KLASSENKAMPF 34

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Für Rätemacht und Revolution!

KLASSENKAMPF

Nummer 34 | JÄNNER 2019 | 2,--

Zeitung der Gruppe Klassenkampf, öst. Sektion des Kollektivs permanente Revolution

2019 Editorial: Für die Einheitsfront

Gelbwesten

Deutschland

Auch wenn Kurz und Strache so tun, als ob alles eitel Wonne und Waschtrog wäre in ihrer Polit-Ehe: Brüche tun sich auf, und auf der Straße ist was los!

Macron, der Mann, nach dessen Vorbild Kurz seine Bewegung modelliert hat, gerät zusehends in Bedrängnis. Massenproteste setzen ihm gehörig zu.

Warum der Weg in den Polizeistaat eine verlockende strategische Perspektive für das deutsche Kapital ist erklärt unser Korrespondent in seiner Analyse.

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ISSN: 2220­0657


Editorial

Klassenkampf 34/2019

Mal schauen, was alles möglich ist: Vom Widerstand zur Offensive

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as Jahr 2019 beginnt mit allerlei Änderungen für die türkis­blaue Regie­ rung. Die glamouröse Periode des EU­Ratsvorsitzes ist vorbei, die in den re­ gierungshörigen Medien „Österreich“, „Kronen­Zeitung“, „Die Presse“ und nun auch dem auf Linie gebrachten „Kurier“ gestreuten Jubelmeldungen über die in­ ternationalen Erfolge des Schweige­ und Reisekanzlers Sebastian Kurz werden spärlicher, und damit werden nun wieder die innenpolitischen Themen in den Vordergrund rücken.

Risse in der ÖVP Schon Ende des Jahres hat sich Unge­ mach für die Regierungsparteien zusam­ mengebraut: die großartig angekündigte „Reform“ der Mindestsicherung, die mit dem perfiden Versuch verkauft werden sollte, „schmarotzende Ausländer“ gegen „hart arbeitende Österreicher“ auszu­ spielen, löste eine Kritiklawine aus, mit der Schweigekanzler Kurz und sein da­ mals gerade hochschwangerer Vizekanz­ ler H. C. Strache nicht gerechnet hatten. Die Verkündung einer Einigung zwi­ schen Kurz­Partie (Partei?) und FPÖ am 28. November stieß zwar auf verhaltenes Lob aus Unternehmerkreisen (selbst die wollten sich offenbar nach und während der Herbst­KV­Runde nicht allzu weit aus dem Fenster lehnen) und begeisterte Un­ terstützung der Rechnungshof­Präsiden­ tin; aber selbst aus der „alten“ ÖVP gab es kritische Stimmen, wie zu erwarten, in erster Linie aus den westlichen Bundes­ ländern. Unangenehmer für die Türkisen war die breite Kritikfront aus kirchlichen Kreisen, quer durch die Konfessionen. Von Caritas bis Diakonie lautete das Ver­ dikt: „Asozial“. Auch wenn H.C. Strache bei seinen bisher eher schwachbrüstigen antimusli­ mischen Mobilisierungen wacker das Kruzifix schwingt – eine wirkliche Lie­ besgeschichte ist das Verhältnis FPÖ/ christliche Kirchen nun tatsächlich nicht. Wenn die Partei, die traditionell eher am Boden des neuheidnisch­germa­ nischen Traditionalismus steht, als Fah­ nenträgerin der „christlich­jüdischen abendländischen Kultur“ daherkommt, wird das auch in kirchlichen Kreisen durchaus kopfschüttelnd zur Kenntnis genommen.

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Dass sich die 150­Euro­Beate Hartin­ ger­Klein daher gewohnt abbeutelte war nicht weiter verwunderlich. Noch dazu, da die Sozialpolitik in dieser Regierung offenbar eh vom Verkehrsminister ge­ macht wird. Erstaunlich war eher, wie Sebastian Kurz, sonst eher konflikt­ scheu, wenn er innerhalb des eigenen Klassenlagers bleibt, die christlichen Wohltätigkeitsverbände anschnauzte, wie etwa die katholische Grazer „Kleine Zeitung“ am 28. Dezember 2018 meldet: „Bundeskanzler und ÖVP­Chef Sebasti­ an Kurz widersprach in der ZiB2 der The­ se, die ÖVP würde unter ihm ihre christlich­sozialen Wurzeln verleugnen. Auf die Frage, ob die Reform der Mindest­ sicherung mit den Werten vereinbar sei,

Kirchgänger ist und mit seinem Adlatus Gernot Blümel einen aktiven Mittels­ mann ins rechtskatholische Verbin­ dungslager an seiner Seite weiß. Tatsächlich ist das „Christlich­Soziale“, was immer das auch sein mag, der ideo­ logische Kleister, der die nach wie vor bündisch geprägte alt­neue ÖVP zusam­ menhält. Und, neue Parteifarbe hin oder her – auch eine „Bewegung Basti Kurz“ braucht Wählerstimmen, und die kann sich eine Partei mit dieser Geschichte und Physiognomie im relevanten Umfang nur im ländlichen Raum holen, in dem der kirchliche Einfluss trotz aller Moder­ nisierungsschübe immer noch präsenter ist als in den urbanen Ballungsräumen.

Überspannt die FPÖ den Bogen? Auch der FPÖ bläst ein etwas rauerer Wind um die Ohren. Auch wenn die sprachpolizeiliche „message control“ in­ nerhalb der Koalition noch hält, wächst auch in der Volkspartei die Kritik an der

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eine ganze Regierungskunst habe ich als kleiner Bub im Katechismus gelernt, in dem geschrieben steht: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben und den Nächsten wie dich selbst. Engelbert Dollfuss, Christlich­Sozialer und Austrofaschist

meinte Kurz: ‚Unsere Reform der Mindest­ sicherung ist christlich­sozial. Sie ist eine Reform, die den Menschen stark macht und ihn nicht in Abhängigkeit hält.‘ Zur Kritik von Caritas­Chef Michael Landau erklärte er: ‚Er ist kein ÖVP­Mit­ glied. Ich bezweifle, dass er einer unserer Wähler ist." Es gebe niemanden, der ein Recht habe, zu definieren, was christlich­ sozial sei.“ Bei „Bewegungsgründer“ Kurz liegen offenbar die Nerven blank, weil das Be­ kenntnis zum „christlich­humanisti­ schen“ Weltbild im ÖVP­Parteiprogramm festgeschrieben, er selbst fleißiger

aggressiv nach Außen gekehrten Frem­ denfeindlichkeit der FPÖ, dem unverfro­ renen Ämtersammeln, dem Hinausrempeln langgedienter Schwarzer aus Schlüsselpositionen. Achtung, Warn­ hinweis: Die ÖVP ist natürlich um keinen Deut besser als die FPÖ, programmatisch liegen die bürgerlichen Parteien vollin­ haltlich auf einer Linie: Verbesserung der Ausbeutungsbedigungen für das Kapital, Abbau des „Sozialstaates“, Zurückdrän­ gen bis Beseitigen des Einflusses von Ge­ werkschaften und Betriebsräten, Zerschlagung sozialer Errungenschaften, Spaltung der arbeitenden Bevölkerung


Klassenkampf 34/2019 durch das Aufstacheln von Fremdenhass und Rassismus, Aushöhlung der parla­ mentarisch­demokratischen Hülle der Herrschaft der herrschenden Klasse durch Initiativanträge, Verordnungen und das Lächerlichmachen der angeb­ lich geheiligten Institutionen wie Natio­ nal­ und Bundesrat. Beide bürgerliche Parteien tragen ein faschistisches Gen in ihrer Erbmasse mit sich – die ÖVP jenes des Austrofaschis­ mus, der aus der Christlich­Sozialen Par­ tei der Seipel, Dollfuss und Schuschnigg hervorgegangen ist, die FPÖ jenes der NSDAP der Zwischenkriegszeit. Öster­ reich war insofern in den 30er Jahren ein Ausnahmefall, weil hier nicht nur zu­ nächst zwei Faschismen mit Mord und Terror gegen die Arbeiterbewegung vor­ gingen, sondern sich gleichzeitig und nach Niederwerfung des Proletariats die­ se beiden Faschismen wechselseitig be­ kämpften. Gleiche Klasseninteressen können also sogar in extremer Form in unterschiedlichen Parteien mit unter­ schiedlichen Taktiken ausgedrückt wer­ den. Während die Parteispitze – H.C. Stra­ che oder Norbert Hofer – kiloweise Krei­ de geschluckt haben, um einen seriösen Eindruck zu erwecken, trumpfen schon in der ersten Reihe hinter ihnen die ver­ balen Schlagetots und Haudraufs auf: Herbert Kickl, der den zynischen Macht­ menschen gibt, Johann Gudenus, Land­ adeliger mit angeborenem antiproletarischem Standesdünkel, und dahinter Gestalten wie Gottfried Wald­ häusl, dessen Sprechdurchfall seinem Namen alle Ehre macht oder die FPÖ­ Bundesrätin Monika Mühlwerth, die sprachlich etwas unsicher und mit leich­ ter Schlagseite vor der Länderkammer den Polizeikessel beim Wiener Derby verteidigte. Da sich die Financiers der FPÖ schon lange nicht mehr auf Mitglieder der Tax­ lerinnung und Gastronomen beschrän­ ken ist es nur zu verständlich, dass sich Unternehmer und Topmanager fragen, ob man mit dieser Partei tatsächlich eine stabile bürgerliche Regierung und einen ebenso stabilen Staatsapparat aufbauen kann. Dementsprechend pfeift dann Ex­ Innenministerin und Landeshauptfrau von Niederösterreich Johanna Mickl­ Leitner ihren Landesrat Waldhäusl zu­ rück, wenn er um Wohnheime für ge­ flüchtete Kinder und Jugendliche

Editorial

12. Dezember: 4.000 demonstrieren bei einer "öffentlichen Betriebsversammlung" in Wien gegen die Zerscholagung der Sozialversicherung

Stacheldrahtzäune bauen lässt. Keines­ wegs muss er jedoch seinen Sitz in der Regierung räumen und seine Verantwor­ tung für das Asylwesen abgeben. Pikant: Noch im Wahlkampf für die letzten Re­ gionalwahlen hat die FPÖ Mickl­Leitner als „Moslem­Mama“ denunziert, die der „Zwangsislamisierung“ Vorschub leistet. Um eine „humane Flüchtlingspolitik“ geht es natürlich nicht – wie einige wohl­ meinende Beobachter glaubten und sich geradezu euphorisch hinter Mickl­Leit­ ner stellten. Die Frage des Umgangs mit Geflüchte­ ten oder, allgemein, Migrantinnen und Migranten spaltet die herrschende Klas­ se nur insofern, als sich unterschiedli­ che Antworten auf die Fragen formulieren lassen: wie viele zusätzliche Arbeitskräfte braucht der österreichi­ sche Kapitalismus, um für die wirtschaft­ liche Expansion in einer Phase des zunehmenden Protektionismus und Na­ tionalismus gerüstet zu sein? Wieweit (und wie brutal) soll der bürgerliche Staat die gewollte und geplante Spaltung der arbeitenden Bevölkerung in in­ und ausländische Arbeiter_innen treiben? Die bevorstehenden Wahlen zum Eu­ ropaparlament werden die Koalitionäre im harten Clinch sehen – immerhin steht die ÖVP als Teil der Europäischen Volks­ partei in der europäischen Arena dem Block der „Europa der Nationen und der Freiheit“, also einem Konglomerat aus nationalistischen und faschistelnden Parteien gegenüber, in dem ihr Regie­ rungspartner kräftig mitmischt.

Die SPÖ: „Wo bitte, geht’s zur Opposition?“ Während die Regierung einen An­ griffspunkt nach dem anderen bietet, ist die österreichische Sozialdemokratie of­ fensichtlich in eine Mischung aus Läh­ mung, Winterschlaf und Grübelei verfallen. Die neue Parteivorsitzende, die in der ersten Phase ihres Aufstiegs an die Spitze der Partei in erster Linie damit beschäftigt war, die Opposition einiger Landesparteiführer zu besänftigen, zeigt sich bisher in der Öffentlichkeit und vor den TV­Kameras als ausgesprochen höf­ liche und kompromissbereite Ge­ sprächspartnerin für jeden, der mit ihr reden will. Würde man glauben, dass im Parla­ ment tatsächlich etwas entschieden wird, könnte man nur erstaunt den Kopf schütteln. Eine so unscheinbare Opposi­ tion wie die SPÖ hat man wohl selten zu­ vor in einem bürgerlichen Parlament gesehen. Wir haben wiederholt auf die katastrophalen Auswirkungen der Sozial­ partnerschaft auf die österreichische Ar­ beiter_innenklasse hingewiesen. Diese von der SPÖ orchestrierte Politik der or­ ganischen Unterordnung der Arbei­ ter_inneninteressen unter die Profitinteressen des Kapitals hat natür­ lich auch auf diese, immerhin aus der kämpferischen Arbeiterbewegung des Habsburgerreichs hervorgegangene, Partei massiv zurückgewirkt. Auch wenn wir weit von einer vorre­ volutionären, geschweige denn einer re­ volutionären, Situation entfernt sind,

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Editorial müssen wir klar und deutlich sagen: Die Angriffe dieser Regierung sind keine Bos­ heitsakte besonders unguter Politiker oder machtgeiler Looser – sie sind die konsequente Umsetzung von gesell­ schaftlichen Veränderungen, die das Ka­ pital für nötig hält, um seine Extraprofite zu bewahren und sich weiter aufblähen zu können. Ein wirklicher Widerstand ge­ gen diese Regierung ist daher nur mög­ lich, wenn die Arbeiter_innen und ihre Organisationen mit der Logik des kapita­ listischen Systems brechen. Genau dazu ist die Sozialdemokratie nicht mehr fähig. Sie hat sich über Jahr­ zehnte treu und ergeben den Kapitalin­ teressen untergeordnet und versucht, auf Rechnung der herrschenden Klasse ge­ gen bescheidene Verwaltungs­ und Ver­ sorgungsposten deren Geschäfte zu

Klassenkampf 34/2019 chig die traditionelle Einheit Partei / Ge­ werkschaftsbürokratie mittlerweile geworden ist.

Auf der Straße ist was los Aber im Kapitalismus fallen die wichti­ gen Entscheidungen nicht in den Parla­ menten und Nationalversammlungen, sondern in den Betrieben und auf der Straße. Die pseudoparlamentarische Hül­ le („Die Volksvertreter entscheiden im In­ teresse des Wahlvolks“) bröckelt ja beständig, und gerade die Kurz­Strache­ Regierung hat von Haus aus ziemlich klar gezeigt: Hier regiert weder „das Volk“ noch „der kleine Mann“, hier regiert die Industriellenvereinigung. Dem Widerstand in den Betrieben kommt daher eine besondere Bedeutung

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s ist eine riesen Sauerei, dass SPÖ und Grüne in Wien am dritten Weihnachtssamstag die Innenstadt lahm legen, Chaos und Staus erzeugen, dem Handel damit einen massiven Schaden zufügen und den Bürgern vor Weihnachten ihre Familienausflüge vermiesen! H.C. Strache, Vizekanzler, Vorsitzender Soziale Heimatpartei

führen. Dafür hat sie ihre eigene Basis einschläfern, sedieren, politisch und ideologisch entwaffnen müssen. Die eige­ nen „Genoss_innen“ haben die Bastio­ nen, die sich die ihnen vertrauenden Massen in Jahrzehnter schwerer Kämpfe errungen haben, sturmreif geschossen. Türkis und Blau wollen nun für die Herr­ schenden die Ernte einfahren. Getreu ihrer Hunderl­Herrl­Denkweise („Gehts dem Herrl gut, gehts dem Hunderl gut“) bettelt die SPÖ permanent um Neu­ verhandlungen bereits beschlossener ar­ beiter_innenfeindlicher Gesetze, dient sich an, für die verfassungskonforme Ausarbeitung geplanter Gesetze bereit zu stehen – all das macht sie weder für die Kapitalisten nützlich noch für die Arbei­ ter_innen glaubhaft. Über ihren Einfluss in den Gewerk­ schaften allerdings ist die SPÖ natürlich nach wie vor ein Faktor, der für eine Poli­ tik im Interesse der Arbeiter_innen eine gewichtige Rolle spielt. Wobei wir derzeit schwer prognostizieren können, wie brü­

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• am 30. Juni, also unmittelbar vor dem Ferienbeginn in Ostösterreich, konnte der ÖGB über 120.000 Menschen für eine Demonstration in Wien gegen die Einführung des 12­Stunden­Tages mo­ bilisieren; • am 8. September kam es zu einer klei­ nen, aber politisch wichtigen, Demons­ tration gegen den EU­Finanzministergipfel in Wien • am 13. September demonstrierten Tau­ sende in Wien vor der UNO­City, um gegen die EU­Flüchtlingspolitik und die Haltung der Bundesregierung zu pro­ testieren • am 14. September versammelten sich bei strömenden Regen hunderte Ge­ werkschafter_innen und Aktivist_in­ nen vor dem Sozialministerium, um gegen die geplanten Kürzungen bei den AMS­Mitteln zu protestieren • mehrere tausend Demonstranten be­ teiligten sich am 20. September in Salz­ burg an Protesten gegen den EU­Gipfel (obwohl der Termin ungünstig auf einen Donnerstag fiel) • ab Oktober kam es zur Neubelebung der Donnerstagsdemonstrationen, zu­ nächst in Wien. Trotz frostiger werden­ den Wetters nahmen nicht nur die Teilnehmer_innenzahlen von Demo zu Demo zu, insgesamt kam es zu einer deutlichen Politisierung der Aktionen; • auch in anderen Städten Österreichs kam es in weiterer Folge zu Donners­ tagsdemos • am Mittwoch, 12. Dezember, versam­ melten sich über 4.000 Beschäftigte der Sozialversicherungen aus ganz Ös­ terreich beim Sitz der Wiener Gebiets­ krankenkasse, um gegen die „Kassenreform“ von Türkis­Blau zu de­ monstrieren • am Samstag, 15. Dezember, protestier­ ten bei eisigen Temperaturen und Schneefall einige zehntausend Men­ schen – trotz massiver Hetze der regie­ rungsnahen Presse – aus Anlass des Jahrestages der Angelobung der Regie­ rung in Wien.

zu, wenn wir die Regierung stürzen wol­ len. Auch wenn die Bewegung in des Be­ trieben und auf der Straße gegen die Türkis­Blaue­Regierung langsamer Fahrt aufgenommen hat als 2000 gegen die ers­ te Wenderegierung Schüssel/Haider kön­ nen wir rückblickend auf das vergangene Jahr sagen: Der Wille zum Widerstand hat deutlich zugenommen. • Schon am Tag der Angelobung de­ monstrierten mindestens 5.000 Men­ schen gegen die neue Regierung • am 13. Jänner 2018 demonstrierten mehr als 10.000 Menschen beim „Neu­ jahrsempfang“ gegen die Regierung • am 9. Juni protestierten in Wien in ers­ ter Linie betroffene Lehrerinnen und Lehrer gegen die Einführung der Unsere Kraft ist die „Deutschklassen“ • am 26. Juni demonstrierten 5.000 – Einigkeit! 6.000 Menschen bei einem „Stern­ marsch für ein soziales Österreich“ auf Vor dem 15. Dezember hatte es im Initiative der Gewerkschaften gegen Rahmen der Herbst­Lohnrunde, die na­ die geplante Zerschlagung der Sozial­ türlich im Zeichen des Widerstandes ge­ versicherungen gen den 12­Stunden­Tag stand, eine Reihe


Klassenkampf 34/2019 von gewerkschaftlich organisierten Pro­ testen (Betriebsversammlungen in der Arbeitszeit) und einen Streik der Eisen­ bahner am 26. November gegeben. Genau an diese Erfahrungen müssen wir 2019 anknüpfen. Und wir müssen Lehren ziehen, die wir bereits 2000 und 2003 nach der Großdemonstration in Wi­ en und beim Streik gegen die Pensi­ ons“reform“ gezogen haben: Unsere Kraft ist die Einigkeit! Und die Gewerkschaften sind immer noch ein Faktor bei der Mobi­ lisierung der Belegschaften. Entscheidend ist aber, dass die Ge­ werkschaften für die Interessen ihrer Mit­ glieder kämpfen und nicht umgekehrt eine handvoll Gewerkschaftsbürokraten die Basis als Druckmittel für neue Ver­ handlungen und Kompromisse mit den Kapitalisten missbraucht. Mitte Dezember berichtet das Nach­ richtenmagazin „profil“ über eine von ihm in Auftrag gegebene Meinungsumfra­ ge: „Laut profil­Umfrage halten 64% der Österreicher die Warnstreiks und Protes­ taktionen rund um die Lohnverhandlun­ gen bei Bahn, Industrie und Handel für gerechtfertigt. Nur 28% geben an, die Maßnahmen seien überzogen. 67% der Österreicher geben an, ihre persönliche Lebenssituation habe sich im ersten Jahr der ÖVP/FPÖ­Regierung nicht verändert. 18% sehen Verschlechte­ rungen, 8% Verbesserungen.“ Was immer man von Meinungsumfra­

Editorial gen halten mag – eines haben die konkre­ ten Proteste gezeigt: die österreichischen Werktätigen und die Jugend sind keines­ wegs eine verbürgerlichte, saturierte Masse mit dumpf rassistischem Bewusst­ sein. Im Widerstand gegen die Regierung machen die Betroffenen neue Erfahrun­ gen und sind bereit, sich weiter zu weh­ ren. Wichtig sind, wie gesagt, die Perspek­ tiven. Wir finden es ganz hervorragend, dass sich immer mehr Aktivist_inenn aus SPÖ, SJ, VSStÖ an den Protesten gegen die Regierung beteiligen und dass sie buchstäblich bei den Donnerstagsdemos „Fahne zeigen“. Die einzige Perspektive, die die Bewegungen heute haben kön­ nen, lautet: STURZ DER REGIERUNG! Bei der Demonstration am 15. Dezem­ ber hat Genossin Julia Herr, Bundesvor­ sitzende der SJ, in ihrer Rede eine Reihe wichtiger Kritikpunkte an der Regierung geübt. Aber ihre Schlussfolgerung war katastrophal falsch: „Wir müssen weiter­ kämpfen, bis diese Regierung abgewählt ist.“ Nein, die Wahlurne ist nicht das In­ strument, mit dem wir diese Regierung loswerden. Die Macht liegt in der Mobili­ sierung in den Betrieben, den Universitä­ ten, den Schulen. Sie setzt eine breite Einheitsfront vor­ aus, die sagt: Schluss mit den Angriffen auf unsere Errungenschaften – seien es Angriffe im Sozial­ und Arbeitsrecht, sei­

en es Angriffe auf unsere demokratischen Freiheiten! Diese Einheitsfront muss alle Arbeiter_innen­ und Jugendorganisatio­ nen umfassen, die sich auf die Arbeiter­ bewegung berufen – die Gewerkschaften, die SPÖ und ihre Teilorganisationen, die KPÖ, alle Organisationen, die sich auf den Sozialismus beziehen, egal, ob es sich um Organisationen von „inländi­ schen“ oder „ausländischen“ Kolleg_in­ nen handelt. Organisieren wir uns in Aktionskomi­ tees gegen die Regierung; versuchen wir, in den Gewerkschaften Druck auf den Ap­ parat auszuüben, damit sich aktive Ge­ werkschaftsmitglieder unter Nutzung der organisatorischen Infrastruktur ihrer Or­ ganisationen, aber unabhängig von den Funktionären, treffen und organisieren können, um Proteste und Kampfaktionen vorzubereiten. Als internationalistische Kommunisten wissen wir, dass dieser Kampf allergrößte politische Klarheit erfordert. Einheit heißt nicht, Differenzen zu übertünchen oder herunterzuspielen. Vor allem aber ist die Perspektive des Kampfs gegen die Regierung für uns auch der Auftrag, den Kampf für eine revolutionäre Arbeiter_in­ nenpartei und eine revolutionäre Arbei­ ter_inneninternationale voranzutreiben. In diesem Sinne: Machen wir aus dem Jahr 2019 das Kampfjahr zum Sturz dieser Regierung.

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Innenpolitik

Klassenkampf 34/2019

Jeder Tag türkis­blau ist zuviel! Nieder mit der Kapitalistenregierung!

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m 18. Dezember 2018 jährte sich die Angelobung der türkis­blauen Kurz­ Strache­Regierung. Am 15. Dezember demonstrierten zehntausende Men­ schen in Wien bei eisigen Temperaturen und Schneefall gegen die Regierungspo­ litik. Begleitet wurde die Demonstration von wütendem Gekeife der Koalitionäre. Wie immer sorgten sich die Geschäftsführer der herrschenden Klasse um „die Wirtschaft“ ­ das Weihnachtsgeschäft des Handels litte angeblich unter dem „un­ demokratischen Aufmarsch“. Einen besseren Beweis für die Notwendigkeit von Straßenaktionen gegen diese Regierung kann es gar nicht geben. Den folgenden Text verteilten Genossinnen und Genossen der Gruppe Klassenkampf bei der Demonstration am 15. Dezember.

­ und forderte höhere Geldbußen für die Regierungsparteien, statt das durchaus berechtigte Wort vom Wahlschwindel in den Mund zu nehmen.

Die Regierung der Industriellenvereinigung und des gehobenen Kleinbürgertums

Wer zahlt, schafft an, oder: eine goldene Ära für die Ausbeuter

Bereits der Weg zur parlamentari­ schen Macht beider bürgerlicher Partei­ en war mit Lug und Trug gepflastert. Die “neue” Volkspartei unter dem jugendli­ chen Parteiputschisten Sebastian Kurz überschritt das gesetzlich geregelte Li­ mit von sieben Millionen Euro für die Wahlkampfkosten um sechs Millionen, die “soziale Heimatpartei” FPÖ um 3,6 Millionen. Kurz hatte mit heuchlerischer Mine angekündigt, er werde einen trans­ parenten Wahlkampf führen; zwar ließen sich die Großspenden der Industrie (Pie­ rer KTM, Bäckerei Mann, Happy Foto, Muzicant / Immobilien …) ohnehin nicht geheim halten, da Spenden über 50.000 EUR dem Rechnungshof gemeldet wer­ den müssen. Geschickter agieren die Blauen: mel­ depflichtige Spenden gibt es keine (49.000 Euro ist ja auch nicht schlecht), dafür gibt es mehr als genug versteckte Quersubventionierungen durch Inserate in der schwachbrüstigen Parteipresse, durchaus auch von öffentlichen Einrich­ tungen, sofern dort die angebliche Anti­ korruptionspartei der Herren Strache und Kickls was mitzureden hat. Die Sozialdemokratie, kaum merkbare Parlamentsopposition zeigte sich ob die­ ser massiven Wahlbeeinflussung empört

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Ein Jahr Kurz­Strache an der Regie­ rung zeigt: Jeder Spendencent des Kapi­ tals, der in den Wahlkampf der reaktionären Parteien geflossen ist, kommt hundertfach zurück. Im Eilzug­ stempo, mit Methoden, die den bisheri­ gen parlamentarischen Gepflogenheiten großteils widersprechen, mit Gesetzes­ beschlüssen, die im Gegensatz zur bür­ gerlichen Verfassung stehen, modeln diese politischen Filialleiter des Kapitals den Staat und seine Institutionen gehö­ rig um, zerschlagen historisch erkämpfte Errungenschaften der arbeitenden Be­ völkerung, betreiben eine zynische Ver­ armungspolitik, fördern ethnische und religiöse Hetze, bauen präventiv Polizei und Armee aus, falls sich der Wider­ stand gegen ihre Maßnahmen zuspitzen sollte, bilden internationale Achsen mit extrem reaktionären, fremdenfeindlichen und antidemokratischen Kräften und Re­ gierungen in Ungarn, Italien und Polen. Die freiheitlichen Kreideschlucker, die es immer noch wagen können, sich als Partei der “kleinen Leute” (allein schon dieser Begriff ist eine Frechheit der Ex­ traklasse!), waren mit ihrer in erster Li­ nie durch soziale Empathielosigkeit charakterisierten Beate Hartinger­Klein die Vorreiter der Einführung des 12­Stun­ den­Tages. “Wenn er kommt, dann eh freiwillig” ­ in der Praxis zeigt sich, das

quer durch die Republik massiver Druck auf Beschäftigte ausgeübt wird, länger zu arbeiten. Während arbeitsscheue Bürschchen vom Schlag eines Johann Gudenus, die nie in ihrem Leben einem seriösen Beruf nachgegangen sind, von ihren Parlamentssitzen aus gegen Be­ triebsräte und Gewerkschaften hetzen, tun sie jetzt entsetzt, dass Kapitalisten das tun, was sie immer getan haben: Je­ de gesetzliche Bestimmung in ihrem Sin­ ne auszunutzen. Hartinger­Klein muss als Asozialmi­ nisterin die volle Verantwortung dafür übernehmen, dass im Sinne der “Sen­ kung der Lohnnebenkosten” und der “Verwaltungsvereinfachung” die Kran­ kenkassen zerschlagen und die Leistun­ gen der AUVA gekürzt werden. Was sich die Herren der Großindustrie, die Pierer und Co. von Kurz und Strache erwartet haben, wird Schritt für Schritt umge­ setzt.

Stacheldraht für Kinder, Sturmgewehre für die Polizei Wir können hier nicht alle sozialen Grausamkeiten der Regierung aufzählen ­ dazu sind es schon viel zu viele. Wir müssen aber auch auf das zweite, das politische Standbein, ihrer reaktionären Pläne hinweisen: Die Aushebelung der demokratischen Errungenschaften, die Stärkung der Repressionskräfte, die Ein­ gewöhnung der arbeitenden Bevölke­ rung an Maßnahmen des Ausnahmezustandes. Hat sich die herrschende Klasse in Form der parlamentarischen Demokratie für “friedliche” Zeiten ein funktionstüch­ tiges Herrschaftsinstrument geschaffen, das durch Integration der reformisti­ schen bürgerlichen Arbeiterparteien den Anschein der “Volkssouveränität” er­ weckt und der werktätigen Bevölkerung die Illusion gibt, durch ein Kreuzchen am Stimmzettel alle vier oder fünf Jahre mit entscheiden zu können, was im Staat ge­


Klassenkampf 34/2018 schieht, wird dieses Instrument überflüs­ sig, wenn sich die Bourgeoisie stark ge­ nug fühlt, offensiv ihre Ziele zu erreichen ­ oder gezwungen ist, gegen eine anstei­ gende Welle von Klassenkämpfen gewalt­ sam vorzugehen. Die Schwächung der SPÖ durch ihre jahrzehntelange Koalitionspraxis und ih­ re Integration in den bürgerlichen Staat im Namen der Sozialpartnerschaft ver­ lockt die bürgerlichen Parteien gerade­ zu, mit ihren einstigen Handlangern Schlitten zu fahren. Dass die SPÖ die In­ teressen der arbeitenden Bevölkerung mittels Kompromiss um Kompromiss an die wirklich herrschende Klasse verkauft hat, führt keineswegs dazu, dass die Un­ ternehmer ihre ehemaligen Partner und Geschäftsführer liebt. Ganz im Gegenteil: Jede Kraft, und sei sie noch so herunter­ gekommen, die auch nur im mindesten die Interessen der Arbeiterinnen und Ar­ beiter vertritt oder sich auf sie beruft, wird von ihr als Todfeind gesehen und genauso behandelt. Die Bourgeoisie testet aus, wie weit sie gehen kann: Sozialabbau wird mittels Initiativantrag ohne Möglichkeit selbst einer formalen Diskussion betrie­ ben; die FPÖ träumt von einer berittenen Polizei wie in den 20er Jahren und rüstet schon jetzt jeden Streifenwagen mit Sturmgewehren aus; mit ausländerfeind­ lichen Gruselgeschichten rechtfertigt man die Einpferchung von Kindern hin­ ter Stacheldraht.

Solidarität ist unsere Stärke, Einheitsfront der Weg! Der von den Gewerkschaften ange­ drohte “heiße Herbst” ist ausgeblieben. Trotzdem hat es einige positive Entwick­ lungen im Rahmen der Herbstlohnrunde gegeben. Am wesentlichsten war wohl der Eisenbahnerstreik am 26. November. Trotz massiver Einschüchterungen sei­ tens der Geschäftsführung (Meldung al­ ler, die an den Versammlungen während der Arbeitszeit teilnehmen) und einer perfiden Hetze in den Massenmedien zeigte sich hier die potenzielle Kraft ei­ ner Kernschicht des Proletariats: Dass der ÖBB­Vorstand für zwei Stunden den gesamten Bahndienst lahmlegte, obwohl

Innenpolitik die Aktion des ÖGB ohnehin nur auf den Güterverkehr begrenzt war beweist, dass sogar eine sehr eingeschränkte und als bloße Drohgeste gedachte Arbeits­ niederlegung ausreicht, um einen sensi­ blen Bereich der kapitalisti­ schen Logis­ tik lahmzule­ gen. Ja, die Arbei­ ter_in­

nen können ge­ meinsam viel bewe­ gen ­ auch, wenn sie als Angestellte firmieren, als “neue Selbstän­ dige” ohne soziale Absicherung in Selbstausbeutung ihre Arbeitskraft zu Markte tragen. Gegen die reaktionären und sozial rückwärtsgewandten Ziele dieser Regie­ rung kann es nur ein Mittel geben: Den gemeinsamen solidarischen Kampf der Arbeiterinnen und Arbeiter, der Ange­ stellten, Nebenerwerbsbauern, Landar­ beiter, Studierenden, der lernenden Jugend, der ausgebeuteten im Gesund­ heits­, Pflege­ und Sozialbereich, der Lehrerinnen und Lehrer. Es geht nicht nur um mehr Geld zum Leben, leistbare Mieten, eine erstklassi­ ge Gesundheitsversorgung und eine ex­ zellente Erziehung für alle. Es geht darum, die ökonomische und politische Macht der Herrschenden zu brechen. Dazu ist es notwendig, dass alle Ar­ beiterorganisationen ­ politische Partei­ en, Organisationen, Gewerkschaften, Jugendorganisationen ­ in einer gemein­ samen Einheitsfront kämpfen, um diese Regierung zu Fall zu bringen.

• Weg mit dem 12­Stundentags­Gesetz! Aufteilung der Arbeit auf alle Hände bei vollem Lohnausgleich! • Hände weg vom Gesundheitswesen! Für ein flächendeckendes, qualitativ hoch­ wertiges System der medizinischen Be­ treuung! • Weg mit allen Massensteuern! Pro­ gressive Besteuerung der Konzerne und Großkapitalisten! • Schluss mit nationa­ listischer und rassistischer Hetze! Gleiche politische und soziale Rechte für alle, die hier leben! • Bildet Aktionskomtees in Betrieben, Stadtteilen, Schulen, Universitäten und Dörfern, um den Widerstand zu organisieren! Bereitet die Selbstverteidigung ge­ gen faschistische und staatliche An­ griffe vor! • Für eine Arbeiterregierung, die einzig und allein der arbeitenden Be­ völkerung verantwortlich ist!

Komm zum ROTEN TISCH! Jeden zweiten Dienstag im Monat organisieren wir in der Westbahnstraße 35 im 7. Wiener Gemeindebezirk im kurdischen Lokal ZYPRESSE unseren ROTEN TISCH. Der ROTE TISCH ist ein offenes Diskussionsforum, in dem wir mit Interessierten über die aktuelle Lage, die Artikel in unserer Zeitung oder über theoretische Fragen sprechen. Die Termine und Themen findest Du auf unserer Homepage: www.klassenkampf.net Erreichbar mit U6, Straßenbahnlinien 5 und 49

Erstes Treffen im neuen Jahr: 8. Jänner, 19.00 Uhr

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Innenpolitik

Klassenkampf 34/2019

„Security­Affäre“:

Ein Nazi schleicht durchs Hohe Haus

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or 20 Jahren stand Gottfried Küssel mit seiner VAPO (Volkstreue Außerpar­ lamentarische Opposition) am Höhepunkt seiner Neonazikarriere. Mitte Jän­ ner wird er aus dem Gefängnis entlassen. Trotzdem schaffte er es im November in die Schlagzeilen der österreichischen Innenpolitik.

Vor 20 Jahren stand Gottfried Küssel mit seiner VAPO (Volkstreue Außerparla­ mentarische Opposition) am Höhepunkt seiner Neonazikarriere. Mitte Jänner wird er aus dem Gefängnis entlassen. Trotzdem schaffte er es im November in die Schlagzeilen der österreichischen In­ nenpolitik. Thomas K., Mitarbeiter einer privaten Security­Firma, schaffte es als Sicher­ heitskraft, Zugang zum hochbrisanten BVT­Untersuchungsausschuß zu erhal­ ten und so in die Nähe von sensiblen Da­ ten zu gelangen. Unter anderem beschäftigt sich der Ausschuss bekannt­ lich mit Querschüssen gegen jenes Refe­ rat, das “Rechtsextremismus” und Burschenschaften observiert. K. soll Mit­ glied der Neonazigruppe „Unwidersteh­ lich“ sein, die aus treuen Küsselkameraden besteht. Wir kommen später darauf zurück. Bei einem Treffen mit Neonazis in Sachsen wurde mit dem Securitymann auch ein Ex­Führungskader des Rings Freiheitlicher Jugend, Richard P., gesich­ tet. Im Kabinett von Verkehrsminister Norbert Hofer sitzt Herwig Götschober, Vorsitzender der Burschenschaft Bruna Sudetia (Liederbuchaffäre). Ein Mitarbeiter der FPÖ­Pressestelle war früher bei der VAPO aktiv („jung und dumm“), ebenso der Kabinettschef von Norbert Hofer, Rene Schimanek, für den die VAPO „Vergangenheit“ ist. Und dann wäre da noch die Verbin­ dung von FPÖ und Neonazis zu Martin Sellners Identitärer Bewegung (IB). Sell­ ner gehörte noch vor 10 Jahren zum VA­ PO­Umfeld und beschreibt in einem autobiografischen Text seine Vergangen­ heit als Neonazi (von der er sich, no na, heute distanziert). Fotos zeigen Sellner und Küssel beim Gedenken an den NS­ Flieger Walter Nowotny am Wiener Zen­ tralfriedhof.

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Das Auffliegen des “Security”­ Skan­ dals zeigt einige interessante Aspekte auf. Erstens: Der Hang der bürgerlichen Parteien, möglichst alles, was profitabel ist, zu privatisieren, macht auch vor dem immer wieder strapazierten “staatlichen Gewaltmonopol” nicht halt. Bloß: Wäh­ rend es im Hohen Haus scheinbar nie­ manden wirklich kratzt, wenn der niederösterreichische FPÖ­Landesrat Waldhäusl Flüchtlingskinder hinter Sta­ cheldraht hält und von privaten Sicher­ heitsfirmen mit Hunden (!) bewachen lässt, war der Aufschrei groß, dass in den heiligen Hallen des Parlaments ein Neonazi den Aufpasser spielen darf. Zweitens: Während der Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage zu der „Security­Affäre“ konnte Innenminister Herbert Kickl am 25. November 2018 oh­ ne Aufschrei der oppositionellen SPÖ er­ klären: „Die Begriffe Rechtsextremismus, Neonazi – alles Din­ ge, die unsere Rechtsordnung im Übri­ gen in der Form nicht kennt, dass das jetzt Straftatbestände wären“. Falsch: Das Verbotsgesetz aus dem Jahr 1947 verbietet jegliche Betätigung „im Geiste des Nationalsozialismus“. Dass Kickl hier Neonazis einen Freibrief ausstellen will, ist offensichtlich. Darauf nicht mas­ siv zu antworten, ist mehr als eine Dummheit ­ das ist ein politisches Ver­ brechen. Noch braucht die österreichische Bourgeoisie keine faschistischen Schlä­ gerbanden, die auf den Straßen Arbei­ ter_innen, Migrant_innen oder auch „nur“ demokratische Oppositionelle an­ greifen. Sehr wohl aber ist sie bereit, we­ sentliche Versatzstücke der „modernisierten“ faschistischen Ideolo­ gie, wie sie etwa von den erwähnten Identitären vertreten wird, zu adoptie­ ren. Zynisch, aber ausnahmsweise ehr­ lich, hat Sebastian kurz am 18. September 2018 im Interview mit „Öster­

reich“ kundgetan: „Vieles von dem, was ich heute sage, ist vor drei Jahren noch massiv kritisiert und als rechtsradikal abgetan worden, das hat sich geändert. Vor einem Jahr konnte man schon sach­ lich darüber diskutieren, auch wenn vie­ le einen anderen Zugang zum Thema haben“. Tatsächlich werden die apoka­ lyptischen Untergangsphantasien der Identitären samt der von ihnen propa­ gierten „Remigration“, also der „Rück­ führung“ von Asylsuchenden in ihre Fluchtländer auch im christlichsozialen Lager nachgebetet. Nebenbei haben un­ dercover­Reportagen aus der identitären Szene in Frankreich, welche die Keimzel­ le dieser Bewegung ist, klar gezeigt, dass hier nicht nur terroristische Pläne ge­ schmiedet werden, sondern gezielt durch Kontakte hinein in das „Rassem­ blement Nationale” (vormals Front Na­ tional/FN) von Marine Le Pen die faschistische Ideologie auch mittels der Europaparlamentsfraktion, der die FPÖ angehört, verbreitet wird. Momentan könnte es aber (nicht zum ersten Mal) zu massiven Auseinander­ setzungen im faschistisch­nazistischen Spektrum selbst kommen: Es ist mehr als fraglich, ob der nun zurückkehrende Gottfried Küssel, in den 90er Jahren als gesamtdeutscher „Führer“ der Naziszene im Gespräch, die Herausforderung durch den Hipster­Fascho Sellner als neuen Chef der Szene stillschweigend hinneh­ men wird. Die oben erwähnten „Unwi­ derstehlich“­Nazis lästern schon seit langem über die identitären „Weicheier“, die zugunsten eines Österreichpatriotis­ mus die Reichsfahne abgegeben haben. So oder so müssen die Aktivisten der Ar­ beiter_innenbewegung wachsam sein, um eine eventuell wachsende faschisti­ sche Gefahr im Keim ersticken zu kön­ nen.

IMPRESSUM: Eigentümer, Herausgeber, Verleger, Druck: Gruppe Klassenkampf. Druckort: Wien. Offenlegung nach §25 Mediengesetz: 100%-Eigentümer der periodischen Druckschrift KLASSENKAMPF ist die im Parteienverzeichnis registrierte politische Partei GRUPPE KLASSENKAMPF (früher: Trotzkistische Gruppe Österreichs/TGÖ). Die Partei ist an keinen anderen Medienunternehmen finanziell beteiligt.


Klassenkampf 34/2019

Umwelt

Quatschbude Weltklimakonferenz Kattowitz

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er Veranstaltungsort könnte absurder kaum sein: Ausgerechnet das polni­ sche Kattowitz, das Zentrum des oberschlesischen Bergbaugebiets, eine der größten Kohleabbauregionen Europas ist Gastgeber der Weltklimakonferenz im Dezember 2018. Das ist in etwa so als würde man die Produktionshalle einer Waf­ fenfabrik als Tagungsort für eine Friedenskonferenz wählen. Polen ist ein Musterbeispiel für reak­ tionäre Umweltpolitik. Die polnische Stromerzeugung erfolgt zu mehr als 80 % aus der Verbrennung von Braun­ und Steinkohle. Die polnische Verkehrspolitik ist auf den motorisierten Individualver­ kehr ausgerichtet. Tempo 140 auf den Autobahnen ist flächendeckend zugelas­ sen und offenbar ein Vorbild für die schwarzblaue österreichische Bundesre­ gierung. Fahrradinfrastruktur in den pol­ nischen Großstädten ist nur spärlich vorhanden und der öffentliche Perso­ nennahverkehr hat in den fast 30 Jahren seit dem Ende des Stalinismus kaum Fortschritte gemacht. Auch Nachbarland Deutschland kann nicht als Umweltmusterland gelten. Stur hält die größte Volkswirtschaft der EU am Verbrennen von Braunkohle als Stromgewinnungsart Nr. 1 (23 % der ge­ samten deutschen Stromproduktion) aus Kostengründen fest und baut diese sogar noch aus (Hambacher Forst). Stur hält die deutsche Bundesregierung am Uralt­ Dogma „Freie Fahrt für freie Bürger“ auf den deutschen Autobahnen fest. Das ist ein Spiegelbild der weltweiten Entwick­ lung. Nur 22 % der globalen Strompro­ duktion stammt aus erneuerbaren Energiequellen. Kohle ist mit 41 % nach wie vor Energieträger Nr. 1. Der Indivi­ dualverkehr nimmt jedes Jahr zu.

am günstigsten produziert und auf den Umweltschutz Rücksicht nimmt, wird in diesem nicht bestehen können. Es ist un­ abänderbar, dass die Menschheit durch den Klimawandel als Folge der kapitalis­

Stahlwerk in Katowice: Gastgeberland kämpft mit Umweltproblemen

se mit sich bringt. Das Internationale Ro­ te Kreuz meldet, dass mehr als die Hälfte seiner Einsätze auf durch den Klimawan­ del verschärfte Wetterkatastrophen zu­ rück zu führen sind.

tischen Produktionsweise schweren Schaden nehmen und der Klimawandel unser Leben nachhaltig beeinflussen wird. Nur eine andere, nicht auf der Pro­ fitlogik basierende Gesellschaft kann den Untergang der Menschheit verhindern. Die pro Kopf gesehen größten Klima­ Dazu bedarf es einer weltweiten Revolu­ sünder mit dem höchsten CO2­Ausstoß tion, die die Herrschaft des Kapitalismus sind Saudi­Arabien gefolgt von den USA, beendet und mit dem Aufbau einer so­ Australien und Kanada. Dass sich China zialistischen Gesellschaft beginnt. im Bereich der EU­Staaten bewegt und Indien noch darunter liegt, täuscht vor Peter Leitner den wahren Verhältnissen. Das 21. Jahr­ Namentlich gezeichnete Artikel sind Diskussionsarhundert hat einen gewaltigen Produkti­ tikel und geben daher nicht zwangsläufig die Position onstransfer von der EU und der GKK als Gesamtorganisation wieder. Nordamerika nach Asien gebracht. Ent­ wickelte Industriestaaten wie Österreich können sich mit so genannten Umwelt­ Angesichts dieser Entwicklung zertifikaten eine weiße Weste erkaufen scheint das notwendige Erreichen des und die Kapitalisten dieser Länder zu­ 1,5 Grad­Ziels, welches unumkehrbare dem noch zu niedrigen Lohn­ und Um­ Veränderungen verhindern würde, uto­ weltstandards in Asien produzieren. pisch zu sein. Das würde eine Reduktion des globalen CO2­Ausstoßes von 2010­ Die Weltklimakonferenz in Kattowitz 2 2030 um 45 % sowie keine CO Produkti­ wird nur Lippenbekenntnisse und keine on ab 2050 erfordern. Derzeit halten wir nachhaltigen und zielführenden Ergeb­ bei 1 Grad Erderwärmung, die u. a. mehr nisse bringen. Denn der Kapitalist, egal Extremwetter, steigende Meeresspiegel in welcher Branche er sich Arbeitskräfte und schmelzende Polar­ und Gletscherei­ aneignet, der im Konkurrenzkampf nicht

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Frankreich

Klassenkampf 34/2019

Nieder mit Macron! Für eine Arbeiterregierung!

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er Kapitalismus, der seit langem von Konzernen beherrscht wird, hat die Umwelt seit mehr als einem Jahrhundert geschädigt, weil er auf Gewinn und Wettbewerb beruht und nicht auf dem Interesse der Menschheit. Seit der ka­ pitalistischen Weltwirtschaftskrise von 1974 leidet die französische Arbeiterklas­ se unter Massenarbeitslosigkeit. Seit der globalen kapitalistischen Krise von 2008 ist die Arbeiterklasse verarmt und prekarisiert, damit die französische Bourgeoi­ sie ihre Gewinne sichern kann. Die Wohnhäuser für die arbeitenden Armen in den Städten verfallen, die SNCF schließt kleine Eisenbahnlinien, das öffentliche Gesundheitswesen und die öffentliche Erziehung werden abgewürgt. Die Ärms­ ten der Armen, die Migranten, sind das Ziel der Unterdrückung durch Grenz­ schutz und Polizei. Die Polizei und die Armee rekrutieren und rüsten stärker auf als je zuvor.

Warum eine Bewegung außerhalb der Arbeiter­ parteien und Gewerk­ schaften?

Regierungspläne gegen Arbeitslose, Rentner und Beamte zu. Die PCF, LFI, LO, die NPA ... haben solche Verhandlungen jedes Mal befürwortet. Wie überra­ schend ist es also, dass die wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung Hollande und die PS­PRG­EELV­Regie­ schließlich außerhalb der "reformisti­ rung haben für die Bourgeoisie regiert schen" Parteien und Gewerkschaften ex­ und enttäuschten die Masse der Arbei­ plodiert ist? ter, die für ihn und die PS stimmten. Dies erleichterte den Aufstieg Macrons, eines Eine verwirrte Bewe­ früheren Investmentbankers und Wirt­ gung mit ungeordneten schaftsministers unter Hollande, zur Prä­ Aktionen ­ Stärken und sidentschaft. Seit zwei Jahren verdoppelt Macron im Auftrag der Bourgeoisie die Schwächen der Bewe­ Angriffe auf die Arbeiter, verstärkt die gung der Gelbwesten Ausbeutung und Flexibilisierung von Ar­ beit und Löhnen. Im Namen des "ökolo­ Am 17. November ist der Auslöser für gischen Übergangs" wälzte er einen die Blockaden die Anhebung der Kraft­ großen Teil der Steuern von den Kapita­ stoffpreise. Die Bewegung hat sich erst listen und Reichen auf den Rücken der seitdem erweitert. In Réunion, wo das Arbeiter über. Aber PS, PCF, La France Leben noch teurer ist, die Ungleichhei­ Insoumise, Génrations erklären, man ten gravierender und die Arbeitslosigkeit müsse auf die nächsten Wahlen warten. höher, nahm sie von Anfang an eine mas­ LFI setzt sich für Protektionismus ein sivere Form an. und macht glauben, dass die Ursache Angriffe auf Finanzämter liegen in der der Probleme aus dem Ausland kommt Tradition der Händler­ oder Bauernbe­ (EU, Deutschland ...) und nicht vom Ka­ wegungen, nicht der Arbeiterbewegung. pitalismus her. Die Wahl des Boulevard des Champs­Ely­ Die Gewerkschaftsführungen der CGT, sees, die dreifarbigen Nationalflaggen, CFDT, FO, Solidaires ... konnten die An­ die Marseillaise, die Angriffe auf Journa­ griffe der Regierungen von Sarkozy, Hol­ listen, die Zerstörung von Radarfallen, lande und Macron nicht verhindern, weil die rassistischen Exzesse ... zeigen die sie immer bereit waren, darüber zu ver­ Verwirrung der Bewegung und zeugen handeln und weil den Generalstreik zu vom Niedergang des Klassenbewusst­ verhindern. Derzeit akzeptieren die Ge­ seins des Proletariats. werkschaftsführer Diskussionen über Die mehr oder weniger einvernehm­

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lich bestimmten Sprecher der Bewegung haben eine heterogene Wunschliste ver­ öffentlicht, die viele progressive Maß­ nahmen enthält, die von der massiven Präsenz von Lohnabhängigen zeugen: Beseitigung der Obdachlosigkeit, pro­ gressivere Einkommenssteuer, SMIC ­Erhö­ hung (Mindestlohn) auf 1.300 Euro netto, Verbesserungsmaßnahmen für den Wohnraum, keine Renten unter 1.200 Euro, jeder gewählte politische Vertre­ ter soll den Durchschnittslohn [der arbei­ tenden Bevölkerung] verdie­ nen, Beschränkung der befristeten Verträ­ ge in Großunternehmen, Ende der CI­ CE [einer Förderung für Unter­ nehmen], keine Verzinsung von Schulden bei der Bank, Lohnobergrenze von 15.000 Euro, Schaffung von Arbeitsplätzen, Stei­ gerung der Behindertenbeihilfen, Begren­ zung der Mieten, mehr Mietwohnungen, sofortiger Stopp der Schließung von Ne­ bensbahnen, Postämtern, Schulen und Entbindungskliniken, Verbot, aus dem Elend älterer Menschen Kapital zu schla­ gen (bezieht sich auf Pflegekosten), maxi­ mal 25 Schüler in den Schulklassen, Steigerung der Mittel für die Psychiatrie, Pensionisantrittsalter 60 Jah­ re, Förderung des Gütertransports auf der Schiene ... (Brief an die Abgeordneten Frankreichs, 29. November) Andere sind reaktionär und zeugen vom Einfluss anderer Klassen, ein­ schließlich der großen Bourgeoisie, die offensichtlich bei den Blockaden fehlt. Nie wird das Eigentumsrecht der großen kapitalistischen Gruppen über die Wirt­ schaft in Frage gestellt. Der Katalog der "gelben Westen" will "Frankreich" gegen


Klassenkampf 34/2019 "das Ausland" verteidigen, d.h. gegen die Ausländer. Stoppt den Bau großer Gewerbegebie­ te in Großstädten ... Der Schutz der fran­ zösischen Industrie schützt unser Know­how und unsere Arbeitsplätze ... Das Verbot des Verkaufs von Immobilien in Frankreich an Ausländer... Wir zahlen die öffentlichen Schulden zurück ... Wer in Frankreich lebt, soll wie ein Franzose sein ... Rückführung von Personnen, die kein Asyl erhalten haben, in ihre Heimat­ länder... Erhöhung der Mittel fürJustiz, Po­ lizei, Gendarmerie und Armee ... Referenden müssen in die Ver­ fassung aufgenommen werden ... Rück­ kehr zu einer Amtszeit von 7 Jahren für den Präsidenten der Republik ... (Brief an die Abgeordneten Frankreichs, 29. No­ vember) Einige dieser Maßnahmen wären für die Arbeiter finanziell und politisch teu­ er. Worin sollte das Interesse der Arbei­ ter an einem Präsidenten der Republik bestehen? Warum ihm noch mehr Macht geben, indem sie ihn für sieben Jahre wählen? Warum sollten wir die wachsen­ de Staatsverschuldung an die von Ein­ kommenststeuern befreiten Banken und n Schwindler zurückzahlen, und wie soll das gehen, ohne Steuern zu erheben? Die "konsequenten Mittel" für einen militari­ sierten Polizeistaat müssen ebenfalls fi­ nanziert werden ... und dieser dient dazu, die Interessen des französischen Großkapitals zu verteidigen und die Ar­ beiter zu unterdrücken. Die Verwirrung der Ziele, die Durch­ lässigkeit für den Chauvinismus ermögli­ chen es den bürgerlichen Parteien, die Bewegung für sich zu reklamieren. Wau­ quiez [Vorsitzender der reaktionären Partei die Republikaner], der für Privati­ sierungen ist, hatte sich gehütet, bei den streikenden Eisenbahnern aufzutauchen. Auf der anderen Seite inszenierte er sei­ ne Unterstützung für die "Gelbwesten". Auch die "Degagistes" [dégager = et­ was loswerden, also etwa die herrschen­ den Eliten], die den Klassenkampf abstreiten, schmeicheln der Bewegung. Ein immenser Moment der Selbstorga­ nisation des Volkes ist im Gange. Die Men­ schen haben die Hindernisse der Spaltung und der Abschreckung bereits überwun­ den. (Jean­Luc Mélenchon, 17. Novem­ ber); Die Bewegung der gelben Westen ist ein Beispiel für Selbstorganisation. (Jean­ Luc Mélenchon, 18. November)

Frankreich Auch wenn es der LFI [La France In­ soumise] nicht gefällt: wir sind weit von einem Modell der Selbstorganisation entfernt: Es gibt keine Versammlungen, keine Wahlen, keine Delegierten, keine nationale Koordinierung der Delegierten. Keine Kontrolle der Basis über die Spre­ cher, keine Selbstverteidigung. Erneut zeigen soziale Netzwerke, dass sie die Mobilisierung erleichtern, aber nicht die

nisationen ist immens. Es kann nicht darum gehen, Macron zu Hilfe zu eilen, wie das der Führer der CFDT tut. Es kommt darauf an, das Umschlagen in Verzweiflung und Reaktion zu verhin­ dern. Der Protest muss sich auf die Ein­ heit der Arbeiter und auf die Effizienzder Bewegung orientieren. Die Gewerkschaf­ ten müssen mit der Regierung brechen, mobilisieren und sich um folgende For­

6. Dezember, Mantes-laJolie, Yvelines: Nach Schüler_innenprotesten kesselt die Spezialpolizei CRS 151 Schüler_innen ein und zwingt sie, gefesselt und kniend auszuharren. Ein Bild, das die Empörung gegen die Regierung Macron noch mehr angestachelt hat.

Demokratie der Kämpfe garantieren. Auf den Champs­Elysees wird die Wut der gelben Westen durch den zur Schau gestellten Luxus angeheizt. In Paris kön­ nen am 24. November und 1. Dezember auf Grund mangelnder Organisation der Demonstranten faschistische Gruppen, die gelbe Westen tragen, im großen Stil randalieren und Schäden anrichten. Wenn die Polizei angreift, verschwinden die Nazis. Die Demonstranten aus der Provinz werden festgenommen und ge­ demütigt. Diebstähle, Plünderungen und Vandalismus dienen als Vorwand zur Einschränkung des Demonstrations­ rechts. Ein Teil der Jugend springt in die Bre­ sche: Anfang Dezember sind mehr als einhundert Gymnasien blockiert, an vie­ len Universitäten veranstalten Studenten Generalversammlungen.

Wahl von Delegierten der kämpfenden Arbei­ ter! Macron ist angeschlagen. Indem sie auf die Verwirrung der “gelben Westen” setzen, versuchen jene politischen Par­ teien der Bourgeoisie, die Konkurrenten von LREM sind (die LR von Wauquiez, DlF von Dupont­Aignan, RN von Le Pen ...), die Bewegung zu instrumentali­ sieren, während sie den gleichen Interes­ sen dienen wie Macron ­ denen der französischen Bourgeoisie. Die Verantwortung der Arbeiterorga­

derungen zusammenzuschließen: • Abschaffung aller Steuern auf den täglichen Konsum (Mehrwertsteuer, TIPP, TICPE ...)! Umweltsteuern auf das Gro apital und die Reichen! Progressive Steuern auf Einkommen und Vermögen! Ende der Steuerbefreiungen für Kapita­ listen und Erhöhung der Sozialversiche­ rungsbeiträge des Kapitals! Abschaffung der Sozialversicherungsbeiträge der Ar­ beitenden! • Enteignung der Autobahnbetrei­ ber! Enteignung der Banken, die die Steuerflucht der Reichen organisieren! Enteignung der großen Öl­ und Automo­ bilkonzerne! kostenlose öffentliche Ver­ kehrsmittel in Ballungsräumen und Autobahnen! • Kündigungsverbot und Arbeits­ zeitverkürzung! Erhöhung des Smic (Mindestlohns) und aller Löhne, Indexie­ rung der Löhne und Renten! Billiges und qualitativ hochwertiges Wohnen in den Städten! • Vollversammlungen in Unterneh­ men, Studienorten und Stadtteilen! Wahl von Delegierten! Von den Vollversamm­ lungen beschlossener Ordnerdienst zur Verteidigung von Streiks und Demons­ trationen! Koordination in jeder Stadt, in jedem Departement, im ganzen Land! • Nieder mit Macron! Einheitliche gesamtfranzösische Demonstration zum Èlysee! Arbeiterregierung! Dieser Artikel ist die Zusammenfassung des Editorials der Zeitung unserer französischen Genoss_innen und eines Flugblattes der GMI

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Deutschland

Klassenkampf 34/2019

Die deutsche Bourgeoisie 2019:

Auf der Suche nach einer neuen Strategie

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ie Strategie einer Bourgeoisie ist nicht abhängig von den ihre Interessen vertretenden Parteien oder Personen. Diese geben jedoch in der Regel ge­ nügend Auskunft über das, was sie als Klasse am nötigsten braucht, um ihre Klas­ senherrschaft möglichst ungestört ausüben zu können.

Dieses „Ungestörtsein“ gab es in Ver­ gangenheit und Gegenwart nicht und wird auch in der Zukunft nicht ungebro­ chen existieren. Es muss also immer dar­ um gehen, den Schaden für Erhalt und Steigerung der Profite als Folge von Ar­ beitskämpfen, Lohnerhöhungen und all­ gemeinen sozialen Kosten möglichst gering zu halten.

Strategische Ungewiss­ heiten Wie dem tendenziellen Fall der Pro­ fitrate in der jeweiligen historischen Si­ tuation zu begegnen ist, wird ganz wesentlich von der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung des Kapitalis­ mus selbst bestimmt. In der jüngeren Vergangenheit wurde durch die Einver­ leibung der ehemaligen DDR in die Bun­ desrepublik Deutschland dem deutschen Kapital noch einmal eine Pause gewährt im „großen Streit“ der Klassen. Dabei hatte die deutsche Bourgeoisie sich vor­ bereitet auf diese Auseinandersetzung, wann immer es der historische Augen­ blick zuließ. 1968 trotzte sie der SPD in der damaligen Großen Koalition unter Kurt Georg Kiesinger (EX­NSDAP­Mit­ glied) die Notstandsgesetze ab im Aus­ tausch zur Beendigung eines langen Streiks der IG Metall für die Lohnfortzah­ lung im Krankheitsfall. Diese Errungen­

schaft der deutschen Arbeiterklasse ist bis heute im Grundsatz unangetastet ge­ blieben. In den 1970er Jahren sah sich die deutsche Bourgeoisie in der alten BRD mit vielen Bewegungen konfrontiert. Streiks gegen Betriebsschließungen, für Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkür­ zungen, Demonstrationen gegen die Sta­ tionierung der Pershing­II­Raketen, Kämpfe an Schulen, Hochschulen und Universitäten für deren Demokratisie­ rung, aufkommende Bürgerinitiativen für alle möglichen kommunalen Belange (u.a. des BBU (Bundesverband Bürgerin­ itiativen Umweltschutz)), massenhafte Demonstrationen und Bauplatzbesetzun­ gen gegen die Durchsetzung des deut­ schen Atomprogramms (das alle Stufen bis hin zur Erzeugung von Plutonium als Vorstufe zum Bau einer eigenen Atom­ bombe vorsah) durch die in Teilen sieg­ reiche Anti­AKW­Bewegung beherrsch­ ten bis in die 1980er Jahre hinein die ge­ sellschaftlichen Auseinandersetzungen. Die Bourgeoisie erkannte, dass es feine­ rer und effektiverer Mittel der Unter­ drückung und Kanalisierung dieser Massenbewegungen bedurfte, als es die bisherigen begrenzten gesetzlichen und polizeilichen Kräfte ermöglichten. Eine erste Welle der Verschärfung der Polizei­ gesetze und der ungezügelte Einsatz staat­ licher Repression waren die Antwort.

Die SPD war seit 1945 immer ein treuer Erfüllungsgehilfe des deutschen Kapitals. Hartz IV war eine sozialdemokratische Erfindung ... Links: Anti-Hartz-IV-Demo in Hamburg, 2011

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Auch die Rechtsprechung verschärfte sich entsprechend der neuen Gesetzeslage. Der Zusammenbruch der bürokrati­ schen Herrschaft in den degenerierten Arbeiterstaaten der UdSSR, in Osteuropa und Asien schuf ganz neue Möglichkei­ ten der Erschließung neuer Anlagesphä­ ren für das deutsche ­ und internationale ­ Kapital. Vorübergehend brauchte die Bourgeoisie in Deutschland nicht mehr auf eine Verschärfung der inneren Aus­ beutung, abgesichert durch Aufrüstung und Einsatz der staatlichen Repressions­ organe, setzen. Die bis dahin beschlosse­ nen Maßnahmen wurden gleichwohl konsequent weiter umgesetzt. Sie hatte nun eine „größere Aufgabe“: die Zerschlagung der ostdeutschen Ar­ beiterklasse und ihrer Produktionsstät­ ten sowie ihre Nutzung als willige und billigere Arbeitskräfte zur Bekämpfung der immer „unbotmäßiger“ gewordenen westdeutschen Arbeiterklasse. Das Druckmittel von Millionen Langzeitar­ beitslosen in Westdeutschland und der neuen Millionen Arbeitslosen in Ost­ deutschland schossen die deutsche Ar­ beiterklasse sturmreif für einen weiteren Angriff der deutschen Bourgeoisie: die Schaffung neuer Sozialgesetze mit HARTZ IV, Sanktionen und massiver Ver­ elendung der Massen. Dies alles mit tat­ kräftiger Unterstützung der deutschen Sozialdemokratie und den von ihr be­ herrschten Gewerkschaften.

Klassenzusammenarbeit – ein Auslaufmodell für die Bourgeoisie Die institutionalisierte Klassenzusam­ menarbeit zwischen deutscher Bourgeoi­ sie und Sozialdemokratie funktionierte seit Beginn der 1960er Jahre mit der Ver­ abschiedung des „Godesberger Pro­ gramm“ der SPD fast reibungslos. Immer gelang es der Sozialdemokratie, Bewe­ gungen die Spitze abzubrechen, indem sie sich an ihnen „deeskalierend“ betei­ ligte, um den Klassenfrieden zu wahren.


Klassenkampf 34/2019 Lange konnte der deutsche Imperialis­ mus dieses Modell des „Co­Manage­ ments“ auf betrieblicher und gesellschaftlicher Ebene dank der erfolg­ reichen Ausbeutung der internationalen Arbeiterklasse („Export­Weltmeister“) so gut finanzieren, dass substanzielle Radi­ kalisierungen von Teilen der Arbeiter­ klasse ausblieben. Landauf, landab wurde die „Sozialpartnerschaft“ gefeiert. Ganzen Generationen der deutschen Ar­ beiterklasse wurde so jeder auch nur ru­ dimentäre Ansatz von Klassenbewusstsein ausgetrieben. Die deutsche Bourgeoisie versuchte nach 1990 anfangs noch, in derselben Weise fortzufahren. Doch versagte mit der Einverleibung der DDR in die BRD zunehmend die Integrationskraft der deutschen Sozialdemokratie. Die Arbei­ ter in Ostdeutschland, obwohl dem Kahl­ schlag der Treuhand unterworfen, glaubten lieber den Versprechungen des Bourgeois­Kanzlers Helmut Kohl („blü­ hende Landschaften“) als den Warnun­ gen eines Oskar Lafontaine vor dem ungezügelten Zugriff des internationalen Kapitals auf die wenigen „Perlen“ des bü­ rokratisch degenerierten Arbeiterstaates DDR. Nur noch zweimal war die Sozialde­ mokratie, mit Unterstützung des neuen arrivierten Kleinbürgertums in den Städ­ ten (das von den Grünen repräsentiert wird) in der Lage, ihre Bindungskraft ge­ genüber der Arbeiterklasse im Interesse der Bourgeoisie unter Beweis zu stellen: 1998 und 2002. Es kamen die ersten mas­ siven Angriffe auf den Lebensstandard der Arbeiterklasse (HARTZ IV u.a.). Schon 2002 drohte diese Eilfertigkeit zu einem Debakel für die SPD zu werden. Nur ein ungeheurer, auch persönlicher Kraftakt des damaligen Kanzlers, Ger­ hard Schröder, rettete ihr bei der Wahl zum neuen Bundestag eine regierungsfä­ hige Mehrheit. Seitdem war der deutschen Bourgeoi­ sie klar, dass sie wieder offensiver für ih­ re Interessen eintreten musste. Im Jahr 2005 war es dann soweit. Schröder musste nach der von ihm selbst vorgezo­ genen Bundestagswahl abtreten, auch wenn er es zunächst nicht glauben woll­ te. Seitdem befindet sich die Hauptpartei der deutschen Bourgeoisie, die Union aus CDU und CSU, wieder als führende Partei in den Koalitionsregierungen. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise

Deutschland 2007/2008 und ihren Folgen kam es 2009 zu einer rein bürgerlichen Koalition (2009 bis 2013), in der es der FDP letzt­ lich nicht rasch genug in Richtung mas­ siver Angriffe auf die Errungenschaften der deutschen Arbeiterklasse ging. Doch bis zuletzt versuchten die verschiede­ nen Kapitalfraktionen innerhalb der CDU und CSU, den weicheren Gang zu gehen. In all diesen Jahren war die Sozialdemo­ kratie immer, wo sie gefragt war, ein will­ fähriger Partner. Die neue industrielle Revolution (Computerisierung der Produktion („In­ dustrie 4.0“), Digitalisierung sämtlicher Berufs­ und Lebensbereiche) mit der er­ warteten Entstehung neuer Massenar­ beitslosigkeit in Millionen (bei derzeitigen 2,5 Mio. Arbeitslosen) zwingt die Bourgeoisie nun zum Abschied vom bisherigen Modell der Klassenzusam­ menarbeit. Der Frontalangriff auf die ei­ gene Arbeiterklasse sowie die Verschärfung der innerimperialistischen Auseinandersetzungen werden zwingend für das Überleben verschiedener Kapi­ talfraktionen (u.a. Automobilindustrie, Kraftwerksindustrie (Kohle, Atom), Stahlindustrie). Diese wurden bisher nur durch den Aufstieg des Dienstleistungs­ sektors zu einem wesentlichen Faktor der gesellschaftlichen Deckungsbei­ tragsrechnung gemildert. Dieser Sektor wird jedoch in den nächsten Jahren durch die weltumspannende Digitalisie­ rung und den damit verbundenen Mög­ lichkeiten (Jobsharing von zu Hause aus, internationale Zusammenarbeit von zu Hause aus, u.a.) einem radikalen Struk­ turwandel unterworfen werden. Der deutschen Bourgeoisie wird es langsam bange: „174 Milliarden Euro für den sozialen Frieden – reicht das?“ So fragte die Süddeutsche Zeitung am 11.Dezember 2018 angesichts des neuen Bundeshaushaltes für 2019. Und Richard Baldwin warnt am 28.12.2018 in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ): „Diesmal wird es auch höhere An­ gestellte und Besserverdienende treffen, deren Dienstleistungen internationali­ siert werden; aber auch geringqualifi­ zierte Beschäftigte wie Putzdienste. Wenn diese in Allianz mit den Arbeitern treten, die bereits von der Globalisie­ rung betroffen sind, könnte dies zu einer Revolte führen.“ Aktuell erleben wir das schon in Frankreich („Gelbwesten“). Der SPD­Bundesfinanzminister Scholz be­

ginnt schon mit der publizistischen Vor­ bereitung: „Die fetten Jahre sind vorbei.“ (Süddeutsche.de, 06.01.2019)

Der Weg in den Polizei­ staat als Teilantwort auf die aktuelle Lage Die in den letzten beiden Jahrzehnten entstandene Erosion der Wählerbasis der Hauptparteien von Bourgeoisie und Proletariat, CDU/CSU und SPD, ist der ständigen Nichtbeachtung der tatsächli­ chen Bedürfnisse breiter Teile der Arbei­ terklasse und des Kleinbürgertums geschuldet. Die Grünen, DIE LINKE, die AfD und seit letztem Jahr „#aufstehen“ sind stark gewordener Ausdruck dieses Verlustes der Integrationskraft der füh­ renden Klassenparteien. Die fortwähren­ de Duldung der immer offener und gewalttätiger auftretenden Faschisten er­ gänzt das Bild eines klassischen imperia­ listischen Staates in seiner strukturellen Krise. Die Bourgeoisie weiß, dass in den kommenden Jahren die Klassenausein­ andersetzungen schärfer werden müs­ sen. Sie bereitet sich vor, in taktisch gut geordneter Manier, mit der Verabschie­ dung neuer Polizeigesetze in allen Bun­ desländern. Den Anfang machte dabei Bayern (damals CSU­Alleinregierung) noch vor der Landtagswahl 2018. Es folg­ ten Nordrhein­Westfalen (CDU­/FDP­Ko­ alitionsregierung) und Niedersachsen (SPD­/CDU­Koalitionsregierung). Die Blaupause lieferte das bayrische Polizei­ gesetz. „Das Gesetz ist ein Verstoß gegen das Übermaßverbot. Es gibt der Polizei Befugnisse, wie sie der Geheimdienst hat. Es gibt ihr Waffen, wie sie das Militär hat. Es gibt ihr Eingriffs­ und Zugriffs­ rechte, wie sie in einem Rechtsstaat nur Staatsanwälte und Richter haben dürfen. Das neue Polizeigesetz macht aus der Polizei eine Darf­fast­alles­Behörde.“ (He­ ribert Prantl auf Süddeutsche.de am 14.05.2018). Bei „drohender“ Gefahr darf sie nun ihr ganzes Arsenal einsetzen, nicht erst bei „konkreter“ Gefahr. Welche Gefahr droht, entscheidet nun allein die Polizei. Es ist ein Gesetz, das nicht mehr zwischen Schuldigen und Unschuldigen unterscheidet. Es kennt keine Verdächti­ gen und Unverdächtigen mehr. Es kennt nur noch Gefahrpersonen, die über­ wacht werden müssen. Dazu passt, dass, gesetzlich abgesichert, ohne richterliche Erlaubnis der Staat ein Spionagepro­

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Deutschland gramm (Trojaner) auf jedem Computer, privat oder geschäftlich, installieren darf. Dieses Programm ist sogar in der Lage, sich auf einem Computer zu instal­ lieren, wenn dieser ausgeschaltet ist – sofern er mit dem Internet verbunden ist

Klassenkampf 34/2019 andere Institutionen Zugriff auf die sensi­ blen Daten aller Flugreisenden, darunter Landeskriminalämter, Bundespolizei, Ver­ fassungsschutz, Militärischer Abschirm­ dienst, Bundesnachrichtendienst, Europol und andere Staaten...

© Gerhard Seyfried, 2015

via Kabel verbunden ist oder via WLAN verbunden werden kann. Parallel dazu erfolgt europaweit die Ausdehnung hin zu einer totalen Über­ wachung. Auf „netzpolitik.org“ schreibt Simon Rebiger am 25.05.2018: „...Die sogenannte Fluggastdatenspei­ cherung verpflichtet Airlines, eine lange Liste von Informationen über jeden Rei­ senden eines Auslandsflugs an das BKA (Bundeskriminalamt; V.B.) zu übermitteln. Jeder Datensatz besteht aus bis zu 60 Ein­ zeldaten. Fünf Jahre lang darf das BKA die Daten speichern, rastern und mit wei­ teren Datenbanken vergleichen. Nach sechs Monaten müssen diese Daten zwar „depersonalisiert“ werden, um nicht mehr unmittelbar einer bestimmten Person zu­ geordnet werden zu können. Eine richter­ liche Anordnung kann dies jedoch bei Bedarf rückgängig machen. Grundlage für die massenhafte Spei­ cherung ist eine EU­Richtlinie aus dem Jahr 2016. Sie verpflichtet die Mitglied­ staaten, bis zum heutigen Datum (25.5.2018) ein System zur Fluggastdaten­ speicherung in ihren Ländern einzufüh­ ren. Dazu verabschiedete der Bundestag im letzten Jahr das sogenannte Fluggast­ datengesetz. Bereits seit längerem beste­ hen Abkommen über den Austausch von Fluggastdaten zwischen der EU und den USA, Australien und Kanada. Neben dem BKA bekommen auch viele

Schon jetzt gibt es Forderungen, die Massenspeicherung auf die verbleibenden Verkehrsmittel auszuweiten. Nicht zuletzt Belgien drängt die europäischen Gremien immer wieder, seinem Vorbild zu folgen und auch Bus­, Schiffs­ und Bahnreisende in die Speicherung mit einzubeziehen. Das würde die endgültige Totalüberwa­ chung jeglicher Mobilität bedeuten.“ Das neue niedersächsische Polizeige­ setz (NPoG) ermöglicht es sogar, Perso­ nen bis zu 72 Stunden festzunehmen, ohne sie einem Richter vorzuführen.

Klassenzusammenarbeit – KEIN Auslaufmodell für die Führungen der refor­ mistischen Arbeiterpar­ teien und den von ihnen beherrschten Gewerk­ schaften Dieser massiven Bedrohung weiß die Sozialdemokratie nichts entgegenzuset­ zen. Im Gegenteil. Sie beteiligt sich daran durch Teilnahme an den Regierungen mit den bürgerlichen Parteien. Führende Vertreter der SPD tingelten durch Nie­ dersachsen, um ihrer Basis das NPoG schmackhaft zu machen. Die Versamm­

lungen glänzten vor allem durch geringe Teilnahme der Parteimitglieder. Gewiss auch eine Reaktion auf den unrühmli­ chen Eiertanz der SPD­Führung, um fast jeden Preis von den Pfründen der Macht zu kosten (neue Große Koalition in 2018). Derweil signalisieren die sozialdemo­ kratischen Gewerkschaftsführungen „ih­ rer“ Bourgeoisie, dass diese sich auch weiterhin auf sie verlassen kann. In den aktuellen Tarifrunden wurden von ihr moderate Lohnerhöhungen zugestanden im Austausch für sehr lange Laufzeiten der neuen Tarifverträge. Die IG Metall schloss für 24 Monate ab bis zum 31.03.2020.

Die Lebensgrundlagen des Proletariats sichern! Die Lohnerhöhungen werden die ge­ stiegenen Lebenshaltungskosten nicht auffangen können. Mit Ausnahme des Le­ bensmittelbereiches, stiegen fast überall die Preise. Mietwohnungen in den Städ­ ten, auch in den kleinen Städten, sind mittlerweile kaum noch zu finden oder für Menschen mit durchschnittlichem Verdienst nicht mehr zu bezahlen. Die Energiekosten steigen auf breiter Front. Erste Demonstrationen in den großen Städten von Tausenden Einwohnern ha­ ben die Wohnungsnot zu einem aktuellen Thema gemacht. Das Privateigentum an Grund und Boden, Haus und Wohnung, hat den Grundgesetz­Slogan von der „Sozialbindung des Eigentums“ („Eigen­ tum verpflichtet.“) längst ad absurdum geführt. An allen Fronten sieht sich das Prole­ tariat den vielfältigsten Angriffen seitens der Bourgeoisie ausgesetzt, immer mit Unterstützung durch den (noch) leben­ den Leichnam Sozialdemokratie. Weder die sozialdemokratische SPD noch die sozialreformerische DIE LINKE finden an­ gesichts dieser Lage zu einer gemeinsa­ men Antwort. Statt eine gemeinsame entschiedene Antwort zur Verteidigung der Lebensgrundlagen der Arbeiterklas­ se in Stadt und auf dem Land zu organi­ sieren, werden die eigenen

Kontakt: gruppe.klassenkampf@gmail.com Die Gruppe Klassenkampf im Internet: www.klassenkampf.net 14


Klassenkampf 34/2019

Internationaler Kassenkampf Fortsetzung von Seite 16

Sonderinteressen und Befindlichkeiten der Partei­ und Gewerkschaftsführungen befriedigt. Die kommenden Jahre werden für die deutsche Arbeiterklasse sehr we­ sentlich werden. Es geht um nichts weni­ ger, als von der „Klasse an sich“ zur „Klasse für sich“ (Karl Marx) zu werden. Daher gilt: SPD: • Keine Koalitionen mit den bürgerli­ chen Parteien CDU, CSU, FDP, Grüne, AfD! DIE LINKE: • Nein zu jeder Form der Klassenzusam­ menarbeit! • Keine Unterstützung bürgerlicher Kandidaten bei Wahlen, auch nicht auf kommunaler Ebene!

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Arbeiter und Angestellte: • Übt Druck auf die Führungen Eurer Gewerkschaften und Parteien aus für eine gemeinsame Front gegen die An­ griffe des Kapitals und seiner Regie­ rungen! • Bildet gemeinsame Komitees im Be­ trieb, im Stadtteil, in der Gemeinde auf dem Land! • Diskutiert Eure Probleme und findet gemeinsame Antworten! • Schließt Euch mit anderen Komitees auf der Basis dieser Antworten zu­ sammen! Volker Braun, 07.01.2019

Gruppe Klassenkampf Wer uns und unsere Positionen nöher kennen lernen will, ist herzlich zu unserem ROTEN TISCH eingeladen, bei dem wir in zwangloser Form politische und theoretische Fragen diskutieren!

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Ex­Präsident Lula ins Gefängnis gebracht hat sowie der Wirtschaftswissenschafter Paulo Guedes an. Guedes soll mit einer Equipe von wirtschaftsliberalen Anhän­ gern der “Chicago School” einen ähnli­ chen Austeritätskurs für Brasilien entwickeln, wie ihn der chilenische Dik­ tator Augusto Pinochet 1973 mit Hilfe der Chicago Boys gefahren hat. Allerdings stehen Bolsonaro nach wie vor gewichtige Gegenkräfte gegenüber: Die PT ist trotz ihrer Wahlverluste wei­ terhin in der Arbeiterklasse gut veran­ kert, ebenso wie die Gewerkschaftsverbände CUT, CONLUTAS oder INTERSINDICAL. Auch diverse klei­ nere sozialistisch orientierte Parteien und Gruppen haben teilweise auf lokaler Ebene nach wie vor Gewicht. Entscheidend wird es sein, dass es zu einer einheitlichen Antwort der Arbeiter­ organisationen, der Landlosenbewegung und der indigenen Verbände kommt. Die Führungen von PT und CUT sind so sehr in die politischen Strukturen des bürger­ lichen Staates verstrickt, dass auch in ih­ ren ersten Reaktionen auf die Wahl des Faschisten Bolsonaro keine kämpferi­ sche Antwort auf die aktuelle Bedrohung formuliert wurde. Offenbar versuchen die reformistischen Führer weiterhin, die Reaktion auf der parlamentarischen Ebe­ ne zu stoppen, was sich, wie die Amts­ enthebung der ehemaligen Präsidentin Dilma Roussef und die Verhaftung Lulas gezeigt haben, als illusionär erwiesen hat. Auf der Tagesordnung steht heute die Schaffung einer Einheitsfront der Arbei­ ter_innenorganisationen und der Verbän­ de der Landlosen, der Jugend in Ausbildung, der Studierenden. Diese Ein­ heitsfront muss die bewaffnete Selbst­ verteidigung gegen die faschistischen Banden und die kriminellen Söldner der Bolsonaro­Anhänger und der Agrokapita­ listen organisieren. Die dramatische Si­ tuation in Brasilien zeigt, wie wichtig es ist, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter über eine revolutionäre Partei verfügen, die mit einem klassenkämpferischen Pro­ gramm die Massen auch geistig gegen die faschistische Gefahr und die reaktio­ näre Regierungspolitik wappnet.

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Brasilien

Klassenkampf 33/2018

Brasilien vor der Entscheidung

Nach der Amtsübernahme durch Bolsonaro

A

m 1. Jänner hat in Brasilia Jair Bolsonaro sein Amt als neuer Staatspräsi­ dent Brasiliens angetreten. Unter den Ehrengästen befanden sich unter an­ derem der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu und der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban. Zum Bedauern des Ex­Majors mit faschistischen Neigungen ließ sich sein größtes Vorbild entschuldigen: US­Präsident Donald Trump schickte als Vertreter seinen Außenminister Mike Pompeo. Trump ließ es sich jedoch nicht nehmen, Bolsonaro via Twitter ­ wie denn sonst? ­ Rosen zu streuen. Er sei der beste Mann, um Brasilien zu retten und ein guter Freund. Viel­ leicht hängt dieses Lob auch damit zusammen, dass der neue Präsident den USA Militärstützpunkte in Brasilien gewähren will und den verhassten venezolani­ schen Staatspräsidenten Maduro (der eh nicht gekommen wäre) von der Amtsein­ führung ausgeladen hatte.

General Luiz Eduardo Ramos Baptista Pereira im angeregten Gespräch mit Präsident Jair Bolsonaro: (Waffen)Brüder im Geiste

Die begeisterte Unterstützung für den Mann, der Brasilien als neuen Gottes­ staat sieht („Brasilien über alles und Gott über allen“ lautet sein Wahlspruch) und die Verbrechen der von 1964 bis 1985 herrschenden Militärdiktatur beju­ belt, einen geradezu paranoiden Anti­ marxismus an den Tag legt und gegen Indigene, Homosexuelle, Farbige sowie verdächtige Intellektuelle hetzt, durch Regierungen wie jene Israels, Ungarns, Chiles und der USA lassen erkennen: Hier bahnen sich neue internationale Bündnisse an, deren kleinster gemeinsa­ mer Nenner der Hass der Herrschenden auf die arbeitslosen und arbeitenden Schichten der jeweiligen Länder ist.

närer Ministerinnen und Minister sowie einige Dekrete mit Gesetzeskraft nutzte: nur ein paar Stunden nach seinem Amts­ eid legte er die Verantwortung für die Schutzgebiete der indigenen und afro­ brasilianischen Gemeinschaften in die Hände der neuen Landwirtschaftsminis­ terin und Agrarlobbyistin Tereza Cristi­ na.

Bolsonaro konnte sich im Wahlkampf auf die gewaltige Finanzkraft der brasiliani­ schen Agrarwirtschaft stützen, deren Profitgier durch die vorhergehenden Re­ gierungen der PT (Arbeiterpartei) ausge­ bremst worden war. Bei allen Zugeständnissen an die Agrarkonzerne und Großgrundbesitzer stützte sich die Bolsonaro hat durch die brasiliani­ PT auf die ärmsten Schichten der Bevöl­ sche Verfassung eine enorme Macht, die kerung und kam ihnen teilweise entge­ er sofort nach seiner Amtseinführung gen. Damit soll jetzt Schluss gemacht durch die Ernennung extrem reaktio­ werden.

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Bolsonaros Wahlkampagne hat den fa­ schistischen und paramilitärischen Ban­ den im Dienst der Agrarkapitalisten und der städtischen Bourgeoisie Auftrieb ge­ geben. Schon seit November haben sich Mordanschläge und Überfälle auf Akti­ vist_innen der Arbeiterorganisationen, der sozialen Bewegungen und vor allem der Landlosenbewegung MST gehäuft. Der Mord an zwei Aktivisten der MST im nordöstlichen Bundesstaat Paraíba zeigt, mit welcher Brutalität die Groß­ grundbesitzer jeden Quadratmeter an die Landlosen verlorenen Bodens zu­ rückerobern wollen. Am 8. Dezember drangen schwerbewaffnete Paramilitärs in ein Camp der MST in einen vorher brach liegenden Bauernhof ein und er­ schossen José Bernardo da Silva, besser bekannt als Orlando, und Rodrigo Celes­ tino, bekannte Vertreter der Landlosen­ bewegung, beim Abendessen. Neben der Vertreibung der Landbe­ setzer haben die brasilianischen Kapita­ listen ein strategisches Ziel: Die Aufhebung der Schutzbestimmungen für die Regenwälder des Amazonas. Der Wunsch, mit Edelhölzern Profit zu ma­ chen, schlägt sich direkt mit den Interes­ sen der dort lebenden Indigenen. Bolsonaro, dessen Programm mit den Schlagworten „Bala, Boi e Bíblia“ (Kugel, Vieh und Bibel) zusammengefasst wird, hat klar gemacht, dass er den Lebens­ raum der indigenen Bevölkerung auch gewaltsam einschränken will. Zugleich gehören die Regenwälder zu den wich­ tigsten Ökosystemen der Welt und sind daher von großer umweltpolitischer Be­ deutung. Dem Kabinett Bolsonaros gehören ne­ ben Vertreterinnen und Vertretern diver­ ser evangelikaler Kirchen (eine Pastorin ist Familienministerin und kündigt einen rigiden patriarchalischen Erziehungs­ kurs an), sieben Ex­Militärs, der Staats­ anwalt, der PT­Gründungsmitglied und weiter auf Seite 15


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