KLASSENKAMPF 33

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Für Rätemacht und Revolution!

KLASSENKAMPF

Nummer 33 | NOVEMBER 2018 | 2,--

Zeitung der Gruppe Klassenkampf, öst. Sektion des Kollektivs permanente Revolution

Sozialdemolierer

Donnerstagsdemos

Die SPÖ – ratlos

Brasilien

Tausende in Wien auf den Straßen ­ ein ermutigendes Zeichen. Was tun, damit sich die Bewegung nicht buchstäblich totläuft? Einige Lehren der Bewe­ gung gegen FPÖVP 2000.

Ein Parteivorsitzender schmeißt Nerven und Funk‐ tionen hin ­ seine Nachfol‐ gerin, ohne Mitsprache der Basis eingesetzt, wird von den eigenen Leuten sabo‐ tiert.

Der jahrelange Sturmlauf der Reaktion gegen die Maßnahmen der Arbeiterpartei PT und der Sturz von Präsidentin Roussef könnten den Weg zum Faschismus bahnen.

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ISSN: 2220­0657


Editorial

Klassenkampf 33/2018

Demonstrieren ist gut, Streiken ist besser

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ls im Februar 2000 die schwarz­blaue Regierung Schüssel/Haider angelobt wurde, erhob sich ein für das traditionell “ruhige” Österreich ein erstaun­ lich breiter Proteststurm. Im Zentrum der Proteste stand Jörg Haider, für viele ein Synonym für die nazi­faschistische Vergangenheit im Land. Die Massende­ monstrationen der ersten Tage und Wochen ebbten ab (Dauermobilisierungen sind für berufstätige Menschen kaum durchzuhalten) und wurden zum Ritual der Donnerstagsdemos. In den Aufrufen dazu hieß es immer wieder: “Wir gehen, bis sie gehen”. Sie sind nicht gegangen. Diese Regierung hat vom ersten Tag Das muss für uns heute die Lehre aus der Bewegung gegen schwarz­blau von an keinen Hehl daraus, dass sie die Re­ 2000 bis 2003 sein: Eine reaktionäre Re­ gierung der Reichen und der Konzerne gierung lässt sich nicht “wegdemonstrie­ ist. Die Investition der Großunterneh­ ren”. Sie wird sich immer ­ ganz nach den men in den Wahlkampf der türkisen Spielregeln der bürgerlichen parlamenta­ Kurz­Partie mussten sich ja schließlich rischen Demokratie ­ darauf berufen, lohnen ­ Kapitalist_innen sind ja nur dass sie ja durch eine Mehrheit bei Wah­ höchst selten idealistische Wohltäter, sie len ans Ruder gekommen ist; und jede wollen für ihr investiertes Kapital auch Demonstration muss zwangsläufig klei­ Profite sehen. Die Freiheitlichen, die ner sein als die kumulierten Wählerstim­ noch im Wahlkampf einen auf “soziale Heimatpartei” machten, ließen in der Re­ men vom Wahltag. Eine zweite Lehre der Bewegung ge­ gierung gleich die Maske fallen. Die Besetzung des Sozialministeriums gen schwarz­blau: die Fixierung auf Hai­ der (oder die FPÖ) hat die Proteste von mit 150­Euro­Beate Hartinger­Klein war Anfang an auf eine schiefe Ebene ge­ ein deutliches Signal: je sozial inkompe­ bracht. Auch heute ist eine wirklich un­ tenter, umso besser. Als Regierung der Reichen und der sympathische und zynische Figur wie Herbert Kickl eine herrliche Zielscheibe Konzerne ist diese Regierung allerdings, der Kritik. Nur: Ist es seine Partei, die im Gegensatz zu ihren Vorgängerinnen, den Kurs der Regierung bestimmt? Nein. eine besonders offene Geschäftsführerin Natürlich bringt die FPÖ auf Grund ihrer der politischen Geschäfte der heimi­ langen Erfahrung in Hass auf “die Bon­ schen Kapitalist_innen insgesamt. Und zen” (womit vor allem Betriebsräte und dazu gehört der Abbau und, wenn mög­ Gewerkschafter_innen gemeint sind), lich, die Zerschlagung der demokrati­ fremdenfeindlicher Hetze, dumpfem Na­ schen Errungenschaften der tionalismus einen besonders widerwärti­ Vergangenheit. gen Geruch in die Duftnote der neuen Ja, Errungenschaften. Wenn schon un­ Bürgerblockregierung. Und sie ist die Er­ ter der Koalition mit der SPÖ der damali­ bin der alten Deutschnationalen und Na­ ge Innenminister Sobotka das zis aus der Zwischen­ und Demonstrationsrecht verschärft hat, war Nachkriegszeit. das nicht deswegen so skandalös, weil ein abstraktes “demokratisches Prinzip” verletzt wurde, sondern deswegen, weil ber die jetzt als eine sozialdemokratische Parteiführung, “Kurz­Bewegung” die sich seit fast 100 Jahren in den bür­ firmierende ÖVP ist die gerlichen Staat integriert hatte, keinen Nachfolgerin der ernsthaften Widerstand leistete. Für das Christlichsozialen und Recht, sich zu organisieren, Vereine und Parteien zu bilden, sich in Gewerkschaf­ Klerikalfaschisten, die ten zusammenzuschließen, sich Vertre­ Nachfolgepartei derer, tungen in den Betrieben aufzubauen, auf die 1934 die Kanonen auf der Straße für ihre Anliegen einzutreten, die Gemeindebauten des für das Recht der Frauen, in der Politik Roten Wien gerichtet mitzureden und wählen zu dürfen, haben die österreichischen Arbeiterinnen und haben.

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Arbeiter seit den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts gekämpft und geblutet, sind ins Gefängnis gegangen und haben sich in den Straßen der Monarchie der berittenen Polizei entgegengestellt. Was für uns heute selbstverständlich ist, war das Ergebnis jahrzehntelanger Klassenkämpfe. Wenn heuer ein “Haus der Geschichte” eröffnet wird, verbrei­ ten die meisten willfährigen Ideologen der herrschenden Klasse das falsche Ge­ schichtsbild einer Art “demokratischen Urknalls”. Kaiser weg, Demokratie her. Die Republik war das Ergebnis einer tat­ sächlich revolutionären Bewegung, das Produkt nicht zuletzt der verbissenen und heldenhaften Streiks der österreichi­ schen Arbeiterinnen gegen die Kriegs­ wirtschaft ab Jänner 1918. Sie war das Produkt eines Matrosenaufstands in der kaiserlichen Kriegsmarine in Cattaro, und sie war das Produkt der Bildung ei­ nes Arbeiter­ und Soldatenrates in Wien.

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ie österreichische Bourgeoisie hat die Republik ­ selbst, nachdem die Sozialdemokraten der Revolution die Spitze abgebrochen und die Auflösung der Räte erzwungen hatte ­ immer gehasst.

Sie hat aber ihre Errungenschaften genützt, um sie gegen die Republik selbst zu richten. Ihre parlamentari­ schen Vertretungen ­ Landbund, Christ­ lichsoziale, Heimwehrblock ­ nutzten die scheinbar demokratischen Strukturen des bürgerlichen Staates, um die wirkli­ chen demokratischen Errungenschaften der Massen pseudodemokratisch zu be­ seitigen. Ihre Bundeskanzler ließen sich mit Ermächtigungsgesetzen aus der Kriegszeit ausstatten und konnten so mit Notverordnungen regieren. Während die organisatorischen Rechte der Arbei­ ter_innen Schritt für Schritt ausgehebelt wurden, rüsteten sie Polizei, Armee und faschistische Milizen auf.


Klassenkampf 33/2018

Österreich 2018 ist nicht Österreich 1932/33. Vor allem deswegen, weil trotz der sozialdemokratischen Parteiführung, die seit 1914 ihre Interessen direkt mit denen des bürgerlichen Staates ver­ knüpft hatte, eine hochorganisierte und kampfbereite Arbeiter_innenbewegung existierte, die immer wieder zeigte, dass sie jederzeit der Kontrolle ihrer “Führer” entgleiten konnte. Eine derartige breite Arbeiter_innenbewegung fehlt heute. Nicht, weil die Menschen dümmer oder fauler geworden sind, sondern weil auch nach den Niederlagen 1933 (Auflösung der meisten Arbeiterorganisationen), Fe­ bruar 1934 (bewaffnete Niederwerfung der Arbeiterbewegung), 1938 (Machter­ greifung der Nazis) die SPÖ nicht bereit war, mit dem Kapitalismus zu brechen. 1918 hatten Arbeiterjugendliche auf der Wiener Ringstraße skandiert: “Repu­ blik, das ist nicht viel, Sozialismus ist das Ziel”. Von diesem Ziel hat sich die Sozialde­ mokratie seit 1914, als sie für die Kriegs­ politik der Habsburger stimmte, verabschiedet. Während der 1. Republik sah sie sich als “Krankenpfleger am To­ tenbett des Kapitalismus”, nach 1945 als “Sozialpartner” beim Wiederaufbau des Kapitalismus in Österreich. Dem ordnete sie politisch und gewerkschaftlich die In­ teressen der Lohnabhängigen unter. Wir stellen der bürgerlichen Schein­ demokratie das Modell der Arbeiterde­ mokratie entgegen, das Modell von Räten auf Betriebs­ und Stadtteil­ oder Dorfebene. Direkt gewählt, rechen­ schaftspflichtig und jederzeit abwählbar. Gewählte Vertreter_innen dürfen nicht mehr verdienen als eine qualifizierte Ar­ beiterin, und es muss ein striktes Rotati­ onsprinzip geben ­ “Dauerpolitiker” darf es nicht geben, jede und jeder kann und

muss lernen, die Interessen seiner Klas­ se und damit seine/ihre eigenen zu ver­ treten. Zurück ins Jahr 2000, oder besser: 2003. Hunderttausende folgten damals dem Aufruf des ÖGB, gegen die soge­ nannte “Pensionsreform” der Regierung Schüssel­Haider zu demonstrieren. Im Parlament wurde das asoziale Paket be­ schlossen ­ statt die deutlich auf der Straße bekundete Kampfbereitschaft der Menschen zu nutzen, um den Gesetzes­ entwurf und damit die Regierung durch Massenstreiks und den Generalstreik zu Fall zu bringen, ließ man die Bewegung versanden. Es steht zu befürchten, dass auch die große Demonstration gegen den 12­Stun­ dentag vom 30. Juni ein Strohfeuer blei­ ben wird.

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er von der Gewerkschaftsspitze angekündigte “Heiße Herbst” ist bisher ausgeblieben.

Auch bei der Protestkundgebung der GPA vor dem Sozialministerium am 14. September haben wir gesehen, dass die von Sozialabbau und Sparpolitik Betrof­ fenen zornig und kämpferisch sind. Diesen Unmut, diese Empörung, gilt es zu bündeln und zu vereinheitlichen: Die Proteste und Demonstrationen gegen die Abschiebepolitik, die Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Migrant_in­ nen, die Einführung von desintegrativen Apartheid­Deutschklassen, die Hochrüs­ tung der Polizei, den Willen zu Militä­ reinsätzen in Nordafrika, die Angriffe auf die Informations­ und Meinungsfreiheit, die Zwangsmaßnahmen gegen NGOs im

Innenpolitik Asyl­ und Ökologiebereich müssen mit den Bewegungen gegen Arbeitszeitver­ längerung, Zerschlagung der Kranken­ kassen und der AUVA und drohende Angriffe auf die Kollektivverträge zusam­ menfließen. Wenn sich Sebastian Kurz damit brüs­ tet, dass das, was er von sich gibt, vor ein paar Jahren noch als “rechtsextrem” gegolten hat, ist das ein entlarvendes Eingeständnis und eine Drohung zu­ gleich. Auch wenn wir keinerlei Vertrauen in die Führung der SPÖ haben (die derzeit selbst die interne Demokratie mit Füßen tritt, indem sie eine durch eine Mitglie­ derbefragung beschlossene Statutenre­ form auf Zuruf des Wiener Bürgermeisters schubladisiert) und nicht glauben, dass die ÖGB­Spitze wirk­ lich kampfbereit ist, dürfen wir diese Or­ ganisationen, die aus der langen und kämpferischen Tradition der österreichi­ schen Arbeiter_innenbewegung hervor­ gegangen sind, nicht aus der Pflicht zur Opposition entlassen. • Keine Packeleien mit der Regie­ rung! • Schluss mit dem Gerede von einer Sozialpartnerschaft! • Gemeinsame Antwort auf Angriffe der Regierung, egal auf welche Gruppe der arbeitenden oder ar­ beitslosen Bevölkerung ­ ein An­ griff auf Einen ist ein Angriff auf Alle! • Einheitsfront aller Arbeiter_innen­ organisationen und der Gewerk­ schaften gegen die Angriffe auf unsere Rechte und die Zukunft der kommenden Generationen! • Unbefristeter Generalstreik als ers­ ter Schritt zum Sturz dieser Regie­ rung!

Komm zum ROTEN TISCH! Jeden zweiten Dienstag im Monat organisieren wir in der Westbahnstraße 35 im 7. Wiener Gemeindebezirk im kurdischen Lokal ZYPRESSE unseren ROTEN TISCH. Der ROTE TISCH ist ein offenes Diskussionsforum, in dem wir mit Interessierten über die aktuelle Lage, die Artikel in unserer Zeitung oder über theoretische Fragen sprechen. Die Termine und Themen findest Du auf unserer Homepage: www.klassenkampf.net Erreichbar mit U6, Straßenbahnlinien 5 und 49

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Innenpolitik

Klassenkampf 33/2018

Die Krise der SPÖ - keine Lösung in Sicht

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ass der Bundeskanzler kaum einen Ton über die Lippen bringt, wundert niemanden mehr; vermutlich will er als „Sebastian der Schweigsame“ in die wenig schmeichelhafte Liste reaktionärer heimischer Politiker eingehen. Dass man aber von der größten Oppositionspartei, der SPÖ, keinen Mucks vernimmt, ist vor allem für viele Wählerinnen und Wähler dieser Partei merkwürdig. Die Munition für ein propagandistisches Sperrfeuer gegen die Regierung liegt gera­ dezu auf der Straße (siehe dazu die Artikel in dieser Nummer zu Umweltverträg­ lichkeitsprüfung, Sozialversicherung, Repression …). Aber niemand ist da, der sie aufhebt und die asoziale Seilschaft aus türkis und blau unter Beschuss nimmt.

Kern schleicht sich, RendiWagner tappst durchs Minenfeld Christian Kern hat’s nicht mehr ge­ freut ­ also hat er sich aus den Niederun­ gen der Innenpolitik geschlichen und den großeuropäischen Traum geträumt. Nach einiger Verwirrung war bald nur ei­ nes klar: Wer aller nicht den Parteivor­ sitz übernehmen und die Opposition anführen will. In einer Art Ausschluss­ verfahren blieb der Ball letztlich bei Joy Pamela Rendi­Wagner liegen ­ und sie übernahm den Job. Die Euphorie in der Partei war mäßig, vor allem, weil die designierte Parteivor­ sitzende (immerhin vom scheidenden Kern empfohlen) ernsthaft versuchte, bestimmte alteingesessene Funktionäre gegen ihr genehme auszuwechseln. Zu­ dem muss Rendi­Wagner, die in Favori­ ten als Tochter einer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen ist und nicht zu Unrecht erklärt, ein Kind der Kreisky­Ära zu sein, ohne deren Reformen sie als Ar­ beiter_innenkind nie studieren hätte können, dagegen ankämpfen, dass sie ei­ ne Quereinsteigerin war. Der selbstzer­ störerische Konservativismus der SP­Bürokratie lässt sich daran ermessen, dass man den Überraschungsbonus, plötzlich eine Frau an der Spitze der Par­ tei zu haben, durch sofortige kleinliche Intrigen zunichte machte. Hatte die Öffentlichkeit vor allem auf Proteste aus dem Burgenland spekuliert, zeigte Michael Ludwig, Wiens neues sozi­ aldemokratisches Stadtoberhaupt, dass ihm kein Hackl niedrig genug fliegen konnte, zielte es nur auf Rendi­Wagner. Wobei er es war, der die Hackeln

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schmiss. „Ich persönlich glaube, es ist ei­ ne sehr starke persönliche Belastung, den Parteivorsitz und den Klubvorsitz zu ma­ chen, aber das ist ihre persönliche Ent­ scheidung”. Während man sich im bürgerlichen Politikbetrieb und damit auch der SPÖ an männliche Multifunktio­ näre längst gewöhnt hat, biedert sich Ludwig mit seinem Statement „elegant“ dem Stammtisch an („Ob die als Frau die Doppelbelastung packt?”) und setzte dann gleich mit der Sabotage der immer­ hin in einer Urabstimmung in der SPÖ beschlossenen Parteireform nach. Während Kurz, Strache, Kickl, Köstin­ ger und Hartinger­Klein ihre reaktionä­ ren Gesetzesentwürfe durch den Nationalrat schleusten, spielte die SPÖ das fröhliche Selbstzerfleichungsspiel, zum Gaudium der Regierenden und ihrer Boulevardjournalisten. Doch am 23. Oktober kam endlich der Knalleffekt: In der SPÖ wird alles ganz anders! Denn Rendi­Wagner baut „den sensibelsten Bereich der Partei“ um – die Kommunikation! Der aus Deutsch­ land von der SPD geholte Georg Brock­ meyer muss seinen Hut nehmen, es tritt auf: Stefan Hirsch, SPÖ­Experte für Kom­ munikation, erfolgreicher (?) Ratgeber von Werner Faymann, Alfred Gusenbau­ er und Hans Peter Doskozil. Ein Mann mit einer klaren Linie also. Was führt der Medien­Zampano im Schilde? Der „Stan­ dard“ weiß: „Stefan Hirsch werde dabei, sagt ein SPÖ­Insider, die ‘DNA’ der SPÖ – soziale Gerechtigkeit, Bildung, Arbeits­ markt – pushen, um der Partei ‘endlich ein Gesicht zu geben’. Dabei soll die Ärz­ tin und ehemalige Gesundheitsministerin Pamela Rendi­Wagner als sozial kompe­ tente, ‘menschliche Alternative’ zur türkis­ blauen Regierung aufgebaut werden”.

Heute verkaufen wir kein Waschmittel, heute verkaufen wir Menschlichkeit Es liegt also nicht daran, welche Poli­ tik die SPÖ macht; welches Programm sie hat; ob und wie ihre Mitglieder bereit sind, die Botschaften der Partei hinaus­ zutragen. Nein, es geht um gutes kapita­ listisches Marketing. „Wir bauen uns eine Kandidatin auf!”. Ohne Frau Rendi­Wag­ ner nahe treten zu wollen, der wir höchste persönliche Integrität zugeste­ hen: Aber muss sie erst künstlich zur menschlichen Alternative zu Basti und Hatze aufgebaut werden? Ist sie noch nicht menschlich genug? Diese Orientierungslosigkeit der SPÖ, die Cliquenkämpfe und kleinlichen Wa­ delbeissereien sind keine Zufälligkeiten ­ sie sind für uns Ausdruck dessen, dass sich eine Partei, die aus der Arbeiter­ klasse kommt, durch das Abweichen von ihrer Klassenlinie entarten, verkommen und letztlich als Partei für ihre alte Basis unbrauchbar, ja sogar hinderlich, wer­ den kann. Von einer Partei, die bis zum Beginn des 1. Weltkrieges für eine andere, ge­ rechte Gesellschaftsordnung kämpfte, wurde die österreichische Sozialdemo­ kratie zu einer Systemerhalterin. Während hunderttausende Arbeite­ rinnen und Arbeiter während der 1. Re­ publik ihre Hoffnung in die SDAP setzten, begeistert von den Parolen von Sozialis­ mus und Freiheit, verfochten ihre Führer einen Kurs der „Realpolitik”. Sie glaubten selbst nicht mehr an den Sturz des Kapi­ talismus, sie wollten ihn entschärfen, so­ zialer machen ­ und entwaffneten so die Arbeiterinnen und Arbeiter angesichts des aufstrebenden Faschismus. Nach dem 2. Weltkrieg setzte sich die­ ser Kurs fort und wurde durch das Sys­ tem der „Sozialpartnerschaft“geradezu meisterlich perfektioniert. Die SPÖ wur­ de über Jahrzehnte zur bestmöglichen Geschäftsführerin des Kapitalismus. Als


Klassenkampf 33/2018 sie ihr Ziel ­ die Eingliederung der Lohn­ abhängigen in das bestehende System ­ erreicht hatte, verlor sie für das Kapital rasant an Wert. Markant war vor allem die Liquidierung einer echten Schulungs­ arbeit an der Partei­ und Gewerkschafts­ basis. Grundlegendes Klassenbewusst­ sein wurde verschüttet, das Nachrücken einer zumindest oberflächlich politisch geschulten Generation verhindert. Zu­ sätzlich erschwerte der Verzicht auf ei­ gene Medien wie der Arbeiterzeitung die Vermittlung von klassenrelevanten Posi­ tionen. Angesichts einer politisch fast bewusstlosen Arbeiterklasse konnte die Bourgeoisie ab 2000 endlich direkt mit­ tels ihrer eigenen Parteien regieren ­ so, wie sie es jetzt tut. Die sozialdemokratische Führung be­ findet sich in einer teuflischen Zwick­ mühle. Einerseits gibt es nach wie vor hunderttausende Arbeiterinnen und Ar­ beiter, Jugendliche, Nebenerwerbsbau­ ern etc., die auf das historische Erbe der SPÖ pochen und von ihr eine Politik in ihrem Interesse erwarten. Andererseits gibt es keine relevanten Kapitalsfraktio­ nen, die ohne Not einer sozialdemokrati­ schen Bürokratie Zugeständnisse machen würden, solange von deren Ba­ sis ohnehin keine Gefahr droht. Die Streitereien in der Führungsebene der SPÖ drücken diesen Widerspruch aus. Und sie zeigen zugleich: Dieser völ­ lig abgehobenen Schicht von Parteibüro­ kraten und Berufspolitikern geht es nicht um das „Wohl“der Partei, also um die In­ teressen der Mitglieder ­ es geht ihnen um ihre eigenen kleinen Karrieren im Ge­ triebe des bürgerlichen Staates und der Privatwirtschaft. Immer noch gibt es Genossinnen und Genossen in der SPÖ, die die Partei „re­ formieren“ wollen. Bloß ­ reformieren in welche Richtung? Reformieren zu mehr Reformismus, d.h. zu mehr „Realpolitik“ mit sozialem Mäntelchen? Reformieren, um die Partei zurück zu sozialistischen

Innenpolitik Zielen zu führen? Was ist mit diesen sozi­ alistischen Zielen gemeint? Der Sturz des Kapitalismus? Für jede politische Perspektive braucht es ein Programm. Diejenigen, die die SPÖ umorientieren wollen, müs­

mehr ­ Wählbarkeit, Rechenschafts­ pflicht und Absetzbarkeit aller Partei­ funktionäre, Hauptamtliche dürfen nicht mehr verdienen als ein qualifizierter Facharbeiter.

Nach wie vor sehen viele Arbeiterinnen und Arbeiter in der SPÖ „ihre“ Partei. Instinktiv wissen sie, dass die Partei keine „bürgerliche Partei“ wie die anderen ist, sondern dass da andere Wurzeln dahinter stecken.

sen auch zuerst ein Programm entwi­ ckeln und zur Diskussion stellen. Wer wirklich ernsthaft glaubt, dass die SPÖ noch einen Funken Lebenskraft in sich trägt, sollte bei den Wurzeln der Partei beginnen: der eigenständigen Organisie­ rung der Arbeiterinnen und Arbeiter, klar getrennt von der herrschenden Klasse. Unzufriedene Sozialdemokratin­ nen und Sozialdemokraten sollten daher den sofortigen Bruch ihrer Partei mit der Bourgeoisie fordern ­ raus aus den Insti­ tutionen der Sozialpartnerschaft, keine Gedankenspielereien über Koalitionen mit bürgerlichen Parteien. Keine Lang­ zeitfunktionäre mit Spitzengehältern

Auch wenn wir internationalistischen Marxisten davon überzeugt sind, dass sich die Sozialdemokratie nie wieder zu einer wirklichen Arbeiter_innenpartei machen lassen wird, reichen wir den so­ zialdemokratischen Brüdern und Schwestern, die in der SPÖ für eine sozi­ alistische Alternative arbeiten, die Hän­ de. Kämpfen wir gemeinsam gegen die reaktionären Angriffe auf unsere Errun­ genschaften und Rechte. Testen wir im Kampf die Richtigkeit unserer Program­ me! Halten wir uns an den Grundsatz der Ersten Internationale: „Die Befreiung der Arbeiter kann nur das Werk der Arbeiter selbst sein!“

Gemeinsam gegen Rechtsruck, Rassismus und Sozialabbau Samstag, 15. Dezember, 14 Uhr Wien, Christian-Broda-Platz (Nähe U3/U6 Westbahnhof) 5


Innenpolitik

Klassenkampf 33/2018

Reform der Umweltverträglichkeitsprüfung und das Staatsziel Kapitalistenschutz Ö aufnehmen, die dafür notwendige Zustimmung der NEOS zur Regierungs­

VP­FPÖ wollen in der Verfassung eine Staatszielbestimmung „Wirtschaft“ Marx die Entfremdung der ArbeiterInnen in der kapitalistischen Produktion als Be­ mehrheit ist offenbar noch Verhandlungsmasse, aber zwischenzeitlich werden standteil desselben Prozesses wie die die Interessen der Kapitalisten auch mit einfachen Gesetzen durchgesetzt, aktuel­ Entfremdung des Menschen von der Na­ tur gesehen hat. Es ist auch offensichtlich, dass gerade Die Vertreter der Kapitalisten­Regie­ gerschaft aberkannt werden soll, in Zei­ rung aus Türkisen und Blauen haben am ten, wo es auf rechtsextremen Seiten heute die Arbeiterklasse an vorderster 25.10.2018 eine Novelle zum Umweltver­ Listen über Juden, Linke und sonst ver­ Front steht, wenn es darum geht, die träglichkeitsprüfungsgesetz beschlossen. folgungswürdige Personen gibt, nimmt es Auswirkungen des Kapitalismus auf die Damit soll eine den Interessen der Wirt­ nicht wunder dass man sehr wachsam Umwelt zu spüren zu bekommen. So stel­ schaft dienende Beschleunigung der Ver­ reagieren muss, wenn solche Offenlegun­ len die Energieunternehmen in der Öl­, fahren erreicht werden, Zielvorgabe ist, gen am Mitbestimmungsprozess von Ge­ Kohle­ und Atomindustrie eine direkte dass Großprojekte spätestens nach ei­ nehmigungsverfahren verlangt werden. Bedrohung für die Beschäftigten in die­ nem Jahr genehmigt werden. Schon im Das ist einwandfrei der Orbansche Weg sen Branchen dar – genau wie für die Juni begrüßte die WKO dies als ganz der Einschüchterung zur illiberalen De­ Menschen und die Umwelt ganzer Regio­ nen oder gar Länder. ArbeiterInnen, die wichtigen Schritt in Richtung Standorts­ mokratie. Wir fordern nicht die Beibehaltung der in diesen Industrien beschäftigt sind, ge­ icherung. Umweltschutzorganisationen und Op­ bürgerlichen Demokratie, sondern die hören oft zu denen, denen die entspre­ position laufen gegen diesen Beschluss Errichtung einer sozialistischen Demo­ chenden Gefahren am stärksten bewusst Sturm, zum einen aus demokratiepoliti­ kratie. Trotzdem werden wir die bisheri­ sind. Der Kampf für die Verbesserung der schen Gründen, zum anderen natürlich gen demokratischen Errungenschaften Arbeitsbedingungen ist ein wesentlicher gegen die reaktionären Angriffe vehe­ Bestandteil des Kampfes für vernünftige wegen des Umweltschutzes. ment verteidigen, weil es für Marxisten Umweltbedingungen. Beides können wir nachvollziehen: Klimaforscher heute kommen, ähnlich klar ist, dass die demokratische Partizi­ Demokratie pation und Bewusstseinsbildung der ar­ wie Marx und Engels im 19. Jahrhundert beitenden Bevölkerung für einen bei der Untersuchung der gesellschaftli­ Tatsächlich wird hier der autoritäre erfolgreichen Aufbau des Sozialismus un­ chen Verhältnisse, zum Ergebnis, dass es irgendwann Punkte in der Klimaentwick­ Stil von Schwarz­Blau deutlich, indem abdingbar ist! lung gibt, die zu einem qualitativen von Umweltschutzorganisationen, die an Sprung führen, ab dem die Umwelt von UVP­Verfahren teilnehmen wollen, ver­ einer Sekunde zur anderen irreversible langt wird, alle drei Jahre beim Umwelt­ Umwelt Veränderungen erreicht. ministerium um eine Anerkennung Es ist sonnenklar, dass die Zukunft der Kommunisten wird oft vorgeworfen anzusuchen und weiters, dass man „glaubhaft“ machen muss mindestens das Thema Umwelt und Umweltschutz Menschheit nur in einem funktionieren­ stiefmütterlich zu behandeln, schließlich den Umweltsystem eine sozialistische 100 Mitglieder zu haben. In Zeiten, wo Listen kursieren, mit de­ bräuchte es wirtschaftliches Wachstum, sein wird: eine funktionierende Umwelt nen Menschen aus der Türkei, die seit um überhaupt Armut und Not bekämpfen braucht ein sozialistisches Gesellschafts­ Jahren in Österreich leben, die Staatsbür­ zu können. Wahr ist allerdings, dass modell!

„Reich und schön“ – Basti macht’s möglich! J etzt ist es soweit, die Regierung als Vertretung des Kapitals kommt zum Kern ihrer Agenda. Und diese besteht naturgemäß darin, gesellschaftliche und wirtschaftli­ che Weichen in Richtung der Kapitalisten zu stellen, gesellschaftlich geschaffenes Ver­ mögen als Dividende an Unternehmer und Konzerne zu verteilen, politische Einflussmöglichkeiten der Arbeiterklasse zurückzudrängen und zu beschneiden.

Das Rezept ist simpel und funktioniert aufgrund des systematisch herabgesetz­ ten Klassenbewusstseins der Lohnab­ hängigen hervorragend:

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Sozialschmarotzer linke Nichtstuer, reli­ giöse Minderheiten, etc. Diese „Problem­ felder“ werden als Hauptroute des politischen Geschäftes des Landes medi­ al so lange ausgebreitet bis es kein ande­ res Thema mehr gibt. Dann holt man den Zunächst werden Sündenböcke identi­ alten Schlager des Jörg Haider, untoter fiziert, mit denen das „Volk“ abgelenkt Ahnherr des Rechtspopulismus, vom und beschäftigt wird, vorzugsweise Aus­ notwendigen Bürokratieabbau der Privi­ länder, Zuwanderer, Kriminelle aller Art, legienritter in der Sozialversicherung


Klassenkampf 33/2018 hervor und verkauft eine „Reform“ der den Lohnabhängigen gehörenden Selbst­ verwaltung als Rückgabe von Geld an die Patienten. Die Rede ist von einer „Patien­ tenmilliarde“, die durch Streichung von Funktionärsstellen, Zusammenlegungen etc. gespart und den Menschen „zurück­ gegeben“ würde. Diese Fantasiezahl ist mittlerweile durch unterschiedliche Ex­ perten widerlegt. Wahrheit ist vielmehr, dass Mehrkosten verursacht werden, laut Berechnung der AK über 2 Milliarden Eu­ ro! Diese Fakten werden allerdings mit Hilfe des Boulevard beiseite gewischt und es stellt sich die berühmte Frage des cui bono – wem nützt es? Gleich zu Beginn der Regierungstätig­ keit der rechts­reaktionären Türkis­Blau­ en stand der Angriff auf die AUVA als Speerspitze der gesamten Sozialversiche­ rungsreform und hier steht und stand von Anfang an fest, dass es um die Befrie­ digung der insbesondere die ÖVP unter­ stützenden Großunternehmer und Konzerne ging, Paradebeispiel Stefan Pie­ rer von KTM: durch die geplante Senkung der Unternehmensbeiträge zur AUVA fährt er eine Ersparnis von fast einer hal­ ben Million Euro ein – pro Jahr, die Inves­ tition in Sebastian Kurz (436.000 Spende) hat sich rentiert, voll! Nächste Baustelle die sogenannte Re­ form der österreichischen Sozialversi­ cherung/Krankenkassen: Man muss kein marxistischer Ideologe und Rätekommunist sein, um die „Selbst­ verwaltung“ der Sozialversicherung

Innenpolitik durch das Volk zu fordern, dieses Postu­ lat ist Teil der österreichischen Bundes­ verfassung, die den Rahmen für den existierenden bürgerlichen Rechtsstaat abgibt. Aber selbst innerhalb dieses Rahmens greift diese reaktionäre Regierung an und dreht das Verhältnis zwischen Vertretern der Lohnabhängigen und den Kapitalis­ ten so um, dass es zu einer Parität kommt. Dies mit dem Scheinargument, dass die Beiträge zur Sozialversicherung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gleichermaßen erbracht werden. Das ist natürlich nicht so, weil sämtliche Wert­ schöpfung von Unternehmen durch Ar­ beiterInnen erbracht wird und daher jeder Sozialversicherungsbeitrag von diesen einbezahlt wird. Aber selbst unter dem Gesichtspunkt der bürgerlich­kapi­ talistischen Beitragsarithmetik stammen von den „Arbeitgebern“ nicht einmal 1/3 der Gesamteinnahmen der Gebietskran­ kenkassen. Darüber hinaus wird die Selbstverwal­ tung dadurch ausgehebelt, dass mangels Einigung zwischen Kapitalisten und Lohnabhängigen das Sozial­ und Finanz­ ressort entscheidet, womit die Arbeite­ rInnen jedenfalls überstimmt werden können! Auf Basis dieser Machtverschiebun­ gen werden Verschlechterungen und Leistungskürzungen möglich gemacht und umgesetzt werden, WKO und Indus­ triellenvereinigung haben das schon an­ gekündigt: es werden Selbstbehalte

kommen, Leistungen nach unten „harmo­ nisiert“ werden und Versicherte werden ihre Leistungen zunächst selbst bezahlen und dann einreichen müssen, Gesund­ heitseinrichtungen werden privatisiert werden! All das passt ins Konzept der Kapita­ listenklasse, die genau weiß, dass in der Sozialversicherung Milliarden umgesetzt werden, was weckt. Gerade der Gesund­ heitsbereich . Es mag Zufall sein, dass es sich beim derzeitigen Finanzminister um den handelt, oder auch nicht. Fest steht, dass die UNIQA Marktführer in der priva­ ten Krankenversicherung ist. Wo das Herz der „Sozialen Heimatpar­ tei“ als Vertreter des kleinen Mannes in diesem Zusammenhang schlägt zeigt sich am Beispiel der „Privatklinik Währing“, die im Zuge der jetzt durchgezogenen „Reform“ Sozialversicherungsgelder aus dem PRIKRAF (ein Fonds, der private Spi­ täler seit der Regierung Schwarz­Blau I alimentiert) bekommen wird. FP­Führer HC Strache ist mit dem Schönheitschirur­ gen Artur Worseg, Teilhaber an der Pri­ vatklinik Währing, sehr gut befreundet und hat dafür gesorgt, dass der Fonds um 50 Mio. € pro Jahr aufgestockt wird und die Klinik seines „schönen“ Freundes auf Kosten der Sozialversicherten finanziert wird. Diesen Klassenkampf, der uns von den Kapitalisten mit Unterstützung der FPÖ angetragen wird, nehmen wir gerne an und werden an jeder Stelle dagegen antreten!

Hintergrund

Eure Freiheit ist nicht unsere Freiheit! E s war wie in einem schlechten Hollywood­Fílm: Da betritt am 2.10.2018 ein saudi­arabischer Journalist das Konsulat seines Landes im türkischen Istan­ bul, um eine für seine geplante Hochzeit notwendige Formalität zu erledigen. Was unspektakulär klingt, entwickelt sich in den nächsten Tagen zum Krimi. Nachdem Jamal Khashoggi nicht aus dem Konsulat zurück kehrt, verständigt sei­ ne Verlobte die Polizei. Zuerst bestreitet Saudi­Arabien jegliche Verantwortung für das Verschwinden des Medienmannes. Dann steigt jedoch der internationale Druck nach Aufklärung, drohen die USA und die EU mit Sanktionen. Darauf hin räumt Saudi­Arabien ein, dass es zu einer Schlägerei zwischen Ja­ mal Khashoggi und Konsulatsangehöri­ gen gekommen ist, bei der der Journalist getötet worden ist. Später war dann von einem Würgegriff die Rede, der zum Tod geführt haben soll. Ein Tonbandmit­

den des Journalisten zugelassen. Khas­ hoggi musste sterben, weil er Pressefreiheit vor allem für die arabi­ sche Welt forderte, die Politik des saudi­ arabischen Königshauses nicht bedin­ gungslos unterstützte und ihm ein Naheverhältnis zur Muslimbruderschaft nachgesagt wurde. Trotz des vorliegenden Tonbandpro­ schnitt, welcher eine bestialische Folte­ tokolls, obwohl die Leiche Khashoggi´s rung mit anschließender Tötung immer noch verschwunden ist und der Khashoggi´s festhält, soll den ermitteln­ Verdacht nahe liegt, dass Saudi­Arabien den Behörden vorliegen. Eine türkisch­ die Obduktion des Leichnams unbedingt saudiarabische Ermittlungskommission verhindern will, schenkt US­Präsident wurde von den saudischen Behörden erst mehrere Tage nach dem Verschwin­ Weiter auf Seite 9

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Organisation

Termine

Klassenkampf 32/2018

Online­Protest gegen die Repression in der Türkei

Roter Tisch jeweils 19.00 Uhr, ZYPRESSE, Westbahnstraße 35, 1070 Wien Dienstag, 6. November Dienstag, 20. November Dienstag, 4. Dezember

Großdemonstration gegen

Schwarz­Blau Samstag, 15. Dezember, 14:00 U3/U6 Westbahnhof, Christian­Broda­Platz

Sehr geehrter Minister, Wir verfolgen die Verstöße gegen die Arbeiterrechte und die Todesfälle auf der Baustelle des internationalen Großflughafens Istanbul sehr genau. Ihre Regierung trägt in erster Linie die Verantwortung dafür, dass Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz gewährleistet sind, dass die Arbeitnehmer ihre Gehaltszahlungen pünktlich erhalten und dass grundlegende Gewerkschaftsrechte geschützt sind. Ich fordere Sie dringend auf, die notwendigen Schritte zu unternehmen, um sicherzustellen, dass die verhafteten Arbeiter sofort freigelassen werden und diejenigen, die für die Ermordung von Beschäftigten verantwortlich sind, bestraft werden. Der Aufruf kann mit nebenstehendem QR­ Code Online aufgerufen werden!

Links, links, links ... Kollektiv Permanente Revolution und GKK

Mit dem QR­Code direkt zum Archiv unserer Zeitungen, Flugblätter, Schulungstexte und anderer Materialien!

Die Zeitung der GMI, franz. Sektion des CoReP

CoReP / Kollektiv Permanente Revolution

IKC / Internaciema Kolektivista Cirklo (Spanischer Staat)

GMI / Groupe Marxiste Internationaliste (Frankreich)

PD / Patronsuz Dünya (Türkei)

GKK / Gruppe Klassenkampf (Österreich)

TML / Tendencia Marxista Leninista (Brasilien)

www.revolucionpermanente.com 8


Klassenkampf 33/2018

Hintergrund

Österreich. Jüngst bekannt geworden ist die Empfehlung an die Polizeikommissa­ riate für die Benachteiligung einzelner Zeitungen (Falter, Standard, Kurier) durch FPÖ­Innenminister Herbert Kickl. System hat auch die Verunglimpfung kri­ tischer Medien etwa als Lügenpresse durch US­Präsident Donald Trump oder PEGIDA und AfD in Deutschland. Kräftig ausgesiebt wird in den Redaktionsstuben der bürgerlichen Presse. Wer zum wie­ derholten Male Artikel abliefert, die nicht auf Blattlinie liegen, kann seinen Journalistenjob recht rasch los sein. Auch die gezielte Verbreitung von Falschmeldungen (Fake News) unter der Überlegung „etwas wird schon hängen n Wirklichkeit kann nur die größtmögliche bleiben" hat zwecks Meinungsmanipula­ Pressefreiheit günstige Bedingungen für den tion Methode. In unserer „freien westlichen" Welt ist Fortschritt der revolutionären Bewegung in der die „herrschende Meinung immer die Arbeiterklasse schaffen. Meinung der Herrschenden" ­ wie Karl Leo Trotzki, 1938 Marx in der „Deutschen Ideologie" schon das Verhältnis der Artbeiterklasse zur Pressefreiheit treffend sinngemäß feststellte. Mar­ xist_innen verteidigen daher die demo­ kratischen Grundrechte Redefreiheit, Pressefreiheit und Versammlungsfrei­ USA und hat durch seinen Ölreichtum abebben werden. Doch nicht nur in Saudi­Arabien son­ heit, ohne dabei Illusionen in die bürger­ ein großes geopolitisches Gewicht. Die USA hat eine Militärbasis in Saudi­Arabi­ dern auch in der EU werden Journalisten liche, parlamentarische Demokratie en und ist dessen größter Waffenliefe­ durch physische Vernichtung mundtot verbreiten oder gar die Herrschaftsver­ rant. Bei den Militärausgaben hat gemacht. In den letzten 14 Monaten wur­ hältnisse verschleiern zu wollen. Saudi­Arabien 2017 Russland überholt den in verschiedenen EU­Ländern Jour­ und liegt damit weltweit an dritter Stelle nalist_innen ermordet ­ wenngleich nicht alle aus politischen Motiven. Großes hinter den USA und China. Saudi­Arabien ist eine der letzten ab­ Aufsehen erregte im Februar 2018 die Er­ Einer der Schwerpunkte in der soluten Monarchien der Welt. Sein mordung des slowakischen Aufdecker­ neuen Ausgabe der Zeitung unserer Reichtum ist in der brutalen Ausbeutung journalisten Jan Kuclak und dessen Genossinnen und Genossen im Spani­ ausländischer Arbeitskräfte begründet, Verlobter. schen Staat ist die verheerende Woh­ Meist helfen die Herrschenden der durch welche die saudi­arabische Aristo­ nungssituation. kratie den Ölreichtum des Landes in Pro­ „freien" Meinungsbildung anders als mit Wir werden in einer der nächsten fit verwandeln kann. Haushälterinnen, roher Gewalt nach. So wurde im Rahmen Ausgaben des KLASSENKAMPF die vor allem von den Philippinen stam­ der Diskussion um die Politik Saudi­Ara­ darüber berichten. men, werden sklavenartig gehalten und biens bekannt, dass das saudische Kö­ eine Heerschar an sexuell missbraucht. Gewerkschaften nigshaus und politische Parteien sind verboten. Ghostwritern beschäftigt, die ihre Spu­ Saudi­Arabien versteht sich als islami­ ren in den diversen sozialen Netzwerken scher Gottesstaat ­ Hinrichtungen inklu­ hinterlassen. Auch in Österreich be­ sive. „Nicht jeden Freitag wird geköpft", schäftigen politische Parteien und Un­ meinte 2014 die ehemalige ÖVP­Justizmi­ ternehmen Menschen, die im Internet nisterin und damalige stellvertretende die öffentliche Meinung im Sinne ihrer Generalsekretärin des überwiegend von Auftraggeber zu beeinflussen versuchen. Saudi­Arabien finanzierten und laut Ei­ Entgeltliche Einschaltungen in Form von gendefinition unabhängigen König­Ab­ Werbezeiten im Fernsehen bzw. Insera­ ten in Zeitungen und Webseiten führen dullah­Dialogzentrums. Dementsprechend moderat fällt die Re­ oftmals zu positiver Berichterstattung aktion der aktuellen FPÖ­Außenministe­ für den Auftraggeber. Politische Ein­ rin Karin Kneissl auf die Ermordung flussnahme durch Ausnutzung des Er­ für Khashoggis aus. Sie spricht von der Not­ messensspielraums wendigkeit einer umfassenden, glaub­ Presseförderungen ist gelebte Praxis in Donald Trump der saudischen Version von der unabsichtlichen Tötung des Journalisten Glauben. Seine Motive, warum er den Erklärungen des offiziellen Saudi­Arabien glauben will, lässt uns Trump auch gleich wissen: Auch wenn es im Fall Khashoggi „noch einige Fra­ gen" gibt, besteht kein Grund dazu, an bestehenden Geschäften mit Saudi­Ara­ bien im Umfang von 450 Mrd. USD (da­ von 110 Mrd. USD Waffenlieferungen) zu rütteln, an denen 1 Mio. Arbeitsplätze in den USA hängen. Saudi­Arabien gilt seit Jahrzehnten als enger Verbündeter der

würdigen und unabhängigen Untersuchung, erforderlichen Konse­ quenzen, besonders, was die Beziehun­ gen der EU mit Saudi­Arabien anbelangt. Eine Eigeninitiative Kneissl´s zu diplo­ matischen Sanktionen gegen Saudi­Ara­ bien ist nicht zu bemerken. Für die Oppositionskritik am saudischen Dialog­ zentrum KAICIID zeigt Kneissl Verständ­ nis, die Rechtslage werde geprüft. Es ist zu erwarten, dass diese Scheingefechte sowie die Empörung der österreichi­ schen Bundesregierung und der EU über die Ermordung von Khashoggi bald

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Spanischer Staat

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Internationale Solidaritätskampagnen

Klassenkampf 33/2018

China - Arbeitskämpfe in Shenzheng:

Freiheit für Shen Meng Yu! S

eit Mitte Mai 2018 beabsichtigten Arbeiter in der Schweißtechnikfa­ brik JiaShi (Teil des Jasic Technology­ Konzerns) eine Gewerkschaft zu orga­ nisieren, um ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern. Die Fabrik befindet sich in der an Arbeitskämpfen reichen Stadt Shenzheng, einer Nachbarstadt Hongkongs im Süden Chinas. Den Arbeitern zufolge haben sich die Arbeitsbedingungen extrem verschlech­ tert. Gehälter, soziale Sicherheit und Un­ terstützung für die Wohnkosten werden gekürzt. Arbeitsnormen (Produktivität) werden ohne Vereinbarung geändert. Ar­ beiter sagen, das Unternehmen behandle sie „wie Sklaven“ In der Volksrepublik China hat man nur das Recht, eine gewerkschaftliche Tätigkeit innerhalb der offiziellen Ge­ werkschaft auszuüben. Mitte Juli reagiert das Unternehmen JiaShi mit Entlassung und Gewalt gegen die Aktivisten. Auch die Polizei unter­ drückt die Arbeiter und Arbeiterinnen gewaltsam und nimmt Verhaftungen vor. Nach dem langwierigen Arbeitskampf und dessen Unterdrückung verhaftet die Polizei am 27. Juli 29 Arbeiter und Stu­ denten und mißhandelt sie in der Poli­ zeistation. Am 29. Juli lancieren Studierende in ganz China, z. B. an der Pekinger Universität, der Chinesischen Volksuniversität und der Nanjing Univer­ sität einen Aufruf gegen die Unterdrü­ ckung. Aus diesem Grund breitet sich die Bewegung aus. Eine der Führerinnen des Kampfes, Shen Meng Yu hat nach dem Master­Ab­ schluss an der Zhongshan Universität als Beruf den der Arbeiterin gewählt. In der Nacht des 11. August wurde sie von un­ bekannten Männer verschleppt. Man nimmt an, dass man sie verschwinden hat lassen. Diese Bewegung der Arbeiterinnen und Arbeiter ist nicht isoliert, sondern hängt mit vielen Streiks und Bewegun­ gen zusammen, die seit 2000 stattgefun­ den haben, und von 2015 bis heute

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häufiger geworden sind. Erwähnt seien etwa die Streiks bei Honda im Jahr 2010. Dies hängt mit den schlechten Arbeits­ bedingungen der Arbeiterklasse in China zusammen, die sich vor kurzem durch Beschlüsse der Regierung weiter ver­ schlechtert haben.

Gefahren und Perspektiven Solche Bewegungen werden manch­ mal von in China aktiven maoistischen Organisationen unterstützt. Diese sind die einzigen von der chinesischen Regie­ rung tolerierten Oppositionskräfte. Die­ se Opposition findet bei einem Teil der Menschen aus Nostalgie für die Staats­ wirtschaft und für ihre egalitären Prokla­ mationen Widerhall. Aber der Maoismus ist eine Spielart des Stalinismus, eine Verfälschung des Marxismus, die seit 1920 alle Arten von

Kooperationen mit der nationalen Bour­ geoisie im Namen der demokratischen Revolutionen und des antikolonialisti­ schen Kampfes rechtfertigte und welt­ weit gegen die proletarische Revolution handelte. Wir erinnern nur daran, dass Mao wiederholt mit der bürgerlichen und nationalistischen Kuomintang gegen das chinesische Proletariat zusammen­ gearbeitet hat; dass Mao nach seiner Machtergreifung ­ der bürgerliche Staat stürzt gleichzeitig mit den Rückzug der japanischen Besatzungstruppen ­ einen bürokratisch Polizeistaat organisierte, der jenem Stalins in Russland ähnelte, wo, trotz der Enteignung der Bourgeoisie und einer geplanten Wirtschaft, das Pro­ letariat kaum Macht und wenig Rechte hatte. Die chinesische Bürokratie war tat­ sächlich jahrzehntelang im Lager der russischen Bürokratie und der internati­


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Internationale Solidaritätskampagnen

Es ist möglich, dass die „maoisti­ onalen Bourgeoisie und rechtfertigte zahlreiche Entscheidungen gegen das schen“ Organisationen beabsichtigen, Proletariat unter dem Banner des „Mar­ diese beginnende Arbeiterbewegung zu xismus­Leninismus“ und der „Mao­Ze­ kontrollieren, um jene politischen Positi­ dong­Ideen“: die Unterdrückung der onen zurückzuerobern, die sie gegen­ deutschen Arbeiter 1953; die Unterdrü­ über der nun regierenden KP­Fraktion ckung der ungarischen Arbeiter 1956; die verloren haben, oder sich an ihre Spitze Anweisung an die Indonesische KP 1965, zu stellen und die Nützlichkeit ihrer Or­ vor der indonesischen Bourgeoisie zu ganisationen als eine Art „”reformisti­ kapitulieren; der Besuch Nixons wäh­ sche” Partei zu demonstrieren. Aber rend der großen Bombardierungen von noch eine andere Gefahr kann diese Be­ Vietnam, Laos, und Kambodscha 1972, wegung bedrohen: Es könnte sein, dass jemand ein kollaborationistisches Ge­ etc .. Mehr noch: die schreckliche Diktatur, werkschaftertum ähnlich jenem in den die unter der maoistischen Ideologie er­ Vereinigten Staaten, der Europäischen richtet wurde, beschloss im Jahr 1992 Union oder Japan vorschlägt. die Rückkehr Chinas zur internationalen Daher braucht es eine politische und kapitalistischen Wirtschaft, und entrech­ revolutionäre Klassenperspektive, um tete das chinesische Proletariat. Es ver­ solche Gefahren zu vermeiden. fügt über kein Koalitionsrecht, keine Meinungs­, Versammlungs­, und sonstige Aufruf Freiheit, um sich gegen die Ausbeutung zu wehren. Der Maoismus ist also eine Wir unterstützen voll und ganz die der Hauptursachen der gegenwärtigen Tätigkeit der chinesischen Arbeiterin­ Situation in China. nen und Arbeiter und ermutigen sie, sich

unabhängig vom Staat und den Bossen zu organisieren, sich gegen Polizei und Armee zu verteidigen, das Kapital zu enteignen und ihre eigene Macht zu er­ richten: eine Arbeiter­ und Bauernregie­ rung mittels Räten. Wir rufen die Arbeiterorganisationen aller Länder zu materieller und wirksa­ mes Solidarität mit dem Kampf der chi­ nesischen Arbeiterklasse für ihre arbeitsrechtlichen, sozialen und politi­ schen Forderungen gegenüber Staat und Unternehmern zu unterstützen. • Freiheit für Shen Meng Yu und die anderen verhafteten Arbeiterinnen und Arbeiter! • Vorwärts mit der chinesischen Ar­ beiterbewegung! (IKC/Spanischer Staat) Kollektiv Permanente Revolution (CoReP)

Türkei - Repression gegen streikende Bauarbeiter

Widerstand am Flughafen von Istanbul

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ls Reaktion auf schlechte Arbeits­ bedingungen, Arbeitsunfälle und unbezahlte Löhne begann am 14. Sep­ tember 2018 der Widerstand der Arbei­ ter am dritten Flughafen von Istanbul. Der kapitalistische türkische Staat griff diesen Widerstand mit all seinen re­ pressiven Mitteln an. Nach offiziellen Angaben wurden zu­ nächst 578 Personen in Gewahrsam ge­ nommen, 24 Arbeiter und Gewerkschaftsführer festgenommen und 14 Arbeiter unter richterlicher Aufsicht entlassen. Bosse und Polizei untersuch­ ten Hand in Hand alle Überwachungska­ mera­Aufnahmen und als die Arbeiter, die den Widerstand unterstützten, Slo­ gans riefen oder pfiffen, wurden sie iden­ tifiziert und neuerlich Verhaftungen vorgenommen. Die Zahl der Verhafteten ist auf 35 gestiegen. Um den Widerstand zu brechen, wurden Maßnahmen umge­ setzt, die Kriegsgefangenenlagern würdig sind. Alle Arbeiter mussten bei der Di­ rektion ihr Foto zur Identitätsfeststellung abgeben. Vor Beginn der Arbeiten wur­

den Identitätskontrollen und Leibesvisi­ tationen unter Aufsicht der Gendarmen eingeleitet. Arbeiter, die keinen Arbeits­ Identitäsausweis vorweisen können, werden in Polizeigewahrsam genommen. Alle diese Maßnahmen sollen den Wider­ stand brechen und die Arbeiter in Angst und Schrecken versetzen. Das Regime Erdogans befürchtet, dass die Arbeiterklasse angesichts der wachsenden Wirtschaftskrise kämpfen wird. Seine größte Angst ist, dass sich der Widerstand der Arbeiter im ganzen Land ausbreitet. Wenn die Arbeiter selbst nur für die kleinste Forderung kämpfen, stehen sie der Polizei, Gendar­ merie und den Gefängnissen gegenüber. Der Sieg des Widerstands am dritten Flughafen hat das Potenzial, eine wichti­ ge Bresche für den Kampf der Arbeiter zu schlagen. Dieser Widerstand ist je­ doch derzeit blockiert. Um diese Blocka­ de zu durchbrechen, ist Klassensolidarität notwendig. Wir rufen alle Arbeiterorganisationen, alle revoluti­ onären Gruppen, ob in der Türkei oder

im Ausland, dazu auf, sich solidarisch mit dem Kampf der Arbeiter auf dem dritten Flughafen zu zeigen und Stellung gegen den türkischen Staat des Kapitals zu beziehen. • Alle inhaftierten Bauarbeiter müs­ sen bedingungslos und ohne Verurtei­ lung freigelassen werden! • Die Forderungen der Arbeiter am dritten Flughafen müssen erfüllt wer­ den! • Der Druck von Polizei, Gen­ darmen und Unternehmern auf der Baustelle muss aufhören! • Die Freiheit wird durch den Kampf der Arbeiter kommen! • Es lebe die internationale Klassen­ solidarität! 10. Oktober 2018, Patronsuz Dünya / Türkei

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Deutschland

Klassenkampf 33/2018

Deutschland im Herbst 2018:

Zerfall der bürgerlichen Herrschaft – Aufstieg faschistischer Strömungen

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ie Hauptparteien der deutschen Bourgeoisie befinden sich im Niedergang. Die Unionsparteien CDU und CSU kommen bei Wahlumfragen bundesweit nicht mehr über 30%, die CSU in Bayern nicht mehr über 35%. Da trifft es sich gut, dass es die Grünen gibt, die von einem ökologischen Kapitalismus träumen. Bei gemäßigten bürgerlichen Wählern gelten sie schon lange als zulässige Alter­ native. In Bayern können sie bei den liberal­bürgerlichen Wählern auch deshalb punkten, weil es dort keine CDU gibt. Eine CSU­/Grüne­Koalition stellt dort mitt­ lerweile die einzig mögliche Regierung dar. Beide Seiten sind nicht abgeneigt, auch wenn es „schwierig“ wird.

Die CDU­Kanzlerin Angela Merkel hat in diesem Jahr besonders viel an Bedeu­ tung und Einfluss verloren. Der Bundes­ innenminister Seehofer erpresste sie in der Flüchtlingspolitik, dann in der Causa Maaßen (ehemaliger Präsident des Bun­ desverfassungsschutzes). Er stellte öf­ fentlich die im Grundgesetz (Verfassung der Bundesrepublik Deutschland) festge­ schriebene Richtlinienkompetenz der Kanzlerin infrage. Die FDP als wichtiger Vertreter der industriellen Kleinbour­ geoisie fordert die Kanzlerin zum Rück­ tritt auf, die nur noch als Kanzlerin der Großbourgeoisie (Automobilbranche, Banken) wahrgenommen wird. Die CDU­/ CSU­Bundestagsfraktion stellt sich bei der Wahl ihres Vorsitzenden gegen den öffentlich von der Kanzlerin unterstütz­ ten langjährigen Vertrauten, Volker Kau­ der. Der Kandidat der in der CDU/CSU organisierten Kleinbourgeoisie gewinnt, ohne sich öffentlich gegen die Politik Merkels positionieren zu müssen. Nur dank der SPD bleibt die Große Koalition erhalten. Bundesweit verfügt sie schon nicht mehr über eine Mehr­ heit. Nur eine Jamaika­Koalition aus CDU/ CSU, Grünen und FDP kommt bei Umfra­ gen permanent auf 50 bis 51 Prozent. Das Hin und Her in der Causa Maaßen (erst Beförderung, dann Schaffung einer neuen Abteilung für ihn im Bundesinnen­ ministerium) hat nicht nur der CDU/CSU und ihrem Spitzenpersonal geschadet, sondern auch der SPD und ihrer Vorsit­ zenden, Andrea Nahles. Nur durch mas­ sive Proteste seitens der SPD­Linken (Bayern, Schleswig­Holstein, Nordrhein­ Westfalen, Bremen und JUSOS) sah sich

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Nahles gezwungen, die Beförderung Maaßens zum Staatssekretär und der da­ mit verbundenen Entlassung des bisheri­ gen SPD­Amtsinhabers noch einmal zur Disposition zu stellen („Wir haben uns geirrt.“). Bei den Wahlumfragen befindet sich die SPD im freien Fall und liegt in Bayern hinter Grünen und AfD. Bundes­ weit liegen SPD und AfD mit 17% derzeit gleichauf, bei der SPD mit stetig fallen­ der Tendenz.

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ie bürgerliche Arbei‐ terpartei SPD hat sich dermaßen weit von ihrer Klientel entfernt, dass sie selbst mit etwas sozialerem Anstrich nicht mehr als Hoff‐ nungsträgerin wahrge‐ nommen wird.

Dagegen befindet sich die AfD im Auf­ wind. Bei Umfragen steigt ihr Stimmen­ anteil ungebrochen weiter an (derzeit bei 17%). Gestützt auf die außerparla­ mentarische Pegida und die Faschisten, wächst sie zu einer parlamentarischen „Volkspartei“ heran, sowohl in Ost­ deutschland (ehemalige DDR bis 1990) als auch in Westdeutschland (alte BRD bis 1990). Selbst CDU­Führungskräfte grenzen sich, wie in Sachsen und Thürin­ gen, nicht mehr von dieser Partei aus Biedermann und Brandstifter (so auch der Titel eines Dramas des Schweizer Schriftstellers Max Frisch über den Auf­ stieg der deutschen Nationalsozialisten)

ab. Faschisten sehen sich schon seit Jah­ ren darin ermutigt, „freie Gebiete“ auszu­ rufen, Parteilokale von DIE LINKE und der SPD anzugreifen, lokale bekannte Parteimitglieder von DIE LINKE und SPD auch körperlich anzugreifen, SPD­Bür­ germeister durch permanente Drohkam­ pagnen im Internet zum Rücktritt zu bringen, Flüchtlingsheime anzugreifen und anzuzünden, Konzerte faschisti­ scher Bands für Massendemonstrationen und Organisationstreffen zu nutzen, Kon­ flikte zwischen Deutschen und Flüchtlin­ gen (mit Todesfolge von Deutschen) zu instrumentalisieren für Aufmärsche und Verfolgung von Nichtdeutschen (Chem­ nitz, Köthen; aber auch in Westdeutsch­ land!). Auch in Dortmund und anderen Städten des Ruhrgebiets machen sie sich zunehmend in sozial ausgegrenzten Stadtteilen breit und treten offen auf. „Chemnitz“ ist nicht Ausdruck einer neu­ en Qualität faschistischer Auftritte. So und ähnlich ist es in den letzten Jahren immer wieder vorgekommen, wenn auch in Ostdeutschland stärker als in West­ deutschland. Vergessen wir nicht: die führenden Faschisten Ostdeutschlands, wie z.B. Höcke, kommen aus West­ deutschland. In Sachsen wird die CDU, wenn über­ haupt, nach den Landtagswahlen im Sep­ tember 2019 nur mit Hilfe der AfD die Regierung bilden können. Derzeit liegt sie dort bei 30%, die AfD schon bei 25%. Viele Wähler*innen in Ostdeutschland sind von der Partei DIE LINKE zur AfD abgewandert. DIE LINKE kann von dem Zerfall der SPD kaum profitieren. Zuwächse bei Wahlen sind eher bisherigen Nichtwäh­ lern oder, zum kleineren Teil, ehemaligen Grünen­Wählern zu verdanken. Während sie jedoch in Ostdeutschland in einigen Regionen schon wieder Stimmen ver­ liert, kann sie in Westdeutschland noch leicht dazu gewinnen. Doch bundesweit liegt ihr Potenzial nur bei etwa 10 bis 12 Prozent. DIE LINKE zeichnet sich durch eine


Klassenkampf 33/2018 eklatante Führungsschwäche aus. Ver­ schiedene Strömungen kämpfen von Be­ ginn ihrer Existenz an gegeneinander um Einfluss auf die Parteistrukturen, tat­ sächliche inhaltliche Differenzen zwi­ schen diesen Strömungen sind oft nicht wirklich zu erkennen. Die Führung der Partei versucht, den einzelnen Stimmun­ gen in der Partei nachzugeben, statt in­ haltlich klare Orientierungen zu geben. Sie sucht beständig den kleinsten ge­ meinsamen Nenner zwischen diesen Strömungen (klassische sozialdemokra­ tische Politik unter dem Schlagwort „de­ mokratischer Sozialismus“) nach außen zu vertreten und träumt davon, dass die GroKo­Gegner in der SPD zur Partei DIE LINKE überlaufen. In der Kritik an der herrschenden Politik und den Achter­ bahnfahrten der GroKo findet sie keine deutliche Sprache und fällt weit hinter die AfD zurück. Dem Treiben von Sahra Wagenknecht und Co. wird tatenlos zugesehen. Sie darf ihr Projekt ungestraft durchziehen, obwohl es eines Tages die Partei DIE LINKE in ihrer Existenz bedrohen kann (Auseinanderfallen in ihre diversen Strö­ mungsbestandteile und deren möglicher Vereinigung mit der „Bewegung ‚aufste­ hen‘“). Die von Wagenknecht (Co­Vorsitzende der LINKE­Bundestagsfraktion), Oskar Lafontaine und anderen initiierte links­ bonapartistische „Bewegung ‚aufste­ hen‘“ befindet sich dagegen in einem stürmischen Wachstumsprozess. Es ist ihnen gelungen, Teile der SPD­Linken, darunter auch Prominenz, unzufriedene Grüne und LINKE­Mitglieder für ein ge­ meinsames Projekt zu gewinnen. Ihr Credo lautet: „Es darf nicht mehr an den Interessen und Bedürfnissen der Mehrheit vorbei regiert werden. Wir ver­ wandeln eure Stimme wieder in echten politischen Einfluss. Die Wirtschaft muss auf den Menschen ausgerichtet sein! Nicht auf den maximalen Profit!“ In aktuellen Facebook­Debatten wird schon über die Notwendigkeit der Grün­ dung einer neuen Partei gestritten, ob­ wohl dies explizit nicht das Ziel von „aufstehen“ sein soll. Ebenso wird eine Koalitionsperspektive aus SPD, DIE LIN­ KE und Grünen verworfen. Vielmehr soll den von der herrschenden Politik und ihren Parteien Enttäuschten ein Forum gegeben werden, mit dem sie wieder ihren Stimmen Gehör verschaffen könn­

Deutschland ten. Weit über 100.000 sollen bisher der „Bewegung ‚aufstehen‘“ beigetreten sein. Erste Treffen und Kongresse finden im Oktober 2018 statt. Alle diese Entwicklungen im politi­ schen „Überbau“ zeigen: Die Glaubwür­ digkeit des kapitalistischen Systems hat enorm gelitten. Die Menschen vertrauen nicht länger auf die angeblichen Selbst­ heilungskräfte „des Marktes“. Der Erosi­ onsprozess des bürgerlichen Herrschaftssystems „parlamentarische Demokratie“ drückt sich in diesen Ten­

nen Job. Über 32,5 Millionen zahlen in die sozialen Sicherungssysteme ein. Sie erwerben sich damit einen Rentenan­ spruch, im Gegensatz zu den fast 12 Mil­ lionen anderen, die nicht einzahlen. In den letzten 10 Jahren sind über 5 Millio­ nen Arbeitsplätze dazugekommen. Das Handwerk brummt. Händeringend wer­ den Facharbeitskräfte gesucht. Aufträge bleiben liegen. Die Arbeitslosenzahl sank auf unter 2,4 Millionen. Laut der staatli­ chen Arbeitsagentur für Arbeit gibt es 7,5 Millionen Minijobber. Diese zählen

Die „nationalrevolutionäre" NPD­Abspaltung III. Weg gibt sich betont antikapitalistisch

denzen aus. In Deutschland wird – noch ­ offiziell bestritten, dass sich „die Wirt­ schaft“ in einer Krise befindet. Sie befin­ det sich, wie auch die Weltwirtschaft insgesamt, am Ende einer langen Boom­ phase, die mit dem „deficit spending“ des internationalen Finanzkapitals durch nationale und supranationale staatliche Institutionen 2007/2008 ausgelöst wurde und bis heute aufrecht erhalten wird. Die deutsche und internationale Bour­ geoisie in den imperialistischen Staaten profitiert davon sehr. Die Arbeiterklasse muss sich, wenn überhaupt, mit Brotkru­ men zufrieden geben. Lohnerhöhungen fallen äußerst moderat aus und werden über 2 Jahre verteilt. Die Gewerkschafts­ führungen, wie „links“ sie sich auch ge­ ben mögen, machen damit einmal mehr klar: Das Schicksal des Kapitals ist ihnen näher als das der Arbeiter und Ange­ stellten. Die Lage der Arbeiterklasse in Deutschland scheint so gut zu sein wie nie zuvor: über 44,45 Millionen haben ei­

nicht als arbeitslos. Doch nur die We­ nigsten von ihnen können auf den Job verzichten. Sie brauchen ihn zum Über­ leben. Vielfach müssen 3 bis 4 Minijobs den Lebensunterhalt sichern. Mehr als 1 Million alleinerziehender Mütter sind in solchen Jobs aktiv. Die Massenarmut wird systemisch. Die Mehrheit der 21 Millionen Rentnerinnen und Rentner be­ kommen weniger als 1000 Euro im Mo­ nat, die meisten von ihnen weniger als 800 Euro. Damit liegen sie unter dem Ein­ kommen, das nicht gepfändet werden darf (ca. 1.134 Euro). Geht es nach dem steuerlichen Grundfreibetrag, sollen 750 Euro monatlich für eine Einzelperson rei­ chen. Die Kleinbourgeoisie und die Arbeite­ raristokratie leiden verstärkt unter der Last der Steuerprogression. Über 50% ei­ IMPRESSUM: Eigentümer, Herausgeber, Verleger, Druck: Gruppe Klassenkampf. Druckort: Wien. Offenlegung nach §25 Mediengesetz: 100%Eigentümer der periodischen Druckschrift KLASSENKAMPF ist die im Parteienverzeichnis registrierte politische Partei GRUPPE KLASSENKAMPF (früher: Trotzkistische Gruppe Österreichs/TGÖ). Die Partei ist an keinen anderen Medienunternehmen finanziell beteiligt.

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Deutschland

nes verdienten Euros sind schon für Steuern und Abgaben auszugeben. Milli­ onen wissen heute schon: Im Alter wer­ den sie arm sein. Während politisch alles getan wird, um die Profite des Kapitals zu hegen und zu pflegen, selbst um den Preis des Ver­ lustes der eigenen Glaubwürdigkeit, wie jetzt wieder mit der Übereinkunft zur Beilegung des Diesel­Skandals zwischen „der Politik“ und „der Wirtschaft“ ge­ schehen, läuft den ehemaligen „Volks­ parteien“ ihre Klientel davon. Wenn auch manche noch auf eine Umkehr hoffen: Alle Analysen und Stimmungsbarometer (Umfragen) sagen etwas anderes. Die So­ zialdemokraten der SPD mussten in den letzten 20 Jahren sehr stark darunter lei­ den, wie fast überall in Europa.

Heil in der nationalen Abschottung ge­ Faschisten. Doch von einem revolutionä­ genüber allem Fremden, Unbekannten, ren Verständnis einer Einheitsfrontpoli­ nicht Kalkulierbaren. Angst wird zur tik kann leider nicht die Rede sein. Triebfeder der Politik und öffnet der Ma­ Auch die selbsternannte „Bewegung nipulierbarkeit Tür und Tor. Die sicher ‚aufstehen‘“ stellt keine solche Kraft dar. geglaubten Lebensverhältnisse der Ein­ Vom Selbstverständnis her sind die Ein­ zelnen werden durch die umfassende getragenen „links“ und spiegeln damit Krise des Kapitalismus wieder einmal ihre politische Herkunft aus SPD, DIE grundlegend in Frage gestellt. „Sicher­ LINKE und Grünen (viele grüne „Linke“ heit“ und „Heimat“ werden wieder zu sind dabei) wider. Aber noch mangelt es Worten, die die öffentlichen Debatten ihr vor allem an politisch einvernehm­ beherrschen. „Wir holen uns unser Land lich entwickelten Inhalten und Zielset­ zurück!“ ist der Kampfruf von AfD­Führer zungen. Eine organisierte Kraft ist sie Gauland beim Einzug in den Bundestag noch lange nicht. gewesen. Darin steckt alles, bis hin zur Auch die sich auf die revolutionäre Vertreibung und Vernichtung alles Arbeiterbewegung berufenden Organisa­ „Nichtdeutschen“. tionen wie Gruppe Arbeiter*innenmacht Historische Vergleiche mit der Zeit (Liga für die 5. Internationale), SAV (Sozi­ der Weimarer Republik verbieten sich. alistische Alternative Voran; Mitglied des Die organisierte Arbeiterbewegung (Par­ Committee for a Workers International teien und teilweise auch die Gewerk­ (CWI) und ISO (Internationale Sozialisti­ schaften) ist nur mehr ein Schatten ihrer sche Organisation; VS der IV. Internatio­ selbst. Sie hat fast jeglichen mobilisie­ nale) propagieren nicht die rungsfähigen Masseneinfluss verloren. Notwendigkeit einer Arbeitereinheits­ Streiks finden zu bestimmten Themen front aus SPD, DIE LINKE, den Gewerk­ noch in bestimmten Branchen statt. In­ schaften und anderen Organisationen teressant dabei ist, dass sich meist die der Arbeiterbewegung wie die AWO (Ar­ Nicht­DGB­Gewerkschaften als klassen­ beiterwohlfahrt) zur Abwehr der jetzi­ kämpferischer zeigen als die von der So­ gen und kommenden Angriffe auf die zialdemokratie, Reformisten der Partei Arbeiterklasse. Was ihr, der Arbeiterklas­ DIE LINKE und den Grünen beeinflussten se, nach den historischen Niederlagen DGB­Gewerkschaften. des letzten und auch schon dieses Jahr­ hunderts fehlt, ist ein Träger des Kamp­ ie damals, und auch fes für die Verwirklichung ihrer historischen Interessen. heute, notwendige Die Ablösung der kapitalistischen Pro­ Einheitsfront zur Vertei‐ duktionsweise durch eine sozialistische, digung der Arbeiterklas‐ die Ablösung der bürgerlichen Herr­ se gegen die schaft durch die des Proletariats bis hin zur freien Assoziation von Produzenten bürgerlichen und fa‐ schistischen Angriffe auf und Konsumenten, kann nur gelingen durch den gemeinsamen Aufbau einer ihre Organisationen wird Einheitsfront gegen die permanenten An­ bisher von keiner bedeu‐ griffe des Kapitals und seiner faschisti­ tenderen Organisation schen Hilfstruppen, durch die Herausbildung einer neuen revolutionä­ der deutschen Arbeiter‐ ren Arbeiterpartei! bewegung formuliert.

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an kann den Men‐ schen im Kapitalis‐ mus eben nicht sagen: „Wir machen das für Euch. Wir machen den Kapitalismus besser. Wir bändigen ihn. Wir brin‐ gen Euch die soziale Ge‐ rechtigkeit.“

Und zur selben Zeit merken die Men­ schen tagtäglich, wie sie immer weniger in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt zu sichern und sich sichere Lebens­ grundlagen zu erarbeiten. Das Gefühl verallgemeinert sich: In diesem Staat wird sich nichts mehr ändern. Nicht mit den bisher führenden politischen Partei­ en. Das Bedürfnis nach einem grundle­ genden Wandel nimmt drastisch zu. Bisher hat davon vor allem die AfD profitiert. Denn wie immer, wenn sich der Kapitalismus in einer existentiellen Krise befindet, die er nur durch massive Angriffe auf die bisherigen Errungen­ schaften der Arbeiterklasse aller Länder versuchen kann zu lösen, einschließlich der physischen Vernichtung durch Krie­ ge, bringt die Verschlechterung der Le­ bensverhältnisse über Jahre hinweg rechtskonservative bis faschistische Strömungen hervor. Angeblich liegt das

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Am ehesten kann dies noch, mit viel gutem Willen, der LINKEN zu Gute gehal­ ten werden. Sie ruft dazu auf, sich über­ all und auf allen Ebenen mit anderen zusammenzuschließen gegen die Angrif­ fe auf die Lebensgrundlagen und die der

Kontakt: gruppe.klassenkampf@gmail.com Die Gruppe Klassenkampf im Internet: www.klassenkampf.net 14


Klassenkampf 33/2018

Brasilien

Brasilien - vor und nach den Wahlen

Für einen nationalen Kongress der Arbeiterdelegierten

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er folgende Artikel wurde von unseren Genossinnen und Genossen der Tendência Marxista Leninista (TML) in Brasilien vor dem 1. Wahlgang der Präsidentschaftswahlen am 6. Oktober veröffentlicht. In der ersten Runde erreichte der reaktionäre, mit faschistischen Sprüchen angetretene vereinigte Kandidat der Bourgeoisie Bolsonaro 46,03 % der Stimmen, während der von der Arbeiterpartei PT aufgestellte Kandidat Haddad nur 29,28 % erhielt. Die PT kandidierte als Block mit der Kommunistischen Partei und einer kleinen bürgerlichen Partei, PROS, in einem Volksfrontbündnis. Damit beschäftigst sich der zweite Artikel.

Der sogenannte „Feldzug des Juni 2013“ ging aus einer studentischen Be­ wegung hervor, durch die Initiative für Freifahrscheine (Movimento Passe Lib­ re), die alle Jahre um die ein­ bis zweit­ ausend Jugendliche mobilisierte. Jedoch gab es im Jahr 2013 eine star­ ke Repression der PSDB­Provinzregie­ rung (Partido da Social Democracia Brasileira, Partei der brasilianischen So­ zialdemokratie, mitte­rechts) von Sao Paulo unter Geraldo Alckmin, der auf die Unterstützung des PT­Bürgermeisters (Partido dos Trabalhadores, Partei der Arbeiter, gemäßigt links) Fernando Had­ dad zählen konnte. Die Bewegung wurde von den bürger­ lichen Medien scharf attackiert, die Stu­ denten als Aufwiegler und Vandalen bezeichnet, insbesondere der Schwarze Block. Ausgehend von der Unterdrückung nahm die Bewegung immer größere Aus­ maße an, tausende Demonstranten gin­ gen auf die Straßen gegen die Provinz­ und Stadtregierungen, und später gegen die Bundesregierung der Präsidentin Dil­ ma Rousseff von der PT. Die Bourgeoisie und die großen Medi­ en, welche die Bewegung attackierten, änderten ihre Richtung und gingen dazu über, sich ihr anzubiedern und sie sogar zu lenken, indem sie die Mittelklasse und das Kleinbürgertum insbesondere gegen die PT mobilisierten. So nahm die Bewegung eine reaktio­ näre Richtung, weil sie von einer bürger­ lichen und proimperialistischen Führung gekapert wurde, und wurde zur Bewe­ gung für die Amtsenthebung, für den

Staatsstreich gegen Präsidentin Dilma von der PT. Das Bürgertum und der Imperialismus hissten die alten Fahnen aus der Zeit der UDN (Unión Democrática Nacional, Nati­ onale Demokratische Union, rechts, anti­ kommunistisch) von Carlos Lacerda gegen Getúilo und gegen Joao Goulart,

so del Mensalao“ (Bestechungsgeldpro­ zess) im Obersten Bundesgericht der Putschisten, und seiner Weiterentwick­ lung, der Operation Lava Jato (Operation Waschanlage), beide von der CIA konzi­ piert, um die PT und die Gesamtheit de Arbeiter­ und Volksbewegung anzugrei­ fen. Hinter der politischen Krise stand die Wirtschaftskrise, die in Brasilien etwas verspätet ausbrach. Das Land lebte vom Rohstoffboom imperialistischer Länder, als 2008 die Krise, insbesondere in den USA, mit ihrer ganzen Wucht herein­ brach und klar wurde, dass es sich nicht um eine kleine Rezession handelte. Die Entwicklung der Putschbewegung traf die PT auf Grund der opportuni­

Nach wie vor genießt der historische Führer der PT, Lula, die Sympathie der Massen.

als wäre es etwas Neues: Kampf gegen schen Ausrichtung der Partei, die schon Korruption, McCarthyismus, Liberalis­ mit dem Ausschluss der Parteilinken An­ fang der 90er Jahre [des vorigen Jahr­ mus, Strafjustiz, etc. So beklagten sie überhöhte Rechnun­ hunderts] offen zu Tage trat, politisch gen bei den Stadionarbeiten für die Fuß­ völlig wehrlos. Dieses Vorgehen sollte Al­ ballweltmeisterschaft und die lianzen mit den bürgerlichen Parteien Olympischen Spiele 2014 und 2016, wo­ wie PDT, PSB und sogar den Parteien aus bei sie auch die brasilianischen Ver­ der Militärdiktatur wie PMDB, PSDB und DEM und die Beteiligung am sogenann­ tragsunternehmen angriffen. Das ging ursprünglich auf den „Proce­ ten „Koalitions­Präsidentialismus“ er­

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Brasilien

„Permanente Revolution“, die Zeitung der TML

möglichen. Das gipfelte im “Brief an die Brasilianer” von 2002, um „den Markt“, d. h. die proimperialistische Bourgeoisie, zu beruhigen und eine Vereinbarung mit ihr zu ermöglichen und um Lula den Weg ins Präsidentenamt zu bahnen. Die PT begann, die politische Schu­ lung der Basis zu vernachlässigen und zeitgleich mit Lula eine entpolitisierte Sprache zu führen, indem klar einer Poli­ tik der Versöhnung und der Klassenkol­ laboration das Wort geredet wurde, damit „alle gewinnen“, „regieren für alle Brasilianer“, etc. An der Regierung versuchte die PT immer mehr den bürgerlichen Staat zu verwalten, indem die begrenzten Sozial­ programme, die seit Fernando Henrique Cardoso eingerichtet waren, nur mit we­ nigen kosmetischen und propagandisti­ schen Änderungen weitergeführt wurden, und neue mit einem im Wesent­ lichen reformistischen Charakter ange­ passt wurden. Mit der Annahme der Sozialprogram­ me begann Lula immer wieder zu wieder­ holen, dass nun in Brasilien „der Arme mit dem Flugzeug reisen werde“, „der Ar­ me die Universität besuchen werde“ und dass „die Reichen und Banken unter sei­ ner Regierung niemals soviel Geld ver­ dienen werden“. Mit diesem Diskurs erreichte Lula zwei Mal die Wahl von Dilma Rousseff.

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Jedoch übernahmen die Bourgeoisie und der Imperialismus in der zweiten Amts­ zeit Dilmas mit dem Auftauchen der ver­ zögerten Wirtschaftskrise in Brasilien und in Ausnutzung der Krise vom Juni 2013 eine Putschpolitik mit dem Ziel, die PT­Regierung zu ersetzen. Denn aus Sicht der Bourgeoisie war mit dem Rück­ gang der Profitrate das Aufrechterhalten einer PT­Regierung nicht mehr tragbar, da diese trotz ihrer begrenzten Refor­ men und ihrer Politik der Klassenver­ söhnung, bis hin zur Verabschiedung des reaktionären “Anti­Terrorismus­Ge­ setzes” zu teuer kam. So war aus bürgerlicher und imperia­ listischer Sicht die Rekolonialisierung Brasiliens notwendig, und damit die Rü­ cknahme von Arbeitsrechten und der Sozialversicherung der Arbeitenden, um sie durch die „Arbeitsreform“, die „Sozi­ alversicherungsreform“ die PEC (“Ver­ fassungsänderung bis zum Ende der Welt” (!!!) (= das Verbot, die öffentlichen Ausgaben in den nächsten 20 Jahren zu erhöhen), Präkarisierung, Outsourcing, Arbeitslosigkeit in Verbindung mit ge­ stiegener Repression, massiver Steige­ rung der Inhaftierungen, der Ermordung armer Bauern, die Auslöschung der ar­ men und schwarzen Bevölkerung am Rand der Städte und die Ausrottung der indigenen Völker zu ersetzen. Also erreichten das Bürgertum und der Imperialismus mit der Aktivierung der Justiz als Speerspitze und dem Nati­ onalkongress die Absetzung der Präsi­ dentin Dilma Rousseff, während die PT­Führung keine weitere Reaktion her­ vorbrachte als Debatten im Parlament, sozusagen den Kampf im Wesentlichen auf die parlamentarische Ebene redu­ zierte. An Konkretem gab es als direkte Aktion nur den spontanen und instinkti­ ven Widerstand der Massen, wie die Zu­ rückweisung des Putschregimes zeigt. Nicht zu vergessen, dass sich ein Teil der kleinbürgerlichen Linken hinter die Putschisten stellte, wie die Gruppe „Foro todos“ (Alle Raus) und die morenisti­ sche PSTU (Partido Socialista dos Tra­ balhadores Unificados, Sozialistische Partei der vereinten Arbeiter), die sich nach dem Putsch in drei Teile spaltete. Der Putsch ging nach dem „Impeach­ ment“ mit der Annahme der „Arbeitsre­ form“ und dem “PEC zum Ende der Welt” weiter, kam aber gleich ins Schleudern, da die „Reform der Sozialversicherung“

Klassenkampf 33/2018 nicht umgesetzt werden konnte, wohl wegen der Militärs, die einige wichtige Posten, darunter auch Minister, in der Putschregierung übernommen haben. In Río de Janeiro kam es zu einer Militärin­ tervention seit den olympischen Spielen 2016, die eine Explosion der Gewalt mit tausenden Toten auslöste. Obwohl es weder eine revolutionäre Arbeiterpartei noch eine revolutionäre Führung gibt, leisten die Massen den­ noch weiter spontanen und instinktiven Widerstand. Ein Ausdruck davon ist die Zurückweisung der Putschisten, wie die Meinungsumfragen zeigen. Dieser Wider­ stand richtet sich auch gegen die jetzi­ gen bürokratischen und verräterischen Führungen der Arbeiter­ und Volksbewe­ gung, der Gewerkschaftsverbände, die die Vorbereitung und Organisation eines Generalstreiks auf unbestimmte Zeit hin­ auszögern, denn sie wissen, dass dieser einen aufständischen Charakter gegen die Putschistenregierung annehmen könnte. Andererseits kommen die Präsiden­ tenwahlen im Oktober immer näher und die Kandidaten der Bourgeoisie können nicht abheben, was den Wahlprozess als Ausweg aus der Krise des kapitalisti­ schen Systems und für das Putschisten­ regime lahmlegt. Die Bourgeoisie ist verzweifelt, findet aber keinen anderen Ausweg als sich auf das Militär zu stüt­ zen. Die Wahlen, wenn sie durchgeführt werden, könnten noch antidemokrati­ scher, betrügerischer und blutiger sein als die Gemeindewahlen von 2016 mit 45 Attentaten und 26 Toten. Bisher war die Justiz die Speerspitze des Putsches, inklusive der Verhinde­ rung der populärsten Kandidatur, jener von Lula, durch dessen politisch begrün­ dete Haftstrafe, die das Ergebnis einer vom CIA orchestrierten juristischen Far­ ce genannt “Operacao Lava Jato” (Ope­ ration Waschanlage) war. Die PT hält an der Kandidatur von Lu­ la fest, was einen weiterer destabilisie­ render Faktor des Putschregimes darstellt. Aber es gibt Teile der Partei, die die Unterstützung des bürgerlichen Kandidaten und Exmitglieds des Auf­ sichtsrates der nationalen Eisen­ und Stahlgesellschaft, Oberst Ciro Gomes, aufrechterhalten, eines Opportunisten, der bereits durch alle Parteien ging, in­ klusive der PSDB. Diese Tatsache kün­


Klassenkampf 33/2018 digt eine baldige Spaltung der PT an. Andererseits ist nicht auszuschließen, dass im Falle einer Massenradikalisie­ rung, die durch die politische und wirt­ schaftliche Krise ausgelöst werden könnte, da sich diese der Instrumente bedienen könnten, die sie zur Hand ha­ ben. Wie man in Brasilien sagt: „Wenn du nicht bekommst, was du willst, nimm, was da ist!“ (= “Besser der Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach”). Die Rolle, welche die Justiz heute spielt, lässt sich nicht lange aufrecht er­ halten. Die politische und ökonomische Krise verschärft sich von Tag zu Tag. Der Dollar schießt in die Höhe und erreicht um die R$ 4,00, die Börse sackt ab (­ 3 %) und die Inflation beschleunigt sich (+ 0,4 % im Mai). Früher oder später muss das jetzige Putschregime von einer neuen Regierung ersetzt werden, wahrschein­ lich vom Typ einer bonapartistischen Diktatur, die den Ausgleich zwischen den sozialen Klassen suchen wird. Oder sie

wird mittels einer proletarischen Revo­ lution durch eine revolutionäre Arbeiter­ und Bauernregierung ersetzt. Ausgehend von dieser Perspektive befürwortet die TML die Durchführung eines Kongresses der Arbeiterklasse in Sao Paulo mit Basisdelegierten aus allen Bundesstaaten, um ein Kampfprogramm zu diskutieren: • für die unmittelbare Freilassung der politischen Gefangenen, wie Lula, Zé Dirceu, Joao Vaccari, Delúbio Soares; • für die gleitende Lohnskala, mit Anpassungen und Erhöhungen ge­ mäß den Zahlen der DIESE (Natio­ nales Statistikinstitut); • für Reduzierung der Wochenar­ beitszeit auf 35 Stunden bei vollem Lohnausgleich; • die Annulierung der „Arbeitsre­ form“;

Brasilien

• gegen die „Reform der Sozialversi­ cherung“, gegen das Ende der Pensionen und der Ansprüche aus der Sozialversicherung; • für die Zurücknahme des “PEC zum Ende der Welt”, das mittlerweile bereits Gesetzeskraft hat; • einen Arbeitslosenfond, zu dem die beschäftigten Arbeiter 0,5 % des Monatsgehaltes beitragen; • die Enteignung der Produktions­ mittel: Fabriken, Banken, Universi­ täten, Schulen; • die Agrarreform und –revolution, Enteignung der Latifundien (Groß­ grundbesitz); • die Vertreibung des Imperialismus; • für Außenhandelsmonopol und Planwirtschaft, in Richtung auf ei­ ne Arbeiter­ und Bauernregierung. 8. September 2018

NA C WA H DE N HL EN

Nicht lachen, nicht weinen, sondern verstehen und die Selbstverteidigung organisieren

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er faschistische Präsidentschafts­ kandidat hat die antidemokrati­ sche, betrügerische und gewalttätige Wahl gewonnen. Wie uns der niederländische Philo­ soph Baruch Spinoza gelehrt hat, ist jetzt nicht die Zeit zu lachen oder zu wei­ nen, sondern zu verstehen. Und wir er­ gänzen: um die Selbstverteidigung zu organisieren. Die Arbeiterklasse und die unter­ drückte nationale Mehrheit können jetzt noch schärfer angegriffen werden. Sie haben schon die im Arbeitsrecht ver­ bürgten Rechte verloren, leiden unter Prekarisierung und Outsourcing, Skla­ venarbeit, der Arbeitslosigkeit von fast 30 Millionen Arbeiterinnen und Arbei­ tern, an Masseninhaftierungen, dem Ge­ nozid an den Armen und Schwarzen an den Rändern der Großstädte, den Mor­ den an armen Bauern auf dem Land, der Vernichtung der indigenen Völker, den

Verhaftungen von Kämpfern der Arbei­ ter­ und Volksbewegung, usw. Auch Ren­ tenansprüche und Ruhestandsre­ gelungen können bald abgeschafft wer­ den. Die revolutionären Marxisten setzen den Kampf gegen den Faschismus fort, weil er ein Instrument des Finanzkapitals ist (man muss nur beobachten, wie die Fortschritte des faschistischen Kandida­ ten die Kurse an der Börse steigen und den Dollar fallen ließen, da der „Markt“ auf die Überausbeutung und Unter­ drückung der Arbeiter setzt) und war­ nen zugleich, dass die Faschisten normalerweise friedlich die Macht über­ nehmen, wie historische Beispiele zei­ gen. Das geschah mit Adolf Hitler in Deutschland im Jahre 1933, als er von Reichspräsident Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt wurde und es geschah später hier in unserer Nähe, in Chile im Jahr 1973, als der faschisti­

sche General Augusto Pinochet von Prä­ sident Salvador Allende zum Oberbefehlshaber der Armee ernannt wurde. Das heißt, sie geben vor, "fried­ lich" zu sein , als ob sie nichts anderes im Sinn hätten, und beginnen dann, wie die Geschichte gezeigt hat, die Barbarei zu fördern, so wie es mit Brasilien ge­ schehen könnte. Aber noch ist nicht alles verloren, wie Leo Trotzki uns gelehrt hat. „Es kommt vor, und zwar nicht selten, dass einzelne Leute ihr Vermögen und sogar die sogenannte Ehre nach den konventio­ nellen Regeln des Kartenspiels verspielen; aber die Klassen erklären sich niemals bereit, Vermögen, Macht und ‘Ehre’" nach den konventionellen Spielregeln des ‘de­ mokratischen' Parlamentarismus zu ver­ spielen. Sie entscheiden diese Frage immer ernsthaft, d. h. in Abhängigkeit von dem wirklichen Verhältnis der materiellen Kräfte und nicht ihrer halbillusorischen

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Internationaler Klassenkampf

Widerspiegelung." (Leo Trotzki, Zwischen Imperialismus und Revolution, 1922). Wir müssen die Lektion lernen: Die re­ formistische Politik der Versöhnung und Klassenzusammenarbeit der gegenwärti­ gen Führungen der Arbeiter­ und Volks­ bewegung bereitet nur den Boden für die Reaktion auf. Der Kapitalismus kann nicht reformiert werden. Die minimalen Reformen, die erreicht wurden, werden bald zurückgenommen werden. Die im­ perialistische Epoche ist die der Reakti­ on auf der ganzen Linie. Die

Schulen, Universitäten ...), ohne aber je­ mals zu vergessen, dass die bestehenden Arbeiterorganisationen wie die CUT, CTB, die CSP­Conlutas und andere Ge­ werkschaften, die PT, PSOL, PSTU, PC­ doB, PCB und PCO zur Vorbereitung diese Selbstverteidigung ­ in einer Klas­ seneinheitsfront ­ gezwungen werden müssen.

Emanzipation der Arbeiter wird nur durch die proletarische Revolution mit der Errichtung einer Arbeiter­ und Bau­ ernregierung, die in Richtung Sozialis­ mus zielt, erfolgen. Daher glauben wir marxistischen Re­ volutionäre, dass vor, während und nach den Wahlen sich die Massen ihrer selbst besinnen müssen, auf ihre Selbstorgani­ sierung (Aufruf zur Schaffung und Zen­ tralisierung von Selbstverteidigungs­ komitees in Fabriken, Unternehmen, Stadtteilen, Slums, auf dem Land, in

Klassenkampf 33/2018

Tendência Marxista­Leninista, 28.10.2018, 20:50 Uhr

Frankreich:

Zur Verteidigung der Migranten in Limoges

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as Kollektiv Chabatz d'Entrar ist eine Organisation zur Unterstüt­ zung und Begleitung von Migranten in Limoges (Stadt im französischen Zen­ tralmassiv, A. d. Ü.). Es setzt sich aus Vereinen, Gewerkschaften, Parteien und politischen Organisationen zusam­ men. Es wurde Ende 2016 gegründet. Aktivisten der Groupe Marxiste Inter­ nationaliste traten ihm Anfang 2018 bei. Sie nehmen entsprechend ihren Möglichkeiten und ihrer Verfügbarkeit an Treffen und Demonstrationen teil.

Vergangenen Mai besetzte das Kollek­ tiv das alte Pädagogische Zentrum (CRDP) von Limoges, um ein Dutzend Personen unter Zeitdruck umzusiedeln. Die Öffnung des besetzten Hauses war der Dringlichkeit angesichts des Fehlens einer konkreten Lösung von Seiten des Staates und der verschiedenen „zustän­ digen“ Verwaltungen geschuldet. Schnell waren die Räumlichkeiten von etwa 60 Personen, darunter einem Drittel Kinder, in Beschlag genommen. Die Gruppe schätzt, dass es sich insgesamt um die Beherbergung von 200 Personen han­ delt, auf die die öffentlichen Behörden in der derzeitigen Situation nach der Unter­

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bringung im Winter dauerhaft reagieren sollten. Chabatz d'Entrar hat das deut­ lich gefordert. Im August forderte der Regionalrat von Neu­Aquitanien die prompte Zwangsräumung der Lokalität des vor­ maligen CRDP, dessen Eigentümer er ist, da Arbeiten anstünden, um daraus ein Zentrum zur Gesundheits­ und Sozial­ ausbildung zu machen. Dabei meinte der selbe Regionalrat im aktuellen Jahr 2018 ein „Aufnahmegebiet“ sein zu müssen. Das Kollektiv protestierte gegen diese Entscheidung. Mittwoch, den 29. August, am Tag des Prozesses, versammelten sich 250 Personen im Verwaltungsge­ richt. Am nächsten Tag wurde die Ent­ scheidung des Richters bekannt gegeben: die Dringlichkeit war nicht ge­ geben, weil noch keine Entscheidung be­ treffend einer Ausschreibung existierte. Das Gesetz Macron­Collomb und alle vorhergehenden Gesetze gegen Migran­ ten müssen aufgehoben werden. Die kommunistischen internationali­ stischen Aktivisten haben in Chabatz d'Entrar interveniert, um eine wirksame Beteiligung der Parteien und Gewerk­ schaften der Arbeiterklasse einzufor­ dern, damit diese ihr ganzes Gewicht in die Bewegung einbringen (durch Aufrufe zu Kundgebungen des Kollektivs, an dem sie beteiligt sind, durch ihre tatsächlich aktive und konsequente Teilnahme an den Versammlungen und Demonstratio­ nen mit ihren eigenen Transparenten …) 29 September 2018, Korrespondenz GMI ­ Limoges

Am Kollektiv beteiligte Vereine: LDH – Liga für Menschenrechte, MRAP – Bewegung gegen Rassismus, CIMADE – Komi­ tee zur Unterstützung von Flüchtlingen, Em­ maus, Libre pensée – Freidenker,… Am Kollektiv beteiligte Gewerkschaften: CGT – Allgemeiner Gewerkschaftsbund, FSU – Gewerkschaft öffentlicher Dienst, CNT ­ anarchistische Gewerkschaftsföderation, Soli­ daires – Solidargewerkschaft, UNEF – franzö­ sischer Studentenverband, SG des lycéens – Mittelschülerverband,… Am Kollektiv beteiligte Vereine: PCF – KPF, NPA – Neue Antikapitalistische Partei, LO – Arbeiterkampf, PdG – Partei der Linken, Ensemble – Alternative Ökologische Linke…


Klassenkampf 33/2018 Die Haltung der Polizei gegenüber Ho­ mosexuellen war sehr brutal und spiegelt eine tiefe Verachtung der „Sicherheits­ kräfte” gegen sexuelle Minderheiten wi­ der. Am 5. Februar 1981 wurden 304 Personen in verschiedenen Saunen To­ rontos verhaftet und ihre Namen in der Presse veröffentlicht. Daraufhin fanden fanden in der Stadt Demonstrationen statt. Am 28. Juni organisierten Aktivisten die ersten Gay­Pride Parade in der Stadt. Die Razzien gegen das „Buds” 1984 und das „Katacombes” 1994 lösten in Montre­ al ebenfalls große Proteste aus. In den späten 1980er Jahren mobili­ sierte die Gay Pride“ gegen AIDS und dehnte sich auf die Lesben aus. Seitdem organisieren jedes Jahr LGBT­Organisa­ tionen einen „Gay­Pride­March“ in Mon­ treal, um ihre Forderungen zu erheben und sich Sichtbarkeit zu machen. Die ver­ schiedenen bürgerlichen Parteien sind zu dieser Veranstaltung eingeladen und nut­ zen die Gelegenheit, politisches Kapital zu schlagen, indem sie ihre „Offenheit“ und „inklusive Geist“ zeigen. Die Pride Parade ist seit langem ihres widerständi­ schen und fordernden Geistes beraubt und wurde durch die Teilnahme von Ver­ tretern der bürgerlichen Parteien und des Kapitals eine ein kommerzielles Fest. So gibt es eine starke Präsenz von Ban­ ken und multinationalen Unternehmen, die Sponsoren der Gay Pride sind. Der Premierminister eines Staates, der Tau­ sende von Migranten abschiebt und Ar­ beiterstreiks beschränkt, nützt die Gelegenheit, um fortschrittlich zu er­ scheinen. Er nahm am Gay Pride Masch in Montreal am 19. August und vorher an Vancouver Pride Parade am 5. August teil. Am Sonntagnachmittag marschierten Tausende von Menschen in die Innenstadt, um an der jährlichen Vancouver Pride Pa­ rade teilzunehmen. In diesem Jahr gab es einen besonderen Gast unter den Festwä­ gen und Tänzern: Justin Trudeau. (Daily Hive, 5. August 2018) In westlichen Ländern erleben wir seit einigen Jahrzehnten eine kapitalistische Einverleibung der Homosexualität und al­ ler Formen sexueller Vielfalt. Die herr­ schende Klasse hat die Vorteile der Integration sexueller Minderheiten er­ kannt, indem sie die Kommerzialisierung

Internationaler Kassenkampf der sexuellen Vielfalt großflächig fördert. LGBT­Paraden werden von wohlhaben­ den weißen Männern dominiert, die nur an die Rentabilität ihrer Veranstaltungen denken. Die Mehrheit der LGBT­Verbände wer­ den zunehmend in den Kapitalismus inte­ griert. Ihre Strategie besteht darin, bürgerliche Politiker dazu zu drängen, ih­ ren Bittschriften nachzukommen. Die Verbindungen zur Arbeiterbewegung sind heute sehr schwach, sofern über­ haupt noch vorhanden. Wir sind weit entfernt von der Zeit, als die britische Organisation „Lesbians and Gays Sup­ port the Miners” in elf Städten den Berg­ arbeiterstreik gegen die konservative Regierung von Margaret Thatcher unter­ stützt und Geld für sie gesammelt hatte (siehe den Film „Pride, ein unwahr­ scheinliches Treffen”). Die Niederlage der Bergleute demoralisierte die Arbei­ terklasse und war auch für die Homose­ xuellenbewegung politisch und ideologisch ein Rückschlag.

Die erste Ausgabe der Zeitschrift der kanadischen Mitglieders des CoReP. Avant­ Garde (Vorhut) erscheint zur Zeit in Québec in französischer Sprache.

reaktionärer und obskurantistischer Kräfte gegen die Gleichberechtigung von Homosexuellen und Heterosexuellen. Homophobie innerhalb der Arbeiter­ klasse kommt nur der Bourgeoisie zugute und schwächt den Klassenkampf. Das Kollektiv Permanente Revolution (Co­ ReP) unterstützt nachdrücklich den Kampf gegen Homophobie und für die Rechte von LGBT­Menschen. Wir unter­ stützen den Kampf um das Recht auf Ehe, gleichgeschlechtliche Erziehung und me­ dizinisch unterstützte Fortpflanzung als demokratische Forderungen. Eine revolutionäre und internationali­ stische Arbeiterpartei muss ein Volkstri­ bun sein und alle vom kapitalistischen System Unterdrückten verteidigen, seien es nationale Minderheiten, Frauen, Ein­ wanderer, LGBT usw. Bewusste Arbeiter müssen an den Kämpfen der LGBT­Men­ schen teilnehmen, um die Kontrolle der Bourgeoisie und des Kleinbürgertums über diese grundlegenden Kämpfe zu brechen. Alle Kämpfe für demokratische Rechte müssen mit der Perspektive der proletarischen Revolution und des Stur­ zes der kapitalistischen Produktionswei­ se und aller damit einhergehenden Formen der Unterdrückung geführt wer­ den. Montreal, 11. Oktober 2018, Korrespondent

Das CoReP verteidigt die traditionel­ len, d.h. patriarchalen, Familieninstitu­ tionen in keiner Weise. Es fördert aber auch keine Illusionen in den angeblich progressiven Charakter der gleichge­ schlechtlichen Ehe. Wir verurteilen je­ doch nachdrücklich das Aufheulen

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Internationaler Klassenkampf

Klassenkampf 33/2018

Kanada

Die LGBT-Bewegung zwischen Anpassung und Widerstand D

ie Rechte von LGBT­Menschen (Lesben, Homosexuell, Bisexuelle, Transsexu­ elle, Transgender, etc.) haben in den meisten westlichen Ländern seit den 60er Jahren große Fortschritte gemacht. Wohlgemerkt, diese Fortschritte wurden nicht durch den Liberalismus oder eine Offenheit seitens der herrschenden Klas­ se erzielt, sondern dank der intensiven Kämpfe der Homosexuellenbewegung. Der revolutionäre Aufschwung der 60er Jahre trug zur Entstehung des Kampfes gegen die Apartheid, die nationalen Unterdrückung, die Unterdrückung von Frau­ en und die Unterdrückung der sexuellen Minderheiten bei.

So wurde im Jahr 1969 in Kanada un­ ter Premierminister Pierre Elliott Tru­ deau (dem Vater des jetzigen Premierminister Justin Trudeau) das Omnibus Bill zur Entkriminalisierung der Homosexualität beschlossen. Es verfüg­ te, dass der Staat in den Schlafzimmern der Menschen nichts verloren hatte. Ei­ ne liberale Philosophie, die dennoch ei­ ne Verbesserung gegenüber der

sexuellen Minderheiten aufrechterhiel­ ten. Homosexualität und Transsexualität wurden als moralische Abweichung und Gefahren für die traditionellen Werte der Familie wahrgenommen. Frauen, die au­ ßerehelich schwanger wurden, wurden gemobbt. Es gab also ein sehr starke Un­ terdrückung gegen alle, die von der ka­ tholischen Moral abwichen die Präsidentschaft Mitterrands (PS) (selbstverständlich mit Ausnahme der warten. Im Gegensatz dazu wurde in Kapitalisten und Priester). Die herr­ Russland 1922 nach der Revolution un­ schende Klasse Quebecs, die eng mit der ter Führung der bolschewistischen Par­ katholischen Kirche verbunden war, tei von Lenin und Trotzki von der nutzte die Gelegenheit, sexuelle Minder­ Räteregierung die Homosexualität ent­ heiten als Sündenböcke zu benutzen, um kriminalisiert (Stalin hat diese Maßnah­ die Arbeiterklasse zu spalten. me am Höhepunkt der bürokratischen Konterrevolution im Jahr 1934 zurückge­ Die „Stille Revolution“ der 60er Jahre nommen). erschütterte die Macht der katholischen Geistlichkeit heftig und begünstigte eine Lockerung der Sitten, von der die Ho­ mosexuellen profitierten. Homosexuelle Aktivisten gründeten im März 1971 im Gefolge der Gründung der „Homosexuel­ len Front zur revolutionären Aktion” im Februar 1971 in Frankreich und der Van­ couver Gay Liberation Front (Oktober 1970) die „Homosexuelle Befreiungs­ front” (FLH). Die Polizei und die kanadische Justiz zerschlugen die FLH sehr schnell. Die Entkriminalisierung der Homosexualität bereitete der Belästigung von Homose­ xuellen durch die Polizei kein Ende. Die Razzia, die in Montreal bei Truxxx Bar am 21. Oktober 1977 stattfand, markierte einen Wendepunkt im Kampf um die Rechte der Homosexuellen.

CC­Lizenz: https://www.flickr.com/photos/simonm1965/9093711304

In den 80er Jahren gab es im Kampf gegen die Thatcherregierung einen Schulterschluss zwischen streikenden Bergarbeitern und anderen emanzipatorischen Bewegungen, darunter die Schwulen­ und Lesben­Bewegung

drückenden katholischen Moral bedeu­ tete, die in dieser Zeit in Quebec noch Die Dominanz der katholischen Kir­ allgegenwärtig war. In Frankreich musste che in Quebec erklärt die Verzögerung in man auf die komplette Entkriminalisie­ „La Belle Province“, weil sies die Unter­ rung der Homosexualität bis 1982 und drückung von Frauen, Jugendlichen und

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In dieser Nacht nahmen die fünfzig Po­ lizisten, die im Zentrum von Montreal die Bar „Truxxx” stürmten, 220 Verhaftungen vor. Dies war der größte Razzia seit der Krise im Oktober. 143 Personen wurden wegen „grober Unzucht“ und Anwesen­ heit „in einem Bordell” angeklagt. (Radio­ Canada, 20. Oktober 2017) Weiter auf Seite 19


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