise gewalttätig bekämpft wurde. Sie beruft sich auf Said Nursi (1876 – 1960) und dessen Nurcu­Bewegung und propagiert offiziell eine Spiel­ art des Islam, der keine eige­ ne Partei bilden, sondern be­

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Internationaler Klassenkampf stehende (bürgerliche) Par­ teien unterstützen will. Statt einer Umwandlung des Staa­ tes in einen Islamischen Staat sollen die einzelnen Staats­ bürger „islamisiert“ werden. Im Gegensatz zum histori­ schen „Stammvater“ Nursi, der selbst Kurde war, verfolgt die Gülen­Bewegung einen klaren türkisch­nationalisti­ schen Kurs. Die von ihr be­ triebenen Schulen propagie­ ren auch im Ausland einen türkischen Nationalismus. Die Gülen­Bewegung unter­ stützte die brutalste Miltär­ diktatur in der Geschichte des Landes, die 1980 errichtet wurde; auch wenn sich die Evren­Diktatur in der Traditi­ on von Staatsgründer Kemal Atatürk sah und eine klare Trennlinie zwischen Staat und Islam zog, hatte die militant antikommunistische Bewe­ gung Fethulla Gülens keiner­ lei Skrupel, die Junta zu un­ terstützen. Diese zerschlug brutal die Arbeiterorganisa­ tionen und beseitigte gleich­ zeitig islamistische Konkur­ renten der Hikmet­Bewegung, die sich ja als „individuell­is­ lamisch“ ausgab. Dass die „Bewegung“, wie sie gerne genannt wird, eine ganz andere Agenda hatte, wurde spätestens nach der Krise 1997 klar: Die „Wohl­ fahrtspartei“ von Premiermi­ nister Erbakan war immer of­ fener als islamische Kraft auf­ getreten, worauf hin die Mili­ tärführung in einem „Memo­ randum“ aktive Schritte ge­ gen den politischen Islam for­ derte und Erbakan schließ­ lich zum Rücktritt zwang. In einer Reihe von Prozes­ sen wurde enthüllt, dass die Gülen­Bewegung systema­ tisch den Staatsapparat – Ar­ mee, Polizei, Gerichtsbarkeit, Schulen, Universitäten – un­ terwandert hatte. Kinder, die in den Schulen der Bewegung ausgebildet wurden, sollten als jahrelange Schläfer auf den Moment warten, an dem sie auf Anweisung Gülens, Deckname: Hocaefendi, die politische Agenda der Hikme­

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tisten umsetzen sollten: Eine westlich orientierte, markt­ wirtschaftlich geprägte isla­ mische Ausrichtung des Staa­ tes zu befördern. Die Krise von 1997 führte zum Aufbrechen der alten Parteienlandschaft – die 2001 als Nachfolgerin der „Wohlfa­ trpartei“ gegründete „Tu­ gendpartei“ wurde ebenfalls rasch von der Armee verbo­ ten, die „Glückseligkeitspar­ tei“ war auch nicht wesent­ lich glückseliger. 1999 strahlte der türkische Fernsehsender ATV eine (zu­ sammengeschnittene) Rede Fethulla Gülens vor seinen Anhängern aus: „Man muss die Stellen im Justiz­ und Innenministerium, die man in seine Hand be­ kommen hat, erweitern. Diese Einheiten sind unsere Garan­ tie für die Zukunft. Die Ge­ meindemitglieder sollten sich jedoch nicht mit Ämtern wie zum Beispiel denen der Rich­ ter oder Landräte begnügen, sondern versuchen, die obe­ ren Organe des Staates zu er­ reichen. Ohne Euch bemerk­ bar zu machen, müsst Ihr im­ mer weiter vorangehen und die entscheidenden Stellen

Freunde zu früh zu erkennen geben, wird die Welt ihre Köp­ fe zerquetschen, und die Mus­ lime werden dann Ähnliches wie in Algerien erleben. Die Welt hat große Angst vor der islamischen Entwicklung. Die­ jenigen von uns, die sich in diesem Dienst befinden, müs­ sen sich so wie ein Diplomat verhalten, als ob sie die gan­ ze Welt regieren würden, und zwar so lange, bis Ihr diese Macht erreicht habt, die Ihr dann auch in der Lage seid, mit eigenen Kräften auszufül­ len, bis Ihr im Rahmen des türkischen Staatsaufbaus die Macht in sämtlichen Verfas­ sungsorganen an Euch geris­ sen habt“ (Quelle: wikipedia) Um einer wahrscheinlichen Strafverfolgung zu entgehen, setzte sich Gülen in die USA ab und baute von dort aus sein Netzwerk weiter aus – immer in enger Fühlung mit amerikanischen Politikern und Medienleuten, denen er sich als „vernünftiger“ und „demokratischer“ Prediger präsentierte. 2001 hatten sich jüngere, dynamische islamische Kräfte von der Wohlfahrtspartei ab­ gespalten und die AKP („Par­

weltlichen, nicht religiösen) Medien, Religion nicht für po­ litische Zwecke einsetzen zu wollen. In der traditionellen „Kopftuchdebatte“ (die kema­ listische Tradition untersagte das Tragen des Kopftuchs in Schulen, Universitäten, Äm­ tern…) würde die AKP nicht am gesamtgesellschaftlichen Konsens rütteln. Die AKP be­ kannte sich zum freien Markt und der parlamentarischen Demokratie. Dass die Partei auf dem Bo­ den „islamischer Werte“ stand, verhehlte sie nicht. Aber ihr modernistischer An­ spruch machte sie für den westlichen, vor allem den amerikanischen, Imperialis­ mus und breitere, nicht fun­ damentalistische Schichten der türkischen Gesellschaft attraktiv. Die AKP und die von ihr geformte Türkei sollte zum „modernen“ Gegenstück der gefährlichen Regional­ macht Iran mit ihrer „Islami­ schen Republik“ aufgebaut werden. Der Fundamentalis­ mus der Mullahs hatte offen­ sichtlich dabei versagt, trotz der Zerschlagung der kamp­ ferprobten iranischen Arbei­

Ziemlich beste Freunde: Bis 2013 bildeten Erdoğan und Gülen (rechts) ein verschworenes islamisches Duo

des Systems entdecken. Ihr dürft in einem gewissen Grad mit den politischen Machtha­ bern und mit denjenigen Men­ schen, die hundertprozentig gegen uns sind, nicht in einen offenen Dialog eintreten, aber ihr dürft sie auch nicht be­ kämpfen. Wenn sich unsere

tei für Gerechtigkeit und Auf­ schwung“) gebildet. Mit ihr begann die Erfolgsstory des „liberalen Islam“ ­ nicht nur in der Türkei, sondern als „in­ ternationales Erfolgsmodell“. Die Führer der AKP verspra­ chen den säkularen (also

terklasse ein funktionieren­ des Wirtschaftssystem zu er­ richten. Nicht nur die auslän­ dischen Embargos machten dem Land zu schaffen, das Beharren auf einer „islami­ schen Wirtschaftsordnung“, die sich der Industrialisierung September 2016 | Nummer 26


Internationaler Klassenkampf widersetzte und auf interna­ tionalen Märkten nicht agie­ ren konnte und wollte, führte den Iran von Stagnation zu Stagnation und in die Krise. Die türkische Bourgeoisie hatte den Vorteil, dass ihr die Militärdiktatur die lästige Ar­ beiterbewegung weitgehend vom Hals geschafft hatte. Un­ ter Evren und seinen Nachfol­ gern waren die Gewerkschaf­ ten teilweise aufgelöst oder unter Zwangsverwaltung ge­ stellt worden, führende Arbei­ teraktivistInnen waren als „Terroristen“ verschleppt, ge­ foltert und oft genug ermor­ det worden. Sich „kommunis­ tisch“ oder „sozialistisch“ nennende Organisationen und Parteien wurden verbo­ ten. Die Gülen­Bewegung schloss sich der AKP nicht nur an, ihre Mitglieder nah­ men bald Schlüsselpositionen in der Partei ein. Die gemein­ same Front von exportorien­ tierten Geschäftsleuten, reli­ giösen Intellektuellen und der unteren Ebene der Staatsbe­ diensteten schufen die Basis einer politischen Stabilität, die das „türkische Wunder“ möglich machten. Es war die Zeit, in der Ministerpräsident Abdullah Gül erklärte, die „AKP sind die WASPS der Tür­ kei“ [in den USA sind „weiße angelsächsische Protestan­ ten“ der Inbegriff der leis­ tungsorientierten, aufstreben­ den bürgerlichen Mittel­ schichten] Am 29. Juni 2004 erklärte US­Präsident George Bush am Ende des Nato­Gipfels in Istanbul programmatisch: „Dieses Land gewann auf­ grund seiner geografischen Lage an Bedeutung – hier an dem Punkt, wo Europa, Asien und der Nahe Osten aufeinan­ der treffen. Jetzt ist die histori­ sche Bedeutung der Türkei aufgrund Ihrer Eigenschaft als Nation noch größer gewor­ den. Die Türkei ist eine star­ ke, säkulare Demokratie, eine mehrheitlich muslimische Ge­ sellschaft und ein enger Bünd­ nispartner freier Nationen. Ihr Land, das 150 Jahre demokra­ September 2016 | Nummer 26

Streik der Tekel-Arbeiter 2010: Regierung warf kämpfende Arbeiter mit reaktionären Verschwörern in einen Topf

tischer und gesellschaftlicher Reform erlebt hat, dient als Beispiel für andere und als Brücke Europas zur ganzen Welt. Ihr Erfolg ist entschei­ dend für eine fortschrittliche und friedliche Zukunft Euro­ pas sowie des Nahen und Mittleren Ostens – und die Re­ publik Türkei kann sich auf die Unterstützung und Freund­ schaft der Vereinigten Staaten verlassen. (...) Jetzt zieht die Europäi­ sche Union die Aufnahme der Türkei in Betracht, und Sie ar­ beiten an der raschen Erfül­ lung der Beitrittskriterien. Mu­ stafa Kemal Atatürk hatte ei­ ne Vision der Türkei als star­ ke Nation unter anderen euro­ päischen Nationen. Dieser Traum kann für die gegenwär­ tige Generation von Türken in Erfüllung gehen. Nach Ansicht der Vereinigten Staaten gehört die Türkei als europäische Macht in die Eu­ ropäische Union. Ihre Mit­ gliedschaft wäre auch ein ent­ scheidender Fortschritt in den Beziehungen zwischen der muslimischen Welt und dem Westen, weil Sie ein Teil bei­ der Welten sind. Die Aufnah­ me der Türkei in die EU wür­ de beweisen, dass Europa nicht der alleinige Klub einer

Religion ist, und sie würde den “Kampf der Kulturen‘ als vorübergehenden Mythos der Geschichte entlarven.“ (Quel­ le im Internet: http://blogs.usembas­ sy.gov/amerikadi­ enst/2004/06/29/demokratie­ bringt­gerechtigkeit­freiheit­ und­wohlstand/) Es war offensichtlich: Die Türkei nahm in den strategi­ schen Plänen der imperialisti­ schen Mächte eine Schlüssel­ stellung ein, wenn es um die Einflussnahme in der „arabi­ schen Welt“ ging. Die kemalistische CHP, die Mitglied der „Sozialistischen“ Internationale ist, saugte mittlerweile zwar Mitglieder der vorhergehenden Arbeiter­ organisationen auf, parallel zum Wachstum der AKP ging die Partei aber immer stärker zu ihren kemalistischen und nationalistischen Wurzeln zu­ rück. Forderungen nach de­ mokratischen Freiheiten oder der Anerkennung von Ge­ werkschaften wurden zuguns­ ten von Forderungen nach der „Wahrung der nationalen Integrität“ des Landes zu­ rückgestellt. Erst der Sturz

von Parteivorsitzenden Deniz Baykal im Mai 2010 führte zu einem „Links“schwenk. Ab 2008 zog die AKP die Schrauben fester an: Die Auf­ deckung einer angeblichen Offiziersverschwörung unter dem Decknamen „Ergenekon“, die seit 2003 planmäßig durch Attentate, Terror und Desin­ formation den Sturz der Re­ gierung Erdoğan betrieben haben sollte, lieferte den Vor­ wand, um den Staatsapparat und die Armee von kemalisti­ schen Elementen zu säubern. Erstmals stellte sich eine tür­ kische Regierung offensiv ge­ gen die Armee. Tatsächlich ist die Existenz derartiger Umsturzpläne höchst wahrscheinlich – ähn­ lich agierten Teile der politi­ schen Elite und der Geheim­ dienste etwa in Italien. Die Er­ genekon­Ermittlungen wurden aber zum jahrelangen Vor­ schlaghammer, mit dem wahl­ los Oppositionelle, bis hinein in die kurdische Bewegung, niedergeschlagen und wegen Hochverrats inhaftiert wur­ den. Zwischen 2008 und 2010 war das Bild der AKP­Regie­

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Internationaler Klassenkampf rung schillernd: Nach außen hin gab sich die Partei demo­ kratisch. Gesetze, die ethni­ sche Minderheiten benachtei­ ligten, wurden im Parlament abgemildert – in der Praxis wurde der Druck, vor allem

überprüfen und sich dazu an das Direktorat für allgemeine religiöse Fragen zu wenden… Der „arabische Frühling“ brachte eine dramatische Än­ derung für die Türkei: revolu­ tionäre Massenbewegungen

monstrativer nach außen kehrte. Zugleich spitzten sich – un­ ter dem Eindruck der interna­ tionalen Wirtschaftskrise, die auch das „türkische Wunder“ erfasst hatte ­ gleich mehrere

Diyarbakir, September 2015: Türkische Polizei und Armee wüten in der kurdischen Stadt wie in einer besetzten Kriegsregion

auf die Kurdinnen und Kur­ den, ständig erhöht. Als es 2010 zum landeswei­ ten Streik der Tekel­Arbeiter kam (Tekel war das staatliche Alkohol­ und Tabakmonopol, das privatisiert wurde), wur­ de dieser als „Pro­Ergenekon­ Aktion“ denunziert und brutal unterdrückt. Die AKP­eigene Auslegung des Islam mit der Betonung auf das „Schicksal“ des einzelnen wurde von Er­ doğan zynisch eingesetzt, um Kritik und Proteste der Ausge­ beuteten nieder zu machen. Im Mai 2010 erklärte er in einer Ansprache vor Familien­ angehörigen der Opfer eines Bergwerksunglücks, dass das „Leiden der Bergleute Teil ih­ rer Arbeit“, ihr „Schicksal“ sei. Ähnlich wurden Erdbe­ benopfer abgekanzelt – sie seien selbst Schuld gewesen, wenn sie sich in unsicheren Gegenden angesiedelt hätten. „Schicksal“ … Wer daran zweifelte, wurde zynisch auf­ gefordert, seinen Glauben zu

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drohten, das gesamte Gefüge der islamischen Welt zu ver­ ändern und damit die privile­ gierte Position der Türkei als „Vorbild“ und „Brücke“ zum Westen in Frage zu stellen. Andererseits hatten islamis­ tische Bewegungen in Tunesi­ en und Ägypten viel aus dem Scheitern der „islamischen Revolution“ im Iran gelernt. Vor allem die Muslembruder­ schaft knüpfte daher enge Verbindungen mit der Er­ doğan­Regierung an, die ein Muster dafür war, wie man ei­ ne vom Imperialismus akzep­ tierte Synthese aus Islam und kapitalistischer Modernisie­ rung wagen konnte. Der „demokratisch legiti­ mierte“ Griff nach der Macht in Ägypten scheiterte am Mili­ tär. Vielleicht einer der Grün­ de, warum Erdoğan, dem ähn­ liches aus der Geschichte sei­ nes Landes vertraut war, sei­ ne Unterstützung für die Muslimbruderschaft nach de­ ren Unterdrückung noch de­

Krisen zu. Immer kritischer wurden die Stimmen, die Kor­ ruption und Bereicherung an der Spitze der AKP und beim Erdoğan­Clan selbst kritiier­ ten. Urbane, junge Schichten protestierten im Sommer 2013 rund um die geplanten Bauprojekte am Gezi­Park ge­ gen die Regierung und wur­ den brutal niedergeschlagen. Wahlweise wurden sie als ke­ malistische, kommunistische oder pro­kurdische Terroris­ ten diffamiert. In dieser Situation kam es zum Bruch zwischen der Gü­ len­Bewegung und der AKP. Die einflussreichen Medien der Gülen­Bewegung kritisier­ ten Erdoğan und die AKP nicht nur wegen des Gezi­Park Projekts; auch die überra­ schend kompromisslerische Haltung der AKP gegenüber der kurdischen Volksgruppe zu diesem Zeitpunkt (die wohl unter dem Druck der pan­arabischen islamisti­ schen Ideologien, die wäh­

rend des „arabischen Früh­ lings“ grassierten, formuliert wurde) erregte den Zorn des Predigers im amerikanischen Exil. Der Bruch innerhalb der is­ lamischen Bewegung war für Erdo an eine ernsthafte Ge­ fahr. Immerhin hatten sich mittlerweile neben Al Kaida mit Daesh Kräfte in der Regi­ on festgesetzt, die ein zwar komplett anderes, aber zu­ mindest militärisch erfolgrei­ ches islamistisches Projekt verfolgten: Die Errichtung ei­ nes Kalifats, wobei sich dieses plötzlich mit der Eroberung reicher Ölvorkommen in Liby­ en und der Ölindustrie im Irak zu einem gewichtigen regiona­ len Wirtschaftsfaktor entwi­ ckelt hatte. Innenpolitisch hatte der Wahlerfolg der (prokurdi­ schen) HDP die Alarmglocken schrillen lassen. Die Armee, wegen ihrer säkularen kema­ listischen Traditionen durch die AKP systematisch ge­ schwächt, wurde nun wieder aufgewertet und in einen nicht deklarierten Krieg gegen die Kurdinnen und Kurden im eigenen Land geschickt. Zu­ gleich wurden die Grenzen ge­ genüber Syrien für Unterstüt­ zer und Waffen für Daesh und Dschihadisten durchlässig ge­ macht. Das türkische „Wun­ der“ ging im Kanonendonner an der Grenze den Bach hin­ unter. Der islamistische Charakter der AKP­Regierung trat nun immer offener zu Tage. Die Bombenanschläge auf kurdi­ sche Aktivisten und Demons­ trationen wie jene vom Okto­ ber 2015 in Ankara, die an die 100 Tote forderten, zeigten ei­ ne deutliche Radikalisierung der Methoden des Regimes, das immer offener die demo­ kratische Maske fallen ließ. Das Attentat in Ankara wur­ de nach offiziellen Angaben von Daesh­Terroristen verübt; Fakt ist aber, dass die massiv anwesende Polizei nach dem Anschlag Tränengas gegen die Demonstranten einsetzte, vie­ le Teilnehmerinnen und Teil­ September 2016 | Nummer 26


Internationaler Klassenkampf nehmer wegen „kommunisti­ scher“ Symbole festnahm und Ambulanzen an der Bergung von Verletzten hinderten. Das erinnert stark an – Ergene­ kon. Nun begann die AKP­Spitze, allen voran Erdoğan, auch die Parteibasis auf die Straße zu bringen. Dekrete zur Schlie­ ßung kritischer und opposi­ tioneller Zeitungen und Fern­ sehsender arteten zu Sturm­ angriffen bewaffneter AKP­ Anhänger auf Redaktionen und TV­Studios aus. Islamisti­ sche Banden überfielen in den Großstädten Lokale, in denen Alkohol ausgeschenkt oder westliche Musik gespielt wurde. Unverschleierte Frau­ en wurden angepöbelt und geschlagen. Mittlerweile ver­ wüsteten die Panzer der Ar­ mee die kurdischen Städte und Dörfer. Diese Kombinationen aus staatlichem Terror und ge­ walttätigen Massenmobilisie­ rungen erinnern stark an klassische bonapartistische Regimes. Also an eine bürger­ liche Herrschaftsform, die zwar ähnliche Züge aufweist wie der Faschismus, aber noch nicht stark genug ist, zum Generalangriff auf die Ar­ beiterbewegung und die bür­ gerlich­demokratischen Ein­ richtungen überzugehen. Vor allem beanspruchen die Füh­ rer bonapartistischer Bewe­ gungen, „die Nation“ zu ver­ körpern, über den Klassen zu stehen. Genauso agiert Er­ doğan mit seiner AKP. Dass der Putsch „wie geru­ fen“ kam, kann daher nicht wundern.Jetzt hatte die AKP endgültig die Gelegenheit, die Armee gründlich zu „säu­ bern“ und ihre Anhänger noch massiver auf die Stra­ ßen zu rufen. Gewiss gingen in den ersten Stunden nach dem Bekannt­ werden des Putsches nicht nur AKP­Anhänger auf die Straßen, um sich den aufrüh­ rerischen Truppen entgegen­ zustellen. Auch sozialistische Arbeiterinnen und Arbeiter, Gewerkschaftsaktivisten und September 2016 | Nummer 26

die Reste der Gezi­Park­Bewe­ gung wussten, was putschen­ de Militärs in ihrem Land schon an Massakern ange­ richtet hatten. Aber noch in der Nacht von 15. auf den 16. Juli klärte sich das Bild: die „Demonstrationen für die De­ mokratie“ arteten in Überfälle auf alevitische (die Aleviten sind eine vom Mainstream des Islam abweichende Sek­ te) Gemeinden und AKP­ feindlich gesinnte Stadtteile in Ankara, Istanbul und ande­ ren Städten aus. In Ankara zerstörten die seltsamen De­ mokraten der AKP das Ge­ denkmal für die Opfer des At­ tentats auf die Friedensde­ monstration vom vergange­ nen Oktober. Noch ehe die Anführer des Putsches festgenommen wor­ den waren, hatte Erdoğan be­ reits bekanntgegeben, wer hinter dem Aufstand stecke: Die Gülen­Bewegung. Und wie aus dem Nichts tauchten so­ fort Listen mit tausenden Na­ men von „Verrätern“ auf, die umgehend verhaftet wurden. Der Druck auf die kleinbür­ gerliche und bürgerliche Op­ position war so groß, dass

auch die CHP an der von Er­ do an angeordneten „De­ monstration für die Demokra­ tie“ drei Tage nach dem Putschversuch teilnahm. Skrupellos nutzt Erdoğan die Situation, um seine persönli­ che Macht auszubauen. Das Scheitern des „türki­ schen Wunders“ hat zu einer deutliche Abkühlung des Kli­ mas zwischen dem türki­ schen Staat, der US­Adminis­ tration und den Regierungen der wichtigsten imperialisti­ schen Länder der EU geführt. Im Eilzugstempo hat Erdoğan daher versucht, eine neue Achse mit dem ebenfalls ver­ femten jungen russischen Im­ perialismus zu schmieden. Das Zweckbündnis trägt nun erste, blutige, Früchte: Die AKP­Regierung stößt mit Pan­ zerverbänden nach Syrien vor, nicht, um dort ernsthaft Daesch zu bekämpfen, son­ dern um die mit den USA ver­ bündeten kurdischen Verbän­ de der Volksverteidigungs­ kräfte zurückzudrängen. Denn nach wie vor will die Regierung einen möglichen kurdischen Staat an der türki­ schen Grenze verhindern.

Auch unter dem Eindruck des seltsamen Putschver­ suchs kann es keinerlei Un­ terstützung für das AKP­Re­ gime geben: Für den Sturz des Er­ doğan­Regime! Nieder mit den putschisti­ schen Offizieren! Entwaffnung der Polizei, der Armee und der Geheim­ dienste! Selbstverteidigungskomi­ tees gegen die islamistischen Banden und das Militär in Fabriken, Universitäten, Stadtteilen und Dörfern! Freilassung aller Klassen­ kriegsgefangenen in den tür­ kischen Gefängnissen! Anerkennung der nationa­ len Rechte der Kurden, Ar­ menier und aller anderen unterdrückten Nationalitä­ ten! Sofortiger Rückzug der türkischen Truppen aus Syri­ en! Für Rätemacht und Sozia­ lismus! Die Revolutionäre Arbei­ terpartei auf dem Boden des marxistischen Programms aufbauen!

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Die letzte Seite

DER BÜRGERLICHE ÖSTERREICHISCHE STAAT UND SEINE UNANTASTBAREN „UNABHÄNGIGEN“ INSTITUTIONEN Jetzt ist es also amtlich: Die Stichwahl der Bundespräsi­ dentenwahl vom 22. Mai 2016 muss wegen vom Verfas­ sungsgerichtshof in 14 Bezir­ ken festgestellter Unregelmä­ ßigkeiten bei der Auszählung von Briefwahlstimmen wie­ derholt werden. Die Verfeh­ lungen waren in allen Bezir­ ken recht ähnlich: Briefwahl­ kuverts wurden zu früh geöff­ net und/oder zu früh ausge­ zählt und/oder nicht in Anwe­ senheit der Wahlbeisitzer ge­ öffnet und/oder ausgezählt. Die Gründe dafür sind einfach wie menschlich nachvollzieh­ bar zugleich. Wer bereits den ganzen Sonntag im Wahllokal verbracht hat, will eben die Prozedur zumindest am Mon­ tag abkürzen. Weder der Verfassungsge­ richtshof noch eine Partei hat von Wahlmanipulation ge­

sprochen – wohl wissend, dass die Unregelmäßigkeiten genannten Schlampereien auch bei vergangenen Wahlen, für die die Ein­ spruchsfrist längst abgelau­ fen ist, gelebte Praxis waren. So blieb es der FPÖ, die etwa beim Verbotsgesetz für eine großzügige Interpretation plädiert vorbehalten, bei dem vorliegenden knappen Wahl­ ergebnis von ca. 30.000 Stim­ men Überhang für Van der Bellen die Wahl anzufechten und damit Einspruch gegen die gelebte Praxis der Brief­ wahlstimmenauszählung zu erheben. Sämtliche in den bürgerli­ chen Medien vertretenen Par­ teien, Organisationen und Einzelpersonen akzeptieren die Entscheidung des „unab­ hängigen“ Verfassungsge­ richtshofs und erklären sie

für unantastbar. Wer ein ein­ gefleischter Anhänger des bürgerlichen Staates ist, wird sich davor hüten, dessen Klassencharakter zu themati­ sieren. Der Staat ist und bleibt ein Unterdrückungsinstrument der herrschenden Klasse, das ist in unserer Epoche die Ka­ pitalistenklasse. In Vergegen­ wärtigung dieser Erkenntnis erscheint die erfolgreiche Wahlanfechtung der FPÖ in einem neuen Licht. Aktuell ist die FPÖ die stärkste Fraktion in der bürgerlichen österrei­ chischen Demokratie. Das Fehlen von Neuwahlen auf Bundesebene und die kata­ strophalen Umfragewerte der ÖVP sind die einzigen Gründe dafür, warum die FPÖ noch immer in Opposition ist. Nor­ bert Hofer war dazu auserko­ ren, die Regierungsambitio­

nen der FPÖ als Bundespräsi­ dent mit den entsprechenden Amtskompetenzen zu för­ dern. Die „Unabhängigkeit“ seiner Institutionen ist ein Märchen, das der bürgerliche Staat gern bemüht, wenn es darum geht, die Interessen der stärksten Fraktion der herr­ schenden Kapitalistenklasse durchzusetzen. Die FPÖ woll­ te eine Wiederholung der Stichwahl und der Verfas­ sungsgerichtshof hat diesem Wunsch entsprochen. Willkommen in der kapita­ listischen Normalität! Für die Reprise der Stich­ wahl kommen weiterhin bei­ de bürgerliche Kandidaten für lohnabhängige Menschen nicht in Frage. Der Kapitalismus ist und bleibt für uns keine Wahl!

Besucht das elektronische Archiv der Gruppe Klassenkampf im Internet: https://issuu.com/gruppeklassenkampf/ Alle Ausgaben des KLASSENKAMPF, unsere wichtigsten Flugblätter und Schulungsmaterialien! Im freien Onlinearchiv der GKK!

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