MSZ: Reader Nr. 3 "Marxismus und Krieg"

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SCHULUNGSTEXTE DES MARXISTISCHEN STUDIENZIRKELS

M arxismus un d Krieg

Texte von W. I . Len i n u n d Leo Trotzki

Nummer 3


MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg

Inhaltsverzeichnis Zur Auswahl der Texte............................................................................................................................................3

Leo Trotzki Lenin und der imperialistische Krieg...................................................................................................................5 (30. Dezember 1938)..........................................................................................................................................5 Wladimir Iljitsch Lenin Sozialismus und Krieg............................................................................................................................................10 I. Kapitel: Die Grundsätze des Sozialismus und der Krieg 1914/1915..............................................................................10 Die Stellung der Sozialisten zu Kriegen.......................................................................................................10 Die historischen Typen von Kriegen in der Neuzeit.....................................................................................11 Der Unterschied zwischen Angriffs- und Verteidigungskrieg...........................................................................11 Der gegenwärtige Krieg ist ein imperialistischer Krieg...............................................................................12 Der Krieg zwischen den größten Sklavenhaltern um die Aufrechterhaltung und Festigung der Sklaverei. 12 „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit andern” (nämlich: gewaltsamen) „Mitteln” [2]......14 Das belgische Beispiel.................................................................................................................................14 Wofür kämpft Rußland?..............................................................................................................................15 Was ist Sozialchauvinismus?.......................................................................................................................15 Das Basler Manifest.....................................................................................................................................16 Falsche Berufungen auf Marx und Engels...................................................................................................16 Der Zusammenbruch der II. Internationale..................................................................................................17 Sozialchauvinismus ist vollendeter Opportunismus....................................................................................17 Einheit mit den Opportunisten heißt Bündnis der Arbeiter mit der „eigenen” nationalen Bourgeoisie und Spaltung der internationalen revolutionären Arbeiterklasse.......................................................................18 Das „Kautskyanertum”.....................................................................................................................................19 Die Losung der Marxisten ist die Losung der revolutionären Sozialdemokratie.........................................20 Das Beispiel der Verbrüderung in den Schützengräben....................................................................................20 Die Bedeutung der illegalen Organisation..................................................................................................21 Über die Niederlage der „eigenen” Regierung im imperialistischen Krieg.................................................21 Über den Pazifismus und die Friedenslosung...................................................................................................22 Vom Selbstbestimmungsrecht der Nationen...............................................................................................22 Leo Trotzki Krieg und die Vierte Internationale Vorwort..............................................................................................................................................................23 [Einleitung]........................................................................................................................................................24 Die Vorbereitung des neuen Krieges.................................................................................................................24 Die UdSSR und der imperialistische Krieg.........................................................................................................27 Die „nationale Verteidigung“...........................................................................................................................28 Die nationale Frage und der imperialistische Krieg..........................................................................................28 Verteidigung der Demokratie............................................................................................................................29 Die Verteidigung der kleinen und neutralen Staaten........................................................................................30 Die zweite Internationale und der Krieg...........................................................................................................31 Der Zentrismus und der Krieg...........................................................................................................................32 Die Sowjetdiplomatie und die internationale Revolution.................................................................................34 Die UdSSR und die imperialistischen Gruppierungen.......................................................................................35

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg Die Dritte Internationale und der Krieg.............................................................................................................38 Der „revolutionäre“ Pazifismus und der Krieg.................................................................................................38 Das Kleinbürgertum und der Krieg...................................................................................................................39 Der „Defätismus“ im imperialistischen Krieg...................................................................................................40 Krieg, Faschismus und die Bewaffnung des Proletariats..................................................................................41 Die revolutionäre Politik gegen den Krieg........................................................................................................43 Die Vierte Internationale und der Krieg............................................................................................................46

Leo Trotzki Manifest der IV. Internationale zum imperialistischen Krieg und zur proletarischen Weltrevolution .................................................................................................................................................................. 48 Die allgemeinen Gründe des jetzigen Krieges..................................................................................................48 Lenin und Imperialismus...................................................................................................................................49 Die direkten Gründe des Krieges......................................................................................................................50 Die Vereinigten Staaten....................................................................................................................................51 Die „Vaterlands“verteidigung..........................................................................................................................53 Der „Kampf für Demokratie“............................................................................................................................54 Die Kriegsparolen der Nazis..............................................................................................................................55 Die Übermacht Deutschlands............................................................................................................................56 „Das Friedensprogramm“.................................................................................................................................57 Die Verteidigung der UdSSR.............................................................................................................................58 Für den revolutionären Sturz der bonapartistischen Stalinclique.....................................................................60 Die Kolonialvölker im Krieg..............................................................................................................................62 Die eindrucksvolle Lehre Chinas.......................................................................................................................63 Die Aufgaben der Revolution in Indien.............................................................................................................63 Die Zukunft Lateinamerikas..............................................................................................................................64 Die Verantwortung der verräterischen Führungen für den Krieg......................................................................65 Die II. Internationale.........................................................................................................................................66 Die III. Internationale........................................................................................................................................67 Die Sozialdemokraten und die Stalinisten in den Kolonien..............................................................................68 Zentrismus und Anarchismus............................................................................................................................69 Die Gewerkschaften und der Krieg...................................................................................................................70 Die IV. Internationale........................................................................................................................................71 Unser auf den Boden des Bolschewismus gestütztes Programm.....................................................................71 Wir haben der Probe standgehalten!................................................................................................................72 Die proletarische Revolution.............................................................................................................................73 Das Problem der Führung.................................................................................................................................74 Sozialismus oder Sklaverei................................................................................................................................75 Was tun?...........................................................................................................................................................76 Die Arbeiter müssen militärische Techniken lernen..........................................................................................76 Das ist nicht unser Krieg...................................................................................................................................77

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Zur Auswahl der Texte

Der vorliegende Reader soll einen detaillierten Einblick in die Haltung der revolutionären MarxistInnen zum Krieg geben. Der erste Text von Leo Trotzki ist eine Einführung in das Thema, die sich – am Vorabend des 2.

imperialistischen Weltkrieges – mit den Lehren der Anti-Kriegspolitik, die Lenin für die bolschewistische Partei während des 1. Weltkrieges entwickelt hatte, auseinandersetzt. Vor

Kriegsausbruch

(August

1914)

war

es

in

der

II.

Internationale

beschlossene

Sache,

dass

die

Sozialdemokratischen Parteien im Falle eines Krieges alles daran setzen würden, diesen umgehend durch Klassenkampfaktionen zu verhindern. Als es jedoch nach dem österreichischen Ultimatum tatsächlich zum Krieg

kam, zerfiel die Internationale: In so gut wie allen Ländern stellten sich die SPen hinter „ihre“ nationale Bourgeoisie und stimmten für Kriegskredite und eine Burgfriedenspolitik (d.h. Verzichteten während des Krieges aus Lohnerhöhungen oder soziale Forderungen). Eine Ausnahme bildeten die russischen Bolschewiki und die bulgarische Partei der „Engherzigen“. Gleichzeitig formierten sich – meistens illegal – in den anderen sozialdemokratischen Parteien linksoppositionelle Strömungen,

die gegen die Kriegspolitik der Mehrheits-SozialdemokratInnen agitierten. Vom 5. bis 8. September 1915 hielten diese Kräfte im Schweizer Zimmerwald eine Konferenz ab, in der sie zum entschiedenen Kampf gegen den

imperialistischen Krieg aufriefen. Darüber hinausgehende Fragen – wie die einer neuen Internationale – konnten nicht geklärt werden. Lenin hatte im Vorfeld der Zimmerwalder Konferenz mit seinem thesenartigen Text „Sozialismus und Krieg“ (Text 2) die Position der Bolschewiki entwickelt: Ablehnung des imperialistischen Krieges, Umwandlung des Krieges in

den revolutionären Bürgerkrieg zum Sturz der Burgeoisie, Verteidigung des Selbstbestimmungsrechts der unterdrückten Nationalitäten – in dieser Klarheit eine wesentliche Bereicherung der marxistischen Theorie. Die nächsten beiden Texte hängen eng miteinander zusammen: Nach der Niederlage des deutschen Proletariats gegen die Nazis hatte die linke Opposition in der Komintern, die Bolschewiki-Leninisten (BL) – die „Trotzkisten“ eine Wende weg von ihrer alten Position der Reformierung der Kommunistischen Internationale, hin zum Aufbau einer

neuen

Internationale,

vollzogen.

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Hatten

die

Bolschewiki-Leninisten

die

Schaffung

der

ArbeiterInneneinheitsfront als wesentlichen taktischen Schritt zum Sieg über den Faschismus angegeben, der nur

durch den Kampf für die sozialistische Revolution möglich war, propagierte die stalinistische Bürokratie die Herstellung von Bündnissen mit der Bourgeoisie - „Volksfronten“. Statt Kampf für den Sozialismus hieß ihr Ziel: „Verteidigung der [bürgerlichen] Demokratie!“. Angesichts der wachsenden Weltkriegsgefahr verfasste Trotzki im Auftrag des Internationalen Sekretariats der 1 DAZU

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg Bewegung für die IV. Internationale – gestützt auf zahlreiche Diskussionen mit VertreterInnen der Sektionen der BL – die Thesen „Krieg und die IV. Internationale“. Sie stützten sich auf die Leninsche Position zum 1. Weltkrieg und reicherten sie um taktische Antworten auf die Frage „Wie stehen die Revolutionäre zum Krieg zwischen demokratischen und faschistischen Staaten?“ und den Themenkomplex „Verteidigung der Sowjetunion“ an. Die „Notkonferenz“ der IV. Internationale (19. - 26. Mai 1940) beschloss neue Leitsätze zur Kriegsfrage. Sie knüpfen an das obige Dokument an, präzisieren aber insbesonders die Haltung der Revolutionäre zu den nationalen Befreiungsbstrebungen der kolonialen und halbkolonialen Länder.

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Leo Trotzki

Lenin und der imperialistische Krieg (30. Dezember 1938) Zuerst erschienen auf Russisch in Biulleten Oppozitsii. In englischer Übersetzung in Fourth International, Bd.3 Nr.1, Januar 1942.

„Es war in der Geschichte bis jetzt immer der Fall“, schrieb Lenin 1916, „dass nach dem Tod von unter den

Massen populären revolutionären Führern deren Feinde versuchen, ihre Namen zu übernehmen, um die unterdrückten Klassen zu betrügen.“ Mit keinem anderen hat die Geschichte diesen Vorgang so grausam vollbracht als mit Lenin selbst. Die gegenwärtige offizielle Doktrin des Kreml und die Politik der Komintern zur Frage von Imperialismus und Krieg setzen sich rücksichtslos über Lenins Schlussfolgerungen, auf die er die Partei in der Zeit von 1914 bis 1918 brachte, hinweg. Mit dem Ausbruch des Krieges im August 1914 war die erste Frage, die sich stellte, folgende: Sollten die Sozialisten der imperialistischen Länder die „Verteidigung des Vaterlandes“ übernehmen? Der Streitpunkt war nicht

der, ob sich Sozialisten individuell der Einberufung widersetzen sollten oder nicht – da gab es keine andere Alternative; Desertieren ist keine revolutionäre Politik. Die Streitfrage war die: Sollten sozialistische Parteien die Kriegspolitik unterstützen, für das Kriegsbudget stimmen? Sollten sie dem Kampf gegen die Regierung entsagen und für die „ Verteidigung des Vaterlandes“ agitieren? Die Antwort Lenins war NEIN! Die Partei darf nicht so handeln, sie hat nicht deswegen kein Recht dazu, weil es um einen Krieg geht, sondern weil dies ein reaktionärer Krieg ist, weil es ein erbitterter Kampf zwischen Sklavenbesitzern um die Neuaufteilung der Welt ist.

Die Formierung der Nationalstaaten auf dem europäischen Kontinent beanspruchte eine vollständige Epoche, die

ungefähr mit der großen Französischen Revolution begann und mit dem französisch-preußischen Krieg abgeschlossen wurde. Während dieser dramatischen Jahrzehnte hatten diese Kriege vorwiegend nationalen Charakter. Kriege wurden für die Errichtung oder Verteidigung von Nationalstaaten, die für die Entwicklung der Produktivkräfte und der Kultur

notwendig waren, geführt und besaßen in dieser Periode einen grundlegend fortschrittlichen Charakter. Revolutionäre konnten nicht nur, sondern mussten nationale Kriege politisch unterstützen. Von 1871 bis 1914 erlebte der europäische Kapitalismus auf der Basis der Nationalstaaten nicht nur eine Blüte, er

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg überlebte sich auch selbst, indem er zum Monopol oder imperialistischen Kapitalismus wurde. „Der Imperialismus ist jenes Stadium des Kapitalismus, wo letzterer, nachdem er alles in seiner Macht Stehende erfüllt hat, zu verfaulen beginnt“.

Die Ursache für den Verfall liegt darin, dass die Produktivkräfte durch das System des Privateigentums ebenso wie

durch die Grenzen des Nationalstaates gefesselt sind. Der Imperialismus sucht die Welt zu teilen und neu aufzuteilen. Anstelle der nationalen Kriege treten die imperialistischen. Sie sind völlig reaktionärer Natur und Ausdruck der Stagnation und Fäulnis des Monopolkapitals.

Die Welt ist jedoch nach wie vor sehr verschieden. Der unterdrückende Imperialismus der fortgeschrittenen

Nationen kann nur deshalb existieren, weil rückständige Nationen, unterdrückte Nationalitäten, koloniale und halbkoloniale Länder auf unserem Planeten weiterbestehen. Der Kampf der unterdrückten Völker für nationale Vereinigung und Unabhängigkeit ist doppelt fortschrittlich, denn einerseits bereitet er günstigere Bedingungen für

ihre eigene Entwicklung vor, während er andererseits dem Imperialismus Schläge erteilt. Das im besonderen ist der

Grund, warum die Sozialisten im Kampf zwischen einer zivilisierten imperialistischen demokratischen Republik und einer rückständigen barbarischen Monarchie eines kolonialen Landes trotz seiner Monarchie zur Gänze auf der Seite des unterdrückten Landes und gegen das Unterdrückerland stehen, ungeachtet seiner „Demokratie“.

Der Imperialismus tarnt seine ihm eigenen Ziele – Besitzergreifung von Kolonien, Märkten, Rohstoffquellen,

Einflusssphären mit solchen Ideen wie der „Sicherung des Friedens gegen die Aggressoren“, der „ Verteidigung des Vaterlandes“, der „Verteidigung der Demokratie“ usw. Diese Ideen sind durch und durch falsch. Es ist die Pflicht eines jeden Sozialisten, sie nicht nur nicht zu unterstützen, sondern im Gegenteil sie vor dem Volke zu demaskieren. „Die Frage, welche Gruppe den ersten militärischen Schlag geführt oder als erste den Krieg?; erklärt hat“, schrieb Lenin im März 1915, „ist bei der Festlegung der Taktik der Sozialisten ohne jede Bedeutung. Die Phrasen von der Verteidigung des Vaterlandes, von der Abwehr eines feindlichen Überfalls, vom Defensivkrieg usw. sind auf beiden

Seiten reiner Volksbetrug“. „Für Jahrzehnte“, erklärte Lenin, „haben sich drei Banditen (die Bourgeoisien und

Regierungen Englands, Russlands und Frankreichs) bewaffnet, um Deutschland zu plündern. Ist es überraschend, dass die zwei Banditen (Deutschland und Österreich-Ungarn) eine Attacke begannen, bevor es den dreien gelang, die neuen Messer zu gebrauchen, die sie bestellt hatten?“.

Die objektiv historische Bedeutung des Krieges ist von entscheidender Wichtigkeit für das Proletariat: Welche

Klasse führt ihn mit welchem Ziel? Das ist ausschlaggebend und nicht die Ausflüchte der Diplomatie, vermittels derer der Feind immer erfolgreich als Aggressor dargestellt werden kann. Genauso verlogen sind die Hinweise der Imperialisten auf die Losungen von Demokratie und Kultur.

„... die deutsche Bourgeoisie ...betrügt die Arbeiterklasse und die werktätigen Massen, indem sie behauptet, sie führe den Krieg, um die Heimat, die Freiheit und die Kultur zu verteidigen, um die vom Zarismus unterdrückten

Völker zu befreien und um den reaktionären Zarismus zu vernichten. ...die englische und französische Bourgeoisie ...betrügt ...die Arbeiterklasse und die werktätigen Massen, indem sie behauptet, sie führe Krieg, um die Heimat, die Freiheit und die Kultur gegen den deutschen Militarismus und Despotismus zu verteidigen.“

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg Die verschiedenen Arten des politischen Überbaus können nicht die reaktionären Ökonomischen Grundlagen des Imperialismus verändern. Im Gegenteil, es ist die Basis, die sich den Überbau unterordnet. „In unseren Tagen ... ist es sogar dumm, an eine fortschrittliche Bourgeoisie, an eine fortschrittliche bürgerliche Bewegung zu denken. Jegliche bürgerliche ‚Demokratie‘ ... ist reaktionär geworden“. Diese Einschätzung der imperialistischen „Demokratie“ bildet den Eckstein der gesamten Leninschen Konzeption. Da der Krieg also von beiden imperialistischen Lagern nicht für die Verteidigung des Vaterlandes und der

Demokratie, sondern für die Neuaufteilung der Welt und die koloniale Unterjochung geführt wird, hat ein Sozialist kein Recht, ein verbrecherisches Lager dem anderen vorzuziehen. Absolut vergeblich ist jeder Versuch, „vom Standpunkt des internationalen Proletariats“ zu bestimmen, „die Niederlage welcher der beiden Gruppen von kriegsführenden Nationen das kleinere Übel für den Sozialismus wäre.“ Schon in den ersten Tagen des September 1914 hat Lenin das Wesen des Krieges für jedes der imperialistischen Länder und für alle Gruppierungen wie folgt charakterisiert: „Kampf um die Märkte und Raub fremder Länder, das Bestreben, die revolutionäre Bewegung des Proletariats und der Demokratie im Innern der Länder zu unterbinden, das Bestreben, die Proletarier aller Länder zu übertölpeln, zu

entzweien und abzuschlachten, indem man im Interesse der Bourgeoisie die Lohnsklaven der einen Nation gegen die Lohnsklaven der anderen Nation hetzt – das ist der einzige reale Inhalt, die einzige reale Bedeutung des Krieges.“

Wie weit entfernt ist all das von der jetzigen Doktrin Stalins, Dimitroffs und Co.! Die Politik der „nationalen Einheit“ während des Krieges bedeutet, sogar mehr noch als in Friedenszeiten, die Unterstützung der Reaktion und die Fortführung der imperialistischen Barbarei. Eine solche Unterstützung zu verweigern – die elementare Pflicht eines Sozialisten – ist jedoch nur die negative oder passive Seite des Internationalismus. Das alleine ist nicht genug. Die Aufgabe der Partei des Proletariats ist „... allseitige, sowohl unter den Truppen als auch auf den Kriegsschauplätzen zu treibende Propaganda für die sozialistische Revolution und für das Gebot, die Waffen nicht gegen die eigenen Brüder, die Lohnsklaven anderer Länder zu richten, sondern gegen die reaktionären und bürgerlichen Regierungen und Parteien in allen Ländern. Es ist unbedingt notwendig, für eine solche Propaganda in allen Sprachen illegale Zellen und Gruppen in den Armeen

aller Nationen zu organisieren. Gegen den Chauvinismus und ‚Patriotismus‘ der Kleinbürger und Bourgeois ist in ausnahmslos allen Ländern ein schonungsloser Kampf zu führen.“ Aber ein revolutionärer Kampf in Kriegszeiten kann zur Niederlage der eigenen Regierung führen. Diese Schlussfolgerung schreckte Lenin nicht. „In jedem Land darf der Kampf gegen die eigene Regierung, welche einen imperialistischen Krieg führt, nicht vor der revolutionären Agitation für die Niederlage dieses Landes zurückschrecken.“ Das ist genau das, was die Linie des „Defaitismus“ beinhaltet. Skrupellose Gegner haben versucht, dies dahingehend zu interpretieren, dass Lenin angeblich die Kollaboration mit anderen Imperialismen guthieß, um die nationale Reaktion zu besiegen. Tatsächlich war das, von dem er sprach, ein paralleler Kampf der Arbeiter aller

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg Länder gegen ihren eigenen Imperialismus, als ihren primären und nächsten Feind. „Vom Standpunkt der Interessen der arbeitenden Massen und der Arbeiterklasse Russlands aus betrachtet“, schrieb Lenin im Oktober 1914 an Schljapnikow, „kann es nicht den leisesten Zweifel geben – kann es absolut nicht den

leisesten Zweifel irgendeiner Art geben – dass jetzt das geringere Übel die unverzögerte Niederlage des Zarismus wäre.“

Es ist unmöglich, gegen den imperialistischen Krieg zu kämpfen, wenn man nach der Art der Pazifisten nach Frieden jammert.

„Pazifismus und abstrakte Friedenspredigt sind eine Form der Irreführung der Arbeiterklasse. Im Kapitalismus, und besonders in seinem imperialistischen Stadium, sind Kriege unvermeidlich.“

Ein von Imperialisten geschlossener Friede würde nur eine Atempause vor einem neuerlichen Krieg sein. Nur ein

revolutionärer Massenkampf gegen Krieg und Imperialismus, den der Krieg hervorbringt, kann einen wirklichen Frieden sichern. „Ohne eine Anzahl von Revolutionen ist der sogenannte demokratische Frieden eine kleinbürgerliche Utopie.“

Der Kampf gegen die einschläfernden und schwächenden Illusionen des Pazifismus findet Eingang in die Leninsche

Doktrin als ihr wichtigstes Element. Er wies mit besonderer Feindseligkeit die Forderung nach „Abrüstung als offensichtlich utopisch unter kapitalistischen Verhältnissen“ zurück. „Eine unterdrückte Klasse, die nicht danach strebt, die Waffen handhaben zu lernen und Waffen zu besitzen, ist nur wert, als Sklave behandelt zu werden“. Und weiter: „Unsere Losung muss lauten: Bewaffnung des Proletariats, um die Bourgeoisie zu besiegen, zu expropriieren und

zu entwaffnen ... Erst nachdem das Proletariat die Bourgeoisie entwaffnet hat, kann es, ohne an seiner weltgeschichtlichen Aufgabe Verrat zu üben, alle Waffen zum alten Eisen werfen.“ Dies führt zu dem Schluss, den Lenin in Dutzenden von Artikeln zieht: „Die Losung ‚Friede‘ ist falsch. Die Losung muss sein, den nationalen Krieg in einen Bürgerkrieg zu verwandeln“. Die meisten Arbeiterparteien in den fortgeschrittenen Ländern wechselten auf die Seite ihrer betreffenden Bourgeoisien hinüber . Lenin bezeichnete diese Tendenz als Sozialchauvinismus: Sozialismus in Worten,

Chauvinismus in Taten. Der Verrat am Internationalismus fiel nicht vom Himmel, sondern kam als unvermeidliche Fortsetzung und Entwicklung der Politik reformistischer Anpassung. „Der ideologisch politische Inhalt des Opportunismus und des Sozialchauvinismus ist ein und derselbe: Zusammenarbeit der Klassen statt Klassenkampf, Verzicht auf revolutionäre Kampfmittel, Unterstützung der ‚eigenen‘ Regierung in einer für sie schwierigen Lage statt Ausnutzung dieser Schwierigkeiten für die Revolution.“

Die Periode der kapitalistischen Prosperität unmittelbar vor dem letzten Krieg – von 1909 bis 1913 verband die

oberen Schichten des Proletariats sehr eng mit dem Imperialismus. Von den Superprofiten, die die imperialistische Bourgeoisie im allgemeinen aus den Kolonien und den rückständigen Ländern erzielte, fielen saftige Brosamen auf

die Arbeiteraristokratie und -bürokratie. In der Konsequenz wurde ihr Patriotismus durch direktes Eigeninteresse an

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg der Politik des Imperialismus diktiert. Während des Krieges, der alle gesellschaftlichen Verhältnisse bloßlegte, entspringt „die ungeheure Kraft des Opportunisten und Chauvinisten ihrem Bündnis mit der Bourgeoisie, den Regierenden und Generalstäben.“

Die mittlere und vielleicht breiteste Tendenz im Sozialismus ist das sogenannte Zentrum (Kautsky und andere), das

in Friedenszeiten zwischen Reformismus und Marxismus schwankte und, während es fortfuhr, sich in breiten pazifistischen Phrasen einzuhüllen, fast ausnahmslos Gefangener der Sozialchauvinisten wurde. Was die Massen

betraf, so wurden sie von ihren eigenen Apparaten, die sie sich. im Laufe von Jahrzehnten geschaffen hatten, vollkommen Im Stich gelassen und betrogen. Nachdem Lenin eine soziologische und politische Einschätzung der Arbeiterbürokratie der II. Internationale machte, blieb er nicht auf halbem Wege stehen.

„Einheit mit Opportunisten ist die Allianz der Arbeiter mit ihrer ‚eigenen‘ nationalen Bourgeoisie und kennzeichnet eine Spaltung in den Reihen der internationalen revolutionären Arbeiterklasse ...“

Daraus entspringt die Folgerung, dass Internationalisten mit den Sozialchauvinisten brechen müssen. „Es ist unmöglich, die Aufgaben des Sozialismus in der jetzigen Zeit zu erfüllen, es ist unmöglich, eine wirklich internationale Vereinigung der Arbeiter zustande zu bringen, ohne entschieden mit dem Opportunismus zu brechen...“ und ebenso mit dem Zentrismus, „dieser bürgerlichen Tendenz im Sozialismus“. Der ursprüngliche

Name der Partei muss geändert werden. „Ist es nicht besser, den beschmutzten und degenerierten Namen der ‚Sozialdemokraten‘ zu verwerfen und zum alten marxistischen Namen der Kommunisten zurückzukehren?“ Es ist Zeit, mit der Zweiten Internationale zu brechen und die Dritte aufzubauen. Was hat sich in den etwas mehr als zwanzig Jahren, die seitdem verstrichen sind, geändert? Der Imperialismus hat einen noch gewalttätigeren und repressiveren Charakter angenommen. Sein konsequentester Ausdruck ist der Faschismus. Die imperialistischen Demokratien sind mehrere Stufen tiefer gefallen und entwickeln sich natürlich und organisch zum Faschismus. Die koloniale Unterdrückung wird immer unerträglicher, je stärker das Erwachen

der unterdrückten Nationalitäten und ihr Drang nach nationaler Unabhängigkeit ist. Mit anderen Worten: All jene Wesenszüge, die in die Grundlagen der Leninschen Theorie des imperialistischen Krieges eingebettet waren, haben einen noch schärferen und anschaulicheren Charakter angenommen.

Sicherlich, kommunistische Chauvinisten beziehen sich auf die Existenz der UdSSR, die angeblich einen

vollständigen Wendepunkt in der Politik des Proletariats einleitet. Dazu können wir folgende Antwort geben: Bevor die UdSSR entstand, haben unterdrückte Nationen, Kolonien usw. existiert, deren Kämpfe auch verdienten,

unterstützt zu werden. Wenn revolutionäre und fortschrittliche Bewegungen außerhalb der Grenzen des eigenen Landes unterstützt werden könnten, indem die eigene Bourgeoisie unterstützt wird, dann wäre die Politik des

Sozialpatriotismus prinzipiell korrekt gewesen. Es hätte dann auch keinen Grund für die Gründung der Dritten Internationale gegeben. Das ist die eine Seite des Falls, aber es gibt noch eine andere. Die UdSSR existiert nun seit

22 Jahren. Siebzehn Jahre lang blieben die Prinzipien Lenins in Kraft. Kommunistisch-chauvinistische Politik nahm ihre Gestalt erst vor 4 bis 5 Jahren an. Das Argument von der Existenz der UdSSR ist daher nur ein falscher Deckmantel. Wenn Lenin vor 25 Jahren die Desertion der Sozialisten auf die Seite ihrer nationalen Imperialismen

unter dem Vorwand der Verteidigung von Kultur und Demokratie als Sozialchauvinismus und Sozialverrat brandmarkte, dann ist vom leninistischen Standpunkt aus gesehen genau dieselbe Politik heutzutage mehr als

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg kriminell. Es ist nicht schwer zu erraten, wie Lenin die heutigen Führer der Komintern bezeichnet haben würde, die all die Sophistereien der Zweiten Internationale unter den Bedingungen einer weit grundlegenderen Zersetzung der kapitalistischen Zivilisation wiederaufleben haben lassen.

Es ist bösartig paradox, dass die erbärmlichen Epigonen der Komintern, die ihr Banner in einen schmutzigen Fetzen verwandelt haben, mit dem sie die Spuren der Kremloligarchie verwischen, jene „Renegaten“ nennen, die den

Lehren der Gründer der Kommunistischen Internationale treu geblieben sind. Lenin hatte recht: Die herrschenden Klassen verfolgen große Revolutionäre nicht nur zu ihren Lebenszeiten, sondern rächen sich noch nach deren Tod

an ihnen mit weit raffinierteren Methoden, indem sie versuchen, sie in Heilige zu verwandeln, deren Mission es ist, „Recht und Ordnung“ zu behüten. Niemand ist natürlich gezwungen, sich auf die Grundlagen der Lehren Lenins zu

stellen. Aber wir, seine Schüler, werden es niemandem gestatten, seine Lehren zu verhöhnen und sie in ihr Gegenteil zu verkehren!

Wladimir Iljitsch Lenin

Sozialismus und Krieg I. Kapitel: Die Grundsätze des Sozialismus und der Krieg 1914/1915 Die Stellung der Sozialisten zu Kriegen Die Sozialisten haben die Kriege unter den Völkern stets als eine barbarische und bestialische Sache verurteilt.

Aber unsere Stellung zum Krieg ist eine grundsätzlich andere als die der bürgerlichen Pazifisten (der Friedensfreunde und Friedensprediger) und der Anarchisten. Von den ersteren unterscheiden wir uns durch unsere Einsicht in den unabänderlichen Zusammenhang der Kriege mit dem Kampf der Klassen im Innern eines Landes,

durch die Erkenntnis der Unmöglichkeit die Kriege abzuschaffen, ohne die Klassen abzuschaffen und den

Sozialismus aufzubauen, ferner auch dadurch, daß wir die Berechtigung, Fortschrittlichkeit und Notwendigkeit von Bürgerkriegen voll und ganz anerkennen, d.h. von Kriegen der unterdrückten Klasse gegen die unterdrückende Klasse, der Sklaven gegen die Sklavenhalter, der leibeigenen Bauern gegen die Gutsbesitzer, der Lohnarbeiter gegen die Bourgeoisie. Von den Pazifisten wie von den Anarchisten unterscheiden wir Marxisten uns weiter

dadurch, daß wir es für notwendig halten, einen jeden Krieg in seiner Besonderheit historisch (vom Standpunkt des Marxschen dialektischen Materialismus) zu analysieren. Es hat in der Geschichte manche Kriege gegeben, die trotz

aller Greuel, Bestialitäten, Leiden und Qualen, die mit jedem Krieg unvermeidlich verknüpft sind, fortschrittlich waren, d.h. der Entwicklung der Menschheit Nutzen brachten, da sie halfen, besonders schädliche und reaktionäre Einrichtungen (z.B. den Absolutismus oder die Leibeigenschaft) und die barbarischsten Despotien Europas (die türkische und die russische) zu untergraben. Wir müssen daher die historischen Besonderheiten eben des jetzigen Krieges untersuchen.

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg Die historischen Typen von Kriegen in der Neuzeit Die große Französische Revolution eröffnete eine neue Epoche in der Geschichte der Menschheit. Von dieser Zeit bis zur Pariser Kommune, von 1789 bis 1871, stellten die bürgerlich-fortschrittlichen nationalen Befreiungskriege

einen besonderen Typus von Kriegen dar. Mit anderen Worten: Der Hauptinhalt und die historische Bedeutung dieser Kriege waren die Beseitigung des Absolutismus und des Feudalismus, ihre Untergrabung die Abwerfung

eines national fremden Jochs. Sie waren daher fortschrittliche Kriege, und alle aufrechten, revolutionären Demokraten, ebenso wie alle Sozialisten, wünschten bei solchen Kriegen stets den Sieg desjenigen Landes (d.h. derjeniger Bourgeoisie), das zur Beseitigung oder Untergrabung der gefährlichsten Stützpfeiler des Feudalismus, des Absolutismus und der Unterdrückung fremder Völker beitrug. Die Revolutionskriege Frankreichs z.B. enthielten ein Element der Ausplünderung und der Eroberung fremder Territorien durch die Franzosen, aber das ändert durchus

nichts an der grundlegenden historischen Bedeutung dieser Kriege, die den Feudalismus und Absolutismus in dem ganzen alten in die Fesseln der Leibeigenschaft geschlagenen Europa zerstörten oder doch erschütterten. Im deutsch-französischen Krieg wurde Frankreich durch Deutschland beraubt, aber das ändert nichts an der

grundlegenden historischen Bedeutung dieses Krieges, der Millionen und aber Millionen Deutsche von feudaler Zersplitterung und von der Unterdrückung durch zwei Despoten, den russischen Zaren und Napoleon III., befreite.

Der Unterschied zwischen Angriffs- und Verteidigungskrieg Die Epoche von 1789 bis 1871 hinterließ tiefe Spuren und revolutionäre Erinnerungen. Vor dem Sturz des Feudalismus. des Absolutismus und der Fremdherrschaft konnte von einer Entwicklung des proletarischen Kampfes

um den Sozialismus nicht die Rede sein. Sprachen die Sozialisten im Hinblick auf die Kriege einer solchen Epoche von der Berechtigung des „Verteidigungs”krieges, so bauen sie stets gerade diese Ziele, das heißt die Revolution

gegen Mittelalter und Leibeigenschaft im Auge. Die Sozialisten verstanden unter einem „Verteidigungs”krieg stets einen in diesem Sinne „gerechten” Krieg (wie sich Wilhelm Liebknecht einmal ausdrückte). Nut in diesem Sinne erkannten und erkennen jetzt noch die Sozialisten die Berechtigung, den fortschrittlichen und gerechten Charakter

der „Vaterlandsverteidigung” oder des „Verteidigungs”krieges an. Wenn zum Beispiel morgen Marokko an Frankreich, Indien an England, Persien oder China an Rußland usw. den Krieg erklärten, so wären das gerechte

Kriege, Verteidigungs kriegc, unabhängig davon, wer als erster angegriffen hat, und jeder Sozialist würde mit dem Sieg der unterdrückten, abhängigen, nicht gleichberechtigten Staaten über die Unterdrücker, die Sklavenhalter, die Räuber - über die „Groß”mächte - sympathisieren. Aber stellen wir uns einmal vor, ein Sklavenhalter, Besitzer von 200 Sklaven, läge im Krieg mit einem anderen Sklavenhalter, Besitzer von 200 Sklaven, um die „gerechtere” Neuaufteilung der Sklaven. Es ist klar, daß die Anwendung der Begriffe „Verteidigings”krieg oder „Vaterlandsverteidigung” auf einen solchen Fall historisch

verlogen und praktisch ein glatter Betrug wäre, begangen von gerissenen Sklavenhaltern am einfachen Volk, an den Kleinbürgern, an der unaufgeklärten Masse. Ganz genauso werden im gegenwärtigen Krieg, den die Sklavenhalter

führen, um die Sklaverei aufrechtzuerhalten und zu verstärken, die Völker von der heutigen imperialistischen Bourgeoisie mittels der „nationalen” Ideologie und des Begriffs der Vaterlandsverteidigung betrogen.

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg Der gegenwärtige Krieg ist ein imperialistischer Krieg Fast alle erkennen an, daß der heutige Krieg ein imperialistischer Krieg ist, aber zumeist verfälscht man diesen Begriff oder wendet ihn jeweils nur auf eine Seite an oder unterstellt schließlich trotzdem die Möglichkeit, daß dieser Krieg die Bedeutung eines bürgerlich-fortschrittlichen, eines nationalen Befreiungskrieges haben könne. Der Imperialismus stellt die erst im 20. Jahrhundert erreichte höchste Entwicklungsstufe des Kapitalismus dar. Dem

Kapitalismus ist es zu eng geworden in den alten Nationalstaaten, ohne deren Bildung er den Feudalismus nicht stürzen konnte. Der Kapitalismus hat die Konzentration bis zu einem solchen Grade entwickelt, daß ganze Industriezweige von Syndikaten, Trusts, Verbänden kapitalistischer Milliardäre in Besitz genommen sind und daß

nahezu: der ganze Erdball unter diese „Kapitalgewaltigen” aufgeteilt ist, sei es in der Form von Kolonien, sei es durch die Umstrickung fremder Länder mit den tausendfachen Fäden finanzieller Ausbeutung. Der Freihandel und

die freie Konkurrenz sind ersetzt durch das Streben nach Monopolen, nach Eroberung von Gebieten für Kapitalanlagen, als Rohstoffquellen usw. Aus einem Befreier der Nationen, der er in der Zeit des Ringens mit dem

Feudalismus war, ist der Kapitalismus in der imperialistischen Epoche zum größten Unterdrücker der Nationen

geworden. Früher fortschrittlich, ist der Kapitalismus jetzt reaktionär geworden, er hat die Produktivkräfte so weit entwickelt daß der Menschheit entweder der Übergang zum Sozialismus oder aber ein jahre-, ja sogar

jahrzehntelanger bewaffneter Kampf der „Groß”mächte uni die künstliche Aufrechterhaltung des Kapitalismus mittels der Kolonien, Monopole, Privilegien und jeder Art von nationaler Unterdrückung bevorsteht.

Der Krieg zwischen den größten Sklavenhaltern um die Aufrechterhaltung und Festigung der Sklaverei Um die Bedeutung des Imperialismus zu erläutern, seien hier exakte Angaben über die Aufteilung der Welt unter die sog. „großen” (das heißt in der Räuberei großen Stils erfolgreichen) Mächte angeführt.

Aufteilung der Welt unter die „großen” Sklavenhaltermächte Kolonien

Metropolen Insgesamt

1876 „Groß”mächte

qkm

1914 Einw.

1914

1914

qkm Einw. qkm Einw. qkm Einw.

Millionen

Millionen

England

22,5

251,9

33,5 393,5

0,3

46,5

33,8

440,0

Rußland

17,0

15,9

17,4 33,2

5,4 136,2

22,8

169,4

Frankreich

0,9

6,0

10,6 55,5

0,5

11,1

95,1

12

Millionen

39,6

Millionen


MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg Deutschland

2,9 12,3

0,5

64,9

3,4

77,2

Japan

0,3 19,2

0,4

53,0

0,7

72,2

V. Staaten von Nordamerika

0,3

9,4

97,0

9,7

106,7

40,4

273,8

65,0 523,4 16,5 437,2

81,5

960,6

9,9

45,3

Sechs „Groß”mächte

9,7

Kolonien, die nicht den Großmächten (sondern 9,9 45,3 Belgien, Holland und anderen Staaten) gehören Drei „halbkoloniale” Länder (Türkei, China und Persien)

14,5 Insgesamt

Andere Staaten und Länder Der ganze Erdball (ohne Polargebiet)

361,1

105,9 1,367,1 28,0

289,9

133,9 1.657,0

Hieraus wird ersichtlich, wie die Völker, die von 1789 bis 1871 im Kampf um die Freiheit zum größten Teil an der Spitze der übrigen Völker standen, sich nunmehr, nach 1876, auf dem Boden des hochentwickelten und überreifen” Kapitalismus in Unterdrücker und Beherrscher der Mehrheit aller Erdbewohner und aller Nationen der Welt verwandelt haben. Von 1876 bis 1914 haben die sechs „Groß”mächte 25 Millionen Quadratkilometer an sich gerissen, d.h. ein Gebiet, das zweieinhalbmal so groß ist wie ganz Europa! Sechs Mächte halten mehr als eine

halbe Milliarde (523 Millionen) Bewohner der Kolonien unter ihrem Joch. Auf je 4 Einwohner der „Groß”mächte kommen 5 in „ihren” Kolonien. Und jeder weiß, daß die Kolonien mit Feuer und Schwert erobert worden sind, daß

die Kolonialbevölkerung wie Vieh behandelt wird, daß sie mit tausenderlei Methoden ausgebeutet wird (mittels Kapitalexport, Konzessionen usw., durch Betrug beim Verkauf der Waren, Unterwerfung unter die Machtorgane der „herrschenden” Nation und so weitet und so fort). Die englische und die französische Bourgeoisie betrügen das

Volk, wenn sie behaupten, sie führten den Krieg für die Freiheit der Völker und Belgiens: in Wirklichkeit führen sie ihn, um die von ihnen massenhaft zusammengeraubten Kolonien behalten zu können. Die deutschen

Imperialisten würden Belgien usw. sofort freigeben, wenn die Engländer und Franzosen ihre Kolonien „brüderlich”

mit ihnen teilen wollten. Das Eigenartige der Lage besteht darin, daß in diesem Krieg die Geschicke der Kolonien durch den Krieg auf dem Kontinent entschieden werden. Vom Standpunkt der bürgerlichen Gerechtigkeit und nationalen Freiheit (oder des Existenzrechts der Nationen>

wäre Deutschland unbedingt im Recht gegen England und Frankreich, denn es ist bei der Teilung der Kolonien übervorteilt worden, seine Feinde halten unvergleichlich mehr Nationen unter ihrer Botmäßigkeit als es selbst, und

im Reiche seines Verbündeten, in Österreich, genießen die unterdrückten Slawen zweifellos größere Freiheit als im

zaristischen Rußland, diesem wahren „Völkergefängnis”. Aber Deutschland selbst kämpft nicht für die Befreiung,

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg sondern für die Unterdrückung der Nationen. Es ist nicht Sache der Sozialisten, dem jüngeren und kräftigeren Räuber (Deutschland) zu helfen, die älteren, sattgefressenen Räuber auszuplündern. Die Sozialisten haben den Kampf zwischen den Räubern auszunutzen, um sie allesamt zu beseitigen. Zu diesem Zweck müssen die Sozialisten

vor allem dem Volk die Wahrheit sagen, nämlich, daß dieser Krieg in dreifachem Sinne ein Krieg der

Sklavenhalter für die Verstärkung der Sklaverei ist. Er wird geführt 1. zur Festigung der Kolonialherrschaft durch „gerechtere” Aufteilung und weitere, mehr „solidarische” Ausbeutung der Kolonien; 2. zur verstärkten

Unterdrückung der fremden Nationen in den Ländern der „Groß”mächte selbst denn sowohl Österreich wie auch Rußland (Rußland in viel stärkerem und höherem Grade als Österreich) halten sich nur mittels dieser

Unterdrückung, die sie durch den Krieg noch verschärfen; 3. zur Festigung und Verlängerung der Lohnsklaverei, denn das Proletariat wird durch ihn gespalten und niedergehalten, während die Kapitalisten davon profitieren, da sie sich am Krieg bereichern, die nationalen Vorurteile schüren und die Reaktion stärken, die in allen, selbst in den freiesten und republikanischen Ländern ihr Haupt erhoben hat.

„Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit andern” (nämlich: gewaltsamen) „Mitteln” [2] Dieser berühmte Ausspruch stammt von Clausewitz einem der geistvollsten Militärschriftsteller. Die Marxisten haben diesen Satz mit Recht stets als theoretische Grundlage ihrer Auffassungen von der Bedeutung eines jeden

konkreten Krieges betrachtet. Marx und Engels haben die verschiedenen Kriege stets von diesem und keinem anderen Standpunkt aus beurteilt. Man wende diese Auffassung nun auf den gegenwärtigen Krieg an. Man wird sehen, daß die Regierungen und die herrschenden Klassen Englands wie Frankreichs, Deutschlands wie Italiens, Österreichs wie Rußlands jahrzehntelang, nahezu ein halbes Jahrhundert lang, eine Politik des Kolonialraubs, der Unterjochung fremder Nationen, der Unterdrückung der Arbeiterbewegung getrieben haben. Genau diese Politik, und nur diese, wird im

gegenwärtigen Krieg fortgesetzt. Insbesondere hat sowohl in Österreich als auch in Rußland die Politik der Friedens- wie der Kriegszeit die Versklavung der Nationen, nicht ihre Befreiung zum Inhalt. Umgekehrt sehen wir in China, Persien Indien und in anderen abhängigen Ländern im Laufe der letzten Jahrzehnte eine Politik des

Erwachens von Dutzenden und Hunderten Millionen Menschen zum nationalen Leben, ihrer Befreiung vom Joch der reaktionären Groß”mächte. Auf solchem historischen Boden kann der Krieg auch heute ein bürgerlichfortschrittlicher, ein nationaler Befreiungskrieg sein. Man braucht den gegenwärtigen Krieg nur von dem Standpunkt aus zu betrachten, daß in diesem Krieg die Politik der Großmächte und der maßgebenden Klassen in ihnen fortgesetzt wird, um sofort den himmelschreiend antihistorischen, verlogenen und heuchlerischen Charakter der Ansicht zu erkennen, daß man in diesem Krieg die Idee der „Vaterlandsverteidigung” rechtfertigen könne.

Das belgische Beispiel Die Sozialchauvinisten des Dreiverbands (jetzt Vierverbands), (in Rußland Plechanow und Co.) berufen sich mit Vorliebe auf das belgische Beispiel. Aber dieses Beispiel spricht gegen sie. Die deutschen Imperialisten haben die

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg Neutralität Belgiens schamlos gebrochen, wie es die kriegführenden Staaten, die im Bedarfsfall alle Verträge und eingegangenen Verpflichtungen brechen, stets und überall getan haben. Angenommen, alle an der Einhaltung der

internationalen Verträge interessierten Staaten hätten Deutschland den Krieg erklärt mit der Forderung, Belgien zu räumen und zu entschädigen. In diesem Fall wäre die Sympathie der Sozialisten natürlich auf seiten der Feinde

Deutschlands. Aber der Haken ist gerade der, daß der „Drei(bzw. Vier)verband” den Krieg nicht um Belgiens willen führt; das ist aller Welt bekannt, und nur Heuchler suchen es zu vertuschen. England will die deutschen Kolonien und die Türkei plündern, Rußland Galizien und die Türkei, Frankreich strebt nach Elsaß-Lothringen, ja sogar nach dein linken Rheinufer; mit Italien ist ein Vertrag geschlossen über die Teilung der Beute (Albanien, Kleinasien); mit Bulgarien und Rumänien wird gleichfalls um die Teilung der Beute geschachert. Auf der Basis des

gegenwärtigen Krieges zwischen den gegenwärtigen Regierungen kann man Belgien nicht anders helfen als dadurch,

daß

man

mithilft,

Österreich

oder

die

Türkei

usw.

zu

erdrosseln!

Was

hat

das

mit

„Vaterlandsverteidigung” zu tun?? Darin besteht doch gerade die Besonderheit des imperialistischen Krieges, eines Krieges zwischen reaktionär-bürgerlichen, historisch überlebten Regierungen, eines Krieges, der geführt wird

zwecks Unterdrückung anderer Nationen. Wer die Teilnahme an diesem Krieg gutheißt der verewigt die imperialistische Unterdrückung der Nationen. Wer dafür eintritt, die Schwierigkeiten, in denen sich die Regierungen

jetzt befinden, für den Kampf um die soziale Revolution auszunutzen, der verficht die wirkliche Freiheit wirklich aller Völker, die nur im Sozialismus durchführbar ist.

Wofür kämpft Rußland? In Rußland fand der kapitalistische Imperialismus moderner Prägung seinen klaren Ausdruck in der Politik des

Zarismus gegenüber Persien, der Mandschurei und der Mongolei, aber im großen und ganzen überwiegt in Rußland der militärische und feudale Imperialismus. Nirgends in der Welt gibt es eine solche Unterdrückung der Mehrheit

der Landesbevölkerung wie in Rußland: Die Großrussen machen nur 43 Prozent der Bevölkerung aus, d.h. weniger als die Hälfte, alle anderen aber sind als „Fremdstämmige” entrechtet. Von den 170 Millionen Einwohnern

Rußlands sind rund 100 Millionen unterdrückt und entrechtet. Der Zarismus führt den Krieg, um Galizien zu erobern und die Freiheit der Ukrainer endgültig zu erwürgen, um Armenien, Konstantinopel usw. zu erobern. Der Zarismus sieht im Krieg ein Mittel, die Aufmerksamkeit von der wachsenden Unzufriedenheit im Innern des

Landes abzulenken und die anschwellende revolutionäre Bewegung zu unterdrücken. Gegenwärtig entfallen im Russischen Reich auf zwei Großrussen zwei bis drei rechtlose Fremdstämmige”; mittels des Krieges sucht der

Zarismus die Anzahl der von Rußland unterdrückten Nationen zu erhöhen, ihn Unterdrückung zu verstärken und so

auch den Freiheitskampf der Großrussen selbst zu lähmen. Die Möglichkeit, fremde Völker zu unterdrücken und auszuplündern, verstärkt den ökonomischen Stillstand, denn als Profitquelle dient statt der Entwicklung der

Produktivkräfte nicht selten die halbfeudale Ausbeutung der Fremdstämmigen”. Auf seiten Rußlands trägt der Krieg also einen ausgesprochen reaktionären und freiheitsfeindlichen Charakter.

Was ist Sozialchauvinismus? Sozialchauvinismus ist das Eintreten für die Idee der Vaterlandsverteidigung in diesem Kriege. Aus dieser Idee ergibt sich weiter der Verzicht auf den Klassenkampf während des Krieges, die Bewilligung der Kriegskredite usw.

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg In Wirklichkeit treiben die Sozialchauvinisten eine antiproletarische, eine bürgerliche Politik, denn was sie verfechten, ist in Wirklichkeit nicht die „Verteidigung des Vaterlandes” im Sinne des Kampfes gegen eine Fremdherrschaft, sondern das „Recht” dieser oder jener „Groß”mächte, Kolonien auszuplündern und fremde Völker

zu unterdrücken. Die Sozialchauvinisten machen den Volksbetrug der Bourgeoisie mit, indem sie dieser nachsprechen, der Krieg werde geführt, um die Freiheit und Existenz der Nationen zu verteidigen, und damit gehen sie auf die Seite der Bourgeoisie über, wenden sie sich gegen das Proletariat. Zu den Sozialchauvinisten gehören

sowohl diejenigen, die die Regierungen und die Bourgeoisie einer der kriegführenden Mächtegruppen rechtfertigen und ihre Politik beschönigen, als auch diejenigen, die wie Kautsky den Sozialisten aller kriegführenden Mächte gleichermaßen das Recht auf „Vaterlandsverteidigung” zusprechen. Da der Sozialchauvinismus in Wirklichkeit die Privilegien,

Machtpositionen,

Raubzüge

und

Gewalttaten

der

„eigenen”

(oder

überhaupt

einer

jeden)

imperialistischen Bourgeoisie verteidigt, ist er gleichbedeutend mit völligem Verrat an allen sozialistischen Grundsätzen und an dem Beschluß des Internationalen Sozialistenkongresses von Basel.

Das Basler Manifest Das 1912 in Basel einstimmig angenommene Manifest über den Krieg hatte genau den Krieg zwischen England und Deutschland, samt ihren jetzigen Verbündeten, im Auge, der 1914 dann auch ausbrach. Das Manifest erklärt unumwunden, daß kein Volksinteresse einen solchen Krieg rechtfertigen kann, der „zum Vorteile des Profits der Kapitalisten, des Ehrgeizes der Dynastien” und fußend auf der imperialistischen Raubpolitik der Großmächte geführt wird. Das Manifest erklärt unumwunden. daß der Krieg „für die Regierungen” (alle ohne Ausnahme)

gefährlich ist, es vermerkt ihre Furcht „vor einer proletarischen Revolution” und verweist mit aller Bestimmtheit auf das Beispiel der Kommune von 1871 und der Ereignisse von, Oktober-Dezember 1905, d.h. auf da; Beispiel

der Revolution und des Bürgerkriegs. Das Basler Manifest fixiert somit gerade für den jetzigen Krieg die im

internationalen Maßstab zu befolgende Taktik des revolutionären Kampfes der Arbeiter gegen die eigenen Regierungen, die Taktik der proletarischen Revolution. Das Basler Manifest wiederholt die Worte der Stuttgarter Resolution, daß die Sozialisten verpflichtet sind, im Falle des Kriegsausbruchs die durch den Krieg herbeigeführte

„wirtschaftliche und politische Krise” auszunutzen, um „die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen”, d.h. die durch den Krieg verursachte schwierige Lage der Regierungen und die Empörung der Massen für die sozialistische Revolution auszunutzen. Die Politik der Sozialchauvinisten, die den Krieg mit bürgerlich-„freiheitlichen” Argumenten rechtfertigen, die „Vaterlandsverteidigung” für zulässig halten, für die Kredite stimmen, in die Kabinette eintreten usw. usf., ist direkter Verrat am Sozialismus, ein Verrat der sich, wie wir noch sehen werden, nur durch den Sieg des

Opportunismus und der nationalliberalen Arbeiterpolitik innerhalb der Mehrheit der europäischen Parteien erklären läßt.

Falsche Berufungen auf Marx und Engels Die russischen Sozialchauvinisten (an ihrer Spitze Plechanow) berufen sich auf die Taktik von Marx im Kriege von 1870; die deutschen Sozialchauvinisten (von, Schlage der Lensch, David und Co.) berufen sich auf die Erklärungen

von Engels im Jahre 1891, in denen er von der Pflicht der deutschen Sozialisten spricht, im Falle eines

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg gleichzeitigen Krieges gegen Rußland und Frankreich das Vaterland zu verteidigen; die Sozialchauvinisten von, Kautskyschen Schlage schließlich, die den internationalen Chauvinismus allseits versöhnen und legitim machen möchten, berufen sich darauf, daß Marx und Engels, obwohl sie die Kriege verurteilten, sich dennoch, von

1854/1855 bis 1870/1871 und 1876/1877, stets auf die Seite des einen oder des anderen kriegführenden Staates stellten, sobald der Krieg einmal ausgebrochen war.

Alle diese Berufungen sind eine empörende Fälschung der Auffassungen von Marx und Engels zugunsten der

Bourgeoisie und der Opportunisten. genauso wie in den Schriften der Anarchisten Guillaume und Co. die Auffassungen von Marx und Engels gefälscht werden, um den Anarchismus zu rechtfertigen. Der Krieg von

1870/1871 war von seiten Deutschlands historisch fortschrittlich, solange Napoleon III. nicht besiegt war, denn dieser hatte zusammen mit dem Zaren lange Jahre hindurch Deutschland bedrückt, indem er dessen feudale

Zersplitterung unterstützte. Sobald dann der Krieg zu einer Beraubung Frankreichs entartete (Annexion von ElsaßLothringen), verurteilten Man und Engels die Deutschen ganz entschieden. Und auch zu Beginn dieses Krieges billigten es Marx und Engels, daß Bebel und Liebknecht sich weigerten. für die Kriegskredite zu stimmen, und rieten der Sozialdemokratie, sich nicht mit der Bourgeoisie zu vereinigen, sondern die selbständigen

Klasseninteressen des Proletariats zu verfechten. Dieses Urteil über einen bürgerlich-fortschrittlichen, nationalen Befreiungskrieg auf den jetzigen imperialistischen Krieg übertragen heißt die Wahrheit vergewaltigen. Dasselbe gilt in noch viel höherem Grade von dem Krieg 1854/1855 und von allen anderen Kriegen des 19. Jahrhunderts, denn

damals gab es weder den modernen Imperialismus noch zur Reife gediehene objektive Bedingungen für den Sozialismus, noch auch sozialistische Massenparteien in allen kriegfühtenden Ländern, d.h., es fehlten gerade die

Voraussetzungen, aus denen das Basler Manifest die Taktik der proletarischen Revolution” im Zusammenhang mit einem Krieg zwischen den Großmächten ableitete.

Wer sich jetzt auf Marx’ Stellungnahme zu den Kriegen in der Epoche der fortschrittlichen Bourgeoisie beruft und

Marx Worte „Die Arbeiter haben kein Vaterland” vergißt - diese Worte die sich gerade auf die Epoche der reaktionären, überlebten Bourgeoisie beziehen, auf die Epoche der sozialistischen Revolution - der fälscht Marx schamlos und ersetzt die sozialistische Auffassung durch die bürgerliche.

Der Zusammenbruch der II. Internationale Sozialisten aller Länder erklärten im Jahre 1912 zu Basel feierlich, daß sie den kommenden europäischen Krieg als

das verbrecherische und erzreaktionäre Werk sämtlicher Regierungen ansehen, das den Zusammenbruch des Kapitalismus beschleunigen müsse, da es unweigerlich die Revolution gegen ihn auf den Plan rufe. Der Krieg kam, die Krise brach aus. An Stelle der revolutionären Taktik schlug die Mehrheit der sozialdemokratischen Parteien eine

reaktionäre Taktik ein und stellte sich auf die Seite der eigenen Regierungen und der eigenen Bourgeoisie. Dieser Verrat am Sozialismus bedeutet den Zusammenbruch der II. Internationale (1889-1914), und wir müssen uns darüber Rechenschaft ablegen, was diesen Zusammenbruch verursacht, was den Sozialchauvinismus erzeugt, was ihm Stärke verliehen hat.

Sozialchauvinismus ist vollendeter Opportunismus Während der ganzen Epoche der II. Internationale spielte sich überall in den sozialdemokratischen Parteien ein

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg Kampf zwischen den, revolutionären und dem opportunistischen Flügel ab. In einer Reihe von Ländern kam es darüber zur Spaltung (England, Italien, Holland, Bulgarien). Kein einziger Marxist zweifelte daran, daß der Opportunismus Ausdruck einer bürgerlichen Politik in der Arbeiterbewegung ist, daß er den Interessen des

Kleinbürgertums und dem Bündnis einer geringfügigen Minderheit von verbürgerten Arbeitern mit „ ihrer” Bourgeoisie entspricht einem Bündnis, das sich gegen die Interessen der Masse der Proletarier, der Masse der Unterdrückten richtet. Die objektiven Verhältnisse am Ende des 19. Jahrhunderts brachten dem Opportunismus einen besonderen Kraftzuwachs dadurch, daß sie die Ausnutzung der bürgerlichen Legalität in einen Kniefall vor ihr verwandelten,

daß sie eine schmale Schicht von Bürokraten und Aristokraten der Arbeiterklasse entstehen und viele kleinbürgerliche „Mitläufer” in die Reihen der sozialdemokratischen Parteien eindringen ließen. Der Krieg beschleunigte die Entwicklung, indem er den Opportunismus zum Sozialchauvinismus, das geheime Bündnis der Opportunisten mit der Bourgeoisie zu einem offenen machte. Dazu kam noch, daß die Militärbehörden

überall den Belagerungszustand verhängten und der Masse der Arbeiter einen Maulkorb anlegten, während die alten Arbeiterführer fast vollzählig ins Lager der Bourgeoisie überliefen. Die ökonomische Grundlage des Opportunismus und des Sozialchauvinismus ist ein und dieselbe: die Interessen einer ganz geringfügigen Schicht von privilegierten Arbeitern und Kleinbürgern, die ihre privilegierte Stellung, ihr

Recht” auf Brocken vom Tische der Bourgeoisie verteidigen, auf Brocken von den Profiten, die „ihre” nationale Bourgeoisie durch die Ausplünderung fremder Nationen, durch die Vorteile ihrer Großmachtstellung usw. einstreicht.

Der ideologisch-politische Inhalt des Opportunismus und des Sozialchauvinismus ist ein und derselbe: Zusammenarbeit der Klassen statt Klassenkampf, Verzicht auf revolutionäre Kampfmittel, Unterstützung der „eigenen” Regierung in einer für sie schwierigen Lage statt Ausnutzung dieser Schwierigkeiten für die Revolution.

Nimmt man alle europäischen Länder zusammen, faßt man nicht einzelne (wenn auch noch so autoritative) Personen ins Auge, so wird sich zeigen, daß gerade die opportunistische Strömung zum Hauptstützpfeiler des Sozialchauvinismus geworden ist, während im Lager der Revolutionäre fast überall ein mehr oder minder

folgerichtiger Protest gegen ihn laut wird. Nimmt man zum Beispiel die Gruppierung der Richtungen auf dem

Stuttgarter Internationalen Sozialistenkongreß von 1907, so wird man sehen, daß der internationale Marxismus gegen den Imperialismus, der internationale Opportunismus aber schon damals für den Imperialismus war.

Einheit mit den Opportunisten heißt Bündnis der Arbeiter mit der „eigenen” nationalen Bourgeoisie und Spaltung der internationalen revolutionären Arbeiterklasse In der abgelaufenen Epoche, vor dem Kriege, galt der Opportunismus häufig zwar als eine „Abweichung”, als ein „Extrem”, aber doch als ein legitimer Bestandteil der sozialdemokratischen Partei. Der Krieg zeigte, daß das in Zukunft unmöglich ist. Der Opportunismus ist „ausgereift”, er hat seine Rolle als Emissär der Bourgeoisie in der

Arbeiterbewegung ausgespielt. Die Einheit mit den Opportunisten ist ZU einer einzigen Heuchelei geworden, - wie

das Beispiel der deutschen Sozialdemokratie zeigt. In allen wichtigen Fällen (zum Beispiel bei der Abstimmung vom 4. August) warten die Opportunisten mit ihrem Ultimatum auf, das sie dann mit Hilfe ihrer weitverzweigten

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg Beziehungen zur Bourgeoisie, ihrer Mehrheit in den Gewerkschaftsleitungen usw. durchsetzen. Einheit mit den Opportunisten bedeutet jetzt in der Praxis Unterwerfung der Arbeiterklasse unter die eigene nationale Bourgeoisie, Bündnis mit dieser Bourgeoisie zur Unterdrückung fremder Nationen und zum Kampf für die Großmachtprivilegien, also Spaltung des revolutionären Proletariats aller Länder. Wie schwer der Kampf mit den in vielen Organisationen herrschenden Opportunisten in einzelnen Fällen auch sein mag, welch verschiedenartige Formen der Prozeß der Reinigung der Arbeiterparteien von den Opportunisten in den einzelnen Ländern auch annehmen mag, dieser Prozeß ist unvermeidlich und fruchtbar. Der reformistische Sozialismus stirbt ab; der wiedererstehende Sozialismus „wird revolutionär, intransigent und insurrektionell sein”, wie sich der französische Sozialist Paul Golay treffend ausgedrückt hat.

Das „Kautskyanertum” Kautsky, die größte Autorität der II. Internationale, ist ein .üßerordentlich typisches und anschauliches Beispiel dafür, wie die Anerkennung des Marxismus in Worten dazu geführt hat, ihn in Wirklichkeit in „Struvismus” oder

„Brentanoismus” [3] verwandeln. Wir sehen dies auch am Beispiel Plechanows. Mittels offenkundiger Sophismen wird der Marxismus seiner lebendigen revolutionären Seele beraubt, man akzeptiert vom Marxismus alles,

ausgenommen die revolutionären Kampfmittel, ihre Propagierung und Vorbereitung, die Erziehung der Massen gerade in dieser Richtung. Kautsky „versöhnt” prinzipienlos den Grundgedanken des Sozialchauvinismus, die

Anerkennung der Vaterlandsverteidigung in diesem Krieg, mit einer diplomatischen, ächeinbaren Konzession an die Linken in Form der Stimmenthaltung bei der Votierung der Kredite, der Unterstreichung seiner oppositionellen Einstellung in Worten usw. Kautsky, der im Jahre 1909 ein ganzes Buch über die herannahende Epoche der Revolutionen und über den Zusammenhang von Krieg und Revolution schrieb, Kautsky, der im Jahre 1912 das

Basler Manifest über die revolutionäre Ausnutzung des kommenden Krieges unterzeichnete, rechtfertigt und beschönigt jetzt in allen Tonarten den Sozialchauvinismüs und schließt sich, gleich Plechanow, der Bourgeoisie an, indem er jeden Gedanken an die Revolution, jeden Schritt zum unmittelbar revolutionären Kampf verspottet. Die Arbeiterklasse kann ihre welthistorische revolutionäre Mission nicht erfüllen ohne rücksichtslosen Kampf gegen dieses Renegatentum, diese Charakterlosigkeit, diese Liebedienerei vor dem Opportunismus und diese beispiellose theoretische Verflachung des Marxismus. Das Kautskyanertum ist kein Zufall, sondern ein soziales Produkt der

Gegensätze in der II. Internationale, der Verbindung von Treue zum Marxismus in Worten mit Unterwerfung unter den Opportunismus in Taten.

In den verschiedenen Ländern tritt diese grundlegende Verlogenheit des Kautskyanertums in verschiedenen Formen in Erscheinung. In Holland verficht Roland-Holst, die die Idee der Vaterlandsverteidigung ablehnt, die Einheit mit

der Partei der Opportunisten. In Rußland tritt Trotzki, der diese Idee ebenfalls ablehnt gleicherweise für die Einheit

mit der opportunistischen und chauvinistischen Gruppe Nascha Sarja ein. In Rumänien ist es Rakowski, der dem Opportunismus als dem Schuldigen am Zusammenbruch der Internationale den Krieg erklärt, gleichzeitig aber bereit

ist, die Idee der Vaterlandsverteidigung als gerechtfertigt anzuerkennen. Dies alles sind Erscheinungsformen jenes Übels, das die holländischen Marxisten (Gorter, Pannekoek) als „passiven Radikalismus” bezeichnet haben und das

auf nichts anderes hinausläuft als auf Ersetzung des revolutionären Marxismus durch Eklektizismus in der Theorie und auf sklavische Unterwürfigkeit oder Ohnmacht vor dem Opportunismus in der Praxis.

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg

Die Losung der Marxisten ist die Losung der revolutionären Sozialdemokratie Der Krieg hat zweifellos eine Krise schwerster Art heraufbeschworen und die leiden der Massen ungeheuerlich verschärft. Der reaktionäre Charakter dieses Krieges, die unverschämte Lüge der Bourgeoisie aller Länder, die ihre Raubziele unter dem Mäntelchen „nationaler” Ideologie versteckt - all dies ruft auf dem Boden der objektiv

revolutionären Situation unweigerlich revolutionäre Stimmungen in den Massen hervor. Es ist unsere Pflicht, diese Stimmungen bewußt zu machen, zu vertiefen und ihnen Gestalt zu geben. Diese Aufgabe findet ihren richtigen

Ausdruck nur in der Losung: Umwandlung des imperialistischen Kriegs in den Bürgerkrieg, und jeder konsequente Klassenkampf während des Krieges, jede ernsthaft durchgeführte Taktik von „Massenaktionen” muß unvermeidlich

dazu führen. Man kann nicht wissen, ob eine starke revolutionäre Bewegung im Zusammenhang mit dem ersten

oder mit dem zweiten imperialistischen Krieg der Großmächte, ob sie während des Krieges oder nach dem Kriege auf flammen wird, jedenfalls aber ist es unsere unbedingte Pflicht, systematisch und unentwegt in eben dieser Richtung zu wirken.

Das Basler Manifest beruft sich ausdrücklich auf das Beispiel der Pariser Kommune, d.h. auf das Beispiel der

Umwandlung eines Krieges der Regierungen in den Bürgerkrieg. Vor einem halben Jahrhundert war das Proletariat noch zu schwach, die objektiven Voraussetzungen für den Sozialismus waren noch nicht herangereift, an eine Koordinierung und ein Zusammenwirken der revolutionären Bewegungen in allen kriegführenden Ländern war noch nicht zu denken, die Begeisterung eines Teils der Pariser Arbeiter für die „nationale Ideologie” (für die Tradition von 1792) war die von Marx schon damals vermerkte kleinbürgedliche Schwäche, an der sie litten, und eine der

Ursachen für das Scheitern der Kommune. Ein halbes Jahrhundert später sind die Bedingungen. die die damalige Revolution schwächten, in Wegfall gekommen, und heutzutage wäre es unverzeihlich von, einem Sozialisten, wollte er sich abfinden mit dem Verzicht darauf, eben im Geiste der Pariser Kommunarden zu handeln.

Das Beispiel der Verbrüderung in den Schützengräben Bürgerliche Zeitungen aller kriegführenden Länder haben Beispiele gebracht für die Verbrüderung von Soldaten der kriegführenden Nationen sogar in den Schützengräben. Die drakonischen Verbote, die von den Militärbehörden (in

Deutschland, in England) gegen solche Verbrüderungen erlassen wurden, haben bewiesen, daß ihnen die Regierungen und die Bourgeoisie ernsthafte Bedeutung beimaßen. Wenn trotz der unumschränkten Herrschaft des Opportunismus in den leitenden Kreisen der sozialdemokratischen Parteien Westeuropas und trotz der Unterstützung des Sozialchauvinismus durch die gesamte sozialdemokratische Presse, durch alle Autoritäten der II. Internationale Fälle von Verbrüderung möglich waren, so zeigt uns das, daß man den gegenwärtigen verbrecherischen,

reaktionären Sklavenhalterkrieg sehr wohl abkürzen und eine internationale revolutionäre Bewegung organisieren

könnte, wenn wenigstens die Linkssozialisten aller kriegführenden Länder systematisch auf dieses Ziel hinwirken würden

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg Die Bedeutung der illegalen Organisation Die prominentesten Anarchisten der ganzen Welt haben sich in diesem Krieg nicht weniger als die Opportunisten durch Sozialchauvinismus (im Geiste Plechanows und Kautskys) beschmutzt. Eines der nützlichen Resultate dieses Krieges wird unzweifelhaft darin bestehen, daß er den Opportunismus ebenso wie den Anarchismus vernichten wird. In keinem Falle und unter keinen Umständen dürfen die sozialdemokratischen Parteien darauf verzichten, selbst die geringste legale Möglichkeit zur Organisierung der Massen und zur Propagierung des Sozialismus auszunutzen, zugleich aber müssen sie mit der Anbetung der Legalität brechen. „Schießen Sie gefälligst zuerst, meine Herren Bourgeois” [4], schrieb Engels in Anspielung auf den Bürgerkrieg und auf die Notwendigkeit daß wir die Legalität durchbrechen, nachdem sie von der Bourgeoisie durchbrochen worden ist. Die Krise hat gezeigt, daß die

Bourgeoisie in allen, selbst in den freiesten Ländern die Legalität durchbricht und daß es unmöglich ist die Massen

zur Revolution zu führen, ohne eine illegale Organisation für die Propagierung, Erörterung, Einschätzung und Vorbereitung der revolutionären Kampfmittel zu schaffen. In Deutschland zum Beispiel wird alles, was an Ehrlichem von den Sozialisten getan wird, gegen den niederträchtigen Opportunismus und gegen das heuchlerische

„Kautskyanertum” getan, und zwar illegal. In England wird man für gedruckte Aufrufe zur Verweigerung des Heeresdienstes ins Zuchthaus geschickt.

Die Ablehnung der illegalen Propagandamethoden und ihre Verhöhnung in der legalen Presse als vereinbar zu betrachten mit der Zugehörigkeit zur sozialdemokratischen Partei, ist Verrat am Sozialismus.

Über die Niederlage der „eigenen” Regierung im imperialistischen Krieg Die Verfechter des Sieges der eigenen Regierung im gegenwärtigen Krieg und die Anhänger der Losung „weder

Sieg noch Niederlage” stehen gleicherweise auf dem Standpunkt des Sozialchauvinismus. Die revolutionäre Klasse kann in einem reaktionären Krieg nicht anders als die Niederlage der eigenen Regierung wünschen, sie kann den Zusammenhang zwischen militärischen Mißerfolgen der Regierung und der Erleichterung ihrer Niederringung nicht übersehen. Nur ein Bourgeois, der in dem Glauben lebt daß der von den Regierungen angezettelte Krieg unweigerlich auch als ein Krieg der Regierungen enden werde, und der das auch wünscht, findet die Idee

„lächerlich” oder „widersinnig , daß die Sozialisten aller kriegführenden Länder mit dem Wunsch nach der Niederlage aller ihrer „eigenen” Regierungen auftreten sollen. Gerade ein solches Auftreten würde dagegen den

geheimen Wünschen jedes klassenbewußten Arbeiters entsprechen und in der Linie unseres Handelns liegen, das auf Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg abzielt.

Zweifellos hat die von einem Teil der englischen, deutschen und russischen Sozialisten getriebene ernsthafte

Agitation gegen den Krieg die „militärische Kampfkraft” der betreffenden Regierungen „geschwächt”, aber diese Agitation war ein Verdienst dieser Sozialisten. Die Sozialisten müssen den Massen klarmachen, daß es für sie keine

Rettung gibt außer in der revolutionären Niederwerfung der „eigenen” Regierungen und daß die Schwierigkeiten dieser Regierungen im gegenwärtigen Krieg eben für diesen Zweck ausgenutzt werden müssen.

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg Über den Pazifismus und die Friedenslosung Friedensfreundliche Stimmung in den Massen ist häufig der Ausdruck dafür, daß Protest und Empörung aufkommen und daß der reaktionäre Charakter des Krieges erkannt wird. Diese Stimmung auszunutzen ist Pflicht aller Sozialdemokraten. Sie werden sich an jeder Bewegung und an jeder Demonstration, die auf diesem Boden erwächst aufs leidenschaftlichste beteiligen, aber sie werden das Volk nicht betrügen, indem sie den Gedanken

zulassen, daß ohne eine revolutionäre Bewegung ein Frieden ohne Annexionen, ohne Unterjochung von Nationen, ohne Raub, ohne den Keim neuer Kriege zwischen den jetzigen Regierungen und herrschenden Klassen möglich

sei. Ein solcher Volksbetrug käme nur der Geheimdiplomatie der kriegführenden Regierungen und ihren konterrevolutionären Plänen zugute. Wer einen dauerhaften und demokratischen Frieden will, der muß für den Bürgerkrieg gegen die Regierungen und die Bourgeoisie sein.

Vom Selbstbestimmungsrecht der Nationen Das verbreitetste Mittel der Bourgeoisie, das Volk im gegenwärtigen Krieg zu betrügen, ist die Verschleierung der

räuberischen Kriegsziele durch die Ideologie der „Völkerbefreiung”. Die Engländer versprechen Belgien, die Deutschen Polen die Befreiung usw. In Wirklichkeit wird dieser Krieg, wie wir gesehen haben, von den Unterdrückern der Mehrzahl der Nationen der Welt geführt, um diese Unterdrückung zu festigen und zu erweitern.

Die Sozialisten können ihr großes Ziel nicht erreichen, ohne gegen jede Art von nationaler Unterdrückung zu

kämpfen. Sie müssen daher unbedingt fordern, daß die sozialdemokratischen Parteien der unterdrückenden Länder (insbesondere der sog. „Groß”mächte) das Selbstbestimmungsrecht der unterdrückten Nationen anerkennen und verfechten, und zwar ausdrücklich im politischen Sinne des Wortes, d.h. als Recht auf politische Lostrennung. Ein

Sozialist, der einer großstaatlichen oder kolonienbherrschenden Nation angehört und dieses Recht nicht verteidigt, ist ein Chauvinist.

Die Verteidigung dieses Rechts ist keineswegs ein Ansporn zur Bildung von Kleinstaaten, sie führt im Gegenteil zu

weit freierer, furchtloserer und daher breiterer und allgemeinerer Bildung von Großstaaten und Staatsbünden, die für die Masse von größerem Nutzen sind und der ökonomischen Entwicklung besser entsprechen. Die Sozialisten der unterdrücken Nationen müssen ihrerseits unbedingt für den völligen (auch organisatorischen) Zusammenschluß der Arbeiter d unterdrückten und der unterdrückenden Nationen kämpfen. Die Idee der rechtlichen

Absonderung der Nationen voneinander (die sog. „national-kulturelle Autonomie” Bauers und Renners) ist eine reaktionäre Idee. Der Imperialismus ist die Epoche der fortschreitenden Unterdrückung der Nationen der ganzen Welt durch eine Handvoll „Groß”mächte, und darum ist der Kampf für die internationale sozialistische Revolution gegen den Imperialismus unmöglich ohne Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen. Ein Volk, das andre unterdrückt, kann sich nicht selbst emanzipieren.” (Marx und Engels.) Ein Proletariat, das sich auch nur mit dem kleinsten Gewaltakt „seiner” Nation gegen andere Nationen abfindet, kann nicht sozialistisch sein.

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg

Leo Trotzki

Krieg und die Vierte Internationale (Teil 1) Vorwort Diese Thesen erscheinen zu eben dem Zeitpunkt, wo die Kriegsgefahr sich immer drohender über Europa zusammenballt. Die Abrüstungskonferenz wird zum Rüstplatz für den Abschluss neuer Militärbündnisse. Mussolini und General Weygand rufen zur Aufrüstung. Gestern war Österreich, heute sind die Saar und Mandschurei

Brandherde für das neue Weltgemetzel. In der ganzen Welt ist von nichts anderem mehr die Rede als von Luftmobilmachung, von Verstärkung der Luft- und Seeflotten, von chemischem Krieg, Industriemobilisierung usw.

Die Kriegsgefahr bürdet uns allen ungeheure Pflichten und Verantwortung auf. Zunächst die Pflicht, den ideologischen Kampf gegen den Krieg vorzubereiten und zu organisieren, eine Pflicht, die umso größer ist, als die Zweite wie die Dritte Internationale heute nur noch Hemmnisse sind im Kampf gegen den Krieg. Die patriotischen Führer der Zweiten Internationale bereiten sich wieder darauf vor, als getreue Diener des Imperialismus ihm wie 1914 das Kanonenfutter für den kommenden Krieg zu liefern. Die Führer der ohnmächtigen Dritten Internationale leiten die Massen irre, indem sie ihre Mobilisierung gegen den Krieg durch lärmende Maskeradenkongresse ersetzen. Der Kampf gegen den Krieg muss den beiden Internationalen zum Trotz und gegen sie geführt werden. Diesem Kampf ist eine neue Basis, ein neues Banner zu geben – das der Vierten Internationale. Mögen die Kader der

Vierten Internationale auch noch wenig zahlreich sein, doch die Richtigkeit und Klarheit ihrer Politik und ihre Entschlossenheit werden ihnen ermöglichen, eine entscheidende Rolle zu spielen. Erinnern wir an Karl Liebknecht und an Rosa Luxemburg!

Die Frage des imperialistischen Krieges und seiner Vorbereitung ist die zentrale Frage unserer Tage. Der Kampf gegen den imperialistischen Krieg steht im Mittelpunkt des Differenzierungsprozesses in der Arbeiterklasse. Der Charakter der reformistischen und zentristischen Organisationen wird sich eben in diesem Kampfe entlarven; die Kader der Bolschewiki-Leninisten aber werden sich in ihm stählen.

Nur die Genossen, die ernst und kritisch diese Thesen studieren, werden ausreichend gewappnet sein für die politische Arbeit gegen den Krieg. Doch Studium, Diskussion, Kritik der Thesen – so nützlich sie sind – genügen nicht. Entscheiden wird der Kampf! Im tagtäglichen Klassenkampf gilt es zu streiten im Geiste der Thesen, im Geiste des unbeirrbaren revolutionären Internationalismus, im Geiste Lenins!

In diesem Sinn übergeben wir die Thesen, die als Entwurf bereits im Januar 1934, in unserer Zeitschrift Problèmes et discussions in französischer Sprache veröffentlicht wurden, nach Vornahme einer Anzahl von Ergänzungen und Verbesserungen der proletarischen Öffentlichkeit. Genf, 10. Juni 1934

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg Das internationale Sekretariat

[Einleitung] Die

katastrophale

Handels-,

Industrie-,

Agrar-

und

Finanzkrise,

die

Sprengung

der

internationalen

Wirtschaftsbeziehungen, der Verfall der Produktivkräfte der Menschheit, die unerträgliche Zuspitzung der Klassenwie der internationalen Gegensätze kennzeichnen den Niedergang des Kapitalismus und bestätigen vollauf, die Leninsche Charakteristik unserer Epoche als der Epoche der Kriege und Revolutionen.

Der Krieg von 1914-18 leitete offiziell eine neue Epoche ein, deren wichtigste politische Ereignisse bisher waren: die Eroberung der Macht durch das russische Proletariat im Jahre 1917 und die Niederschlagung des deutschen

Proletariats im Jahre 1933. Das fürchterliche Elend der Volksmassen in allen Erdteilen und die noch

fürchterlicheren Gefahren, die der morgige Tag bringt, sind das Ergebnis davon, dass die Revolution von 1917 auf der europäischen und der Weltarena keine siegreiche Entfaltung fand. Innerhalb der einzelnen Länder kommt die geschichtliche Sackgasse des Kapitalismus zum Ausdruck in der Dauerarbeitslosigkeit, dem Sinken des Lebensstandards der Arbeiter, dem Ruin der Bauernschaft und des städtischen Kleinbürgertums, in Zersetzung und Verfaulen des parlamentarischen Staates, in ungeheurer Vergiftung des Volks durch „soziale“ und „nationale“ Demagogie bei faktischer Beseitigung der sozialen Reformen, in der

Verdrängung und Ersetzung der alten Regierungsparteien durch den nackten Militär- und Polizeiapparat (den Bonapartismus des kapitalistischen Niedergangs), in dem Wachsen des Faschismus, seiner Machtergreifung und Vernichtung aller und jeder proletarischen Organisation.

Dieselben Prozesse schwemmen auf dem Weltschauplatz die letzten Überbleibsel von Festigkeit der internationalen Beziehungen hinweg, stellen jeden Konflikt zwischen den Staaten auf des Messers Schneide, legen die

Vergeblichkeit der pazifistischen Lösungsversuche bloß, erzeugen gesteigertes Rüsten auf neuer, technisch höherer Grundlage, und führen so zum neuen imperialistischen Krieg. Der Faschismus ist sein konsequentester Vorbereiter und Organisator. Andererseits stellen das Offenbarwerden der durch und durch reaktionären, Verfalls- und Räubernatur des heutigen Kapitalismus, der Zusammenbruch von Demokratie, Reformismus und Pazifismus, die unaufschiebbare und

brennende Notwendigkeit für das Proletariat, den rettenden Ausweg aus dem unabwendbaren Verderben zu finden, mit neuer Gewalt die internationale Revolution auf die Tagesordnung. Nur der Sturz der Bourgeoisie durch das sich erhebende Proletariat kann die Menschheit vor dem neuen verheerenden Völkermorden bewahren.

Die Vorbereitung des neuen Krieges 1. Die vom heutigen Kapitalismus nicht zu trennenden Ursachen, die den letzten imperialistischen Krieg

hervorriefen, haben heute eine unvergleichlich höhere Spannung erreicht als Mitte 1914. Die Furcht vor den Folgen eines neuen Krieges ist der einzige Faktor, der den Willen des Imperialismus im Zaume hält. Doch die Kraft dieser Bremse ist begrenzt. Die Spannung der inneren Widersprüche stößt ein Land nach dem anderen auf den Weg des

Faschismus, der seinerseits sich an der Macht nicht anders halten kann als durch die Vorbereitung internationaler

Explosionen. Alle Regierungen fürchten den Krieg. Aber keine einzige Regierung hat freie Wahl. Ohne

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg proletarische Revolution ist ein neuer Weltkrieg unabwendbar. 2. Europa, unlängst Schauplatz des größten aller Kriege, taumelt, von Siegern und Besiegten gestoßen ohne Unterlass dem Verfall entgegen. Der Völkerbund, der dem offiziellen Programm nach „den Frieden organisieren“, in Wirklichkeit aber das Versailler System verewigen, die Vorherrschaft der Vereinigten Staaten neutralisieren und

einen Schutzwall gegen den roten Osten schaffen sollte, hat dem Druck der imperialistischen Gegensätze nicht standgehalten. Nur die zynischsten aller Sozialpatrioten (Henderson, Vandervelde, Jouhaux usw.) versuchen noch,

mit dem Völkerbund Perspektiven der Abrüstung und des Pazifismus zu verbinden. In Wirklichkeit wurde der Völkerbund zu einer untergeordneten Figur auf dem Schachbrett der imperialistischen Kombinationen. Die diplomatische Hauptarbeit, die heute um Genf einen Bogen schlägt, besteht in der Suche nach militärischen

Verbündeten, d.h. in der krampfhaften Vorbereitung des neuen Gemetzels. Parallel dazu geht eine dauernde Erhöhung der Rüstungen, die aus dem faschistischen Deutschland einen neuen gigantischen Anstoß erhalten hat.

3. Der Zusammenbruch des Völkerbundes ist untrennbar verknüpft mit dem beginnenden Zusammenbruch der französischen Vorherrschaft auf dem europäischen Kontinent. Die demographische und wirtschaftliche Macht Frankreichs erwies sich, wie zu erwarten war, als eine zu schmale Unterlage für das Versailler System. Der bis an

die Zähne bewaffnete französische Imperialismus mit seinem scheinbaren „Verteidigungs“charakter, bleibt, soweit er gezwungen ist, die durch Verträge legalisierten Früchte seiner Aneignungen und Räubereien zu schützen, seinem Wesen nach einer der Hauptfaktoren des neuen Krieges.

Von unerträglichen Widersprüchen und den Folgen der Niederlage getrieben, war der deutsche Kapitalismus gezwungen, die Zwangsjacke des demokratischen Pazifismus herunterzureißen und tritt jetzt auf als Hauptbedroher des Versailler Systems. Die Gruppierung der Staaten auf dem europäischen Kontinent erfolgt bisher noch

vorwiegend auf der Linie:. Sieger und Besiegte. Italien nimmt die Haltung des treulosen Vermittlers ein, um im entscheidenden Augenblick seine Freundschaft der stärkeren Seite anzutragen, so wie es das während des vergangenen Krieges tat. England versucht seine „Unabhängigkeit“, Schatten der einstigen „splendid isolation“, zu

wahren in der Hoffnung, die Antagonismen in Europa, die Gegensätze zwischen Europa und Amerika und die

heraufziehenden Konflikte im fernen Osten für sich auszunutzen. Doch immer weniger wollen dem herrschenden England seine Vorhaben glücken. Erschrocken über den Zerfall ihres Imperiums, die revolutionäre Bewegung in Indien, die Unsicherheit ihrer Positionen in China, bemäntelt die britische Bourgeoisie mit der widerlichen pazifistischen Scheinheiligkeit Macdonalds und Hendersons die habgierige und feige Politik des Abwartens und

Lavierens, die ihrerseits eine der Hauptquellen der heutigen allgemeinen Unsicherheit und der morgigen Katastrophe ist. 4. Die größten Veränderungen nahmen Krieg und Nachkriegsperiode an der inneren wie der internationalen Lage der Vereinigten Staaten von Nordamerika vor. Das riesige wirtschaftliche Übergewicht über Europa und folglich über die Welt gestattete der Bourgeoisie der Vereinigten Staaten in die erste Periode nach dem Krieg einzutreten

als unparteiische „Friedensstifterin“, Hüterin der „Freiheit der Meere“ und der „Offenen Türen“. Die Handels- und

Industriekrise offenbarte jedoch mit furchtbarer Gewalt die Störung des alten wirtschaftlichen Gleichgewichts, dem der Binnenmarkt eine genügende Stütze war. Dieser Weg hat sich restlos erschöpft. Das wirtschaftliche Übergewicht der Vereinigten Staaten ist selbstverständlich auch heute nicht verschwunden, im

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg Gegenteil, potenziell wuchs es sogar infolge des weiteren Verfalls Europas; doch die alten Formen, in denen sich dies Übergewicht kundtat (Industrietechnik, Handelsbilanz, unerschütterlicher Dollar, Verschuldung Europas) büßten ihre Wirksamkeit ein: die hohe Technik findet keine Anwendung, die Bilanz ist ungünstig, der Dollar im Fallen,

die Schulden werden nicht bezahlt. Das Übergewicht der Vereinigten Staaten muss neue Ausdrucksformen finden wozu den Weg bahnen kann nur der Krieg.

Die Losung der „offenen Tür“ in China erweist sich machtlos vor einigen japanischen Divisionen. Bei seiner fernöstlichen Politik lässt sich Washington von der Überlegung leiten, im günstigsten Augenblick in der Lage zu

sein, einen kriegerischen Zusammenstoß der UdSSR mit Japan hervorzurufen, sowohl Japan wie die UdSSR zu

schwächen und je nach dem Kriegsausgang seine weiteren strategischen Pläne zu entwerfen. Während sie, dem Trägheitsgesetz folgend, die Diskussion über die Befreiung der Philippinen fortsetzen, bereiten sich die amerikanischen Imperialisten in Wirklichkeit darauf vor, sich in China eine territoriale Basis zu verschaffen, um in

der folgenden Etappe im Falle eines Konflikts mit Großbritanniens die Frage der „Befreiung“ Indiens zu stellen. Der Kapitalismus der Vereinigten Staaten ist dicht an die Aufgaben herangerückt, welche Deutschland 1914 auf den Kriegspfad drängten. Die Welt ist schon verteilt? Soll man sie neu aufteilen! Für Deutschland galt es, „Europa zu organisieren“. Den Vereinigten Staaten fällt es zu, „die Welt zu organisieren“. Die Geschichte treibt die Menschheit schnurstracks zum Vulkanausbruch des amerikanischen Imperialismus. 5. Den verspäteten japanischen Kapitalismus, der sich von den Säften der Rückständigkeit, der Armut und der Barbarei nährt, treiben unerträgliche innere Schwären und Eiterbeulen auf den Weg unaufhörlicher räuberischer Annexionen.

Das

Fehlen

einer

eigenen

Industriebasis

und

die

äußerste

Wackligkeit

der

gesamten

Gesellschaftsordnung machen den japanischen Kapitalismus zum aggressivsten und zügellosesten von allen. Doch wird die Zukunft zeigen, dass hinter dieser gierigen Aggression allzu wenig reale Kräfte stehen. Japan vermag wohl

als erstes das Signal zum Krieg zu geben; aber aus dem halb-feudalen Japan, das all die Widersprüche zerreißen, die schon das zaristische Russland kannte, kann auch eher als aus anderen Ländern das Signal zur Revolution ertönen. 6. Es wäre jedoch zu gewagt, erraten zu wollen, woher und wann gerade der erste Schuss fallen wird. Unter dem Einfluss der sowjetrussisch-amerikanischen Verständigung sowie der inneren Schwierigkeiten kann Japan vorläufig zurücktreten; aber dieselben Umstände können umgekehrt die japanische Kamarilla auch veranlassen, sich mit dem

Schlag zu beeilen, bevor es zu spät ist. Wird sich die französische Regierung zu einem „Präventiv“krieg entschließen, der unter Italiens Mitwirkung in allgemeinem Gemetzel enden wird? Oder wird Frankreich umgekehrt, abwartend und lavierend, unter Englands Druck den Weg der Verständigung mit Hitler beschreiten, ihm eben damit den Weg des Angriffs gegen Osten öffnend?

Wird Kriegsanstifter wieder die Balkanhalbinsel sein? Oder könnte die Initiative diesmal den Donauländern zufallen? Die Vielfalt der Faktoren und die Verflechtung der einander feindlichen Kräfte schließen die Möglichkeit

einer konkreten Prognose aus. Doch die allgemeine Entwicklungstendenz ist ganz klar: die Nachkriegsperiode wurde zu einer bloßen Pause zwischen zwei Kriegen, und diese Pause geht vor unseren Augen zu Ende. Der Plan-, Korporativ- oder Staatskapitalismus, der Hand in Hand geht mit dem autoritären, bonapartistischen oder faschistischen Staat, bleibt eine Utopie und eine Lüge, soweit er sich als offizielles Ziel die harmonische

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg Nationalwirtschaft auf der Grundlage des Privateigentums setzt. Doch ist er eine drohende Realität, soweit es die Zusammenfassung aller wirtschaftlichen Kräfte der Nation zur Vorbereitung des neuen Krieges gilt. Dieses Werk ist

jetzt voll im Gange. Ein neuer großer Krieg pocht an der Tür. Er wird erbittert, verheerender als sein Vorgänger sein. Das Verhalten zum nahenden Krieg wird somit zur zentralen Frage der proletarischen Politik.

Die UdSSR und der imperialistische Krieg 7. Im geschichtlichen Maßstab genommen ist der Gegensatz zwischen dem Weltimperialismus und der Sowjetunion unvergleichlich tiefer als die Antagonismen, welche die einzelnen kapitalistischen Länder einander gegenüberstellen.

Doch der Klassengegensatz zwischen dem Arbeiterstaat und den Staaten des Kapitals verändert seine Schärfe entsprechend dem Entwicklungsgang des Arbeiterstaates und den Veränderungen der Weltlage. Die unerhörte

Entwicklung des Sowjetbürokratismus und die schweren Lebensbedingungen der Werktätigen haben die Anziehungskraft der UdSSR für die Weltarbeiterklasse außerordentlich gesenkt. Die schweren Niederlagen der Komintern und die nationalpazifistische Außenpolitik der Sowjetregierung mussten ihrerseits die Besorgnisse der

Weltbourgeoisie mildern. Schließlich nötigt die neuerliche Verschärfung der inneren Widersprüche in der kapitalistischen Welt die Regierungen Europas und Amerikas in der augenblicklichen Etappe, der UdSSR nicht vom

Standpunkt der Grundfrage Kapitalismus oder Sozialismus?, gegenüberzutreten, sondern vom Standpunkt der konjunkturellen Rolle des Sowjetstaates im Kampf imperialistischer Gewalten. Ausdruck für diese internationale

Lage waren eben die Nichtangriffspakte, die Anerkennung der UdSSR durch die Washingtoner Regierung usw. Die beharrlichen Bemühungen Hitlers, Deutschlands Aufrüstung mit Hinweisen auf die „Gefahr im Osten“ zu rechtfertigen, haben bisher keinen Anklang gefunden, besonders nicht bei Frankreich und seinen Satelliten, gerade weil die revolutionäre Gefahr des Kommunismus trotz der fürchterlichen Krise ihre Schärfe verloren hat. Die

diplomatischen Erfolge der Sowjetunion erklären sich somit – wenigstens zur Hälfte – aus der außerordentlichen Schwächung der internationalen Revolution.

8. Ein unheilvoller Fehler wäre es jedoch, zu glauben, die Militärintervention gegen die Sowjetunion sei überhaupt

von der Tagesordnung abgesetzt. Milderte sich auch die konjunkturmäßige Schärfe der Beziehungen, so bleibt doch der Gegensatz der Gesellschaftsordnungen voll in Kraft. Der unaufhaltsame Verfall des Kapitalismus wird die

bürgerlichen Regierungen auf den Weg radikaler Lösungen drangen. Jeder große Krieg wird, unabhängig von seinen ursprünglichen Motiven, schroff die Frage stellen nach der Militärintervention in die UdSSR mit dem Ziel der Übertragung frischen Bluts in die verkalkten Adern des Kapitalismus.

Die unbestreitbare und tiefe bürokratische Entartung des Sowjetstaates wie der national-konservative Charakter seiner Außenpolitik verändern die soziale Natur der Sowjetunion als des ersten Arbeiterstaates nicht. Jede Art

demokratischer, idealistischer, ultralinker, anarchistischer Theorie, die den in der Tendenz sozialistischen Charakter der Eigentumsverhältnisse verneint und den Klassengegensatz zwischen der UdSSR und den bürgerlichen Staaten

leugnet oder vertuscht, muss unvermeidlich, besonders im Kriegsfalle, zu konterrevolutionären politischen Schlussfolgerungen führen.

Die Verteidigung der Sowjetunion gegen die Anschläge seitens der kapitalistischen Feinde ist, unabhängig von den Umständen und unmittelbaren Ursachen des Zusammenstoßes, elementare und gebieterische Pflicht jeder ehrlichen Arbeiterorganisation.

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg Die „nationale Verteidigung“ 9. Als klassische Arena schuf sich der Kapitalismus im Kampf mit dem mittelalterlichen Partikularismus den Nationalstaat. Doch kaum richtig zusammengefügt; begann er sich schon in eine Bremse für die wirtschaftliche und

kulturelle Entwicklung zu verwandeln. Aus dem Widerspruch zwischen den Produktivkräften und dem Rahmen des Nationalstaats, in Verbindung mit dem Grundwiderspruch – zwischen den Produktivkräften und dem Privateigentum an den Produktionsmitteln –, erwuchs eben die Krise des Kapitalismus als der Weltgesellschaftsordnung.

10. Wäre es möglich, mit einem Schlage alle Staatsgrenzen wegzufegen, so könnten sich die Produktivkräfte, auch

unter dem Kapitalismus, während einer gewissen Periode – allerdings um den Preis unzähliger Opfer – noch auf ein höheres Niveau erheben. Bei Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln können die Produktivkräfte, wie die Erfahrung der UdSSR bezeugt, sogar im Rahmen eines einzigen Staates zu größerer

Entfaltung gelangen. Doch nur die Aufhebung sowohl des Privateigentums wie der Staatsschranken zwischen den Nationen vermag die Voraussetzungen für die neue Wirtschaftsordnung zu schaffen: die sozialistische Gesellschaft.

11. Die Verteidigung des Nationalstaates ist, vor allem im balkanisierten Europa, seiner Heimat, im vollen Sinne

des Wortes reaktionäres Beginnen. Der Nationalstaat mit seinen Grenzen, Pässen, Geldsystemen, Zollämtern und Truppen zur Verteidigung der Zölle ist zu einem ungeheuren Hindernis auf dem Wege der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung der Menschheit geworden. Aufgabe des Proletariats ist nicht die Verteidigung des Nationalstaats, sondern dessen völlige und endgültige Beseitigung. 12. Stellte der heutige Nationalstaat einen fortschrittlichen Faktor dar, so müsste man ihn verteidigen unabhängig von seinen politischen Formen und gar schon ganz unabhängig davon, wer als erster den Krieg „begann“. Unsinn ist es, die Frage der geschichtlichen Funktion des Nationalstaates mit der Frage der „Schuld“ der betreffenden Regierung zu vermengen. Kann man darauf verzichten, ein brauchbares Wohnhaus zu retten, bloß weil der Brand

aus Unvorsichtigkeit oder böser Absicht des Eigentümers entstand? Doch das ist es eben: das betreffende Haus taugt nicht zum Wohnen, sondern nur, um darin zu sterben. Damit die Völker leben können, muss das Haus des Nationalstaates dem Erdboden gleichgemacht werden.

13. Ein „Sozialist“, der die nationale Verteidigung predigt, ist kleinbürgerlicher Reaktionär im Dienste des

faulelenden Kapitalismus. Während des Krieges sich nicht an den Nationalstaat ketten, sich leiten lassen nicht von der Kriegskarte, sondern der Karte des Klassenkampfes, kann nur die Partei, welche dem Nationalstaat schon in

Friedenszeiten unversöhnlichen Krieg erklärt hat. Nur wenn sie die objektiv reaktionäre Rolle des imperialistischen Staates vollauf begreift, kann die proletarische Vorhut gefeit sein gegen Sozialpatriotismus aller Art. Das bedeutet: der wirkliche Bruch mit Ideologie und Politik der „nationalen Verteidigung“ ist möglich nur vom Standpunkt der internationalen proletarischen Revolution.

Die nationale Frage und der imperialistische Krieg 14. Das Proletariat verhält sich nicht gleichgültig zur Nation. Im Gegenteil, gerade weil die Geschichte ihm das Schicksal der Nation in die Hand legt, lehnt es ab, die Sache ihrer Freiheit und Unabhängigkeit dem Imperialismus

anzuvertrauen, der die Nation nur „rettet“, um sie morgen schon neuen Lebensgefahren auszusetzen namens der Interessen einer winzigen Ausbeuterminderheit.

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg 15. Während er die Nation für seine Entwicklung ausnutzt, hat der Kapitalismus nirgends, auf keinem Fleck der Erde, die nationale Frage gänzlich gelöst. Die Grenzen des Versailler Europa sind quer durch das lebendige Fleisch

der Nationen gezogen. Reinste Utopie ist der Gedanke, das kapitalistische Europa so umzuschneidern, dass die Grenzen der Staaten mit den Grenzen der Nationen zusammenfallen. Auf friedlichem Wege wird kein einziger Staat auch nur einen Fußbreit Boden abtreten. Ein neuer Krieg aber würde Europa wieder nur umschustern nach

Maßgabe der Kriegskarte und nicht der Grenzen der Nationen. Die Aufgabe der völligen nationalen Selbstbestimmung und friedlichen Zusammenarbeit Europas ist nur zu lösen auf Grund des wirtschaftlichen Zusammenschlusses eines von bürgerlichen Staaten gesäuberten Europa. Die Losung der Vereinigten Sowjetstaaten

von Europa ist die rettende Losung nicht allein für die Balkan- und Donauländer, sondern auch für die Völker Deutschlands und Frankreichs. 16. Einen besonderen und zwar großen Raum nimmt die Frage der kolonialen und halbkolonialen Länder des Ostens ein, die erst um den unabhängigen Nationalstaat kämpfen. Ihr Kampf ist zweifach fortschrittlich: indem er

die zurückgebliebenen Völker dem Asiatentum, dem Partikularismus und dem fremdländischen Joch entreißt, erteilt er den Staaten des Imperialismus gewaltige Schläge. Man muss sich aber von vornherein klar Rechenschaft darüber ablegen, dass die verspäteten Revolutionen in Asien oder Afrika nicht imstande sind eine neue Blütezeit des

Nationalstaats heraufzubeschwören, die Befreiung der Kolonien wird nur eine grandiose Episode sein in der

sozialistischen Weltrevolution, wie die verspätete demokratische Umwälzung in Russland, das auch ein halbkoloniales Land war, nur die Einleitung der sozialistischen Umwälzung bildete. 17. In Südamerika, wo der verspätete und bereits faulende Kapitalismus die Verhältnisse eines halbkolonialen, d.h. halbversklavten

Daseins

aufrechterhält,

erzeugen

die

Weltantagonismen

einen

heftigen

Kampf

der

Kompradorencliquen, unaufhörliche Umstürze im Innern der Staaten und chronischem Kriegsgeplänkel zwischen ihnen. Die amerikanische Bourgeoisie, die in der Epoche ihres geschichtlichen Aufstiegs die nördliche Hälfte des amerikanischen Festlandes in einen Bund zu vereinigen verstand, nutzt heute all ihre auf diesem Boden erworbene

Macht aus Entzweiung, Schwächung und Knechtung seiner südlichen Hälfte. Sich aus der Zurückgebliebenheit und Knechtschaft losreißen können Süd- und Mittelamerika nicht anders als durch die Einigung all ihrer Staaten in

einem mächtigen Bund. Diese grandiose geschichtliche Aufgabe zu lösen, ist jedoch nicht die rückständige südamerikanische Bourgeoise ausersehen, ganz und gar käufliche Agentur des fremdländischen Imperialismus,

sondern das junge südamerikanische Proletariat als der berufene Führer der unterdrückten Volksmassen. Die Losung des Kampfes gegen die Vergewaltigungen und Ränke des Weltimperialismus und gegen das blutige Treiben der einheimischen Kompradorencliquen lautet daher: die Vereinigten Sowjetstaaten von Süd- und Mittelamerika. Das nationale Problem verknüpft sich allenthalben mit dem sozialen. Nur die Eroberung der Macht durch das Weltproletariat vermag allen Nationen unseres Erdballs wirkliche und unerschütterliche Entwicklungsfreiheit zu sichern.

Verteidigung der Demokratie 18. Die Lüge der nationalen Verteidigung deckt sich in allen Fällen, wo es angängig ist, mit der ergänzenden Lüge von der Verteidigung der Demokratie. Wenn die Marxisten heute, in der imperialistischen Epoche, Demokratie mit Faschismus nicht gleichsetzen und in jedwedem Augenblick bereit sind, dem die Demokratie bedrängenden

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg Faschismus Widerstand zu leisten, soll da das Proletariat nicht auch im Kriegsfalle die demokratischen Regierungen gegen die faschistischen unterstützen? Ein grober Sophismus: Die Demokratie beschützen wir vor dem Faschismus mittels der Organisationen und Methoden des Proletariats. Im Gegensatz zur Sozialdemokratie übertragen wir diesen Schutz nie auf den Staat der

Bourgeoisie („Staat, greif zu!“) Stehen wir aber schon in Friedenszeiten unversöhnlich in Opposition zur „demokratischsten“ Regierung, können wir da auch nur den Schatten einer Verantwortung für sie in Kriegszeiten

übernehmen, wo alle Niedertracht und alle Verbrechen des Kapitalismus viehischste und blutrünstigste Gestalt annehmen? 19. Ein moderner Krieg zwischen Großmächten ist kein Aufeinanderprall von Demokratie und Faschismus, sondern der Kampf zweier Imperialismen zur Neuaufteilung der Welt. Der Krieg muss außerdem unvermeidlich internationalen

Charakter

annehmen,

wobei

in

beiden

Lagern

sowohl

faschistische

(halbfaschistische,

bonapartistische usw.) wie auch „demokratische“ Staaten stehen werden. Die republikanische Form des französischen Imperialismus hat ihn nicht gehindert, sich in Friedenszeiten auf die bürgerlichen Militärdiktaturen in Polen, Jugoslawien und Rumänien zu stützen, wie sie ihn nötigenfalls nicht hindern wird, die österreichisch-

ungarische Monarchie wiederherzustellen als Schranke gegen den Anschluss Österreichs an Deutschland. Schließlich würde sich in Frankreich selbst die auch heute schon hinreichend geschwächte parlamentarische Demokratie zweifellos als eines der ersten Opfer des Krieges erweisen, sollte sie nicht schon vor seinem Beginn gestürzt sein.

20. Die Bourgeoisie mehrerer zivilisierter Länder bewies bereits und wird weiter beweisen, dass sie im Falle

innerer Gefahren sich nicht bedenken, die parlamentarische Form ihrer Herrschaft auszuwechseln gegen die autoritäre, diktatorische, bonapartistische oder faschistische. Umso eher und entschiedener wird sie eine solche

Vertauschung im Kriege vornehmen, wenn ihren grundlegenden Klasseninteressen äußere und innere Gefahren von zehnfach größerer Gewalt drohen. Unterstützen unter diesen Umständen Arbeiterparteien „ihren“ nationalen Imperialismus um seiner zerbrechlichen demokratischen Schale willen, so ist das gleichbedeutend mit dem Verzicht

auf selbständige Politik und mit chauvinistischer Demoralisierung der Arbeiter, das heißt mit der Vernichtung des einzigen Faktors, der die Menschheit vor dem Untergang zu retten vermag.

21. „Kampf um die Demokratie“ während des Krieges wird vor allem heißen: Kampf um die Erhaltung der

Arbeiterpresse und der Arbeiterorganisationen gegen das Wüten von Militärzensur und Militärgewalt. Auf dem Boden dieser Aufgaben wird die revolutionäre Vorhut streben nach der Einheitsfront mit den übrigen

Arbeiterorganisationen gegen die eigene „demokratische“ Regierung, keinesfalls aber nach der Einheit mit ihrer Regierung gegen das Feindesland. 22. Der imperialistische Krieg steht über der Frage nach der Form der Staatsgewalt des Kapitals. Er legt jeder nationalen Bourgeoisie die Frage vor nach dem Schicksal des nationalen Kapitalismus, und der Bourgeoisie aller Länder die Frage nach dem Schicksal des Kapitalismus überhaupt. Nur so darf das Proletariat die Frage stellen: Kapitalismus oder Sozialismus, Triumph eines der imperialistischen Lager oder proletarische Revolution.

Die Verteidigung der kleinen und neutralen Staaten 23. Der Gedanke der nationalen Verteidigung kann, besonders wenn er mit dem Gedanken der Verteidigung der

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg Demokratie zusammenfällt, leicht die Arbeiter der kleinen und neutralen Staaten täuschen (Schweiz, zum Teil Belgien, die skandinavischen Länder), die, da sie zu selbständiger Eroberungspolitik nicht fähig sein werden, dem

Schutz ihrer nationalen Grenzen den Charakter eines unanfechtbaren und unbedingten Dogmas geben. Gerade an Belgiens Beispiel sehen wir jedoch, wie ganz natürlich die formelle Neutralität ersetzt wird durch ein System

imperialistischer Abkommen, und wie unvermeidlich ein Krieg um die „nationale Verteidigung“ zu einem Annexionsfrieden führt. Der Charakter des Krieges wird nicht bestimmt durch das isoliert genommene Moment des Regimes („Verletzung der Neutralität“, „feindlicher Einmarsch“ usw.) sondern durch die Haupttriebkräfte des Krieges, seine Gesamtentwicklung und die Ergebnisse, zu denen er letzten Endes führt. 24. Es ist gern zu glauben, dass die Schweizer Bourgeoisie nicht die Kriegsinitiative ergreifen wird. In diesem Sinne ist sie formell mehr als irgendeine andere Bourgeoisie im Recht, von ihrer Verteidigungsposition zu reden. Aber in dem Augenblick, wo die Schweiz sich im Verlauf der Ereignisse in den Krieg hineingerissen sähe, wird sie

sich in den Kampf der Weltmächte einschalten, die hüben und drüben imperialistische Ziele verfolgen. Wird die Neutralität verletzt, so wird sich die Schweizer Bourgeoisie dem stärkeren der beiden Angreifer anschließen, unabhängig davon, auf wen mehr Verantwortung für die Verletzung der Neutralität fällt und in welchem Lager es

mehr „Demokratie“ gibt. So hat im letzten Krieg Belgien, Verbündeter des Zarismus, das Lager der Entente durchaus nicht verlassen, als diese im Verlauf des Krieges es angebracht fand, die Neutralität Griechenlands anzutasten.

Nur ein völlig stupider Kleinbürger eines Schweizer Krähwinkels (wie etwa Robert Grimm) kann sich ernsthaft einbilden, der Weltkrieg, in den er hineingerissen wurde, sei Mittel zum Schutz der Unabhängigkeit der Schweiz.

Der Krieg wird von der Schweizer Neutralität keinerlei Spuren übriglassen wie der vorhergehende Krieg die Neutralität Belgiens hinwegfegte. Ob sich die Schweiz nach dem Krieg als Staatsganzes halten kann, und sei es auch unter Einbuße ihrer Selbständigkeit, oder ob sie zwischen Deutschland, Frankreich und Italien aufgeteilt

werden wird, das hängt von einer Reihe europäischer und Weltfaktoren ab, unter denen die „nationale Verteidigung“ der Schweizer einen verschwindend kleinen Platz einnimmt. Wir sehen also, auch mit der neutralen, demokratischen, Kolonien entbehrenden Schweiz, wo der Gedanke der nationalen Verteidigung vor uns in seiner reinsten Form ersteht, machen die Gesetze der imperialistischen Epoche keine Ausnahme. Die Aufforderung der Bourgeoisie, sich der Politik der nationalen Verteidigung anzuschließen,

muss das Schweizer Proletariat beantworten mit der Politik der Klassenverteidigung, um dann zum revolutionären Angriff überzugehen.

Die zweite Internationale und der Krieg 25. Das Gebot der nationalen Verteidigung geht von dem Dogma aus, die nationale Solidarität stehe über dem Klassenkampf. In Wahrheit hat keine besitzende Klasse jemals die Verteidigung des Vaterlandes als solches, das heißt unter allen und jeden Bedingungen, anerkannt sondern hinter dieser Formel nur die Verteidigung ihrer

bevorrechteten Stellung im Vaterland versteckt. Gestürzte herrschende Klassen wurden stets zu „Defätisten“, d.h. waren stets bereit, ihre Vorrechte mit Hilfe fremder Waffen wiederaufzurichten. Die unterdrücken Klassen, unbewusst ihrer Interessen und an Opfer gewöhnt, nehmen die Losung der „nationalen

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg Verteidigung“ für bare Münze, das heißt für eine unbedingte, scheinbar über den Klassen stehende Pflicht. Das geschichtliche Hauptverbrechen der Zweiten Internationale besteht darin dass sie mit Hilfe der Ideen des

Patriotismus die Sklavengewohnheiten der Tradition der Unterdrückten nährt und festigt ihre revolutionäre Auflehnung neutralisiert und ihr Klassenbewusstsein verfälscht. Wenn das europäische Proletariat die Bourgeoisie beim Ausgang des großen Krieges nicht gestürzt hat, wenn die Menschheit sich heute in Krisenqualen windet, wenn ein neuer Krieg Dorf und Stadt in Trümmerhaufen zu verwandeln droht, so trägt die Hauptschuld an diesen Verbrechen und Verheerungen die Zweite Internationale.

26. Die Politik des Sozialpatriotismus hat die Massen ideologisch wehrlos gemacht gegenüber dem Faschismus. Soll man Sich während des Krieges vom Klassenkampf lossagen namens der Interessen der Nation, so muss man

auf den „Marxismus“ auch in der Epoche der großen Wirtschaftskrise verzichten, die die Nation nicht weniger bedroht als ein Krieg. Rosa Luxemburg erschöpfte diese Frage bereits im April 1915 in den folgenden Worten: „Entweder ist der Klassenkampf auch im Kriege das übermächtige Daseinsgesetz des Proletariats... Oder der

Klassenkampf ist auch im Frieden ein Frevel gegen die nationalen Interessen und die Sicherheit des Vaterlandes“ ...“. Den Gedanken der „nationalen Interessen“ und der „Sicherheit des Vaterlandes“ verwandelte der Faschismus in Hand- und Fußschellen für das Proletariat.

27. Die deutsche Sozialdemokratie unterstützte die Außenpolitik Hitlers so lange, bis er sie davonjagte. Die endgültige Ersetzung der Demokratie durch den Faschismus zeigte, die Sozialdemokratie bleibt patriotisch „nur solange ihr Profit und politische Vorrechte garantiert. In die Emigration versetzt, krempeln sich die ehemaligen

hohenzollerischen Patrioten plötzlich um und sind bereit, einen Präventivkrieg der französischen Bourgeoisie gegen Hitler willkommen zu heißen. Der Zweiten Internationale kostete es nicht viel Mühe, Wels & Co zu amnestieren,

die schon morgen, wenn die deutsche Bourgeoisie ihnen den kleinen Finger reichte, sich wieder in flammende Patrioten zurückverwandeln würden. 28. Die französischen, belgischen und anderen Sozialisten beantworten die deutschen Ereignisse mit einem offenen Bündnis mit ihrer Bourgeoisie hinsichtlich der „nationalen Verteidigung“. Während das offizielle Frankreich einen „kleinen“, „unscheinbaren“ aber durch außerordentliche Niedertracht hervorstechenden Krieg gegen Marokko führte, verbreiteten sich die französische Sozialdemokratie und die reformistische Gewerkschaften auf ihren Kongressen

gegen die Unmenschlichkeit der Kriege überhaupt, wobei sie damit vornehmlich den Revanchekrieg seitens Deutschland meinten. Parteien, welche die Grausamkeiten der Kolonialräuberei unterstützten, wo es nur neue Gewinne gilt, werden mit verbundenen Augen jede nationale Regierung stützen in dem großen Krieg, wo es um das Schicksal des bürgerlichen Regimes gehen wird. 29. Die Unvereinbarkeit der sozialdemokratischen Politik mit den geschichtlichen Aufgaben des Proletariats ist in der Gegenwart unvergleichlich tiefer und schärfer als am Vorabend des imperialistischen Krieges. Der Kampf mit dem patriotischen Aberglauben der Massen bedeutet vor allem unversöhnlichen Kampf gegen die Zweite Internationale als Organisation, als Partei, als Programm, als Banner.

Der Zentrismus und der Krieg 30. Der erste imperialistische Krieg hat die Zweite Internationale als revolutionäre Partei vollständig liquidiert und

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg dadurch die Notwendigkeit und Möglichkeit geschaffen zur Bildung der Dritten Internationale. Doch die republikanische „Revolution“ in Deutschland und Österreich-Ungarn, die Demokratisierung des Wahlrechts in einer Reihe von Ländern, die Zugeständnissen seitens der tief erschrockenen europäischen Bourgeoisie auf dem Gebiet

der Sozialgesetzgebung in den ersten Nachkriegsjahren – all das gewährte, zusammen mit der verderblichen Politik der Epigonen des Leninismus, der Zweiten Internationale eine beträchtliche Fristverlängerung schon nicht mehr als

revolutionäre, sondern als konservativ-liberale Arbeiterpartei der friedlichen Reformen. Sehr schnell jedoch –

endgültig mit dem Anbruch der letzten Weltkrise – erwiesen sich alle Möglichkeiten auf dem Reformwege als erschöpft. Die Bourgeoisie ging zum Gegenangriff über. Die Sozialdemokratie gab verräterisch eine Position nach

der anderen preis. Alle Spielarten des Reformismus – der Parlaments-, der Gewerkschafts-, der Gemeinde-, der Genossenschafts-„Sozialismus“ – erlitten in den letzten Jahren eine Reihe von nicht wieder gut zu machenden

Bankrotten und Katastrophen. Im Endergebnis trifft die Vorbereitung des neuen Krieges durch den Imperialismus die Zweite Internationale mit zerbrochenem Rückgrat an. In den Sozialdemokratischen Parteien geht ein intensiver

Mauserungsprozess vor sich. Der konsequente Reformismus schminkt sich um, verstummt oder spaltet sich ab. An seine Stelle treten die verschiedenen Schattierungen des Zentrismus, bald in der Form zahlreicher Fraktionen innerhalb der alten Parteien, bald in Form selbständiger Organisationen.

31. In der Frage der Vaterlandsverteidigung greifen die maskierten Reformisten und rechten Zentristen (Leon Blum, Hendrik de Man, Robert Grimm, Martin Tranmæl, Otto Bauer, usw.) zu immer diplomatischeren, verworreneren, bedingteren Formulierungen, berechnet zugleich auf die Beschwichtigung der Bourgeoisie und auf die Täuschung der Arbeiter. Sie stellen Wirtschafts“pläne“ oder eine Reihe sozialer Forderungen auf und

versprechen dafür, soweit die nationale Bourgeoisie ihr Programm unterstützen wird, das Vaterland vor dem äußeren „Faschismus“ zu schützen. Der Zweck dieser Fragestellung ist, die Frage des Klassencharakters des Staates

zu verwischen, dem Problem der Machteroberung auszuweichen und unter dem Deckmantel einen „sozialistischen“ Planes die Verteidigung des kapitalistischen Vaterlandes durchzuschmuggeln.

32. Die linken Zentristen, die sich ihrerseits durch eine große Anzahl von Färbungen auszeichnen (SAP in Deutschland, OSP in Holland, ILP in England, die Gruppen Zyromskis und Marceau Piverts in Frankreich usw.

usw.) gehen in Worten bis zur Ablehnung der Vaterlandsverteidigung. Doch ziehen sie aus dieser nackten Ablehnung nicht die notwendigen praktischen Schlussfolgerungen. Ihr Internationalismus trägt zur Hälfte, wenn

nicht zu neun Zehnteln platonischen Charakter. Sie fürchten, sich von den rechten Zentrismus zu trennen: Im Namen des Kampfes gegen das „Sektierertum“ führen sie einen Kampf gegen den Marxismus, verzichten auf den

Kampf um die revolutionäre Internationale oder verbleiben weiter in der Zweiten Internationale, an deren Spitze der königliche Lakai Vandervelde steht. In gewissen Augenblicken dem Schub der Massen nach links Ausdruck verleihend, bremsen die Zentristen letzten Endes die revolutionäre Umgruppierung im Proletariat und folglich auch den Kampf gegen den Krieg.

33. Seinem ganzen Wesen nach bedeutet Zentrismus Halbheit und Schwanken. Indes ist das Kriegsproblem am allerwenigsten für eine Politik des Schwankens geeignet. Für die Massen ist der Zentrismus immer nur eine kurze

Übergangsetappe. Die wachsende Kriegsgefahr wird eine immer schärfere Differenzierung in den zentristischen Gruppierungen, die heute in der Arbeiterbewegung vorherrschen, hervorrufen. Die proletarische Vorhut wird sich für den Kampf gegen den Krieg umso besser gewappnet erweisen, je schneller und vollständiger sie ihr Denken aus

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg den Verstrickungen des Zentrismus befreit. Klare und unversöhnliche Stellung aller mit dem Krieg verbundenen Fragen ist die notwendige Vorbedingung für einen Erfolg auf diesem Wege.

Die Sowjetdiplomatie und die internationale Revolution 34. Nach der Machteroberung bezieht das Proletariat selbst die Position der „Vaterlandsverteidigung“. Doch hinter dieser Formel steckt von da an ein ganz neuer geschichtlicher Inhalt. Der isolierte Arbeiterstaat ist kein

selbstgenügsames Ganzes, sondern lediglich Truppensammelplatz der Weltrevolution. In Gestalt der UdSSR verteidigt das Proletariat nicht nationale Grenzen, sondern die einstweilen in nationale Grenzen gezwängte sozialistische Diktatur. Nur tiefes Verständnis dafür, dass die proletarische Revolution im nationalen Rahmen nicht

zur Vollendung gelangen kann, dass ohne den Sieg des Proletariats in den wichtigsten Ländern alle Erfolge des sozialistischen Aufbaus in der UdSSR dem Untergang geweiht sind, dass es für kein einziges Land eine andere Rettung gibt als die internationale Revolution, dass die sozialistische Gesellschaft nur auf Grund internationaler

Zusammenarbeit errichtet werden kann – nur diese unerschütterliche, in Fleisch und Blut übergegangene Überzeugung vermag der revolutionären proletarischen Politik während des Krieges eine verlässliche Grundlage zu schaffen.

35. Die Außenpolitik der Sowjets, die ausgeht von der Theorie des Sozialismus in einem Lande, d.h. der faktischen Nichtachtung der Aufgaben der internationalen Revolution, ist auf zwei Gedanken aufgebaut: die allgemeine

Abrüstung und der gegenseitige Angriffsverzicht. Dass die Sowjetregierung auf dem Gebiet der diplomatischen Garantien zu einer rein formalistischen Stellung der Fragen von Krieg und Frieden Zuflucht nehmen muss, ergibt sich aus den Bedingungen der kapitalistischen Umkreisung. Doch niemals durfte man diese Methoden der

Anpassung an den Feind, die sich aufdrängten durch die Schwäche der internationalen Revolution und in erheblichem Maße durch die vorangegangenen Fehler der Sowjetmacht selbst, zu einem Universalsystem ausbauen. Indes bildeten die Taten und Reden der Sowjetdiplomatie, die längst die Grenzscheide der unvermeidlichen und

zulässigen praktischen Kompromisse überschritten hat, die heilige und unantastbare Grundlage der internationalen Politik der Dritten Internationale und wurde zur Quelle gröblichster pazifistischer Illusionen und sozialpatriotischer Abirrungen. 36. Abrüstung ist kein Mittel gegen den Krieg, denn, wie uns die Erfahrung desselben Deutschland zeigt, ist eine episodische Abrüstung lediglich eine Etappe auf dem Wege zu neuer Aufrüstung. Die Möglichkeit zu neuer, und

zwar sehr schneller Aufrüstung ist in der heutigen Industrietechnik gegeben. Die „allgemeine“ Abrüstung würde, selbst wenn sie verwirklicht werden könnte, nur eine Stärkung des militärischen Übergewichts der mächtigsten Industrieländer bedeuten. Eine „Abrüstung“ um 50% ist der Weg nicht zu völliger Abrüstung, sondern zu einer

vollkommenen Aufrüstung auf 100%. Die Abrüstung hinstellen als das „einzig wirksame Mittel zur Verhinderung des Krieges“, heißt die Arbeiter täuschen im Namen einer gemeinsamen Front mit den kleinbürgerlichen Pazifisten.

37. Man kann nicht für eine Minute dem Sowjetstaat das Recht abstreiten, in diesen oder jenen Verträgen mit den

Imperialisten mit größtmöglicher Genauigkeit den Begriff des Angriffs zu definieren. Doch versuchen, diese bedingte juristische Formel zum obersten Regulator der internationalen Beziehungen zu machen, heißt das revolutionäre Kriterium mit einem konservativen vertauschen und die internationale Politik des Proletariats auf den Schutz der bestehenden Annexionen und Gewaltgrenzen zurückführen.

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg 38. Wir sind keine Pazifisten. Den revolutionären Krieg halten wir ebenso für ein Mittel der proletarischen Politik wie den Aufstand. Unser Verhalten zum Krieg richtet sich nicht nach der Rechtsformel des „Angriffs“, sondern

danach, welche Klasse den Krieg führt namens welcher Ziele. Bei Zusammenstößen von Staaten wie im Kampfe der Klassen stellen „Angriff“ und „Verteidigung“ Fragen der praktischen Zweckmäßigkeit dar und keine rechtlichen oder sittlichen Normen. Das leere Kriterium des Angriffs bietet nur eine Stütze für die sozialpatriotische Politik der Herren Léon Blum, Vandervelde usw., die dank Versailles die Möglichkeit besitzen, die imperialistische Beute zu verteidigen unter dem Schein der Aufrechterhaltung des Friedens.

39. Stalins berüchtigte Formel: „Keinen Fleck fremden Bodens wollen wir, keinen Fußbreit Boden lassen wir“,

stellt ein konservatives Programm der Erhaltung des Status quo dar, das von Grund auf dem Angriffscharakter der proletarischen Revolution widerspricht. Die Ideologie des Sozialismus in einem Lande führt unausweichlich zur Verwischung der reaktionären Rolle des Nationalstaates, zur Versöhnung mit ihm, zu seiner Idealisierung, zur Herabdrückung der Bedeutung des revolutionären Internationalismus. 40. Die Führer der Dritten Internationale rechtfertigen die Politik der Sowjetdiplomatie damit, der Arbeiterstaat müsse die Gegensätze im Lager der Imperialisten ausnutzen. Die an sich unbestreitbare Feststellung bedarf jedoch der Konkretisierung.

Die Außenpolitik jeder Klasse ist die Fortsetzung und Weiterentwicklung ihrer Innenpolitik. Soll das Proletariat an

der Macht die Gegensätze im Lager seiner äußeren Feinde aufspüren und ausnutzen, so muss das um die Macht kämpfende Proletariat die Gegensätze im Lager seiner inneren Feinde aufzuspüren und auszunutzen wissen. Der

Umstand, dass die Dritte Internationale sich als absolut unfähig erwies, den Gegensatz zwischen reformistischer Demokratie und Faschismus zu begreifen und auszunutzen, hat unmittelbar zur größten Niederlage des Proletariats geführt und die Gefahr eines neuen Krieges dicht heraufbeschworen.

Die Ausnutzung der Gegensätze unter den imperialistischen Regierungen ist andererseits nicht anders zu

bewerkstelligen als vom Standpunkt der internationalen Revolution. Die Verteidigung der UdSSR ist nur denkbar bei gänzlicher Unabhängigkeit der internationalen proletarischen Vorhut von der Politik der Sowjetdiplomatie, bei

völliger Freiheit der Entlarvung ihrer national-konservativen, gegen die Interessen der internationalen Revolution und damit auch gegen die Interessen der Sowjetunion gerichteten Methoden.

Die UdSSR und die imperialistischen Gruppierungen 41. Die Sowjetregierung ändert heute ihren Kurs hinsichtlich des Völkerbundes. Die Dritte Internationale wiederholt wie stets sklavisch Worte und Gesten der Sowjetdiplomatie. „Ultralinke“ aller Art benützen diese Wendung, um ein übriges Mal die UdSSR zu den bürgerlichen Staaten zu zählen. Die Sozialdemokratie erklärt die „Aussöhnung“ der UdSSR mit dem Völkerbund je nach den nationalen Erwägungen bald für einen Beweis für den bürgerlichnationalen Charakter der Moskauer Politik, bald hingegen für eine Rehabilitierung des Völkerbundes und überhaupt

der ganzen Ideologie des Pazifismus. Der marxistische Standpunkt hat auch in der vorliegenden Frage nichts gemein mit irgendeiner dieser kleinbürgerlichen Anschauungen.

Unsere grundsätzliche Einstellung zum Völkerbund unterscheidet sich nicht von der zu jedem einzelnen imperialistischen Staat, ob dem Völkerbund angeschlossen oder nicht. Das Lavieren des Sowjetstaates zwischen den

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg antagonistischen Gruppierungen des Imperialismus bedingt auch eine Manöverpolitik in Bezug auf den Völkerbund. Solange Japan und Deutschland dem Bund angehörten, drohte dieser eine Arena der Verständigung der

bedeutendsten imperialistischen Räuber auf Kosten der UdSSR zu werden. Mit dem Austritt Japans und Deutschlands, der hauptsächlichen und unmittelbarsten Feinde der Sowjetunion, verwandelte sich der Völkerbund

teils in einen Block der Verbündeten und Vasallen des französischen Imperialismus, teils in eine Arena des Kampfes zwischen Frankreich, England und Italien. Die eine oder die andere Kombination mit dem Völkerbund kann sich für den Sowjetstaat, der zwischen ihm im Grunde gleich feindlichen imperialistischen Lagern laviert, als zwingend erweisen. 42. Während sie sich durchaus realistisch Rechenschaft ablegt über die entstandene Lage, muss die proletarische Vorhut zusammen damit folgende Erwägungen in den Vordergrund rücken: a) Die Notwendigkeit für die UdSSR, mehr als sechzehn Jahre nach der Oktoberumwälzung Annäherung an den Völkerbund zu suchen und diese Annäherung mit den Formeln des Pazifismus zu decken, ist ein

Ergebnis der außerordentlichen Schwächung der internationalen proletarischen Revolution und damit der internationalen Positionen der UdSSR; b) die abstrakten pazifistischen Formulierungen der Sowjetdiplomatie und ihre Komplimente an den Völkerbund haben nichts gemein mit der Politik der internationalen proletarischen Partei, die für sie keinerlei Verantwortung übernimmt, vielmehr ihre Leere und Heuchelei aufdeckt, um desto gewisser. das

Proletariat zu mobilisieren auf Grund eines klaren Verständnisses der realen Kräfte und der realen Antagonismen.

43. Bei der jetzt entstandenen Lage kann man im Kriegsfalle ein Bündnis der UdSSR mit einem imperialistischen

Staat oder mit der einen imperialistischen Gruppierung gegen die andere ganz und gar nicht für ausgeschlossen halten. Durch den Druck derartiger Umstände kann ein zeitweiliges Bündnis zu einer eisernen Notwendigkeit werden, ohne jedoch deswegen aufzuhören, eine ganz große Gefahr zu sein sowohl für die UdSSR selbst wie für die Weltrevolution. Das internationale Proletariat wird auf die Verteidigung der UdSSR auch sogar in dem Falle nicht verzichten, wenn diese sich zu einem Militärbündnis mit dem einen Imperialisten gegen die anderen gezwungen sähe. Aber in diesem Fall noch mehr als in jedem anderen wird das internationale Proletariat sich volle politische Unabhängigkeit von der Sowjetdiplomatie und somit von der Bürokratie der Dritten Internationale sichern. 44. Nach wie vor entschiedener und rückhaltloser Verteidiger des Arbeiterstaates im Kampf mit dem Imperialismus, wird das internationale Proletariat dennoch nicht Verbündeter der imperialistischen Bundesgenossen der UdSSR. Das Proletariat des im Bündnis mit der UdSSR stehenden kapitalistischen Landes behält seine unversöhnliche

Feindschaft der imperialistischen Regierung des eigenen Landes gegenüber voll und ganz bei. In diesem Sinne wird es keinen Unterschied geben von der Politik des Proletariats des die UdSSR bekämpfenden Landes. Doch im

Charakter der praktischen Aktionen können sich beachtliche Unterschiede ergeben, hervorgerufen durch die konkrete Kriegslage. Absurd und frevelhaft wäre es beispielsweise, wenn im Fall eines Krieges zwischen der UdSSR und Japan das amerikanische Proletariat die Absendung amerikanischer Waffen für die UdSSR sabotierte.

Dagegen wären Aktionen wie Streiks, Sabotage usw. unbedingte Pflicht für das Proletariat des gegen die UdSSR

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg kriegführenden Landes. 45. Die unversöhnliche proletarische Opposition gegen den imperialistischen Verbündeten der UdSSR müsste sich

entfalten auf dem Boden der inneren Klassenpolitik einerseits, der imperialistischen Ziele der betreffenden Regierung, des treubrüchigen Charakters ihres „Bündnisses“, ihrer Spekulation auf den bürgerlichen Umsturz in der UdSSR usw. andererseits. Die Politik der proletarischen Partei im „verbündeten“ wie im feindlichen imperialistischen Land muss folglich gerichtet sein auf den revolutionären Sturz der Bourgeoisie und die Eroberung

der Macht. Nur auf diesem Wege kann man ein wirkliches Bündnis mit der UdSSR schaffen und den ersten Arbeiterstaat vor dem Zusammenbruch retten. 46. Innerhalb der UdSSR wird der Krieg gegen die imperialistische Intervention zweifellos einen Ausbruch echter Kampfbegeisterung hervorrufen. Alle Gegensätze und Antagonismen werden überwunden scheinen oder mindestens hinausgerückt sein. Die aus der Revolution hervorgegangenen jungen Generationen von Arbeitern und Bauern werden auf dem Schlachtfeld eine mächtige dynamische Kraft an den Tag legen. Die zentralisierte Industrie wird

trotz all ihrer Lücken und Mängel gewaltige Vorzüge in der Kriegslieferung aufweisen. Die Regierung der UdSSR schuf zweifellos beträchtliche Nahrungsvorräte, die für die erste Kriegsperiode reichen werden. In den Generalstäben der imperialistischen Staaten ist man sich natürlich klar darüber, dass man es in der Roten Armee

mit einem mächtigen Gegner zu tun hat, mit dem der Kampf viel Zeit und furchtbare Kraftanspannung erfordern wird.

47. Doch gerade der lang andauernde Charakter des Krieges wird unausbleiblich die Widersprüche der Übergangswirtschaft der UdSSR mit ihrer bürokratischen Planung enthüllen. Die neuen Riesenbetriebe können sich

in vielen Fällen als totes Kapital herausstellen. Unter dem Einfluss des dringenden Bedürfnisses des Staates nach den allernotwendigsten Gegenständen werden die individualistischen Tendenzen der Bauernwirtschaft eine beträchtliche Stärkung erfahren und die Zentrifugalkräfte innerhalb der Kolchosen mit jedem Kriegsmonat wachsen.

Die Herrschaft der unkontrollierten Bürokratie wird sich in Militärdiktatur verwandeln. Das Fehlen einer lebendigen Partei als dem politischen Kontrolleur und Regulator wird zu einer außerordentlichen Anhäufung und Verschärfung

der Widersprüche führen. In der überhitzten Kriegsatmosphäre darf man gefasst sein auf jähe Wendungen zum individualistischen Prinzip in Landwirtschaft und Kleingewerbe, auf Heranziehung auswärtigen, „verbündeten“ Kapitals, Breschen im Außenhandelsmonopol, Abschwächung der Staatskontrolle über die Trusts, Verschärfung der Konkurrenz unter den Trusts, ihren Zusammenprall mit den Arbeitern usw. Auf der politischen Linie können diese

Prozesse die Vollendung des Bonapartismus bedeuten mit einer oder mehreren entsprechenden Umwälzungen der Eigentumsverhältnisse. Mit anderen Worten: im Falle eines langen Krieges, bei Passivität des Weltproletariats,

würden die inneren sozialen Widersprüche in der UdSSR zur bürgerlich-bonapartistischen Konterrevolution nicht nur führen können, sondern müssen. 48. Die daraus abzuleitenden politischen Schlussfolgerungen sind ganz offenkundig: a) Die UdSSR als Arbeiterstaat retten im Fall eines langen, angespannten Krieges kann nur die proletarische Revolution im Westen;

b) die Vorbereitung der proletarischen Revolution in den „befreundeten“, neutralen, wie in den feindlichen Ländern ist denkbar nur bei völliger Unabhängigkeit der Vorhut des Weltproletariats von der

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg Sowjetbürokratie; c) die opferbereite Unterstützung der UdSSR gegen die imperialistischen Armeen muss Hand in Hand

gehen mit einer revolutionären marxistischen Kritik an der militärischen und diplomatischen Politik der Sowjetregierung, und innerhalb der UdSSR mit der Formierung einer echt-revolutionären Partei von Bolschewiki–Leninisten.

Die Dritte Internationale und der Krieg 49. In der Kriegsfrage ohne prinzipielle Linie, schwankt die Dritte Internationale zwischen Defätismus und

Sozialpatriotismus. In Deutschland machte man aus dem Kampf gegen den Faschismus eine marktschreierische Konkurrenz auf dem Boden des Nationalismus. Die Losung der „nationalen Befreiung“, neben die Losung der

„sozialen Befreiung“ gesetzt, entstellt gröblichst die revolutionäre Perspektive und schließt den Defätismus jedenfalls aus. In der Frage des Saargebiets begann die Kompartei mit sklavischer Kriecherei vor dem Nationalsozialismus, und nur über innere Spaltungen rückte sie davon ab.

Welche Losung wird die deutsche Sektion der Dritten Internationale im Kriegsfalle aufstellen: „Hitlers Niederlage das kleinere Übel“? Doch wenn die Losung der nationalen Befreiung unter den „Faschisten“ Müller und Brüning

richtig war, wieso könnte sie dann außer Kraft treten unter Hitler? Oder taugen die nationalen Losungen nur für die

Friedenszeiten, nicht aber für den Krieg? Wahrlich, die Epigonen des Leninismus haben alles getan, um sich und die Arbeiter gründlichst zu verwirren. 50. Die revolutionäre Ohnmacht der Dritten Internationale ist die direkte Folge ihrer verheerenden Politik. Nach der deutschen Katastrophe wurde die politische Nichtigkeit der sogenannten Komparteien unter Beweis gestellt in allen Ländern, wo sie einer Prüfung unterlagen. Die französische Sektion, die sich völlig unfähig erwies, einige

Zehntausende Arbeiter gegen den Kolonialraub in Afrika auf die Beine zu bringen, wird sich zweifellos noch bankrotter erweisen in der Minute der sogenannten „nationalen Gefahr“.

51. Der Kampf gegen den Krieg, undenkbar ohne die revolutionäre Mobilisierung der breiten Arbeitermassen von

Stadt Und Land, erfordert zugleich unmittelbaren Einfluss auf Heer und Flotte einerseits, auf den Transport andererseits. Doch Einfluss auf die Soldaten ist unvorstellbar ohne Einfluss auf die Arbeiter- und Bauernjugend. Der Einfluss auf das Transportwesen setzt starke Positionen in den Gewerkschaften voraus. Indes hat die Dritte

Internationale unter Mitwirkung der Profintern alle Positionen in der Gewerkschaftsbewegung verloren und sich den

Zugang zur Arbeiterjugend abgeschnitten. Unter diesen Umständen von Kampf gegen den Krieg reden, heißt Seifenkugeln blasen. Für Illusionen darf da kein Platz sein: im Falle eines imperialistischen Angriffs auf die UdSSR wird sich die Dritte Internationale herausstellen als eine glatte Null.

Der „revolutionäre“ Pazifismus und der Krieg 52. Der kleinbürgerliche „linke“ Pazifismus als selbständige Strömung geht davon aus, dass man durch besondere, spezielle Mittel außerhalb der sozialistischen Revolution den Frieden sichern könne. Die Pazifisten flößen durch

Artikel und Reden „Abscheu vor dem Krieg“ ein, unterstützen die individuelle Kriegsdienstweigerung, predigen Boykott und Generalstreik (richtiger: den Mythos des Generalstreiks) gegen den Krieg. Besonders „revolutionäre“

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg Pazifisten haben sogar nichts dagegen, vom Aufstand gegen den Krieg zu sprechen. Aber alle miteinander und jeder im Einzelnen haben sie keine Ahnung von der untrennbaren Verknüpfung des Aufstandes mit dem

Klassenkampf und mit der Politik der revolutionären Partei. Der Aufstand ist für sie nicht Sache langen und systematischen Bemühens, sondern eine literarische Drohung an die Adresse der herrschenden Klasse. Indem sie die natürliche Friedensliebe der Volksmassen ausnützen und ihnen nicht den richtigen Ausweg zeigen, werden die kleinbürgerlichen Pazifisten letzten Endes unbewusst zu einer Stütze des Imperialismus. Im Kriegsfall werden die pazifistischen „Verbündeten“ in ihrer überwiegenden Mehrheit im Lager der Bourgeoisie stehen und das

Ansehen, welches ihnen die Reklame der Dritten Internationale verlieh, ausnutzen zum Zweck der patriotischen Desorganisierung der proletarischen Vorhut.

53. Der von der Dritten Internationale organisierte Amsterdamer Kongress gegen den Krieg wie der Pariser

Kongress gegen den Faschismus sind klassische Beispiele der Vertauschung des revolutionären Klassenkampfes mit einer kleinbürgerlichen Politik von Schaudemonstrationen, effektvollen Paraden, potemkinschen Dörfern. Am Tage

nach den lärmenden Protesten gegen den Krieg überhaupt zerstieben die buntscheckigen, von einer Kulissenregie künstlich zusammengetrommelten Elemente in alle Himmelsrichtungen und zeigen sich unfähig, auch nur den kleinen Finger gegen den wirklichen Krieg zu rühren.

54. Die Ersetzung der proletarischen Einheitsfront, d.h. eines Kampfabkommens von Arbeiterorganisationen, durch

einen Block der kommunistischen Bürokratie mit kleinbürgerlichen Pazifisten, wo auf einen ehrlichen Wirrkopf Dutzende von Karrieristen entfallen, führt zu vollkommener Eklektik in den Fragen der Taktik. Die BarbusseMünzenberg-Kongresse rechnen sich als besonderes Verdienst die Zusammenfassung aller Arten des „Kampfes“

gegen den Krieg an: humanitäre Proteste, individuelle Kriegsdienstverweigerung, Erziehung der „öffentlichen Meinung“, Generalstreik und sogar Aufstand, Methoden, die sich im Leben in unversöhnlichem Widerspruch

zueinander befinden und praktisch nur im Kampf miteinander anwendbar sind, werden für Bestandteile eines

harmonischen Ganzen aus gegeben. Die russischen „Sozialrevolutionäre“, die im Kampfe gegen den Zarismus eine „synthetische Taktik“ predigten: Bündnis mit den Liberalen, individuellen Terror und Massenkampf, waren das

Muster einer ernsten Gruppierung im Vergleich mit den Geistesvettern des Amsterdamer Blocks. Die Arbeiter aber müssen fest im Gedächtnis behalten, dass der Bolschewismus aufwuchs im Kampfe gegen den volkstümlerischen Eklektizismus!

Das Kleinbürgertum und der Krieg 55. Der Kampf gegen die Kriegsgefahr vermag am leichtesten die Bauern und die unteren Schichten der Stadtbevölkerung den Arbeitern näher zu bringen, für die der Krieg nicht weniger verderbenbringend ist als für das

Proletariat. Auch nur auf diesem Wege kann man – allgemein gesprochen – dem Krieg vermittelst des Aufstandes zuvorkommen. Doch dem Bauern ist es noch unvergleichlich weniger gegeben als dem Arbeiter, sich auf den

revolutionären Weg reißen zu lassen mit Hilfe von Abstraktionen, fertigen Schablonen und leeren Kommandos. Die Epigonen des Leninismus, die 1923–24 eine Umwälzung der Komintern durchführten unter der Losung „das

Gesicht dem Dorfe zu“, bewiesen vollendete Unfähigkeit, dem Banner des Kommunismus nicht nur die Bauern,

sondern auch die Landarbeiter zuzuführen. Die Krestintern (Bauerninternationale) verschied unbemerkt ohne jede Grabrede. Die allzu großsprecherisch verkündete „Eroberung“ der Bauernmassen in den einzelnen Ländern stellte

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg sich jedes Mal als eine Eintagsfliege, wenn nicht einfach als Erfindung heraus. Gerade auf dem Gebiet der Bauernpolitik gewann der Bankrott der Dritten Internationale besonders anschaulichen Charakter, war er auch im Grunde nur unvermeidliches Ergebnis des Bruches zwischen Komintern und Proletariat.

Die Bauernschaft wird den Weg des revolutionären Kampfes gegen den Krieg nur in dem Fall betreten, wenn sie sich in der Tat von der Fähigkeit der Arbeiter, diesen Kampf zu führen, überzeugt. Der Schlüssel zum Sieg

befindet sich folglich in den Fabriken und Betrieben. Das revolutionäre Proletariat muss eine wirkliche Kraft werden, bevor die Bauernschaft und die kleinen Leute aus der Stadt mit ihnen in Reih und Glied marschieren.

56. Das Kleinbürgertum von Stadt und Land ist nicht gleichförmig. Auf seine Seite kann das Proletariat nur dessen

unterste Schichten bringen: die armen Bauern, Halbproletarier, kleinen Beamten, Straßenhändler, unterdrückten und zersplitterten Menschengruppen, die kraft all ihrer Daseinsbedingungen der Möglichkeit beraubt sind, einen

selbständigen Kampf zu führen. Über diese breite Schicht des Kleinbürgertums ragen seine Spitzen hinaus, die zur Mittel- und Großbourgeoisie hinneigen, und aus denen sich die politischen Karrieristen aussondern, die vom demokratischen und pazifistischen, wie die vorn faschistischen Typ. Solange diese Herren in Opposition stehen,

greifen sie zu ungezügeltster Demagogie als zu dem sichersten Mittel, sich später in den Augen der Großbourgeoisie zu höherem Preise loszuschlagen.

Das Verbrechen der Dritten Internationale besteht darin, dass sie den Kampf um den revolutionären Einfluss auf

das wirkliche Kleinbürgertum, d.h. auf seine plebejischen Massen, ersetzt durch theaterhafte Blocks mit ihren heuchlerischen, pazifistischen Führern. Statt die letzteren zu diskreditieren, rüstet sie sie mit der Autorität der Oktoberrevolution aus und lässt die unterdrückten niederen Schichten des Kleinbürgertums politisch zum Opfer ihrer verräterischen Spitzen werden. 57. Der revolutionäre Weg zur Bauernschaft geht über die Arbeiter. Um das Vertrauen des Dorfes zu erringen, müssen die fortgeschrittenen Arbeiter selbst wieder Vertrauen zum Banner der proletarischen Revolution gewinnen. Das ist nur zu erreichen durch richtige Politik im Allgemeinen und richtige antimilitaristische Politik im Besonderen.

Der „Defätismus“ im imperialistischen Krieg 58. In den Fällen, wo es sich um den Kampf kapitalistischer Länder handelt, lehnt das Proletariat jedes dieser Länder entschieden ab, namens des militärischen Sieges der Bourgeoisie seine eigenen geschichtlichen Interessen zu opfern, die letzten Endes mit den Interessen der Nation und der Menschheit zusammenfallen. Lenins Formel: „die

Niederlage das kleinere Übel“ bedeutet nicht, dass die Niederlage des eigenen Landes das kleinere Übel sei im Vergleich mit der Niederlage des gegnerischen Landes, sondern dass die durch die Entwicklung der revolutionären

Bewegung verursachte militärische Niederlage für das Proletariat und das gesamte Volk unvergleichlich vorteilhafter ist als der durch den „Burgfrieden“ gesicherte militärische Sieg. Karl Liebknecht hat die unübertroffene Formel der proletarischen Politik im Kriege gegeben: „Der Hauptfeind jedes Volkes steht im eigenen Lande“. Die siegreiche proletarische Revolution wird nicht nur die durch die Niederlage verursachten Schäden wieder gut

machen, sondern auch eine endgültige Sicherung gegen weitere Kriege und Niederlagen schaffen. Diese dialektische

Haltung zum Krieg ist der wichtigste Bestandteil der revolutionären Erziehung und folglich auch des Kampfes

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg gegen den Krieg. 59. Die Verwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg ist die allgemeine strategische Aufgabe, der die gesamte Arbeit der proletarischen Partei während des Krieges untergeordnet werden muss.

Die Folgen des französisch-preußischen Krieges von 1870-71 wie des imperialistischen Krieges von 1914-18 (Pariser Kommune, Februar- und Oktoberrevolution in Russland, Revolutionen in Deutschland und ÖsterreichUngarn, Aufstände in einer Reihe kriegführender Länder) bezeugen unwiderlegbar, dass der heutige Krieg zwischen kapitalistischen Nationen den Klassenkrieg innerhalb jeder Nation nach sich zieht, und dass die Aufgabe der revolutionären Partei darin besteht, in diesem Krieg den Sieg des Proletariats vorzubereiten. 60. Die Erfahrung der Jahre 1914-18 bezeugt ferner, dass die Friedenslosung der strategischen Formel des „Defätismus“ keinesfalls widerspricht, im Gegenteil, gewaltige revolutionäre Kraft zur Entfaltung bringt, besonders bei langer Kriegsdauer. Pazifistischen, d.h. betrügerischen, einschläfernden, lähmenden Charakter trägt die Losung Frieden nur in dem Fall, wenn demokratische und andere Politiker damit jonglieren, wenn die Pfaffen Bittgebete

für die baldige Beendigung des Gemetzels gen Himmel senden, wenn die „Menschenfreunde“, darunter auch die Sozialpatrioten, weinerlich ihre Regierungen anflehen, baldigst Frieden zu schließen „auf gerechter Grundlage“. Doch die Friedenslosung hat nichts mit Pazifismus gemein, sobald sie aus den Arbeitervierteln und Schützengräben erhoben wird, mit der Losung der Verbrüderung der Soldaten der feindlichen Heere verknüpft wird, und sie die

Unterdrückten gegen die Unterdrücker vereinigt. Der revolutionäre Kampf um den Frieden, der immer massenhaftere und kühnere Formen annimmt, ist einer der Hauptpfade zur „Verwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg“.

Krieg, Faschismus und die Bewaffnung des Proletariats 61. Krieg erheischt „Burgfrieden“. Den vermag die Bourgeoisie bei den heutigen Verhältnissen nur zu erreichen durch den Faschismus. Somit wird der Faschismus zum wichtigsten politischen Faktor des Krieges. Kampf gegen

den Krieg bedingt Kampf gegen den Faschismus. Jedes revolutionäre Programm des Kampfes gegen den Krieg („Defätismus“, „Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg“ usw.) wird zu leerem Schall, wenn die proletarische Vorhut sich außerstande erweist, dem Faschismus erfolgreich Widerstand zu leisten. Vom bürgerlichen Staat die Entwaffnung der faschistischen Banden fordern, wie es die Stalinisten tun, heißt in die Fußstapfen der deutschen Sozialdemokratie und des Austromarximus treten. Gerade Wels und Otto Bauer

„verlangen“ vom Staat, er solle die Nazi entwaffnen und so den Frieden im Innern sichern. Eine „demokratische“ Regierung kann zwar – wenn es für sie vorteilhaft ist – einzelne faschistische Gruppen entwaffnen, aber nur, um mit umso größerer Wut die Arbeiter zu entwaffnen oder an der Bewaffnung zu hindern. Morgen schon wird der

bürgerliche Staat den gestern „entwaffneten“ Faschisten Gelegenheit geben, doppelt zu rüsten und ihre Waffen auf das wehrlose Proletariat niedersausen zu lassen. Sich an den Staat, d.h. das Kapital, mit dem Verlangen nach Entwaffnung der Faschisten wenden, heißt übelste demokratische Illusionen säen, die Wachsamkeit des Proletariats einschläfern, seinen Willen demoralisieren.

62. Die richtige revolutionäre Politik besteht darin, ausgehend von der Tatsache der Bewaffnung der faschistischen

Banden, zum Zwecke des Selbstschutzes bewaffnete Arbeiterabteilungen zu schaffen und unermüdlich die Arbeiter

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg zur Selbstbewaffnung aufzufordern. Hier liegt der Schwerpunkt der gesamten politischen Lage von heute. Die Sozialdemokraten, selbst die linksten, d.h. jene, die bereit sind, die allgemeinen Phrasen von der Revolution und der Diktatur des Proletariats nachzusprechen, gehen entweder vorsichtig um die Frage der Bewaffnung der Arbeiter

herum oder erklären diese Aufgabe glatt für „chimerisch“, „abenteuerhaft“, „romantisch“ usw. Sie schlagen an Stelle (!) der Arbeiterbewaffnung Propaganda unter den Soldaten vor, die sie in Wirklichkeit weder betreiben noch

zu betreiben fähig sind. Der leere Hinweis auf die Arbeit im Heer dient den Opportunisten lediglich dazu, die Frage der Arbeiterbewaffnung zu begraben.

63. Der Kampf ums Heer ist unbestreitbar der wichtigste Bestandteil des Kampfes um die Macht. Zähe und

selbstaufopfernde Arbeit unter den Soldaten ist eine revolutionäre Pflicht jeder wahrhaft proletarischen Partei. Diese Arbeit ist mit von vornherein sicherem Erfolg nur zu leisten unter Voraussetzung einer richtigen Gesamtpolitik der Partei, ganz besonders unter der Jugend. Von gewaltiger Bedeutung für den Erfolg der Arbeit im Heer ist in den

Ländern mit starker Landbevölkerung das Agrarprogramm der Partei und ein System von Übergangsforderungen überhaupt, welche die Grundinteressen der kleinbürgerlichen Massen berühren und diesen die rettende Perspektive aufzeigen. 64. Es wäre jedoch kindisch, zu glauben, man könne durch bloße Propaganda die gesamte Armee auf die Seite des Proletariats ziehen und dadurch die Revolution unnötig machen. Das Heer ist ungleichartig und seine

ungleichartigen Elemente werden durch das eiserne Band der Disziplin zusammengehalten. Die Propaganda kann im Heer revolutionäre Zellen schaffen und um die Sympathie der vorgeschrittensten Soldaten werben. Mehr können Propaganda und Agitation nicht leisten. Damit rechnen, das Heer werde aus eigenem Antrieb die

Arbeiterorganisationen vor dem Faschismus schützen oder gar den Übergang der Macht in die Hände des Proletariats sichern, hieße die rauhen Lehren der Geschichte gegen süße Illusionen eintauschen. Das Heer kann in

der Revolutionsepoche in seinen entscheidenden Teilen auf die Seite des Proletariats treten nur in dem Falle, wenn

das Proletariat selbst der Armee tatkräftig seine Bereitschaft und Fähigkeit zum Kampf um die Macht bis zum letzten Blutstropfen beweist. Solch ein Kampf setzt notwendigerweise die Bewaffnung des Proletariats voraus. 65. Aufgabe der Bourgeoisie ist es, das Proletariat von der Gewinnung des Heeres abzuhalten. Diese Aufgabe löst der Faschismus nicht ohne Erfolg mittels bewaffneter Verbände. Die unmittelbare nächste Tagesaufgabe des Proletariats ist nicht die Machteroberung, sondern die Verteidigung seiner Organisationen vor den faschistischen

Banden, hinter denen in gewissem Abstand der kapitalistische Staat steht. Wer behauptet, die Arbeiter seien nicht in der Lage, sich zu bewaffnen, der spricht damit aus: die Arbeiter sind dem Faschismus gegenüber wehrlos. Dann

soll man nicht von Sozialismus, proletarischer Revolution, Kampf gegen den Krieg reden. Dann soll man das kommunistische Programm zerreißen und über den Marxismus das Kreuz setzen.

66. Sich vor der Aufgabe der Arbeiterbewaffnung zu drücken ist kein Revolutionär imstande, sondern ein

impotenter Pazifist, morgen Kapitulant vor Faschismus und Krieg. An sich ist die Sache der Bewaffnung – wie die Geschichte bezeugt – durchaus lösbar. Wenn die Arbeiter richtig einsehen, dass es um Leben und Sterben geht, werden sie sich schon Waffen verschaffen. Ihnen die politische Lage zu erklären, ohne etwas zu verschleiern oder zu mildern, alle Trostlügen auszumerzen, das ist die erste Pflicht einer revolutionären Partei. Wie kann man sich

denn tatsächlich anders vor dem Todfeind verteidigen, als indem man auf jedes faschistische Messer zwei Messer

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg und auf jeden Revolver zwei Revolver setzt? Schaffen sich die Faschisten Gewehre an, so müssen die Arbeiter die gleichen Waffen haben. Eine andere Antwort gibt es nicht und kann es nicht geben. 67. Woher die Waffen nehmen? Vor allem von den Faschisten selbst. Die Entwaffnung der Faschisten ist eine schändliche Losung, wenn sie an die bürgerliche Polizei gerichtet wird. Die Entwaffnung der Faschisten ist eine ausgezeichnete Losung, sobald sie sich an die revolutionären Arbeiter wendet. Doch die faschistischen Arsenale sind nicht die einzige Quelle. Das Proletariat hat Hunderte und tausende Kanäle zu seiner Selbstbewaffnung. Man vergesse nicht, dass es doch die Arbeiter und nur sie sind, die mit eigener Hand sämtliche Waffensorten herstellen.

Nötig ist nur, dass die proletarische Vorhut klar begriffen hat, dass sie der Aufgabe der Selbstbewaffnung nicht aus dem Wege gehen darf. Pflicht der revolutionären Partei ist es, die Initiative zur Bewaffnung von

Arbeiterkampfabteilungen zu ergreifen. Dazu aber muss sie zu aller erst sich selbst von allen Formen des Skeptizismus, der Unentschlossenheit und des pazifistischen Gefasels in der Frage der Arbeiterbewaffnung freimachen. 68. Die Losung der Arbeitermiliz oder Selbstschutzstaffeln hat nur soweit revolutionären Sinn, als es eine bewaffnete Miliz gibt; sonst sinkt sie zu Theatervorstellungen, Paraden herab, wird folglich zum Selbstbetrug. Selbstverständlich wird die Bewaffnung in der ersten Zeit recht primitiv sein. Die ersten Arbeiterselbstschutzstaffeln werden weder über Haubitzen, noch Tanks, noch Flugzeuge verfügen. Jedoch am 6. Februar haben in Paris, dem

Zentrum eines mächtigen Militärstaats, mit Revolvern und auf Stöcken befestigten Rasiermessern ausgerüstete Banden das Parlament fast erstürmt und den Sturz der Regierung herbeigeführt. Ähnliche Banden können die Redaktionen der proletarischen Zeitungen oder die Gewerkschaftshäuser verwüsten. Die Stärke des Proletariats liegt

in seiner Zahl. In den Händen der Masse kann selbst die primitivste Waffe Wunder vollbringen. Bei günstigen Umständen kann sie den Weg zu vollkommenerer Bewaffnung bahnen.

69. Die Losung der Einheitsfront entartet zu einer zentristischen Phrase, wird sie bei den heutigen Verhältnissen

nicht ergänzt durch die Propaganda und die praktische Anwendung ganz bestimmter Methoden des Kampfes mit dem Faschismus. Die Einheitsfront ist nötig vor allem für die Schaffung örtlicher Verteidigungsausschüsse. Die

Verteidigungsausschüsse sind notwendig für den Aufbau und den Zusammenschluss von Staffeln der Arbeitermiliz. Diese Staffeln müssen bereits bei ihren ersten Schritten Waffen suchen und finden. Die Selbstschutzstaffeln sind nur eine Etappe auf dem Wege zur Bewaffnung des Proletariats. Andere Wege kennt die Revolution überhaupt nicht.

Die revolutionäre Politik gegen den Krieg 70. Erste Vorbedingung des Erfolges ist die Erziehung der Parteikader im richtigen Verständnis für alle Bedingungen des imperialistischen Krieges und alle ihn begleitenden Prozesse. Wehe der Partei, die in dieser

brennenden Frage sich auf allgemeine Phrasen und abstrakte Losungen beschränkt! Die blutigen Ereignisse werden sich über ihrem Haupt entladen und sie zermalmen. Notwendig ist die Schaffung spezieller Zirkel zum Studium der politischen Erfahrung des Krieges 1914-18 (ideologische Vorbereitung des Krieges durch den Imperialismus, Falschunterrichtung der öffentlichen Meinung durch die Stäbe über die patriotische Presse, Rolle der Antithese: Verteidigung und Angriff, Gruppierungen im

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg proletarischen Lager, Isolierung der marxistischen Elemente, usw. usw.). 71. Für die revolutionäre Partei besonders kritisch ist der Augenblick des Kriegsausbruchs. Die bürgerliche und die sozialpatriotische Presse wird im Bund mit Radio und Kino die Werktätigen mit Stürmen chauvinistischen Gifts

überschütten. Die revolutionärste und gestählteste Partei wird in einem solchen Augenblick nicht vollständig

standhalten können. Die heutige durch und durch verfälschte Geschichte der bolschewistischen Partei dient nicht dazu, die fortgeschrittenen Arbeiter realistisch auf die Prüfung vorzubereiten, sondern sie mit einem erfundenen Idealschema einzulullen.

Obgleich das zaristische Russland weder als eine Demokratie, noch als Kulturträger, noch endlich als die sich

verteidigende Seite angesprochen werden konnte, ließ die bolschewistische Dumafraktion gemeinsam mit der menschewistischen zu Kriegsbeginn eine sozialpatriotische Erklärung vom Stapel, verdünnt mit rosarotem pazifistischen Internationalismus. Die bolschewistische Fraktion bezog bald eine revolutionäre Stellung, doch im

Gerichtsprozess gegen die Fraktion grenzten sich außer Muranow alle angeklagten Abgeordneten mitsamt ihrem theoretischen Anführer Kamenjew kategorisch ab von der defätistischen Theorie Lenins. Die illegale Arbeit der Partei war in der ersten Zeit beinahe erstorben. Erst allmählich erschienen revolutionäre Aufrufe, welche die Arbeiter, durchaus ohne defätistische Losungen aufzustellen, unter das Banner des Internationalismus riefen.

Die beiden ersten Kriegsjahre untergruben gehörigst den Patriotismus der Massen und schoben die Partei nach links. Aber die Februarrevolution, die Russland in eine Demokratie verwandelte, erzeugte eine neue mächtige Welle

von „revolutionärem“ Patriotismus. In ihrer überwiegenden Mehrzahl hielten die Spitzen der bolschewistischen Partei auch diesmal nicht stand. Stalin und Kamenjew gaben im März 1917 dem Zentralorgan der Partei eine

sozialpatriotische Richtung. Auf Grund dessen vollzog sich in den meisten Städten geradezu eine Verschmelzung

der bolschewistischen und menschewistischen Organisationen. Es bedurfte des Protestes der festesten Revolutionäre, hauptsächlich der fortgeschrittenen Bezirke Petrograds, es bedurfte der Ankunft Lenins in Russland und seines

unversöhnlichen Kampfes gegen den Sozialpatriotismus, damit die Partei ihre internationalistische Front wieder ausrichtete. So war es um die beste, die revolutionärste und gestählteste Partei bestellt. 72. Das Studium der geschichtlichen Erfahrung des Bolschewismus ist von unschätzbarer erzieherischer Bedeutung für die fortgeschrittenen Arbeiter: es zeigt ihnen all die Gewalt des Drucks der bürgerlichen öffentlichen Meinung, den sie zu überwinden haben, und lehrt sie gleichzeitig, nicht zu verzagen, nicht die Waffen zu strecken, nicht den Mut zu verlieren trotz völliger Isolierung bei Beginn des Krieges. Nicht weniger sorgfältig will der Kampf der politischen Gruppierungen im Proletariat der anderen Länder studiert sein, der kriegführenden sowohl wie der neutralen. Besonders bedeutsam ist die Erfahrung des Kampfes Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts in Deutschland, wo die Ereignisse eine andere Richtung nahmen als in Russland, letzten Endes aber zu derselben Schlussfolgerung führen: man muss lernen, gegen den Strom zu schwimmen.

73. Notwendig ist, sorgfältig zu folgen der heute vor sich gehenden patriotischen Vorbereitung des Kanonenfutters; den diplomatischen Spiegelfechtereien, die zur Aufgabe haben, die Verantwortung auf den Gegner abzuschieben;

den treulosen Formeln der eindeutigen und der heimlichen Sozialpatrioten, die sich eine Brücke bauen vom Pazifismus zum Militarismus; den leeren Losungen der „kommunistischen“ Führer, die schon am ersten Kriegstage

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg nicht weniger kopflos sein werden als die deutschen „Führer“ in der Nacht des Reichstagsbrandes. 74. Notwendig ist, aufmerksam die bezeichnendsten Stellen aus den Regierungs- und Oppositionsartikeln und

-reden zu sammeln und an der Erfahrung des vergangenen Krieges zu messen, voraus zu erraten, welche Richtung der Volksbetrug fernerhin einschlagen wird, dann die Voraussicht zu untermauern durch das Zeugnis der Tatsachen,

die proletarische Vorhut zu lehren, sich selbständig in den Ereignissen zurechtzufinden, um nicht unvermutet überrumpelt zu werden. 75. Die Verstärkung der Agitation gegen Imperialismus und Militarismus soll nicht von abstrakten Formeln ausgehen, sondern von den konkreten, Massen berührenden Tatsachen. Notwendig ist, nicht nur den öffentlichen

Militärhaushalt zu entlarven, sondern auch alle maskierten Formen des Militarismus; keine Kriegsmanöver, Kriegslieferungen, -bestellungen usw. dürfen ohne Proteste bleiben. Notwendig ist, durch gut vorbereitete Arbeiter wieder und wieder die Frage der Kriegsgefahr und des Kampfes gegen sie in ausnahmslos allen Organisationen des Proletariats und in der Arbeiterpresse aufzuwerfen und von den Führern klare und konkrete Antworten zu fordern auf die Frage: was tun?

76. Um das Vertrauen der Jugend zu gewinnen, muss man nicht nur der Vergiftung der Geister durch die

Sozialdemokratie und den stumpfsinnigen Bürokratismus der Dritten Internationale Kampf auf Leben und Tod ansagen, sondern auch wirklich eine internationale Organisation schaffen, die sich tatsächlich auf das kritische Denken und das selbständige revolutionäre Handeln der neuen Generation stützt.

Notwendig ist, die Arbeiterjugend aufzurütteln gegen alle Arten und Formen ihrer Militarisierung durch den

bürgerlichen Staat. Gleichzeitig damit muss man sie mobilisieren und militarisieren im Interesse der Revolution (Verteidigungsausschüsse gegen den Faschismus, rote Kampfstaffeln, Arbeitermiliz, Kampf um die Bewaffnung des Proletariats).

77. Um revolutionäre Positionen in den Gewerkschaften und anderen Arbeitermassenorganisationen zu erringen,

muss man unerbittlich mit dem bürokratischen Ultimatismus aufräumen, die Arbeiter nehmen, wo sie sind und wie sie sind, sie vorwärts führen von den Teilaufgaben zu den allgemeinen, von der Verteidigung zum Angriff, von den patriotischen Vorurteilen zum Sturz des bürgerlichen Staates.

Da die Spitze der Gewerkschaftsbürokratie in den meisten Ländern im Westen einen inoffiziellen Bestandteil der kapitalistischen Polizei darstellt, müssen die Revolutionäre es verstehen, sie unversöhnlich zu bekämpfen, die legale Tätigkeit mit der illegalen, Kampfesmut mit konspirativer Vorsicht verbindend. Nur durch diese kombinierten Methoden kann man um das revolutionäre Banner die Arbeiterklasse, angefangen mit ihrer Jugend, wirklich vereinigen, sich den Weg in die kapitalistischen Kasernen bahnen und alle Unterdrückten aufrütteln.

78. Der Kampf gegen den Krieg kann nur in dem Fall wahrhaft breiten, massenhaften, volksmäßigen Charakter

gewinnen, wenn an ihm teilnimmt die Arbeiterin, die Bäuerin, die werktätige Frau. Die bürgerliche Degeneration der Sozialdemokratie, wie die bürokratische Entartung der Dritten Internationale trafen am schwersten die unterdrücktesten und rechtlosesten Schichten des Proletariats, d.h. vor allem die arbeitenden Frauen. Sie wecken, ihr

Vertrauen erobern, ihnen den richtigen Weg weisen, heißt gegen den Militarismus die revolutionären Leidenschaften

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg der unterdrücktesten Teile der Menschheit mobilisieren. Die Antikriegsarbeit unter den Frauen muss im Besonderen den Ersatz der einberufenen Männer durch

revolutionäre Arbeiterinnen sichern, auf die im Kriegsfall unvermeidlich ein bedeutender Teil der Partei- und Gewerkschaftsarbeit übergehen muss. 79. Wenn es nicht in den Kräften des Proletariats liegen wird, den Krieg durch das Mittel der Revolution zu verhindern – dies aber ist das einzige Mittel, den Krieg zu verhindern –, so sind die Arbeiter, zusammen mit dem

ganzen Volk, gezwungen, an Heer und Krieg teilzunehmen. Die individualistischen und anarchistischen Losungen der Kriegsdienstverweigerung, des passiven Widerstandes, der Fahnenflucht, der Sabotage widersprechen von Grund auf den Methoden der proletarischen Revolution. Aber wie sich in der Fabrik der fortgeschrittene Arbeiter als

Sklave des Kapitals fühlt, der seine Befreiung vorbereitet, so weiß er sich auch im kapitalistischen Heer Sklave des Imperialismus. Gezwungen, heute Kraft und selbst Leben hinzugeben, lässt er sich sein revolutionäres Bewusstsein

nicht nehmen. Er bleibt ein Kämpfer, lernt, mit der Waffe umzugehen, erläutert auch in den Schützengräben den Klassensinn des Krieges, sammelt die Unzufriedenen, schließt sie zu Zellen zusammen, ist ein Verbreiter der Ideen und Losungen der Partei, verfolgt wachsam die Veränderungen in der Massenstimmung, das Abflauen der patriotischen Welle, das Anwachsen der Auflehnung, um im kritischen Augenblick die Soldaten zur Unterstützung der Arbeiter zu erheben.

Die Vierte Internationale und der Krieg 80. Kampf gegen den Krieg setzt eine revolutionäre Kampfeswaffe voraus, d.h. die Partei. Sie gibt es jetzt weder im nationalen noch im internationalen Maßstab. Die revolutionäre Partei ist zu schaffen, indem man sich auf die

gesamte Erfahrung der Vergangenheit stützt, darunter auch auf die Erfahrung der Zweiten und der Dritten Internationale, Ablehnung des unmittelbaren und offenen Kampfes um die neue Internationale bedeutet bewusste

oder unbewusste Unterstützung der zwei bestehenden Internationalen, von denen die eine aktiv den Krieg unterstützen wird, die andere aber die proletarische Vorhut nur zu zersetzen und zu schwächen vermag. 81. In den Reihen der sogenannten Komparteien verbleiben zwar nicht wenig ehrliche revolutionäre Arbeiter. Die Zähigkeit, mit der sie an der Dritten Internationale festhalten, erklärt sich in vielen Fällen durch revolutionäre

Ergebenheit, die nicht den richtigen Weg fand. Sie um das Banner der neuen Internationale scharen kann man jedoch nicht durch Zugeständnisse, Anpassungen an die ihnen aufgepfropften Vorurteile, sondern umgekehrt, durch die folgerichtige Bloßstellung der verheerenden internationalen Rolle des Stalinismus (bürokratischen Zentrismus). Besonders grell und unversöhnlich muss man dabei heute die Kriegsfragen stellen. 82. Notwendig ist, zugleich aufmerksam den Kampf innerhalb des reformistischen Lagers zu verfolgen und rechtzeitig die sich zur Revolution hinentwickelnden linkssozialistischen Gruppierungen in den Kampf gegen den Krieg einzureihen, Das wichtigste Merkmal für die Bestimmung der Tendenzen der betreffenden Organisation ist

ihr praktisches, aktives Verhalten zur nationalen Verteidigung und zu den Kolonien, insbesondere in den Fällen, wo

die Bourgeoisie des betreffenden Landes über Kolonialsklaven herrscht. Nur der vollständige und wirkliche Bruch mit der offiziellen öffentlichen Meinung in der brennendsten Frage der „Vaterlandsverteidigung“ ist gleichbedeutend

mit dem Übergang, oder wenigstens dem Anfang eines Übergangs, von der bürgerlichen Einstellung zur

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg proletarischen. Die Annäherung derartiger linker Organisationen muss begleitet sein von freundschaftlicher Kritik an jeder Halbheit in ihrer Politik und gemeinsamer Bearbeitung aller theoretischen und praktischen Probleme des Krieges.

83. Im Lager der Arbeiterbewegung treiben sich nicht wenig Politiker herum, die wohl in Worten dem Zusammenbruch der Zweiten und der Dritten Internationale anerkennen, aber gleichzeitig finden, „heute ist nicht

die Zeit“, an den Aufbau der neuen Internationale zu schreiten. Solch eine Stellungnahme kennzeichnet nicht einen revolutionären Marxisten, sondern einen ausgelaugten Stalinisten oder enttäuschten Reformisten. Der

revolutionäre Kampf duldet keine Unterbrechung. Die Umstände mögen ihm heute ungünstig sein; doch ein Revolutionär, der nicht gegen den Strom zu schwimmen versteht, ist kein Revolutionär. Zu sagen, der Aufbau der neuen Internationale sei „unzeitgemäß“, ist dasselbe wie den Klassenkampf und im Besonderen den Kampf gegen

den Krieg für unzeitgemäß zu erklären. Die proletarische Politik kann nicht umhin, sich in der heutigen Epoche internationale Aufgaben zu stellen. Die internationalen Aufgaben können nicht umhin, den Zusammenschluss

internationaler Kader zu heischen. Diese Arbeit kann man nicht um einen Tag aufschieben, ohne vor dem Imperialismus zu kapitulieren. 84. Wann nun gerade der Krieg ausbrechen und in welchem Stadium er den Aufbau der neuen Parteien und der Vierten Internationale vorfinden wird, das wird selbstverständlich niemand vorhersagen: man muss alles tun, damit die Vorbereitung der proletarischen Revolution rascher gehe als die Vorbereitung des neuen Krieges. Möglich jedoch, dass der Militarismus auch diesmal die Revolution überflügelt. Aber auch ein solcher Verlauf, der große Opfer und Verwüstungen in sich schließt, enthebt uns keinesfalls der Verpflichtung, unverzüglich die neue

Internationale aufzubauen. Die Verwandlung des imperialistischen Krieges in die proletarische Revolution wird umso schneller gehen, je weiter unsere Vorbereitungsarbeit vorgeschritten sein wird, je stärkere revolutionäre Kader

schon zu Kriegsanfang da sein werden, je planmäßiger sie die Arbeit in allen kriegführenden Ländern betreiben, je sicherer ihre Arbeit fußen wird auf richtigen strategischen, taktischen und Organisationsprinzipien.

85. Der imperialistische Krieg wird beim ersten Schlag das altersschwache Rückgrat der Zweiten Internationale zerschmettern und ihre nationalen Sektionen in Stücke spalten. Er wird endgültig die Hohlheit und Ohnmacht der

Dritten Internationale kundtun. Aber er wird auch alle die auf Halbheit beruhenden zentristischen Gruppierungen

nicht verschonen, die dem Problem der Internationale ausweichen, rein nationale Wurzeln suchen, keine einzige Frage ganz lösen, einer Perspektive entbehren und sich einstweilen lediglich von der Gärung und Verwirrung in der Arbeiterklasse nähren.

Selbst wenn zu Beginn des neuen Krieges die echten Revolutionäre wiederum in kleiner Minderheit sein werden,

so kann man doch nicht eine Minute lang daran zweifeln, dass diesmal das Einschwenken der Massen auf die Straße der Revolution sehr viel rascher, entschiedener und schonungsloser vor sich gehen wird als während des

ersten imperialistischen Krieges. Die neue Aufstandswelle kann und muss siegreich werden in der gesamten kapitalistischen Welt. Unbestreitbar ist jedenfalls, dass in unserer Epoche tiefe Wurzeln im nationalen Boden allein die Organisation schlagen kann, die sich auf internationale Prinzipien stützt und dem Gefüge einer Weltpartei des Proletariats eingegliedert ist. Kampf gegen den Krieg bedeutet heute Kampf um die Vierte Internationale!

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg

Leo Trotzki

Manifest der IV. Internationale zum imperialistischen Krieg und zur proletarischen Weltrevolution (Teil 1) Die Notkonferenz der IV. Internationale, der Weltpartei der sozialistischen Revolution, versammelt sich am Wendepunkt des zweiten imperialistischen Krieges. Das Stadium des Sondierens günstiger Gelegenheiten, der

Vorbereitungen und der relativen militärischen Inaktivität wurde weit zurückgelassen. Deutschland hat in einer Großoffensive alle Furien der Hölle losgelassen, die die Alliierten gleichermaßen mit all ihren Vernichtungskräften erwidern. Von jetzt an wird das Leben Europas und der gesamten Menschheit für eine lange Zeit vom Verlauf des imperialistischen Krieges und seinen ökonomischen und politischen Konsequenzen bestimmt werden. Die IV. Internationale ist der Ansicht, dass es jetzt an der Zeit ist, offen und klar zu sagen, wie sie diesen Krieg und seine Teilnehmer beurteilt, wie sie die Kriegspolitik der verschiedenen Arbeiterorganisationen einschätzt, und, als Wichtigstes, was der Weg zu Frieden, Freiheit und Wohlstand ist. Die IV. Internationale wendet sich nicht an

die Regierungen, die die Völker in das Gemetzel gezwungen haben, noch an die bürgerlichen Politiker, die die Verantwortung für diese Regierungen tragen, noch an die Arbeiterbürokratie, die die kriegführende Bourgeoisie

unterstützt. Die IV. Internationale wendet sich an die arbeitenden Männer und Frauen, die Soldaten und Matrosen, die ruinierten Bauern und die versklavten Kolonialvölker. Die IV. Internationale hat keinerlei Bindung an die Unterdrücker, die Ausbeuter, die Imperialisten. Sie ist die Weltpartei der Werktätigen, der Unterdrückten und der Ausgebeuteten. Dieses Manifest richtet sich an sie.

Die allgemeinen Gründe des jetzigen Krieges Die Technologie ist jetzt unendlich mächtiger als am Ende des Krieges von 1914/18, wohingegen die Menschheit sehr viel mehr von Armut betroffen ist. Der Lebensstandard ist in einem Lande nach dem anderen gesunken. An der Schwelle des jetzigen Krieges war die Landwirtschaft in schlechterer Verführung als beim Ausbruch des letzten

Krieges. Die Agrarländer sind ruiniert, In den Industrieländern werden die Mittelklassen ökonomisch zerstört, und eine permanente Unterklasse von Arbeitslosen – moderne Parias – wurde geschaffen. Der Binnenmarkt hat sich

verengt. Der Kapitalexport wurde reduziert. Der Imperialismus hat den Weltmarkt faktisch vernichtet, indem er ihn in Gebiete aufspaltete, die von mächtigen Einzelstaaten beherrscht werden. Trotz beträchtlichen Anwachsens der

Weltbevölkerung fiel der Welthandel von 109 Staaten auf unserem Planeten um fast ein Viertel, alleine in einem Jahrzehnt vor dem jetzigen Krieg. Der Umsatz im Außenhandel einiger Länder wurde auf die Hälfte, ein Drittel und ein Viertel gekürzt.

Die Kolonialländer leiden unter ihren eigenen inneren Krisen und den Krisen der Metropolen. Rückständige Nationen, die gestern noch halbfrei waren, werden heute in die Sklaverei gestürzt (Abessinien, Albanien, China).

Jedes imperialistische Land muss seine eigenen Rohstoffquellen, vor allem für den Krieg, haben, d.h. für einen

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg neuen Kampf um Rohstoffe. Um sich selbst noch mehr zu bereichern, zerstören und verwüsten die Kapitalisten alles, was durch jahrzehntelange Arbeit geschaffen wurde. Die Welt des niedergehenden Kapitalismus ist übervölkert. Die Frage, hundert zusätzliche Flüchtlinge aufzunehmen, wird ein Hauptproblem für eine derartige Weltmacht wie die Vereinigten Staaten. In einer Ära der Luftfahrt, des Telegrafen, des Telefons, des Radios und des Fernsehens wird die Reise von einem Land ins andere durch Pässe

und Visa gelähmt. Die Periode des Nachlassens des Außenhandels und des Niedergangs des Binnenhandels ist

gleichzeitig die Periode der enormen Steigerung von Chauvinismus und Antisemitismus. In der Epoche seines Aufstieges holte der Kapitalismus die Juden aus dem Ghetto und benutzte sie als ein Instrument in seiner

Handelsexpansion, Heute bemüht sich die niedergehende kapitalistische Gesellschaft, die Juden bis zum letzten Tropfen auszupressen; l7 Millionen Menschen von den zwei Milliarden, die den Globus bevölkern, d.h. weniger als 1 Prozent, können heute keinen Platz mehr auf unserem Planeten finden! Inmitten der weiten Ausdehnung des

Landes und der Wundertaten der Technologie, die für den Menschen sowohl den Himmel als auch die Erde eroberte, hat es die Bourgeoisie fertiggebracht, unseren Planeten zu einem ekelerregenden Gefängnis zu machen.

Lenin und Imperialismus Am 1, November 1914, zu Beginn des letzten imperialistischen Krieges, schrieb Lenin: „Der Imperialismus hat das

Geschick der europäischen Kultur aufs Spiel gesetzt: Diesem Krieg werden bald, wenn es nicht eine Reihe erfolgreicher Revolutionen geben wird, andere Kriege folgen – das Märchen vom ‚letzten Krieg’ ist ein leeres, schädliches Märchen ...“ [1] Arbeiter, ruft euch diese Voraussage ins Gedächtnis! Der jetzige Krieg – der zweite imperialistische Krieg – ist kein unvorhergesehenes Ereignis; er erwächst nicht aus dem Willen des einen oder

anderen Diktators. Er war lange vorausgesagt. Er Ieitet seinen Ursprung unerbittlich ab aus den Widersprüchen der internationalen kapitalistischen Interessen. Im Gegensatz zu den offiziellen Geschichten, die konstruiert wurden, um

die Leute zu betäuben, ist der Hauptgrund des Krieges sowie aller anderen gesellschaftlichen Übel – Arbeitslosigkeit, die hohen Lebenshaltungskosten, Faschismus, koloniale Unterdrückung – das Privateigentum an den Produktionsmitteln zusammen mit dem bürgerlichen Staat, der auf dieser Grundlage beruht.

Mit dem gegenwärtigen Stand der Technologie und den Fähigkeiten der Arbeiter ist es durchaus möglich,

angemessene Bedingungen für die materielle und geistige Entwicklung der gesamten Menschheit zu schaffen, Es wäre nur nötig, das wirtschaftliche Leben in jedem Land und auf unserem ganzen Planeten korrekt, wissenschaftlich

und

rationell

nach

einem

allgemeinen

Plan

zu

organisieren,

Solange

jedoch

die

Hauptproduktivkräfte der Gesellschaft in den Händen der Konzerne liegen, d.h. in den Händen von getrennten

Kapitalistencliquen, und solange der Nationalstaat ein williges Werkzeug in den Händen dieser Cliquen bleibt, muss der Kampf um Märkte, um Rohstoffquellen, um die Weltherrschaft unweigerlich einen mehr und mehr destruktiven Charakter annehmen. Die Staatsmacht und die Beherrschung der Wirtschaft kann den Händen dieser räuberischen

imperialistischen Cliquen nur durch die revolutionäre Arbeiterklasse entrissen werden. Das ist die Bedeutung von Lenins Warnung, dass ohne „eine Reihe erfolgreicher Revolutionen“ unweigerlich ein neuer imperialistischer Krieg folgen wird. Die verschiedenen Voraussagen und Versprechungen, die man machte, sind der Prüfung durch die Ereignisse unterworfen worden, Das Märchen vom „letzten Krieg“ hat sich als Lüge erwiesen, Lenins Voraussage ist zur tragischen Wahrheit geworden.

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg Die direkten Gründe des Krieges Der direkte Grund des jetzigen Krieges ist die Rivalität zwischen den alten wohlhabenden Kolonialreichen Großbritannien und Frankreich und den zu spät gekommenen imperialistischen Plünderern Deutschland und Italien. Das 19. Jahrhundert war die Ära der unbestrittenen Hegemonie der ältesten kapitalistischen Macht: Großbritannien. Von 1815 bis 1914 regierte der „Britische Frieden“, wenn auch nicht ohne vereinzelte militärische Ausbrüche. Die

britische Flotte, die mächtigste der Welt, spielte die Rolle des Polizisten der Meere. Diese Ära gehört jedoch der Vergangenheit an. Bereits am Ende des letzten Jahrhunderts begann das mit der modernen Technologie bewaffnete

Deutschland den Weg an die Spitze Europas. Auf der anderen Seite des Ozeans erhob sich ein noch mächtigeres Land, eine ehemalige britische Kolonie. Der wichtigste ökonomische Widerspruch, der zum Krieg von 1914/18

führte, war die Rivalität zwischen Großbritannien und Deutschland. Für die Vereinigten Staaten hatte die Teilnahme am Krieg einen präventiven Charakter – man durfte Deutschland nicht erlauben. den europäischen Kontinent zu unterwerfen.

Die Niederlage warf Deutschland in vollständige Ohnmacht zurück. Zerstückelt, von Feinden umgeben, ruiniert durch die Kriegsschulden, geschwächt durch die Erschütterungen des Bürgerkrieges schien es für eine lange Zeit,

wenn nicht für immer, aus dem Rennen zu sein. Auf dem europäischen. Kontinent spielte zeitweilig Frankreich die

erste Geige. Für das siegreiche England waren in letzter Konsequenz Schulden die Bilanz des Krieges: wachsende Unabhängigkeit der Kolonien. Koloniale Unabhängigkeitsbewegungen Verlust der Seeherrschaft, Nachlassen der Bedeutung seiner Marine durch die Entwicklung der Luftfahrt.

Durch Beharrungsvermögen versuchte England noch immer, die führende Rolle in der Weltarena während der

ersten paar Jahre nach dem Sieg zu spielen, Seine Konflikte mit den Vereinigten Staaten begannen einen offensichtlich bedrohlichen Charakter anzunehmen. Es schien, als würde der nächste Krieg zwischen den beiden

angelsächsischen Anwärtern auf die Weltherrschaft entbrennen. England musste sich jedoch davon überzeugen, dass sein eigenes wirtschaftliches Gewicht für einen Kampf mit dem Koloss jenseits des Ozeans nicht ausreichte. Sein

Abkommen mit den Vereinigten Staaten über die Gleichheit zur See bedeutete einen formalen Verzicht auf die Seeherrschaft, die in Wirklichkeit schon längst verloren war. Das Ersetzen des freien Handels durch Zollschranken

kennzeichnete das offene Eingeständnis der Niederlage der britischen Industrie auf dem Weltmarkt. Englands Verzicht auf die Politik der „splendid isolation“ zog die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht nach sich. Auf diese Weise wurden all die geheiligten Traditionen davongefegt.

Ein ähnlicher Mangel an Übereinstimmung zwischen seinem wirtschaftlichen Gewicht und seiner internationalen Position ist ebenfalls für Frankreich charakteristisch, wenn auch in kleinerem Maßstab. Seine Hegemonie in Europa beruhte auf einem zeitweiligen Zusammentreffen, die durch die Vernichtung Deutschlands und die künstlichen

Zusammenstellungen des Versailler Vertrages geschaffen worden waren. Die Bevölkerungsmenge und die wirtschaftlichen Grundlagen, die diese Hegemonie stützten, standen in keinem Verhältnis zueinander. Als der Siegestaumel vorbei war, drängten die wirklichen Kräfteverhältnisse an die Oberfläche. Frankreich erwies sich nicht

nur seinen Freunden, sondern auch seinen Feinden gegenüber als viel schwächer, als es vorher den Anschein gehabt hatte. Auf der Suche nach Schutz wurde es im Wesentlichen Großbritanniens neueste Besitzung.

Deutschlands Wiederaufstieg war auf der Basis seiner erstklassigen Technologie und seiner organisatorischen

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg Fähigkeiten unvermeidlich. Er kam eher, als für möglich gehalten, in großem Maße dank der englischen Unterstützung Deutschlands gegen die UdSSR, gegen die exzessiven Ansprüche Frankreichs und zum geringeren

Teil gegen die Vereinigten Staaten. Solche internationalen Verbindungen erwiesen sich für das kapitalistische England in der Vergangenheit mehr als erfolgreich, solange es die stärkste Macht war. In seiner Senilität zeigte es sich als unfähig, mit den Geistern fertig zu werden, die es selbst gerufen hatte.

Bewaffnet mit einer moderneren Technologie von größerer Flexibilität und höherer Produktionskapazität begann

Deutschland erneut, England von sehr wichtigen Märkten zu verdrängen, besonders aus Südosteuropa und Lateinamerika. Im Gegensatz zum 19. Jahrhundert, als sich der Wettbewerb zwischen kapitalistischen Ländern auf einem expandierenden Weltmarkt entwickelte, verengte sich die ökonomische Arena derart, dass den Imperialisten nichts mehr übrigbleibt, als sich gegenseitig Teile des Weltmarkts zu entreißen. Die Initiative für eine Neuaufteilung der Welt ging diesmal, wie auch 1914, vom deutschen Imperialismus aus. Von der Situation überrascht, versuchte die britische Regierung zunächst, sich durch Zugeständnisse zu Lasten anderer

(Österreich, Tschechoslowakei) vom Krieg freizukaufen. Aber diese Politik war kurzlebig, Für Hitler war die „Freundschaft“ mit Großbritannien nur eine kurze taktische Phase. London hatte Hitler bereits mehr zugestanden,

als er zu erreichen erwartet hatte. Das Münchner Abkommen, mit dem Chamberlain hoffte, eine langfristige Freundschaft mit Deutschland zu besiegeln, führte statt dessen zu einem beschleunigten Bruch. Hitler konnte nichts

mehr von London erwarten – eine weitere Expansion Deutschlands wurde auf den Lebensnerv Großbritanniens selbst abzielen. So führte die von Chamberlain im Oktober 1938 ausgerufene „neue Ära des Friedens“ innerhalb weniger Monate zu dem schrecklichsten aller Kriege.

Die Vereinigten Staaten Während Großbritannien seit den ersten Monaten des Krieges alles darangesetzt hatte, sich der vom blockierten

Deutschland aufgegebenen Positionen auf dem Weltmarkt zu bemächtigen, haben die Vereinigten Staaten Großbritannien fast automatisch ausgespielt. Zwei Drittel des Weltbestandes an Gold ist in den amerikanischen Tresoren konzentriert. Das restliche Drittel fließt zu demselben Ort. Englands Rolle als Bankier für die Welt gehört

der Vergangenheit an. Auch auf anderen Gebieten stehen die Dinge nicht besser. Während die Kriegs- und die

Handelsmarine Großbritanniens große Verluste erleiden, bauen die amerikanischen Werften in einem riesigen Ausmaß Schiffe, die die Vorherrschaft der amerikanischen Flotte über die britische und japanische sichern werden.

Die Vereinigten Staaten bereiten sich offensichtlich darauf vor, den Zwei-Mächte-Standard (eine Marine stärker als die Flotten der beiden nächststärkeren Mächte zusammen) zu erreichen. Das neue Programm für die Luftflotte führt ins Auge, die Überlegenheit der Vereinigten Staaten über den Rest der Welt zu sichern.

Die industrielle, finanzielle und militärische Stärke der Vereinigten Staaten, der führenden kapitalistischen Macht in der Welt, garantiert jedoch ganz und gar nicht das Aufblühen des amerikanischen Wirtschaftslebens, sondern

versieht ganz im Gegenteil die Krise ihres sozialen Systems mit einem besonders bösartigen und erschütternden

Charakter. Weder die riesigen Goldmengen noch die Millionen Arbeitslosen können nützlich eingesetzt werden. In den vor sechs Jahren veröffentlichten Thesen der IV. Internationale Der Krieg und die IV. Internationale wurde vorausgesagt:

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg Der US-Kapitalismus hat sich gegen dieselben Probleme erhoben., die Deutschland 1914 auf den Weg des Krieges drängten. Die Welt ist geteilt, sie muss neu aufgeteilt werden, Für Deutschland war es eine Frage der „Organisierung Europas“. Die Vereinigten Staaten müssen die Welt „organisieren“. Die Geschichte konfrontiert die Menschheit mit dem Vulkanausbruch des amerikanischen Imperialismus.

Der „New Deal“ und die „Gute Nachbar“-Politik waren die letzten Versuche, den Höhepunkt durch Verbesserung der sozialen Krise mit Hilfe von Zugeständnissen und Übereinkünften hinauszuschieben. Nach dem Bankrott dieser

Politik, die Unsummen schluckte, blieb dem amerikanischen Imperialismus nichts anderes übrig, als zur Methode der Waffengewalt zu greifen. Mit einem x-beliebigen Vorwand und Wahlspruch werden die Vereinigten Staaten in

die gewaltige Kollision intervenieren, um ihre Weltherrschaft aufrechtzuerhalten. Der Plan und der Zeitpunkt des Kampfes zwischen dem amerikanischen Kapitalismus und seinen Feinden ist – vielleicht sogar auch in Washington – noch nicht bekannt. Ein Krieg mit Japan würde ein Kampf um Lebensraum im Pazifik sein. Ein Krieg im

Atlantik würde ein Kampf um das Erbe Großbritanniens, sein, auch wenn er sofort gegen Deutschland gerichtet würde. Der potenzielle Sieg Deutschlands über die Alliierten liegt wie ein Alpdruck auf Washington, Deutschland würde – besonders in Verbindung mit Japan im Osten – mit dem europäischen Kontinent und den Hilfsquellen seiner

Kolonien als Rückhalt, mit all den europäischen Munitionsfabriken und Werften zu seiner Verfügung, eine tödliche Gefahr für den amerikanischer Imperialismus darstellen. Die gegenwärtigen titanenhaften Schlachten auf den Feldern Europas sind in diesem Sinn vorbereitende Episoden auf den Kampf zwischen Deutschland und Amerika.

Frankreich und England sind nur befestigte, über den Atlantik ausgedehnte Positionen des amerikanischen Kapitalismus. Wenn der Rhein über die Grenze Englands ist, wie es ein britischer Premierminister dargestellt hat, dann könnten die amerikanischen Imperialisten mit Recht sagen, dass die Grenzen der Vereinigten Staaten an der

Themse liegen. In seiner fieberhaften Vorbereitung der öffentlichen Meinung auf den kommenden Krieg hält Washington nicht mit edler Entrüstung zurück über das Schicksal von Finnland, Dänemark, Norwegen, Holland, Belgien ... Mit der Besetzung Dänemarks wurde unerwartet die Grönlandfrage aufgeworfen, da es „geologisch“ ein Teil der westlichen Hemisphäre ist und durch einen glücklichem Zufall Lagerstätten besitzt, die unentbehrlich bei der Aluminiumherstellung sind. Auch übersieht Washington nicht das unterjochte China, die hilflosen Philippinen,

das verwaiste Indochina und offene Seewege. Solch philanthropische Sympathien für unterdrückte Nationen und sogar geologische Erwägungen treiben die Vereinigten Staaten in den Krieg.

Die amerikanischen Streitkräfte könnten jedoch nur solange erfolgreich intervenieren, wie Frankreich und die britischen Inseln zuverlässige Nachschubbasen bleiben. Sollte Frankreich besetzt werden und sollten deutsche Truppen an der Themse auftauchen, so würde sich das Kräfteverhältnis drastisch zum Nachteil der Vereinigten

Staaten verschieben. Diese Betrachtungen zwingen Washington, alles enorm zu beschleunigen, aber genauso dazu, die Frage zu erwägen: Wurde der günstigste Augenblick nicht verpasst? Der offiziellen Position des Weißen Hauses werden laute Proteste des amerikanischen Isolationismus entgegengehalten, der selbst nur eine andere Variante desselben Imperialismus ist. Derjenige Teil der Kapitalisten, deren Interessen in erster Linie an den amerikanischen Kontinent, an Australien und den Fernen Osten gebunden

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg sind, kalkuliert, dass die Vereinigten Staaten im Falle einer Niederlage der Alliierten automatisch ein Monopol zu ihrem eigenen Vorteil nicht nur Im Lateinamerika, sondern auch in Kanada, Australien und Neuseeland gewinnen würden. Was China Indonesien und den Orient im Allgemeinen betrifft, so ist die Überzeugung der gesamten

herrschenden Klasse der Vereinigten Staaten, dass ein Krieg mit Japan auf jeden Fall in naher Zukunft

unvermeidlich ist. Unter dem Vorwand des Isolationismus und Pazifismus arbeitet ein einflussreicher Teil der Bourgeoisie ein Programm aus für die amerikanische kontinentale Expansion und für die Vorbereitung auf einen Kampf mit Japan. Ein Krieg gegen Deutschland um die Weltherrschaft ist nach diesem Plan nur zurückgestellt. Die

kleinbürgerlichen Pazifisten wie Norman Thomas und seine Sippschaft sind nur Chorknaben in einem der imperialistischen Clans.

Unser Kampf gegen die Intervention der Vereinigten Staaten in den Krieg hat nichts gemein mit Isolationismus und Pazifismus. Wir erklären den Arbeitern offen, dass die imperialistische Regierung nicht versäumen wird, dieses

Land in den Krieg zu stürzen. Die Auseinandersetzung innerhalb der herrschenden Klasse betrifft nur die Frage,

wann man in den Krieg eintreten und gegen wen man zuerst das Feuer eröffnen soll. Sich darauf zu verlassen, die Vereinigten Staaten durch Zeitungsartikel und pazifistische Resolutionen in Neutralität zu halten, ist wie der Versuch, die Flut mit dem Besen zurückzuhalten. Wirklicher Kampf gegen den Krieg bedeutet Klassenkampf gegen Imperialismus und eine schonungslose Bloßstellung des kleinbürgerlichen Pazifismus. Nur die Revolution könnte

die amerikanische Bourgeoisie daran hindern, in den zweiten imperialistischen Krieg zu intervenieren oder einen dritten imperialistischen Krieg zu beginnen. Alle anderen Methoden sind entweder Scharlatanerie oder Dummheit oder eine Kombination von beidem.

Die „Vaterlands“verteidigung Vor fast einhundert Jahren, als der Nationalstaat noch einen relativ fortschrittlichen Faktor darstellte, proklamierte

das Kommunistische Manifest, dass die Proletarier kein Vaterland haben. Ihr einziges Ziel ist die Schaffung eines Vaterlandes der Werktätigen, das die ganze Welt umfasst. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde der bürgerliche Staat mit seinen Armeen und Zollgrenzen die stärkste Bremse in der Entwicklung der Produktivkräfte, die eine sehr

viel ausgedehntere Arena fordern. Ein Sozialist, der heute für die Verteidigung des „Vaterlandes“ eintritt, spielt

dieselbe reaktionäre Rolle wie die Bauern der Vendée, die zur Verteidigung des feudalen Regimes, d.h. ihrer eigenen Ketten stürmten. In den letzten Jahren und sogar Monaten hatte die Welt mit Erstaunen beobachtet, wie leicht Staaten von der Landkarte Europas verschwinden: Österreich, Tschechoslowakei, Albanien, Polen, Dänemark, Norwegen, Holland, Belgien ... Die politische Landkarte wurde in keiner anderen Epoche, außer der der Napoleonischen Kriege, mit

einer ähnlichen Geschwindigkeit umgestaltet. Zu jener Zeit ging es um die überlebten Feudalstaaten, die für den bürgerlichen Nationalstaat das Feld räumen mussten. Heute handelt es sich um die überlebten bürgerlichen Staaten, die Platz machen müssen für die sozialistische Völkergemeinschaft. Die Kette reißt immer an ihrem schwächsten

Glied. Der Kampf der imperialistischen Banditen lässt unabhängigen kleinen Staaten genauso wenig Platz, wie es die tückische Konkurrenz der Konzerne und Kartelle für die unabhängigen Fabrikanten und Händler tut. Wegen seiner strategischen Position hält Deutschland es für günstiger, seine Hauptfeinde über die kleinen und neutralen Staaten anzugreifen. Großbritannien und Frankreich dagegen scheint es günstiger, sich mit der Neutralität

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg der kleinen Staaten zu bemänteln und es Deutschland zu überlassen, sie durch seine Schläge ins Lager der demokratischen Alliierten zu treiben. Der Kern der Sache wird durch diese Unterschiedlichkeit der strategischen Methoden nicht geändert. Zwischen den Zahnrädern der großen imperialistischen Länder werden die kleinen

Vasallenstaaten zu Staub zermahlen. Die „Verteidigung“ der großen Vaterländer verlangt die Überwältigung von einem Dutzend kleiner und mittelgroßer Vaterländer.

Aber auch im Hinblick auf die großen Staaten dreht es sich für die Bourgeoisie nicht im geringsten um die Verteidigung des Vaterlandes, sondern vielmehr um die der Märkte, der Auslandskonzessionen, der Rohstoffquellen

und der Einflusssphären. Die Bourgeoisie verteidigt niemals das Vaterland um seiner selbst willen. Sie verteidigt

Privateigentum, Privilegien Profite. Wann immer diese geheiligten Werte bedroht sind, beschreitet die Bourgeoisie sofort den Weg des Defätismus. Das war der Weg der russischen Bourgeoisie, deren Söhne nach der

Oktoberrevolution gegen ihr früheres Vaterland kämpften und auch jetzt wieder dazu bereit sind, es in jeder Armee der Welt zu tun. Um ihr Kapital zu retten, wandte sich die spanische Bourgeoisie um militärische Hilfe gegen ihre eigene Bevölkerung an Mussolini und Hitler. Die norwegische Bourgeoisie unterstützte Hitlers Invasion in Norwegen. So war es immer und wird es immer bleiben. Offizieller Patriotismus ist eine Maske für die Ausbeuterinteressen. Klassenbewusste Arbeiter werfen diese Maske verächtlich beiseite. Sie verteidigen nicht das bürgerliche Vaterland, sondern die Interessen der Werktätigen und Unterdrückten ihres eigenen Landes und der ganzen Welt. Die Thesen der IV. Internationale stellen fest:

Es ist notwendig, gegen die reaktionäre Losung der „Nationalen Verteidigung“ die Losung der revolutionären

Vernichtung des Nationalstaates voranzutreiben. Es ist notwendig dem Irrenhaus des kapitalistischen Europas das Programm der Vereinigten sozialistischen Staaten von Europa als eine Stufe auf dem Weg zu den Vereinigten sozialistischen Staaten der Welt entgegenzusetzen.

Der „Kampf für Demokratie“ Nicht weniger eine Lüge ist die Losung eines Krieges Eile Demokratie gegen den Faschismus, Als wenn die Arbeiter vergessen hätten, dass die britische Regierung Hitler und seiner Henkertruppe geholfen hat, die Macht zu

erlangen. Die imperialistischen Demokratien sind in Wirklichkeit die größten Aristokratien in der Geschichte,

England, Frankreich, Holland, Belgien stützen sich auf die Versklavung kolonialer Völker. Die Demokratie der Vereinigten Staaten beruht auf der Besitzergreifung des großen Reichtums eines ganzen Kontinents. All die

Bemühungen dieser „Demokratien“ stützen sich auf die Erhaltung ihrer privilegierten Stellung. Ein beträchtlicher Teil der Kriegslast wird von den imperialistischen Demokratien ihrem Kolonien aufgeladen. Die Sklaven werden

gezwungen, Blut und Gold zu liefern, um die Möglichkeit ihrer Herren, Sklavenhalter zu bleiben, zu erhalten. Die kleinen kapitalistischen Demokratien ohne Kolonien sind Vasallen der Großmächte und liefern einen Teil der kolonialen Profite. Die herrschenden Klassen in diesen Staaten sind bereit, die Demokratie jederzeit aufzugeben um ihre eigenen Privilegien zu erhalten. Im Fall des kleinen wurden die inneren Mechanismen der niedergehender Demokratie vor der ganzen Welt erneut aufgedeckt. Die norwegische Bourgeoisie machte gleichzeitig Gebrauch von der sozialdemokratischen Regierung und den faschistischen Polizeibeamten, Richtern und Offizieren. Beim ersten ernsthaften Zusammenstoss wurden die

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg demokratischen Häupter weggefegt und die faschistische Bürokratie, die sofort eine gemeinsame Sprache mit Hitler fand, wurde der Herr im Haus. Mit verschiedenen nationalen Varianten war dasselbe Experiment vorher in Italien,

Deutschland, Österreich, Polen, der Tschechoslowakei und einer Anzahl anderer Staaten durchgeführt worden. In einem Augenblick der Gefahr ist die Bourgeoisie immer in der Lage gewesen, den wahren Apparat ihrer Herrschaft

als das direkte lnstrument des Finanzkapitals von demokratischen Verzierungen zu befreien. Nur die hoffnungslos Blinden sind fähig zu glauben, dass die britischen und französischen Generäle einen Krieg gegen den Faschismus führen!

Der Krieg hat, den Prozess der Umwandlung von Demokratien in reaktionäre Diktaturen nicht gestoppt, sondern führt vor unseren Augen diesen Prozess zu seinem Abschluss.

Innerhalb jedes Landes genauso wie in der Weltarena stärkte der Krieg sofort die reaktionärsten Gruppen und Institutionen. Die Generalstäbe, jene Nester der bonapartistischen Konspiration, die üblen Höhlen der Polizei, die Banden von geheuerten Patrioten, die Kirchen aller Glaubensbekenntnisse wurden sofort an die vorderste Front

geworfen. Der Heilige Stuhl, das Zentrum von Fortschrittsfeindlichkeit und Hass unter den Menschen, wird von allen Seiten umworben, speziell von dem protestantischen Präsidenten Roosevelt. Materieller und geistiger Verfall bringt immer in seinem Gefolge Polizeirepression und eine wachsende Nachfrage nach dem Opium der Religion.

In den Bemühungen, die Vorteile eines totalitären Regimes zu erlangen, starten die imperialistischen Demokratien

ihre eigene Verteidigung mit einem verstärkten Vorstoß gegen die Arbeiterklasse und mit der Verfolgung von revolutionären Organisationen. Die Kriegsgefahr und jetzt der Krieg selbst werden von ihnen in allererster Linie

benutzt, um innere Feinde zu zerschlagen. Die Bourgeoisie folgt unabänderlich und unerschütterlich der Regel: „Der Hauptfeind steht im eigenen Land.“ Wie es immer der Fall ist, die Schwächsten leiden am meisten. Die Schwächsten in der gegenwärtigen Völkerschlacht sind die unzähligen Flüchtlinge aus allen Ländern, unter ihnen die revolutionären Verbannten.

Bürgerlicher Patriotismus manifestiert sich zuerst in der brutalen Behandlung von wehrlosen Ausländern. Bevor die Konzentrationslager für Kriegsgefangene gebaut wurden, errichteten alle Demokratien Konzentrationslager für die revolutionären Verbannten. Die Regierungen der ganzen Welt, besonders die Regierung der UdSSR, haben durch

ihre Behandlung der Flüchtlinge, Verbannten und Heimatlosen das schwärzeste Kapitel in unserer Epoche geschrieben. Wir senden unsere wärmsten Grüße an unsere inhaftierten und verfolgten Brüder und sagen ihnen, dass sie nicht den Mut verlieren sollen. Aus den kapitalistischen Gefängnissen und Konzentrationslagern werden die meisten Führer des morgigen Europas und der Welt kommen.

Die Kriegsparolen der Nazis Hitlers offizielle Parolen halten im allgemeinen keiner Überprüfung stand. Der Kampf für die „nationale

Vereinigung“ hat sich seit seinem Bestehen als Lüge erwiesen, dann Hitler ist dabei, den Nationalstaat in einen Vielvölkerstaat umzugestalten, die Freiheit und Einheit anderer Völker mit Füßen tretend. Der Kampf um „Lebensraum“ ist nichts als Tarnung für eine imperialistische Expansion, d.h. für die Politik der Annektierung und

Plünderung. Die rassische Rechtfertigung für diese Expansion ist eine Lüge; der Nationalsozialismus ändert seine rassischen Sympathien und Antipathien in Übereinstimmung mit strategischen Erwägungen. Ein auf gewisse Art

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg stabiles Element in der faschistischen Propaganda ist vielleicht der Antisemitismus, dem Hitler eine zoologische Form gegeben hat, indem er die wahre Sprache der „Rasse“ und des „Blutes“ im Bellen des Hundes und im Grunzen des Schweines entdeckte, Nicht umsonst bezeichnete Friedrich Engels den Antisemitismus als den „Sozialismus der Idioten“! Die einzige Erscheinungsform dar Faschismus die nicht geheuchelt ist, ist sein Wille nach Macht, Unterjochung und Raub. Faschismus ist ein chemisch reines Destillat der Kultur des Imperialismus.

Die demokratischen Regierungen, die Hitler seinerzeit als einem Kreuzritter gegen den Bolschewismus zujubelten, machen ihn jetzt zu einer Art Satan, unerwartet aus den Tiefen der Hölle losgelassen, der die Heiligkeit der

Verträge, der Grenzen und aller Regeln verletzt. Gäbe es Hitler nicht, würde die kapitalistische Welt wie ein.

Garten blühen. Was für eine elende Lüge! Dieser deutsche Epileptiker mit einer Rechenmaschine in seinem Schädel und unbegrenzter Macht in seinen Händen ist nicht vom Himmel gefallen oder aus der Hölle gestiegen: Er ist

nichts anderes als die Personifizierung aller destruktiven Kräfte des Imperialismus. So wie Dschingis Khan und Tamerlan den schwächeren Hirtenvölkern als die zerstörerischen Geißeln Gottes erschienen, während sie in

Wirklichkeit nichts anderes taten, als dem Bedürfnis aller Hirtenvölker nach mehr Weideland und dem Plündern besiedelter Gebiete Ausdruck zu geben, so macht Hitler, indem er die alten Kolonialmächte bis zu ihren

Grundfesten erschüttert, nichts anderes, als dem imperialistischen Willen nach Macht einen vollendeteren Ausdruck zu geben. Mittels Hitler hat der durch seine auswegslose Situation zur Verzweiflung getriebene Kapitalismus begonnen, sich einen scharfen Dolch in die eigenen Eingeweide zu bohren.

Die Schlächter des zweiten imperialistischen Krieges werden keinen Erfolg damit haben, Hitler zum Sündenbock für ihre eigenen Sünden zu machen.

Vor der Gerichtsschranke des Proletariats werden sich all die jetzigen Herrscher verantworten müssen. Hitler wird nicht mehr tun, als den ersten Platz unter den Verbrechern auf der Anklagebank einzunehmen.

Die Übermacht Deutschlands Wie auch immer der Krieg ausgehen mag, die Übermacht Deutschlands hat sich bereits klar gezeigt. Fraglos hat es

Hitler versäumt, irgendeine geheime „neue Waffe“ zu besitzen. Aber die Perfektionierung all der unterschiedlichen vorhandenen Waffen und die gut koordinierte Zusammenstellung dieser Waffen – auf der Grundlage einer höher

rationalisierten Industrie – verleiht dem deutschen Militarismus ein enormes Gewicht. Die militärische Dynamik ist eng gebunden an die besonderen Erscheinungsformen eines totalitären Regimes: Einheit des Willens, geballte Initiative, Geheimhaltung von Vorbereitungen, Plötzlichkeit der Durchführung. Überdies hat der Versailler Vertrag den Alliierten einen schlechten Dienst erwiesen. Nach 15 Jahren der deutschen Abrüstung war Hitler gezwungen,

eine Armee aus dem Nichts aufzubauen, und dank dieses Umstandes ist die Armee frei von Routine und braucht keine veraltete Technik und Ausrüstung mitzuschleifen. Die taktische Ausbildung der Truppen wird getragen von neuen Ideen, die auf den modernen technologischen Erkenntnissen basieren. Offensichtlich sind nur die Vereinigten Staaten ausersehen, die deutsche Mordmaschinerie zu überwinden. Die Schwäche von Frankreich und Großbritannien war nicht unerwartet. Die Thesen der IV. Internationale (1934) stellen fest: „Der Zusammenbruch des Völkerbundes ist unlösbar verknüpft mit dem Beginn des Zusammenbruchs

der französischen Hegemonie auf dem europäischen Kontinent.“ Dieses programmatische Dokument erklärt weiter,

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg dass „das herrschende England mit seinen intriganten Plänen immer weniger erfolgreich ist“, dass die britische Bourgeoisie „erschreckt“ ist „durch den Zerfall ihres Empires, durch die revolutionäre Bewegung in Indien, durch

die Unsicherheit ihrer Positionen in China“. Die Macht der IV. Internationale liegt darin, dass ihr Programm fähig ist, der Prüfung durch große Ereignisse standzuhalten. Die Industrie Englands und Frankreichs hat sich dank des sicheren Stroms der kolonialen Superprofite sowohl in der Technologie als auch in der Organisation nur langsam vorwärts bewegt. Dazu kommt, dass die sogenannte

„Verteidigung der Demokratie“ durch die sozialistischen Parteien und Gewerkschaften eine äußerst privilegierte politische Position für die britische und französische Bourgeoisie geschaffen hat. Privilegien fördern immer Trägheit und Stagnation. Wenn Deutschland heute eine so große Übermacht über Frankreich und England zur Schau stellt, dann liegt der Löwenanteil der Verantwortung bei den sozialpatriotischen Verteidigern der Demokratie, die das

Proletariat davon zurückgehalten haben, England und Frankreich durch eine rechtzeitige sozialistische Revolution aus der Atrophie zu reißen.

„Das Friedensprogramm“ Als Gegenleistung für die Versklavung der Völker verspricht Hitler, in Europa für Jahrhunderte einen „Deutschen Frieden“ zu errichten. Eine leere Illusion! Der „Britische Frieden“ nach dem Sieg über Napoleon konnte ein Jahrhundert dauern – nicht tausend Jahre! – einzig und allein, weil Britannien der Bahnbrecher einer neuen

Technologie und eines fortschrittlichen Produktionssystems war. Ungeachtet der Stärke seiner Industrie ist das

heutige Deutschland wie seine Feinde der Bannerträger eines zum Untergang verurteilten Gesellschaftssystems. Hitlers Sieg würde in Wirklichkeit nicht Frieden bedeuten, sondern den Beginn einer neuen Serie blutiger

Zusammenstöße im Weltmaßstab. Durch Zerschlagung des britischen Empires, Degradierung Frankreichs zu dem Status von Böhmen und Mähren und Sich–Stützen auf den europäischen Kontinent und seine Kolonien, würde

Deutschland zweifellos die erste Macht in der Welt werden. Parallel dazu könnte Italien im besten Fall, jedoch nicht für lange, die Kontrolle über den Mittelmeerraum ergreifen, Aber die erste Macht zu sein, bedeutet nicht, die einzige Macht zu sein. Der Kampf ein „Lebensraum“ wurde nur in ein neues Stadium eintreten.

Die „neue Ordnung“, die Japan zu etablieren versucht, indem es sich auf den deutschen Sieg stützt, hat die

Perspektive einer Ausdehnung der japanischen Herrschaft über den größeren Teil des asiatischen Kontinents. Die Sowjetunion würde sich eingezwängt zwischen einem germanisierten Europa und einem japanisierten Asien

wiederfinden. Alle drei Amerikas, und ebenfalls Australien und Neuseeland würden den Vereinigten Staaten zufallen. Wenn wir obendrein das provinzielle italienische Reich in Betracht ziehen, dann würde die Welt vorübergehend in fünf „Lebensräume“ aufgeteilt sein. Aber der Imperialismus verabscheut eben auf grund seines

Charakters jegliche Teilung der Macht. Um wieder freie Hand gegen Amerika zu haben müsste Hitler mit seinen

Freunden von gestern, Stalin und Mussolini blutig abrechnen. Japan und die Vereinigten Staaten würden keine unbeteiligten Beobachter des neuen Kampfes bleiben. Der dritte imperialistische Krieg würde nicht von Reichen alter Prägung. sondern von ganzen Kontinenten geführt werden ... Hitlers Sieg im jetzigen Krieg würde

infolgedessen nicht tausend Jahre „deutschen Friedens“ sondern blutiges Chaos für viele Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte bedeuten.

Aber genauso wenig würde ein Triumph der Alliierten in glänzenderen Konsequenzen enden. Das siegreiche

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg Frankreich könnte seine Stellung als Großmacht nur durch Zersplitterung Deutschlands, Restauration der Habsburger und Balkanisierung Europas wieder aufbauen. Großbritannien könnte nur durch erneutes Ausspielen der Widersprüche zwischen Deutschland und Frankreich auf der einen Seite und Europa und Amerika auf der anderen

wieder eine führende Rolle in den europäischen Angelegenheiten spielen. Das würde eine neue und zehnmal

schlimmere Ausgabe des Versailler Friedens mit unendlich übleren Auswirkungen auf den geschwächten Organismus Europas bedeuten. Dem muss hinzugefügt werden, dass ein Sieg der Alliierten ohne amerikanische Hilfe unwahrscheinlich ist, obwohl die Vereinigten Staaten diesmal einen höheren Preis für ihre Hilfe verlangen

würden als beim letzten Krieg. Das erniedrigte und erschöpfte Europa, der Gegenstand Herbert Hoovers Philanthropie – würde der ruinierte Schuldner seines transatlantischen Retters werden.

Wenn wir schließlich die am wenigsten wahrscheinliche Variante annehmen, nämlich den Friedensschluss durch die erschöpften Gegner in Anlehnung an die pazifistische Formel „keine Sieger, keine Besiegten“, würde das eine

Restauration des internationalen Chaos, das vor dem Krieg existierte, bedeuten, aber diesmal gestützt auf blutige Ruinen, auf Erschöpfung, auf Verbitterung. In kürzester Frist würden alle alten Antagonismen mit explosiver Gewalt an die Oberfläche dringen und in neue internationale Erschütterungen ausbrechen. Das Versprechen der Alliierten, ein demokratisches europäisches Bündnis zu schaffen, ist diesmal die primitivste aller pazifistischen Lügen. Der Staat ist kein Abstraktum, sondern das Instrument des Monopolkapitalismus. Solange die Konzerne und Banken nicht zum Wohle des Volkes enteignet sind, ist der Kampf zwischen Staaten

genauso unvermeidlich wie der Kampf zwischen den Konzernen selbst. Der freiwillige Verzicht der mächtigsten Staaten auf durch ihre Stärke erworbene Vorteile ist eine genauso lächerliche Utopie wie die freiwillige Aufteilung der kapitalistischen Pfründen unter den Konzernen. Solange das kapitalistische Eigentum erhalten bleibt, wird ein

demokratisches Bündnis nichts als eine schlimmere Wiederholung des Völkerbundes sein, mit all seinen Fehlern, nur ohne seine Illusionen. Vergeblich versuchen die imperialistischen Schicksalslenker, ein Heilsprogramm wiederzubeleben, das durch die Erfahrung der vergangenen Jahrzehnte vollständig in Zweifel gezogen wurde. Vergeblich wärmen deren kleinbürgerliche Lakaien pazifistische Allheilmittel auf, die schon vor langer Zeit zu ihrer eigenen Karikatur

geworden sind. Die fortgeschrittenen Arbeiter werden sich nicht betrügen lassen. Der Friede wird nicht von den

jetzt kriegführenden Kräften geschlossen. Die Arbeiter und Soldaten werden ihr eigenes Friedensprogramm diktieren!

Die Verteidigung der UdSSR Stalins Bündnis mit Hitler, das den Vorhang zum Weltkrieg hob und unmittelbar zur Versklavung des polnischen Volkes führte, resultierte aus der Schwäche der UdSSR und der Panik des Kreml angesichts Deutschlands. Die Verantwortung für diese Schwäche liegt bei niemand anders als bei eben demselben Kreml; bei seiner Innenpolitik,

die einen Abgrund zwischen der herrschenden Kaste und dem Volk auftat; seiner Außenpolitik, die die Interessen der Weltrevolution den Interessen der stalinistischen Clique opferte.

Die Besitzergreifung Ostpolens – ein Unterpfand des Bündnisses mit Hitler und eine Garantie gegen Hitler – wurde begleitet von der Nationalisierung halbfeudalen und kapitalistischen Besitzes in der Westukraine und im westlichen

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg Weißrussland. Ohne diese Maßnahmen hätte der Kreml das besetzte Gebiet nicht in die UdSSR eingliedern können, Die gewürgte und geschändete Oktoberrevolution bewies, dass sie noch lebendig war. In Finnland hatte der Kreml keinen Erfolg, einen ähnlichen gesellschaftlichen Umsturz durchzuführen. Die imperialistische Mobilisierung der öffentlichen Meinung der Welt zu einer „Verteidigung Finnlands“; die Drohung

einer unmittelbaren Intervention durch England und Frankreich; die Ungeduld Hitlers, der Dänemark und Norwegen in Besitz nehmen musste, ehe französische und britische Truppen auf skandinavischen Boden erschienen – all das

zwang den Kreml, die Sowjetisierung Finnlands aufzugeben und sich auf die Besitzergreifung unbedingt notwendiger strategischer Positionen zu beschränken. Die Invasion in Finnland verursachte fraglos auf Seiten der sowjetischen Bevölkerung eine völlige Ablehnung. Die fortgeschrittenen Arbeiter verstanden jedoch, dass die Verbrechen der Kreml – Oligarchie die Frage der Existenz

der UdSSR nicht von der Tagesordnung strichen. Die Niederlage der UdSSR im Weltkrieg würde nicht nur die Beseitigung der totalitären Bürokratie bedeuten, sondern auch die Vernichtung der neuen Besitzformen. Das Scheitern des ersten Versuches einer Planwirtschaft und die Umwandlung des ganzen Landes in eine Kolonie, d.h.

Auslieferung von riesigen natürlichen Reichtümern an den Imperialismus, die ihm eine Atempause bis zum Dritten

Weltkrieg gewähren würden. Weder die Völker der UdSSR noch die Weltarbeiterklasse als Ganzes haben Interesse an einem solchen Ausgang. Finnlands Widerstand gegen die UdSSR war mit seinem ganzen Heroismus nicht weniger ein Akt der unabhängigen nationalen Verteidigung wie der spätere Widerstand Norwegens gegen Deutschland. Die Regierung in

Helsinki selbst verstand das, als sie es vorzog, eher vor der UdSSR zu kapitulieren, als Finnland in einen Militärstützpunkt für England und Frankreich zu verwandeln. Unsere aufrichtige Anerkennung des Rechts jeder Nation auf Selbstbestimmung ändert nichts an der Tatsache, dass im Verlauf des jetzigen Krieges dieses Recht

nicht mehr Gewicht als Distelwolle hat. Wir müssen die Grundlinien unserer Politik im Einklang mit Grundlegenden und nicht mit zehntklassigen Faktoren bestimmen. Die Thesen der IV. Internationale erklären:

Das Konzept der nationalen Verteidigung, besonders wenn es mit der Idee der Verteidigung der Demokratie zusammenfällt, kann ganz leicht die Arbeiter kleiner und neutraler Länder (Schweiz, teilweise Belgien, skandinavische Länder ...) täuschen ... Nur ein hoffnungslos dummer Bourgeois aus einem gottverlassenen Schweizer Dorf (wie Robert Grimm) kann ernsthaft denken, dass der Weltkrieg, in den er gezogen wurde, für die Verteidigung der Schweizer Unabhängigkeit geführt wird. Diese Worte erlangen heute eine besondere Bedeutung. In keiner Weise dem Schweizer Sozialpatrioten Robert Grimm überlegen sind jene pseudorevolutionären Kleinbürger, die glauben, dass es möglich ist proletarische Strategie in Verbindung mit der Verteidigung der UdSSR zu bestimmen, indem man sich auf solche taktischen Episoden wie die Invasion der Roten Armee in Finnland verlässt. Äußerst beredsam in ihrer Einmütigkeit und Heftigkeit war die Kampagne, die die Weltbourgeoisie zum sowjetischfinnischen Krieg startete. Weder Tücke noch die vorangegangene Gewalttätigkeit des Kreml haben die Empörung der Bourgeoisie hervorgerufen, da die gesamte Geschichte der Weltpolitik mit Verrat und Tücke geschrieben ist.

Ihre Angst und Entrüstung erhob sich bei der Aussicht auf einen gesellschaftlichen Umsturz in Finnland nach dem

Vorbild des durch die Rote Armee in Ostpolen durchgeführten Umsturzes. Was miteinbezogen war, war eine neue

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg Bedrohung des kapitalistischen Eigentums. Die antisowjetische Kampagne, die durch und durch einen Klassencharakter hatte, enthüllte wieder einmal, dass die UdSSR auf Grund der durch die Oktoberrevolution

gelegten gesellschaftlichen Grundlagen, von denen in letzter Konsequenz die Existenz der Bürokratie selbst abhängig ist, immer noch ein Arbeiterstaat bleibt, ein Schrecken für die Bourgeoisie in der ganzen Welt.

Gelegentliche Abkommen zwischen der Bourgeoisie und der UdSSR ändern nichts an der Tatsache, dass „im historischen Maßstab der Antagonismus zwischen dem Weltimperialismus und der Sowjetunion unendlich tiefer ist als die Antagonismen, die die einzelnen kapitalistischen Länder in Gegensatz zueinander bringen.“

Viele kleinbürgerliche Radikale, die eben noch bereit waren, die Sowjetunion als eine Achse für die Sammlung der

„demokratischen“ Kräfte gegen den Faschismus zu betrachten, haben plötzlich, als ihre eigenen Vaterländer von Hitler bedroht wurden, entdeckt, dass Moskau, das ihnen nicht zu Hilfe kam, eine imperialistische Politik verfolgt und dass es keinen Unterschied zwischen der UdSSR und den faschistischen Ländern gibt.

Lüge! Wird jeder klassenbewusste Arbeiter entgegnen – es besteht ein Unterschied. Die Bourgeoisie bewertet diesen gesellschaftlichen Unterschiede besser und gründlicher, als es die radikalen Windbeutel tun. Sicherlich, die Nationalisierung der Produktionsmittel in einem Land und einem rückständigen obendrein sichert noch nicht den

Aufbau des Sozialismus. Aber sie ist fähig, die Grundvoraussetzung des Sozialismus nämlich die geplante Entwicklung der Produktivkräfte voranzutreiben. Der Nationalisierung der Produktionsmittel den Rücken aufgrund der Tatsache zu kehren, dass durch sie und von ihr selbst nicht das Wohlergehen der Maßen geschaffen wird, ist

gleichbedeutend mit der Verurteilung eines Granitfundaments zum Abbruch, weil es unmöglich ist, ohne Mauern und einem Dach zu leben. Der klassenbewusste Arbeiter weiß, dass ein erfolgreicher Kampf für die vollständige Befreiung undenkbar ist ohne die Verteidigung der bereits erreichten Errungenschaften, so bescheiden sie auch sein mögen. Um so notwendiger ist deshalb die Verteidigung einer so kolossalen Errungenschaft wie der Planwirtschaft

gegen die Restauration kapitalistischer Verhältnisse. Diejenigen, die keine alten Positionen verteidigen können, werden nie neue erringen.

Die IV. Internationale kann die UdSSR nur durch die Methoden des revolutionären Klassenkampfes verteidigen.

Die Arbeiter zu lehren, den Klassencharakter des Staates – imperialistischer, Kolonial- oder Arbeiterstaat – und die wechselseitigen Beziehungen zwischen ihnen, wie auch die inneren Widersprüche in jedem einzelnen korrekt zu

begreifen, ermöglicht es ihnen, in jeder gegebenen Situation die richtigen praktischen Schlussfolgerungen zu ziehen. Obwohl die IV. Internationale einen unermüdlichen Kampf gegen die Moskauer Oligarchie führt, lehnt sie entschieden jegliche Politik ab, die dem Imperialismus gegen die UdSSR helfen wurde.

Die Verteidigung der Sowjetunion fällt im Prinzip zusammen mit der Vorbereitung der proletarischen Weltrevolution. Wir lehnen die Theorie vom Sozialismus in einem Land, jenes Hirngespinst des ignoranten und

reaktionären Stalinismus, kategorisch ab. Nur die Weltrevolution kann die UdSSR für den Sozialismus retten. Aber die Weltrevolution bringt die unausweichliche Auslöschung der Kreml-Oligarchie mit sich.

Für den revolutionären Sturz der bonapartistischen Stalinclique Nach fünf Jahren des Kriechens vor den „Demokratien“ stellte der Kreml eine zynische Verachtung des Weltproletariats zur Schau, indem er ein Bündnis mit Hitler schloss und ihm das polnische Volk zu unterdrücken

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg half; am Vorabend der Invasion in Finnland prahlte er mit schändlichem Chauvinismus und offenbarte eine nicht weniger schändliche militärische Unfähigkeit im folgenden Kampf; er machte lauthals Versprechungen, das finnische Volk von den Kapitalisten zu „befreien“ und kapitulierte dann feige vor Hitler – das war die Darbietung des stalinistischen Regimes in den kritischen Stunden der Geschichte. Bereits die Moskauer Prozesse hatten enthüllt, dass die totalitäre Oligarchie zu einem absoluten Hindernis auf dem Weg der Entwicklung des Landes geworden war. Das steigende Niveau der wachsenden komplexen Bedürfnisse des

Wirtschaftslebens kann die bürokratische Knebelung nicht länger dulden. Die Bande der Parasiten ist jedoch nicht bereit, irgendwelche Konzessionen zu machen. Im Kampf um ihre Stellung zerstört sie alles, was im Land am besten ist. Man darf nicht denken, dass die Leute, die in zwölf Jahren drei Revolutionen durchgeführt haben,

plötzlich dumm geworden sind. Sie sind unterdrückt und verwirrt, aber sie beobachten und denken. Die Bürokratie erinnert sie jeden Tag durch ihre Willkürherrschaft, durch Unterdrückung, Habgier und blutige Rachsucht an ihre Existenz.

Halbverhungerte

Arbeiter

und

Kollektivbauern

flüstern

untereinander

mit

Hass

über

die

verschwenderischen Launen von übereifrigen Kommissaren. Für Stalins 60sten Geburtstag wurden die Arbeiter im

Ural gezwungen, eineinhalb Jahre an einem aus wertvollen Steinen hergestellten gigantischen Bildnis des verhassten „Vaters der Völker“ zu arbeiten – ein Projekt, das einem persischen Xerxes oder einer ägyptischen Kleopatra

würdig gewesen waren. Ein Regime das fähig ist sich solche Scheußlichkeiten zu erlauben, muss einfach den Hass der Massen erregen.

Die Außenpolitik entspricht der Innenpolitik. Hätte die Kremlregierung die realen Interessen des Arbeiterstaates zum Ausdruck gebracht, hätte die Komintern der Sache der Weltrevolution gedient, dann hätten die Volksmassen

des kleinen Finnlands unvermeidlich zur UdSSR gestrebt, und die Invasion der Roten Armee wäre überhaupt nicht notwendig gewesen oder sie wäre sofort vom finnischen Volk als ein revolutionärer Akt der Befreiung akzeptiert

worden. In Wirklichkeit hat die gesamte vorhergehende Politik des Kreml die finnischen Arbeiter und Bauern von der UdSSR weggestoßen. Während Hitler in der Lage war, in den neutralen Ländern, in die er einmarschierte, auf die Hilfe der sogenannten „Fünften Kolonne“ zu zählen, fand Stalin in Finnland trotz der Tradition des Aufstandes

von 1918 und des langen Bestehens der finnischen Kommunistischen Partei keinerlei Unterstützung. Unter diesen Bedingungen erhielt der Einmarsch der Roten Armee den Charakter eines direkten und offenen militärischen Gewaltaktes. Die Verantwortung für diesen Gewaltakt trifft ganz und gar die Moskau-Oligarchie.

Krieg ist die Feuerprobe eines Regimes. Als eine Folge der ersten Periode des Krieges hat sich die internationale

Stellung er UdSSR trotz der zur Schau gestellten Erfolge offensichtlich verschlechtert. Die Außenpolitik des Kreml hat weite Kreise der Weltarbeiterklasse und der unterdrückten Völker von der UdSSR weggestoßen. Die von Moskau besetzten strategischen Nachschubbasen werden in der Auseinandersetzung der Weltmächte einen drittklassigen Faktor darstellen. Unterdessen bat sich Deutschland das wichtigste und am weitesten industrialisierte

Gebiet Polens beschafft und eine gemeinsame Grenze mit der UdSSR, d.h. ein Tor zum Osten, erreicht. Mittels Skandinaviens beherrscht Deutschland die Ostsee und macht damit den Finnischen Meerbusen zu einer fest

verkorkten Flasche. Das verbitterte Finnland gerät unter die direkte Kontrolle von Hitler. Statt einem schwachen neutralen steht die UdSSR nun einem mächtigen Deutschland jenseits seiner Leningrader Grenze gegenüber. Die

Schwäche der von Stalin enthaupteten Roten Armee wurde offen vor der ganzen Welt demonstriert. Die zentrifugalen nationalistischen Tendenzen innerhalb der UdSSR haben sich verstärkt. Das Prestige der

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg Kremlführung ist gesunken. Deutschland im Westen und Japan im Osten fühlen sich jetzt weitaus sicherer als vor dem finnischen Abenteuer des Kremls. In seinem dürftigen Arsenal konnte Stalin nur eine einzige Antwort auf die unheilverkündende Warnung der Ereignisse finden: Er ersetzte Woroschilow durch eine noch größere Null, Timoschenko. Wie immer in diesen

Fällen ist es das Ziel eines solchen Manövers, die Wut des Volkes und der Armee von dem für das Unglück verantwortlichen Hauptschuldigen abzulenken und an die Spitze der Armee ein Individuum zu setzen, dessen Verlässlichkeit durch seine Bedeutungslosigkeit garantiert ist. Der Kreml hat sich wieder einmal als Hauptbrutstätte

des Defätismus gezeigt. Nur durch die Zerstörung dieser Brutstätte kann die Sicherheit der UdSSR gewährleistet sein.

Die Vorbereitung des revolutionären Sturzes der Moskauer Herrscherkaste ist eine der Hauptaufgaben der IV. Internationale. Diese Aufgabe ist nicht simpel oder leicht. Sie verlangt Heldentum und Opfer. Die Epoche der großen Erschütterungen, in die die Menschheit eingetreten ist, wird jedoch der Kreml-Oligarchie Schlag auf Schlag

versetzen, ihren totalitären Apparat sprengen, das Selbstvertrauen der arbeitenden Massen stärken und dadurch den Aufbau der sowjetischen Sektion der IV. Internationale erleichtern. Die Ereignisse werden für uns arbeiten, wenn wir in der Lage sind, sie zu unterstützen!

Die Kolonialvölker im Krieg Gerade durch die Schaffung enormer Schwierigkeiten und Gefahren für die imperialistischen Metropolen eröffnet

der Krieg umfangreiche Möglichkeiten für die unterdrückten Völker. Der Kanonendonner in Europa verkündet die herannahende Stunde ihrer Befreiung. Wenn für die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder ein Programm der friedlichen gesellschaftlichen Umgestaltung utopisch ist, dann ist für die Kolonien das Programm der friedlichen Befreiung doppelt utopisch.

Andererseits wurden vor unseren Augen die letzten halbfreien rückständigen Länder (Äthiopien, Albanien, China ...) versklavt. Der ganze gegenwärtige Krieg ist ein Krieg um Kolonien. Einige jagen hinter ihnen her; von anderen, die sich sie aufzugeben weigern, werden sie festgehalten. Keine Seite hat die geringste Absicht, sie freiwillig

freizugeben. Die zerfallenden Metropolen sind gezwungen, soviel wie möglich aus den Kolonien herauszuziehen

und ihnen dafür so wenig wie möglich zu geben. Nur der direkte und offene revolutionäre Kampf der versklavten Volker kann den Weg zu ihrer Befreiung öffnen. In den kolonialen und halbkolonialen Ländern ist der Kampf für einen unabhängigen Nationalstaat und damit konsequenterweise die Vaterlandsverteidigung im Prinzip unterschiedlich von dem der imperialistischen Länder. Das revolutionäre Proletariat der ganzen Welt unterstützt bedingungslos den Kampf Chinas oder Indiens für die nationale Unabhängigkeit, denn dieser Kampf bringt den imperialistischen Staaten mächtige Schläge bei, „indem er die rückständigen Völker aus dem Asiatismus, Partikularismus und der Fremdbestimmung ... reißt.“

Gleichzeitig weiß die IV. Internationale im voraus und warnt offen die rückständigen Nationen davor, dass ihre

verspäteten Nationalstaaten nicht länger mit einer unabhängigen demokratischen Entwicklung rechnen können. Umgeben vom niedergehenden Kapitalismus und in die imperialistischen Widersprüche verwickelt wird die

Unabhängigkeit eines rückständigen Staates unweigerlich halbfiktiv sein und sein politisches Regime wird unter

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg dem Einfluss der internationalen Klassenwidersprüche und des Drucks von außen unvermeidlich in eine Diktatur gegen das Volk verfallen – so wie das Regime der „Volks“partei in der Türkei, die Kuomintang in China; Ghandis

Regime wird morgen in Indien genauso aussehen. Vom Standpunkt des revolutionären Proletariats aus ist der Kampf für die nationale Unabhängigkeit der Kolonien nur ein Übergangsstadium auf dem Weg, der die rückständigen Länder in die internationale sozialistische Revolution führt.

Die IV. Internationale macht keine unmissverständlichen starren Unterschiede zwischen den rückständigen und den

fortgeschrittenen Ländern und den demokratischen und sozialistischen Revolutionen. Sie verbindet sie und ordnet sie dem weltweiten Kampf der Unterdrückten gegen die Unterdrücker unter. So wie die einzige wahre revolutionäre

Kraft unserer Ära das internationale Proletariat ist so ist das einzige wahre Programm zur Beseitigung aller gesellschaftlichen und nationalen Unterdrückung das Programm der Permanenten Revolution.

Die eindrucksvolle Lehre Chinas Die tragische Erfahrung Chinas ist eine eindrucksvolle Lehre für die unterdrückten Völker. Die Chinesische Revolution von 1925-27 hatte jede Chance zum Sieg. Ein geeintes und gewandeltes China würde heute eine

mächtige Bastion der Freiheit im Fernen Osten darstellen. Das ganze Schicksal Asiens und bis ZU einem gewissen Grad der ganzen Welt hätte anders aussehen können. Aber der Kreml, der kein Vertrauen in die chinesischen

Massen hatte und die Freundschaft der Generäle suchte, setzte sein ganzes Gewicht ein, um das chinesische Proletariat der Bourgeoisie unterzuordnen, und. er half damit Tschiang Kai-schek, die chinesische Revolution niederzuschlagen. Desillusioniert, gespalten und geschwächt war China offen für die japanische Invasion.

Wie jedes zum Untergang verdammte Regime ist die stalinistische Oligarchie bereits unfähig, aus den Lehren der Geschichte zu lernen. Zu Beginn des chinesisch-japanischen Krieges brachte der Kreml die Kommunistische Partei

wieder in Knechtschaft von Tschiang Kai-schek, indem er die revolutionäre Initiative des chinesischen Volkes im

Keim erstickte. Dieser Krieg, der sich jetzt seinem dritten Jahrestag nähert, hätte schon längst durch eine wahre Katastrophe für Japan beendet sein können, wenn China ihn als einen wirklichen Volkskrieg geführt hätte, der sich

auf eine Agrarrevolution gestützt und die japanische Soldateska mit seiner Glut in Brand gesetzt hätte. Aber die chinesische Bourgeoisie fürchtet ihre eigenen bewaffneten Massen mehr als die japanischen Räuber. Wenn Tschiang

Kai-schek, der unheilvolle Henker der chinesischen Revolution, durch die Umstände zum Krieg gezwungen wird, wird sein Programm wie vorher noch immer auf der Unterdrückung seiner eigenen Arbeiter und einem Kompromiss mit den Imperialisten beruhen.

Der Krieg in Ostasien wird immer mehr mit dem imperialistischen Weltkrieg verknüpft werden. Das chinesische Volk wird nur unter der Führung des jungen sich selbst aufopfernden Proletariats, in dem das unerlässliche

Selbstvertrauen durch die Wiedergeburt der Weltrevolution neu belebt wird, fähig sein, die Unabhängigkeit zu erreichen. Es wird eine feste Marschrichtung angeben. Der Gang der Ereignisse setzt den Ausbau unserer chinesischen Sektion zu einer mächtigen revolutionären Partei auf die Tagesordnung.

Die Aufgaben der Revolution in Indien In den allerersten Wochen des Krieges übten die indischen Massen ihren wachsenden Druck aus und zwangen die

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg opportunistischen „nationalen“ Führer, sich in ungewohnter Weise zu äußern. Aber wehe dem indischen Volk, wenn es Vertrauen in hochtrabende Worte setzt! Hinter der Maske der Losung nationaler Unabhängigkeit hat

Gandhi sich beeilt, seine Weigerung zu verkünden, Großbritannien während der jetzigen ernsten Krise Schwierigkeiten zu bereiten. Als ob die Unterdrückten irgendwo oder zu irgendeiner Zeit jemals in der Lage gewesen wären, sich selbst zu befreien, außer sie nützten die Schwierigkeiten ihrer Unterdrückung aus!

Ghandis „moralische“ Abkehr von der Gewalt spiegelt nur die Angst der indischen Bourgeoisie vor ihren eigenen

Massen wider. Sie haben gute Gründe für ihre schlimme Ahnung, dass der britische Imperialismus sie mit in den Zusammenbruch ziehen wird. London seinerseits warnt, dass es beim ersten Auftreten von Widersetzlichkeit „alle notwendigen Maßnahmen“ vornehmen wird – was natürlich die Luftwaffe, die an der Westfront nicht stark genug

vertreten ist, mit einschließt. Es gibt eine klar umrissene Arbeitsteilung zwischen der kolonialen Bourgeoisie und der britischen Regierung: Gandhi braucht die Drohungen Chamberlains und Churchills, um die revolutionäre Bewegung erfolgreicher zu paralysieren. Der Antagonismus zwischen den indischen Massen und der Bourgeoisie verspricht, in der nahen Zukunft schärfer zu werden, da der imperialistische Krieg für die indische Bourgeoisie immer mehr zu einem gigantischen

Handelsunternehmen wird. Indem er einen außerordentlich günstigen Markt für Rohstoffe erschließt, kann er möglicherweise die indische Industrie schnell ankurbeln. Wenn die völlige Zerstörung des britischen Empires die

Nabelschnur zerschneidet, die das indische Kapital mit der Londoner City verbindet, wurde sich die nationale Bourgeoisie schnell einen neuen Beschützer in der New Yorker Wall Street suchen. Die materiellen Interessen der Bourgeoisie bestimmen ihre Politik mit der Kraft der Gravitationsgesetze.

Solange die Befreiungsbewegung von der Ausbeuterklasse gesteuert wird, ist sie unfähig, aus der Sackgasse

herauszukommen. Einzig die Agrarrevolution unter dem Banner der nationalen Unabhängigkeit kann Indien zusammenschweißen. Eine vom Proletariat geführte Revolution wird sich nicht nur gegen die britische Herrschaft

richten sondern auch gegen die indischen Prinzen, die Konzessionen ans Ausland, die Oberschicht der nationalen Bourgeoisie und sowohl gegen die Führer der Nationalen Kongress-Partei als auch gegen die Führer der MoslemLiga. Es ist die dringende Aufgabe der IV. Internationale, eine feste und mächtige Sektion in Indien aufzubauen.

Die verräterische Politik der Klassenkollaboration, durch die der Kreml in den letzten fünf Jahren den

kapitalistischen Regierungen bei der Kriegsvorbereitung geholfen hat, wurde von der Bourgeoisie abrupt aufgegeben, sobald sie keinen pazifistischen Deckmantel mehr brauchte. Aber in den kolonialen und halbkolonialen Ländern – nicht nur in China und Indien, sondern auch in Lateinamerika – lähmt der Schwindel mit der Volksfront

weiterhin die Arbeitermassen, er macht sie zum Kanonenfutter für die „fortschrittliche“ Bourgeoisie und schafft auf diese Weise eine einheimische politische Basis für den Imperialismus.

Die Zukunft Lateinamerikas Das riesige Rüstungswachstum in den Vereinigten Staaten bereitet sich auf die gewaltsame Lösung der komplexen

Widerspruche in der westlichen Hemisphäre vor und sollte bald die Frage des Schicksals der lateinamerikanischen Länder offen aufwerfen. Das Intermezzo der „Guten Nachbar“-Politik geht seinem Ende entgegen. Roosevelt oder sein Nachfolger werden schnell ihre eiserne Faust aus dem Samthandschuh ziehen. Die Thesen der IV.

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg internationale erklären: Süd- und Mittelamerika können sich nur durch den Zusammenschluss aller ihrer Staaten zu einer mächtigen

Föderation aus der Rückständigkeit und Sklaverei reißen. Aber nicht die nachhinkende südamerikanische Bourgeoisie, ein total käufliche Agentur des ausländischen Imperialismus, sondern das junge südamerikanische Proletariat, der ausgewählte Führer der unterdrückten Massen wird auf den Plan gerufen, diese Aufgabe zu lösen. Die Losung für den Kampf gegen Gewalt und Intrigen des Weltimperialismus und gegen das blutige Werk der einheimischen Kompradorencliquen lautet daher: Die Vereinigten Sowjetstaaten Süd- und Mittelamerikas. Die vor sechs Jahren geschriebenen Zeilen haben jetzt eine besonders brennende Aktualität erlangt. Nur unter seiner eigenen revolutionären Führung ist das Proletariat der Kolonien und Halbkolonien fähig, eine unschlagbare Zusammenarbeit mit dem Proletariat der Metropolen und mit der Weltarbeiterklasse als Ganzes zu erreichen. Nur diese Zusammenarbeit kann die unterdrückten Völker durch den weltweiten Sturz des Imperialismus zur vollständigen und endgültigen Befreiung führen. Ein Sieg des internationalen Proletariats wird die

Kolonialländer von den langatmigen Wehen der kapitalistischen Entwicklung erlösen, indem er die Möglichkeit eröffnet, Hand in Hand mit dem Proletariat der fortgeschrittenen Länder zum Sozialismus zu gelangen. Die Perspektive der Permanenten Revolution bedeutet keinesfalls dass die rückständigen Länder das Signal der fortgeschrittenen abwarten müssen oder dass die Kolonialvölker geduldig darauf warten sollen, dass das Proletariat

der Metropolen sie befreit. Hilfe erhält derjenige, der sich selbst hilft. Die Arbeiter müssen den revolutionären Kampf in jedem kolonialen oder imperialistischen Land, in dem günstige Bedingungen geschaffen worden sind,

vorantreiben und dadurch ein Beispiel für die Arbeiter der anderen Länder geben. Nur Initiative und Aktivität, Entschlossenheit und Mut können die Losung „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ tatsächlich verwirklichen.

Die Verantwortung der verräterischen Führungen für den Krieg Der Sieg der spanischen Revolution hätte eine Ära der revolutionären Umstürze in ganz Europa eröffnen können und wäre so dem jetzigen Krieg zuvorgekommen. Aber jene heldenhafte Revolution, die in sich jede Möglichkeit

zum Sieg trug, wurde in der Umarmung der II. und III. Internationale mit aktiver Mitwirkung der Anarchisten erstickt. Das Weltproletariat wurde ärmer durch den Verlust einer weiteren großen Hoffnung und reicher an den Erfahrungen eines weiteren riesenhaften Betrugs.

Die mächtige Bewegung des französischen Proletariats im Juni 1936 offenbarte außerordentlich günstige Bedingungen um die revolutionäre Machtergreifung. Eine französische Sowjetrepublik hätte sofort die revolutionäre

Vorherrschaft in Europa gewonnen, revolutionäre Reaktionen in jedem Land hervorgerufen, die totalitären Regimes erschüttert und auf diese Weise die Menschheit vor dem jetzigen imperialistischen Gemetzel mit seinen unzähligen

Opfern gerettet. Aber die total verdorbene, feige und verräterische Politik Leon Blums und Jouhaux‘, die aktiv

durch die französische Sektion der Komintern unterstützt wurde, führte zum Zusammenbruch einer der meistversprechenden Bewegungen des letzten Jahrzehnts. Das Abwürgen der spanischen Revolution und die Sabotage der proletarischen Offensive in Frankreich – diese beiden tragischen Tatsachen stehen an der Schwelle des jetzigen Krieges. Die Bourgeoisie überzeugte sich, dass sie mit solchen „Arbeiterführern“ zu ihrer Verfügung alles, sogar eine neue Völkerschlacht anfangen konnte. Die

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg Führer der II. Internationale hinderten das Proletariat, die Bourgeoisie am Schluss des ersten imperialistischen Krieges zu stürzen. Die Führer der II. und III. Internationale halfen der Bourgeoisie einen zweiten imperialistischen Krieg zu entfesseln. Soll er ihr politisches Grab werden.

Die II. Internationale Der Krieg von 1914/18 spaltete die II. Internationale sofort in zwei durch Schützengräben getrennte Lager. Jede

sozialdemokratische Partei verteidigte ihr Vaterland. Erst sieben Jahre nach dem Krieg versöhnten sich die verräterischen kriegführenden Brüder und verkündeten gegenseitige Amnestie. Heute hat sich die Situation in der II. Internationale krass verändert – an der Oberfläche. Alle ihre Sektionen stehen ohne Ausnahme politisch auf einer Seite der militärischen Linien, im Lager der Alliierten: Einige, weil sie Parteien

in den demokratischen Ländern sind, andere, weil sie Emigranten aus kriegführenden oder neutralen Ländern sind. Die deutsche Sozialdemokratie, die während des ersten imperialistischen Krieges unter dem Banner der

Hohenzollern eine gemeine chauvinistische Politik verfolgte, ist heute eine Partei des „Defätismus“ im Dienste Frankreichs und Englands. Es wäre unverzeihlich zu glauben, dass diese hartgesottenen Lakaien Revolutionäre geworden sind. Es gibt eine einfache Erklärung. Das Deutschland Wilhelms II. bot den Reformisten genügend

Aussichten auf einträgliche Ämter in den parlamentarischen Gremien, Stadtverwaltungen, Gewerkschaften und andernorts. Die Verteidigung des Kaiserdeutschlands war die Verteidigung eines gutgefüllten Troges, in den die konservative Arbeiterbürokratie ihre Schnauzen grub. „Die Sozialdemokratie bleibt genauso lange patriotisch, wie

das politische Regime ihre Profite und Privilegien gewährleistet“, warnten unsere Thesen vor sechs Jahren. Die russischen Menschewiki und Narodniki, die sogar unter dem Zar Patrioten waren – als sie ihre eigenen Fraktionen in der Duma hatten, ihre eigenen Zeitungen, ihre eigenen Gewerkschaftsfunktionäre und auf weitere Fortschritte auf diesem Weg hofften – nehmen jetzt, wo sie all das verloren haben, eine defätistische Position zur UdSSR ein. Folgerichtig ist die jetzige „Einmütigkeit“ der II. Internationale durch die Tatsache erklärbar, dass alle ihre Sektionen hoffen, dass die Alliierten ihnen ihre Posten und Einnahmequellen in der Arbeiterbürokratie der demokratischen Länder retten und ihnen diese Posten und Einnahmequellen in den totalitären Staaten wiederbeschaffen werden. Die Sozialdemokratie geht über hilflose Wunschvorstellungen der Schirmherrschaft der

„demokratischen“ Bourgeoisie nicht hinaus. Diese politischen Invaliden sind völlig unfähig zu kämpfen, selbst wenn ihre eigenen Interessen betroffen sind. Das zeigte sich ganz klar in Skandinavien, das das sicherste Asyl der II. Internationale zu sein schien, und wo alle drei Länder jahrelang von der besonnenen, realistischen, reformistischen und pazifistischen Sozialdemokratie regiert

wurden. Als Sozialismus bezeichneten diese Herren die konservative königliche Demokratie, plus der Staatskirche plus der knauserigen sozialen Reformen, die zeitweilig durch begrenzte Militärausgaben möglich gemacht wurden.

Mit dem Völkerbund im Rücken und geschützt durch den Schild der „Neutralität“ rechneten die skandinavischen Regierungen auf generationslange ruhige und friedliche Entwicklung. Aber die imperialistischen Herren achteten nicht auf deren Kalkulationen. Daher waren sie gezwungen, den Schlägen des Schicksals auszuweichen. Zur

Invasion der UdSSR in Finnland stellten sich alle drei skandinavischen Regierungen neutral, soweit Finnland

betroffen war. In bezug auf Deutschlands Invasion in Dänemark und Norwegen erklärte sich Schweden als neutral, soweit die beiden Opfer der Aggression betroffen waren. Dänemark brachte es fertig, sich sogar in bezug auf sich

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg selbst neutral zu erklären. Nur Norwegen, durch die Gewehrmündungen seines Wächters England gezwungen, machte ein paar symbolische Gesten der Selbstverteidigung. Diese Helden sind völlig bereit auf Kosten des

demokratischen Vaterlandes zu leben, aber fühlen sich abgeneigt, dafür zu sterben. Der von ihnen nicht vorhergesehene Krieg hat in seinem Verlauf ihre Hoffnungen auf eine friedliche Evolution unter König und Gott über den Haufen geworfen. Das skandinavische Paradies, die letzte Zuflucht der Hoffnungen der II. Internationale, wurde in einen kleinen Sektor der allumfassenden imperialistischen Hölle umgewandelt. Die sozialdemokratischen Opportunisten kennen nur eine Politik – die der passiven Anpassung. Unter den Bedingungen des niedergehenden Kapitalismus bleibt ihnen nichts anderes als eine Position nach der anderen

aufzugeben, ihr bereits miserables Programm weiter zu beschneiden, ihre Forderungen zurückzuschrauben, auf alle Forderungen zu verzichten, sich ständig mehr und mehr zurückzuziehen, bis es keinen Platz mehr für den Rückzug gibt außer einem Rattenloch. Aber sogar da wird. sie die erbarmungslose Hand des Imperialismus am Schwanz herausziehen. So sieht eine kurze Geschichte der II. Internationale aus. Sie ist dabei, vom jetzigen Krieg zum zweiten Mal getötet zu werden, und, man muss annehmen, diesmal für immer.

Die III. Internationale Die Politik der degenerierten III. Internationale – eine Mischung von blankem Opportunismus und zügellosem.

Abenteurertum – übt einen Einfluss auf die Arbeiterklasse aus, der möglicherweise, demoralisierender ist als die Politik ihrer älteren Schwester, der II. Internationale. Die revolutionäre Partei baut ihre gesamte Politik auf dem Klassenbewusstsein

der

Arbeiter

auf;

die

Komintern

ist

mit

nichts

anderem

beschäftigt,

als

dieses

Klassenbewusstsein zu verderben und zu vergiften. Die offiziellen Propagandisten eines jeden der kriegführenden Lager entlarven manchmal ganz korrekt die Verbrechen des gegnerischen Lagers. Goebbels sagt einen großen Teil der Wahrheit über das gewaltsame Vorgehen der Briten in Indien. Die französische und englische Presse sagt eine Menge scharfsinniger Dinge über die Außenpolitik Hitlers und Stalins. Nichtsdestoweniger stellt diese einseitige Propaganda das schlimmste chauvinistische Gift dar. Halbwahrheiten sind die gefährlichste Art der Lügen.

In diese Kategorie gehört die gesamte jetzige Propaganda der Komintern. Nach fünf Jahren primitivster Kriecherei vor den Demokratien, in denen der ganze „Kommunismus“ zu der monotonen Anklage gegen faschistische

Aggressoren reduziert wurde, entdeckte die Komintern plötzlich im Herbst 1939 den kriminellen Imperialismus der

westlichen Demokratien. Ganze Abteilung links! Von da an kein einziges Wort der Anklage zur Vernichtung der Tschechoslowakei und Polens, zur Beseitigung Dänemarks und Norwegens und zu den schockierenden Bestialitäten

der Hitlerbande gegenüber dem polnischen und jüdischen Volk! Hitler wurde als ein friedliebender, ständig von den westlichen Imperialisten provozierter Vegetarier verstanden. In der Komintern-Presse bezog man sich auf die englisch–französische Allianz als den „imperialistischen Block gegen das deutsche Volk“. Goebbels selbst hätte sich das nicht besser ausdenken können! Die emigrierte deutsche Kommunistische Partei entbrannte in Flammen der Liebe zum Vaterland. Und da das deutsche Vaterland nicht aufgehört hatte, faschistisch zu sein, stellte sich heraus,

dass die deutsche Kommunistische Partei eine sozialfaschistische Position einnahm. Die Zeit war endgültig gekommen, dass Stalins Sozialfaschismustheorie Fleisch und Blut annahm.

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg Auf den ersten Blick schien das Verhalten der französischen und englischen Sektion in der Kommunistischen Internationale diametral entgegengesetzt zu sein. Im Gegensatz zu den Deutschen waren sie gezwungen, ihre eigene

Regierung anzugreifen. Aber dieser plötzliche Defätismus war nicht Internationalismus, sondern eine verzerrte Spielart des Patriotismus – diese Herren halten den Kreml, von dem ihr Wohlergehen abhängt, für ihr Vaterland. Viele der französischen Stalinisten verhielten sich fraglos mutig unter der Verfolgung. Aber der politische Inhalt dieses Mutes wurde besudelt durch ihre beschönigende Darstellung der räuberischen Politik des feindlichen Lagers. Was müssen die französischen Arbeiter von ihnen halten?

Revolutionäre Internationalisten wurden von der Reaktion immer als feindliche Agenten dargestellt. Die Komintern

schuf für ihre französische und englische Sektion eine Situation, die den eigentlichen Gründen für eine solche Anklage Vorschub leistete und so die Arbeiter verstärkt in das patriotische Lager trieb oder sie der Verwirrung und Passivität preisgab.

Die Politik des Kreml ist simpel: Er verkaufte Hitler die Komintern neben Öl und Mangan. Aber die kindische Ergebenheit, mit der sich diese Leute verkaufen lassen, zeugt unwiderlegbar von der internationalen Korruption der

Komintern. Weder Prinzipien noch Ehre noch Gewissen bleiben den Kreml–Agenten – sondern nur ein biegsames Rückgrat. Aber Leute mit einem biegsamen Rückgrat haben noch nie eine Revolution angeführt.

Stalins Freundschaft mit Hitler wird nicht ewig dauern, ja nicht einmal für irgendeinen Zeitraum. Bevor unser

Manifest die Massen erreicht, kann die Außenpolitik des Kreml schon einen neuen Schwenk machen. In diesem Falle würde sich auch der Charakter der Komintern-Propaganda ändern. Falls es den Kreml zu den Demokratien

zieht, wird die Komintern wieder einmal mal das Braune Buch der nationalsozialistischen Verbrechen aus den Regalen graben. Aber das heißt nicht, dass ihre Propaganda einen revolutionären Charakter annimmt. Mit

veränderten Etiketten wird sie so kriecherisch wie vorher bleiben. Revolutionäre Politik verlangt vor allem, dass den Massen die Wahrheit gesagt wird. Aber die Komintern lügt systematisch. Wir wenden uns an die Werktätigen der Welt und sagen: Glaubt den Lügnern nicht!

Die Sozialdemokraten und die Stalinisten in den Kolonien Parteien, die an. die Ausbeuter gebunden und an Privilegien interessiert sind, sind von Grund auf unfähig, eine ehrliche Politik in bezug auf die am meisten ausgebeuteten Schichten der Werktätigen und die unterdrückten Völker

zu betreiben. Die Physiognomie der II. und III. Internationale zeigt sich daher mit besonderer Klarheit an ihrer Haltung gegenüber den Kolonien.

In ihrer Rolle als Anwalt der Sklavenhalter und als ein Teilhaber an den Sklavereiprofiten hat die II. Internationale keine eigenen Sektionen in den Kolonien, wenn wir gelegentliche Gruppen Kolonialbeamter, vornehmlich

französische Freimaurer und „linke“ Karrieristen im allgemeinen, die auf dem Rücken der eingeborenen Bevölkerung sitzen, außer acht lassen. Indem die II. Internationale günstigerweise die unpatriotische Vorstellung,

die Kolonialbevölkerung gegen das „demokratische Vaterland“ aufzuwiegeln, aufgegeben hat, hat sie für sich das

Vorrecht gewonnen, die Bourgeoisie mit Ministern für die Kolonien, d.h. mit Sklaventreibern (Sidney Webb, Maurius Moutet, und andere) zu versorgen. Innerhalb einer kurzen Zeitspanne hat sich die III. Internationale die mit einem mutigen revolutionären Appell an

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg alle unterdrückten Völker begann, ebenfalls völlig in der Kolonialfrage prostituiert. Gar nicht so viele Jahre zuvor, als Moskau eine günstige Gelegenheit für eine Allianz mit den imperialistischen Demokratien sah, trieb die Komintern die Losungen der nationalen Befreiung nicht nur für Albanien und Abessinien, sondern auch für Österreich voran, Aber bei den Kolonien Britanniens und Frankreichs beschränkte sie sich darauf, Wünsche. nach

„vernünftigen“ Reformen zu äußern. In dieser Zeit verteidigte die Komintern die Inder nicht gegen Großbritannien. sondern gegen mögliche Angriffe durch Japan und Tunis gegen die Klauen Mussolinis. Jetzt hat sich die Situation abrupt geändert. Vollständige Unabhängigkeit für Indien, Ägypten, Algerien! – Dimitroff wird nicht weniger

akzeptieren. Araber und Neger haben ihren besten Freund wieder einmal in Stalin gefunden, ohne natürlich

Mussolini und Hitler mit zuzählen. Die deutsche Sektion der Komintern verteidigt mit der für diese Parasitenbande charakteristischen Unverschämtheit Polen und die Tschechoslowakei gegen die Machenschaften des britischen

Imperialismus. Diese Leute sind zu allem fähig und bereit! Mit einem neuen Schwenk in der Orientierung des Kreml hin zu den westlichen Demokratien werden sie wieder London und Paris höflichst ersuchen, ihren Kolonien liberale Reformen zu gewähren.

Im Gegensatz zur II. Internationale übt die Komintern dank ihrer großen Tradition einen unbestreitbaren Einfluss in

den Kolonien aus. Aber ihre gesellschaftliche Basis hat sich parallel zu ihrer politischen Entwicklung geändert. Gegenwärtig stützt sich die Komintern in Ländern mit Kolonialcharakter auf diejenige Schicht, die die traditionelle Basis der II. Internationale in den Metropolen ist. Die Krumen seiner Superprofite ermöglichten es dem

Imperialismus, den Anschein einer einheimischen Arbeiteraristokratie in den Kolonial– und Halbkolonialländern zu schaffen. Unbedeutend im Vergleich zu ihrem Prototyp in den Metropolen hebt sie sich jedoch deutlich vom Hintergrund der allgemeinen Armut ab und hält die Hand fest auf ihre Privilegien. Die Arbeiterbürokratie und

-aristokratie der kolonialen und halbkolonialen Länder liefert zusammen mit den Staatsbeamten den „Freunden“ des Kreml besonders kriecherische Rekruten. In Lateinamerika ist einer der widerlichsten Repräsentanten dieses Typs der mexikanische Anwalt Lombardo Toledano, dessen vertrauliche Dienste der Kreml damit belohnte, dass er ihn auf den dekorativen Posten des Vorsitzenden des Lateinamerikanischen Gewerkschaftsbundes hob. Indem der Krieg die Fragen des Klassenkampfes offen aufwirft, schafft er für diese Betrüger und Wetterfahnen eine zunehmend schwierige Position, die wahre Bolschewiken nützen müssen, um die Komintern für immer aus den Kolonialländern zu fegen.

Zentrismus und Anarchismus Indem der Krieg alles Bestehende auf die Probe stellt und alles Verrottete beiseite wirft, stellt er eine tödliche

Gefahr für die überlebten Internationalen dar, Ein beträchtlicher Teil der Kominternbürokratie wird sich, besonders im Fall von Umschwüngen in der Sowjetunion, sicherlich seinem eigenen imperialistischen Vaterland zuwenden. Die Arbeiter dagegen werden sich mehr und mehr nach links bewegen. Unter solchen Bedingungen sind Spaltungen und Brüche unvermeidlich. Eine Anzahl von Symptomen weist auch auf die Möglichkeit hin, dass der „linke“

Flügel der II. Internationale sich losreißen wird. Zentristische Gruppierungen verschiedenen Ursprungs werden verschmelzen, zerbrechen, neue „Fronten“, „Lager“ etc. bilden. Unsere Epoche wird jedoch enthüllen, dass für sie

der Zentrismus nicht tragbar ist. Die pathetische und tragische Rolle, die die POUM in der spanischen Revolution spielte, wird im Gedächtnis des fortgeschrittenen Proletariats immer als schreckliche Erinnerung bleiben.

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg Aber die Geschichte liebt Wiederholungen. Die Möglichkeit erneuter Versuche, eine internationale Organisation nach dem Vorbild der II½. Internationale, oder diesmal nach dem der III¼. Internatonale aufzubauen, ist nicht

ausgeschlossen. Derartige Anfänge verdienen nur insofern Aufmerksamkeit, als sie Reflexionen weitaus schwerwiegenderer Prozesse sind, die in der Arbeiterklasse stattfinden. Aber man kann mit Sicherheit im voraus

feststellen, dass die zentristischen „Fronten“, „Lager“ und „Internatonalen“ die weder theoretische Grundlagen, noch eine revolutionäre Tradition, noch ein fertiges Programm haben, nur von kurzlebiger Natur sind. Wir werden ihnen mit gnadenlosen Kritik an ihrer Unentschlossenheit und Halbherzigkeit helfen.

Diese Skizzierung des Bankrotts der alten Organisationen der Arbeiterklasse wäre unvollständig, wenn wir den

Anarchismus nicht erwähnen würden. Sein Niedergang stellt das unstrittigste Phänomen unserer Zeit dar. Sogar vor dem ersten imperialistischen Kriege gelang es den französischen Anarcho–Syndikalisten, zu den schlimmsten Opportunisten und den unmittelbaren Dienern der Bourgeoisie zu werden. Im letzten Krieg zeigten sich die meisten der internationalen Anarchistenführer als Patrioten. In der Hitze des Bürgerkrieges in Spanien übernahmen die

Anarchisten Posten als Minister der Bourgeoisie. Die anarchistischen Phrasendrescher lehnten den Staat solange ab, wie er sie nicht braucht. In der Stunde der Gefahr werden sie wie die Sozialdemokraten zu Agenten der Kapitalistenklasse.

Die Anarchisten kamen in den jetzigen Krieg ohne Programm, ohne einzige Idee und mit einer Fahne, die beschmutzt war von ihrem Verrat am spanischen Proletariat. Heute sind sie unfähig, irgend etwas in die Reihen der

Arbeiter zu tragen, außer patriotische Demoralisierung gewürzt mit humanitärem Gewimmer. Im Suchen einer Annäherung an die anarchistischen Arbeiter, die wirklich bereit sind, für die Interessen ihrer Klasse zu kämpfen, werden wir gleichzeitig fordern, dass sie einen totalen Bruch mit jenen Führern vollziehen, die sowohl im Krieg als auch in der Revolution der Bourgeoisie als Botengänger dienen.

Die Gewerkschaften und der Krieg Während die Magnaten des Monopolkapitalismus über den offiziellen Organen der Staatsmacht stehen und sie von hoch oben kontrollieren, trippeln die opportunistischen Gewerkschaftsführer um den Fußschemel der Staatsmacht und schaffen unter den arbeitenden Massen Stützen für sie. Es ist unmöglich, diese lausige Arbeit zu verrichten,

solange die Arbeiterdemokratie innerhalb der Gewerkschaften aufrechterhalten wird. Das Regime in den Gewerkschaften, das dem Vorbild des Regimes des bürgerlichen Staates folgt, wird immer autoritärer. In Kriegszeiten wird die Gewerkschaftsbürokratie innerhalb der Arbeiterklasse zweifellos zur Militärpolizei des Armeegeneralstabes. Aber kein Dienstleiter wird sie retten. Der Krieg bringt den jetzigen reformistischen Gewerkschaften Tod und Verderben. Jene Gewerkschafter, die in der Blüte ihres Lebens stehen, werden für das Blutbad aufgeboten. An ihre Stelle treten Jungen, Frauen und alte Männer, d.h. jene, die am wenigsten zum Widerstand fähig sind. Alle Länder

werden am Ende des Krieges dermaßen ruiniert sein, dass der Lebensstandard für die Arbeiter um hundert Jahre

zurückgeschraubt sein wird. Reformistische Gewerkschaften sind nur unter dem Regime der bürgerlichen Demokratie möglich. Aber das erste, was im Krieg niedergeworfen wird, wird die durch und durch verfaulte Demokratie sein. In ihrem endgültigen Zusammenbruch wird sie all diejenigen Arbeiterorganisationen mit sich

ziehen, die sie unterstützt haben. Es wird kein Platz für reformistische Gewerkschaften sein. Die kapitalistische

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg Reaktion wird sie unbarmherzig zerstören. Es ist notwendig, die Arbeiter sofort und für jeden laut genug zu warnen. Eine neue Epoche verlangt neue Methoden. Neue Methoden verlangen neue Führer. Es ist nur auf eine Art möglich, die Gewerkschaften zu retten: Indem man sie zu Kampforganisationen macht, die sich den Sieg über die

kapitalistische Anarchie und das imperialistische Banditentum zum Ziel setzen. Die Gewerkschaften werden eine überragende Rolle beim Aufbau der sozialistischen Wirtschaft spielen, aber die Vorbedingung dafür ist der Sturz der Kapitalistenklasse und die Nationalisierung der Produktionsmittel. Die Gewerkschaften können ihrer

Verschüttung unter den Ruinen des Krieges nur entrinnen, wenn sie den Weg der sozialistischen Revolution nehmen.

Die IV. Internationale Die proletarische Vorhut ist der unversöhnliche Feind des imperialistischen Krieges. Aber sie hat keine Angst vor

diesem Krieg. Sie akzeptiert die vom Klassenfeind gewählte Arena. Sie betritt diese Arena mit ihren wehenden Fahnen. Die IV. Internationale ist die einzige Organisation, die den allgemeinen Gang der Ereignisse korrekt voraussagte, die die Unvermeidlichkeit einer neuen imperialistischen Katastrophe voraussah, die den pazifistischen Schwindel der bürgerlichen Demokraten und kleinbürgerlichen Abenteurer der stalinistischen Schule entlarvte, die gegen die Politik der Klassenkollaboration namens „Volksfront“ kämpfte, die die verräterische Rolle der Komintern und Anarchisten in Spanien anprangerte, die unversöhnlich die zentristischen Illusionen der POUM kritisierte, die fortfuhr, ihre Kader unaufhörlich im Geist des revolutionären Klassenkampfes zu stählen. Unsere Politik im Krieg ist nur eine konzentrierte Weiterführung unserer Politik im Frieden.

Die IV. Internationale stützt ihr Programm auf die granitenen theoretischen Grundlagen des Marxismus. Sie weist den verachtenswerten Eklektizismus zurück, der jetzt in den Reihen der offiziellen Arbeiterbürokratie der

verschiedenen Lager herrscht und der nur allzu oft als Deckmantel für die Kapitulation vor der bürgerlichen Demokratie dient. Unser Programm ist in einer Serie jedem zugänglicher Dokumente formuliert. Sein Kernpunkt kann in zwei Worten zusammengeführt werden: Proletarische Diktatur!

Unser auf den Boden des Bolschewismus gestütztes Programm Die IV. Internationale steht vollständig und aufrichtig auf der Grundlage der revolutionären Tradition des Bolschewismus und seiner Organisationsmethoden. Lasst die kleinbürgerlichen Radikalen gegen den Zentralismus jammern. Ein Arbeiter, der einmal an einem Streik beteiligt war, weiß, dass ohne Disziplin und straffe Führung

kein Kampf möglich ist. Unsere ganze Epoche ist durchdrungen vom Geist des Zentralismus. Der Monopolkapitalismus

hat

die

wirtschaftliche

Zentralisierung

an

ihre

äußerste

Grenze

gebracht.

Der

Staatszentralismus in .der Maske des Faschismus hat einen totalitären Charakter angenommen. Die Demokratien versuchen mehr und. mehr diesem Vorbild nachzueifern. Die Gewerkschaftsbürokratie verteidigt gnadenlos ihre mächtige Maschinerie. Die II. und die III. Internationale benutzen schamlos den Staatsapparat in ihrem Kampf

gegen die Revolution. Unter diesen Bedingungen besteht die grundlegende Garantie des Erfolges darin, dem

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg Zentralismus der Reaktion den revolutionären Zentralismus entgegenzusetzen. Es is unerlässlich, eine Organisation der proletarischen Vorhut zu haben, die durch eiserne Disziplin zusammengeschweißt ist, eine ehrliche Auswahl

gestählter Revolutionäre, die zur Selbstaufopferung bereit und. von einem unbezwingbaren Willen zum Sieg beseelt sind. Die Offensive systematisch und sorgfältig vorzubereiten und ohne Zögern die ganze Kraft der Klasse auf das

Schlachtfeld werfen, wenn die Stunde der Entscheidung schlägt – nur eine zentralisierte Partei, die selbst nicht zögert, ist fähig, das die Arbeiter zu lehren. Nichtssagende Skeptiker erfreuen sich daran, die Degeneration des bolschewistischen Zentralismus zum Bürokratismus anzuführen. Als wenn der ganze Verlauf der Geschichte von der Struktur einer Partei abhinge. Es ist eine Tatsache, dass das Schicksal einer Partei vom Verlauf des Klassenkampfs abhängt. Auf jeden Fall war die

bolschewistische Partei die einzige Partei, die durch Taten ihre Fähigkeit bewies, die proletarische Revolution

durchzuführen. Genauso eine Partei braucht jetzt das internationale Proletariat. Wenn das bürgerliche Regime straffrei aus dem Krieg hervorgeht, wird die revolutionäre Partei eine Degeneration erfahren. Wenn die proletarische Revolution siegt, werden die Bedingungen, die eine Degeneration hervorrufen, verschwinden.

Unter den Bedingungen der triumphierenden Reaktion, der Massendesillusionierung und Massenmüdigkeit, in einer

von der üblen Zersetzung der traditionellen Organisationen der Arbeiterklasse vergifteten politischen Atmosphäre, inmitten einem Berg von Schwierigkeiten und Hindernissen, schreitet die Entwicklung der IV. Internationale notwendigerweise langsam voran. Isolierte und auf den ersten Blick viel umfassendere und vielversprechendere Versuche, den linken Flügel zu einen, wurden mehr als einmal von den Zentristen unternommen, die geringschätzig auf unsere Bemühungen herabsahen. Alle diese überheblichen Versuche zerfielen jedoch zu Staub, ehe die Massen

auch nur Gelegenheit hatten, sich ihre Namen zu merken. Nur die IV. Internationale schwimmt mit Hartnäckigkeit, Ausdauer und wachsendem Erfolg weiter geben den Strom.

Wir haben der Probe standgehalten! Das, was eine wahre revolutionäre Organisation charakterisiert, ist vor allem die Ernsthaftigkeit, mit der sie ihre

politische Linie bei jeder neuen Wende der Ereignisse ausarbeitet und überprüft. Der Zentralismus wird fruchtbar durch die Demokratie. Im Feuer des Krieges diskutieren unsere Sektionen leidenschaftlich alle Fragen der proletarischen Politik, sie prüfen Positionen und erteilen dabei jenen wankelmütigen Elementen eine Abfuhr die

sich uns nur wegen ihrer Opposition zur II. und III. Internationale angeschlossen haben. Die Trennung von unzuverlässigen Mitläufern stell die unvermeidbaren Unkosten bei der Bildung einer wahren revolutionären Partei dar. Die überwältigende Mehrheit unserer Genossen in verschiedenen Ländern hat der ersten Prüfung durch den Krieg standgehalten. Diese Tatsache ist von unschätzbarer Bedeutung für die Zukunft der IV. Internationale. Jedes

einfache Mitglied unserer Organisation ist nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, sich in Zukunft als ein Offizier der revolutionären Armee zu betrachten, die im Feuer der Ereignisse geschaffen werden wird. Der Eintritt der Massen in die revolutionäre Arena wird sofort die Bedeutungslosigkeit der opportunistischen, pazifistischen und

zentristischen Programme entlarven. Ein einzelner wahrer Revolutionär in einer Fabrik, einer Mine, einer

Gewerkschaft, einem Regiment, auf einem Kriegsschiff, ist unendlich mehr wert als Hunderte von kleinbürgerlichen Pseudorevolutionären, die in ihrem eigenen Saft schmoren.

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg Den Politikern des Großbürgertums gelingt es weitaus besser, sich an der Rolle der IV. Internationale zu orientieren, als unseren kleinbürgerlichen Pedanten. Am Vorabend des Abbruchs der diplomatischen Beziehungen

waren sich der französische Botschafter Coulondre und Hitler, die sich während ihres letzten Interviews gegenseitig mit den Konsequenzen des Krieges zu erschrecken versuchten, darüber einig, dass der „einzige wirkliche Sieger“ die IV. Internationale sein würde. Seit Beginn der Feindseligkeiten gegen Polen brachten die größeren Zeitungen in Frankreich, Dänemark und anderen Ländern Meldungen, die besagten, dass in den Arbeitervierteln in Berlin Plakate

an den Wänden erschienen mit der Aufschrift: „Nieder mit Stalin! Lang lebe Trotzki!“ Das bedeutet: „Nieder mit der III. Internationale! Lang lebe die IV. Internationale!“ Als von den entschlosseneren Arbeitern und Studenten Prags am Jahrestag der nationalen Unabhängigkeit eine Demonstration organisiert wurde, veröffentlichte der

„Protektor“ Baron Neurath eine offizielle Erklärung, die die tschechischen „Trotzkisten“ für diese Demonstration

verantwortlich machte. Die Leserbriefe aus Prag, die in der von Benes, dem ehemaligen Präsidenten der tschechoslowakischen Republik, herausgegebenen Zeitung erscheinen, bestätigen die Tatsache, dass die tschechischen Arbeiter „Trotzkisten“ werden. All das sind bis jetzt nur Symptome. Aber sie zeigen

unmissverständlich die Richtung der Entwicklung an. Die neue Arbeitergeneration, die der Krieg auf den Weg der Revolution zwingen wird, wird sich hinter unserer Fahne sammeln.

Die proletarische Revolution Die Grundbedingungen für den Sieg der proletarischen Revolution sind durch historische Erfahrung aufgestellt und theoretisch geklärt worden: 1. die ausweglose Situation des bürgerlichen Staaten und die daraus resultierende Verwirrung der herrschenden Klasse; 2. die heftige Unzufriedenheit und die Anstrengung in Richtung

entscheidender Veränderung in den Reihen des Kleinbürgertums, ohne dessen Unterstützung die Bourgeoisie sich nicht halten kann; 3. das bewusste Erkennen der unerträglichen Situation und die Bereitschaft zu revolutionären

Handlungen in den Reihen des Proletariats; 4. ein klares Programm und eine feste Führung der proletarischen Avantgarde – das sind die vier Bedingungen für den Sieg der proletarischen Revolution. Der Hauptgrund für das Scheitern vieler Revolutionen wurzelt in der Tatsache, dass diese vier Bedingungen kaum den notwendigen Reifegrad zu ein und derselben Zeit erreichen. In der Geschichte war nicht selten der Krieg die Mutter der

Revolution, eben weil er veraltete Regime bis zu ihren Grundfesten erschüttert, die herrschende Klasse schwächt und das Anwachsen der revolutionären Empörung innerhalb der unterdrückten Klassen beschleunigt. Die Verwirrung der Bourgeoisie, die Beunruhigung und Unzufriedenheit der Volksmassen sind nicht nur in den kriegführenden, sondern auch in den neutralen Ländern bereits stark; diese Phänomene werden sich mit jedem

weiteren Monat des Krieges verstärken. Es ist wahr, in den letzten zwanzig Jahren erlitt das Proletariat eine Niederlage nach der anderen, jede schwerwiegender als die vorhergehende, verlor es seine Illusionen in seine alten Parteien und wurde in einer depressiven Stimmung mit dem Krieg konfrontiert. Man sollte jedoch die Stabilität und Beständigkeit solcher Stimmungen nicht überschätzen. Ereignisse verursachten sie, Ereignisse werden sie zerstreuen. Sowohl der Krieg als auch die Revolution werden in erster Linie von der jüngeren Generation gemacht. Millionen Jugendliche können nicht in die Industrie, beginnen ihr Leben als Arbeitslose und bleiben daher außerhalb des politischen Lebens. Sie finden heute ihren Platz oder werden ihn bald finden: Der Staat organisiert sie in den

Regimentern und eröffnet ihnen eben deshalb die Möglichkeit zu ihrer revolutionären Einigung. Zweifelsohne wird

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg der Krieg auch die ältere Generation aus ihrer Apathie aufrütteln.

Das Problem der Führung Es bleibt die Frage der Führung, Wird die Revolution nicht auch diesmal betrogen werden, insofern als zwei Internationalen im Dienste des Imperialismus stehen, wohingegen die wahren revolutionären Elemente eine kleine

Minderheit darstellen? Mit anderen Worten: werden wir Erfolg haben, mit der rechtzeitigen Vorbereitung einer

Partei, die fähig ist, die proletarische Revolution zu führen? Um diese Frage korrekt zu beantworten, müssen wir sie korrekt stellen. Natürlich, dieser oder jener Aufstand mag zu einem Ende kommen, und er wird ganz sicher in einer Niederlage enden, an der die Unreife der revolutionären Führung schuld sein wird. Aber es ist nicht die Frage eines einzelnen Aufstands. Es ist die Frage einer ganzen revolutionären Epoche. Für die kapitalistische Welt gibt es keinen Ausweg, es sei denn, man betrachtet einen hinausgezögerten Todeskampf als einen solchen. Es ist notwendig, sich auf lange Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, des Krieges, der

Aufstände, kurzer Atempausen neuer Kriege und neuer Aufstände vorzubereiten. Eine junge revolutionäre Partei muss sich auf diese Perspektive gründen. Die Geschichte wird ihr genug Gelegenheiten und Möglichkeiten liefern,

sich zu prüfen, Erfahrungen zu sammeln und zu reifen. Je rascher sich die Reihen der Vorhut zusammenschließen, desto mehr wird die Epoche der blutigen Erschütterungen verkürzt, desto weniger Zerstörung wird unser Planet erleiden. Aber das große historische Problem wird auf keinen Fall gelöst werden, bevor nicht eine revolutionäre

Partei an der Spitze des Proletariats steht. Die Frage des Tempos und der Zeitintervalle ist von enormer Bedeutung; aber sie ändert weder die allgemeine historische Perspektive noch die Richtung unserer Politik. Die

Schlussfolgerung ist einfach: Es ist notwendig, die Arbeit der Erziehung und Organisierung der proletarischen Avantgarde mit zehnfacher Energie weiterzutreiben. Genau darin liegt die Aufgabe der IV. Internationale.

Der größte Fehler wird von denjenigen begangen, die bei dem Versuch, pessimistische Schlussfolgerungen zu rechtfertigen, einfach auf die traurigen Konsequenzen des letzten Krieges verweisen. In erster Linie schenkte der

letzte Krieg der Oktoberrevolution das Leben, von deren Lehren die Arteiterbewegung der ganzen Welt lebt. In

zweiter Linie unterscheiden sich die Bedingungen des jetzigen Krieges gründlich von den Bedingungen von 1914. Die wirtschaftliche Stellung der imperialistischen Staaten, einschließlich der Vereinigten Staaten, ist heute unendlich

schlechter, und die zerstörerische Kraft des Krieges ist unendlich größer, als es vor einem Vierteljahrhundert der Fall war. Es besteht daher ein ausreichender Grund, diesmal eine viel schnellere und viel entschiedenere Reaktion auf Seiten der Arbeiter und der Armee zu erwarten.

Die Erfahrung des ersten Krieges ging nicht ohne einen tiefen Eindruck auf die Massen vorüber, Die II. Internationale zog ihre Stärke aus den noch fast unberührten demokratischen und pazifistischen Illusionen der

Massen. Die Arbeiter hofften ernsthaft, dass der Krieg von 1914 der letzte Krieg sein würde. Die Soldaten ließen

es zu, getötet zu werden, um ihren Kindern ein neuerliches Gemetzel zu ersparen. Nur dank dieser Hoffnung hatten die Menschen dem Krieg für mehr als vier Jahre standhalten können. Heute ist fast nichts mehr von den

demokratischen und pazifistischen Illusionen übrig. Die Völker erdulden den jetzigen Krieg ohne länger an ihn zu glauben, ohne mehr als neue Ketten von ihm zu erwarten. Das betrifft auch die totalitären Staaten. Die ältere Generation der Arbeiter, die auf ihrem Rücken die Last des ersten imperialistischen Krieges trug und die seine

Lektionen nicht vergessen hat, ist noch lange nicht aus der Arena entfernt. In den Ohren der mittleren Generation,

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg die während der Kriegszeit zur Schule ging, klingen noch immer die trügerischen Patriotismus- und Pazifismusparolen. Die unschätzbare politische Erfahrung dieser Schichten, die jetzt vom Gewicht der Kriegsmaschinerie zerquetscht werden, wird. mit voller Macht zu Tage treten, wenn der Krieg die werktätigen Massen zwingt, sich offen gegen ihre Regierungen zu stellen.

Sozialismus oder Sklaverei Unsere Thesen Der Krieg und die IV. Internationale (1934) erklären: „Die Entlarvung des durch und durch reaktionären, verfaulten und räuberischen Charakters des momentanen Kapitalismus, die Zerstörung von Demokratie, Reformismus und Pazifismus, das dringende und brennende Bedürfnis des Proletariats, einen sicheren

Weg aus der drohenden Katastrophe zu finden, setzt mit erneuter Macht die internationale Revolution auf die Tagesordnung.“

Es handelt sich heute nicht länger um die einfache Garantie einer schnelleren und gesünderen Entwicklung des Wirtschaftslebens, wie es im 19. Jahrhundert der Fall war: Heute geht es um die Rettung der Menschheit vor dem

Selbstmord. Es ist genau die Schärfe des historischen Problems, die den opportunistischen Parteien den Boden unter

den Füssen entzieht. Die Partei der Revolution dagegen findet eine Quelle von unerschöpflicher Kraft in dem Bewusstsein der Tatsache, dass sie eine unerbittliche historische Notwendigkeit in die Tat umsetzt. Überdies ist es unzulässig, die gegenwärtige revolutionäre Avantgarde auf eine Ebene zu stellen mit jenen Internationalisten, die ihre Stimmen beim Ausbruch des letzten Krieges erhoben. Zu der Zeit stellte nur die

russische Partei der Bolschewiki eine revolutionäre Kraft dar. Aber sogar der überwältigenden Mehrheit dieser Partei, mit Ausnahme einer kleinen emigrierten Gruppe um Lenin, gelang es nicht, sich aus ihrer nationalen Beschränktheit zu lösen und sich zur Perspektive der Weltrevolution zu erheben.

Die IV. Internationale hat zahlenmäßig und besonders in der Vorbereitung unbegrenzte Vorteile gegenüber ihren Vorgängern zu Beginn des letzten Krieges. Die IV. Internationale ist der direkte Erbe des in Blüte stehenden

Bolschewismus. Die IV. Internationale hat die Tradition der Oktoberrevolution in sich aufgenommen und hat die Erfahrung der ergiebigsten historischen Periode zwischen den beiden imperialistischen Kriegen zur Theorie umgewandelt. Sie hat Vertrauen in sich und in ihre Zukunft. Rufen wir uns noch einmal ins Gedächtnis, dass der Krieg die politische Entwicklung enorm beschleunigt. Jene großen Aufgaben, die gestern noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte vorauszuliegen schienen, können sich bereits in den nächsten zwei oder drei Jahren und noch früher drohend vor uns erheben. Programme, die auf den üblichen

gewohnten Bedingungen der Friedenszeit basieren, werden unvermeidlich in der Luft hängen. Auf der anderen Seite wird das Programm von Übergangsforderungen der IV. Internationale, das kurzsichtigen Politikern so „unwirklich“ erschien, im Prozess der Mobilisierung der Massen für die Ergreifung der Staatsmacht seine volle Bedeutung enthüllen.

Am Beginn der neuen Revolution werden sich Opportunisten wieder einmal bemühen, wie sie es vor einem

Vierteljahrhundert taten, die Arbeiter mit dem Gedanken zu erfüllen, dass es unmöglich ist, den Sozialismus auf Ruinen und Verwüstung auf zubauen. Als ob dem Proletariat eine Wahl offenstände! Es ist notwendig, auf den

Grundlagen zu bauen, die die Geschichte schafft. Die russische Revolution zeigte, dass eine Arbeiterregierung sogar

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg ein sehr rückständiges Land aus der tiefsten Armut herausholen kann. Umso großartiger sind die Wundertaten, die vor dem Proletariat der fortgeschrittenen Länder liegen. Der Krieg zerstört Gebäude, Eisenbahnlinien, Fabriken. Minen; aber er kann nicht die Technologie, die Wissenschaft, die Fertigkeiten zerstören. Nachdem das Proletariat seinen eigenen Staat geschaffen, seine eigenen Reihen korrekt organisiert, von dem bürgerlichen Regime

hinterlassenen qualifizierte Kräfte in die Arbeit einbezogen und die Produktion nach einem einheitlichen Plan organisiert hat, wird es nicht nur innerhalb weniger Jahre alles. vom Krieg zerstörte wieder aufbauen, sondern auch Bedingungen für das großartigste Aufblühen der Kultur auf der Basis der Solidarität schaffen.

Was tun? Dieses Manifest wird von der Notkonferenz der IV. Internationale in einem Augenblick angenommen, in dem die deutschen

Armeen

nach

der

Überwältigung

Hollands

und

Belgiens

und

dem

Niederschlagen

des

Anfangswiderstandes der alliierten Truppen wie eine Feuerwand auf Paris und den Kanal zurollen. In Berlin beeilt

man sich bereits, den Sieg zu feiern. Im Lager der Alliierten herrscht eine Alarmstimmung, die einer Panik zustrebt. Wir haben hier weder die Möglichkeit noch das Bedürfnis, uns in strategische Spekulationen über die nächsten Stufen des Krieges zu verwickeln. Hitlers gewaltige Übermacht ist dabei, dem politischen Erscheinungsbild der ganzen Welt ihren Stempel aufzudrücken. „Aber ist bei den jetzigen Bedingungen die Arbeiterklasse nicht verpflichtet, den Demokratien in ihrem Kampf gegen den deutschen Faschismus zu helfen?“ So wird von breiten kleinbürgerlichen Kreisen gefragt, für die das

Proletariat immer nur ein Hilfswerkzeug der einen oder anderen Fraktion der Bourgeoisie bleibt. Wir lehnen diese Politik mit Empörung ab. Natürlich besteht ein Unterschied zwischen den politischen Regimes in der bürgerlichen Gesellschaft, genauso wie es einen Unterschied im Komfort zwischen den verschiedenen Wagen eines Zuges gibt.

Aber wenn der ganze Zug dabei ist, in einen Abgrund zu stürzen, verschwindet der Unterschied zwischen der

niedergehenden Demokratie und dem mörderischen Faschismus angesichts des Zusammenbruchs des gesamten kapitalistischen Systems. Durch seine Siege und Bestialitäten provoziert Hitler natürlich den scharfen Hass der Arbeiter in der ganzen Welt. Aber zwischen diesem berechtigten Hass der Arbeiter einerseits und dem Gewähren von Hilfe an seine schwächeren, aber nicht weniger reaktionären Feinde andererseits, besteht eine unüberbrückbare Kluft. Der Sieg der

Imperialisten Großbritanniens und Frankreichs wäre nicht weniger fürchterlich für das endgültige Schicksal der

Menschheit als der Sieg von Hitler und Mussolini. Die bürgerliche Demokratie kann nicht gerettet werden. Indem die Arbeiter ihrer Bourgeoisie gegen den ausländischen Faschismus helfen, würden sie den Sieg des Faschismus in

ihrem eigenen Land nur beschleunigen. Die von der Geschichte gestellte Aufgabe besteht nicht darin, einen Teil des imperialistischen Systems gegen einen anderen zu unterstützen, sondern darin, dem System als Ganzem ein Ende zu setzen

Die Arbeiter müssen militärische Techniken lernen Die Militarisierung der Massen wird jeden Tag weiter verstärkt Wir weisen den grotesken Anspruch zurück, diese Militarisierung durch leere pazifistische Proteste beiseite zu schaffen. Alle bedeutenden Fragen werden in der

nächsten Epoche mit der Waffe in der Hand entschieden werden. Die Arbeiter sollten keine Angst vor Waffen

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MSZ-Reader zu Marxismus und Krieg haben; im Gegenteil, sie sollten lernen, sie zu gebrauchen. Revolutionäre unterscheiden sich während des Krieges nicht mehr vom Volk als im Frieden. Ein Bolschewik bemüht sich, nicht nur der beste Gewerkschafter, sondern auch der beste Soldat zu werden.

Wir wollen der Bourgeoisie nicht erlauben, nicht oder nur halt ausgebildete Soldaten im letzten Augenblick auf das Schlachtfeld zu treiben. Wir fordern, dass der Staat den Arbeitern und den Arbeitslosen unverzüglich die

Möglichkeit gibt, zu lernen, wie man mit dem Gewehr, der Handgranate, dem Maschinengewehr, der Kanone, dem Flugzeug, dem U-Boot und dem anderen Kriegswerkzeug umgeht. Besondere Militärschulen in enger Verbindung

mit den Gewerkschaften sind notwendig, sodass die Arbeiter fähige Spezialisten der militärischen Technik werden, die in der Lage sind, Kommandeursposten einzunehmen.

Das ist nicht unser Krieg Gleichzeitig vergessen wir in keinem Augenblick, dass dieser Krieg nicht unser Krieg ist. Im Gegensatz zur II. und

III. Internationale stützt sich die IV. Internationale und ihre Politik nicht auf die militärischen Erfolge der kapitalistischen Staaten, sondern auf die Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Krieg der Arbeiter gegen die Kapitalisten, auf den Sturz der herrschenden Klassen aller Länder, auf die sozialistische Weltrevolution.

Veränderungen in den Kampflinien an der Front, die Vernichtung von nationalem Vermögen, die Besetzung von

Gebieten, der Untergang einzelner Staaten stellen von diesem Standpunkt aus nur tragische Episoden dar auf dem Weg zum Wiederaufbau einer modernen Gesellschaft. Unabhängig vom Verlauf des Krieges erfüllen wir unsere fundamentale Aufgabe: Wir erklären den. Arbeitern die Unvereinbarkeit zwischen ihren Interessen und den Interessen des blutrünstigen Kapitalismus; wir mobilisieren die

Werktätigen gegen den Imperialismus; wir propagieren die Einheit der Arbeiter in allen kriegführenden und neutralen Ländern; wir verlangen die Verbrüderung der Arbeiter und Soldaten innerhalb eines jeden Landes und der

Soldaten mit den Soldaten der gegenüberliegenden Seite der Kampffront; wir mobilisieren die Frauen und die Jugend gegen den Krieg; wir setzen die konstante, beharrliche, unermüdliche Vorbereitung auf die Revolution fort – in den Fabriken, in den Dörfern, in den Kasernen, an der Front und in der Marine.

Das ist unser Programm. Proletarier der Welt, es gibt keinen anderen Ausweg, als sich unter dem Banner der IV. Internationale zu vereinen!

1. Lenin, Lage und Aufgaben der sozialistischen Internationale, in: Lenin/Sinowjew, Gegen den Strom. Hamburg 1921, S.2-6, hier S.6 und Lenin, Werke, Band 21, S.22-28, hier S.27.

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