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Mach alles neu
text Denise Peikert
Angeblich ist jeder von uns alle sieben Jahre ein neuer Mensch – die Figur ändert sich, die Haare und sogar die Persönlichkeit. Was ist da dran?
Die Sieben-Jahre-Regel ist eine bequeme Regel, denn sie erklärt immer das, was gerade zufällig zur Debatte steht: den Zahnwechsel beim Schulkind, den stärker werdenden Kinderwunsch um den 28. Geburtstag herum und dass man sich mit 35 plötzlich um so vieles älter fühlt als kürzlich noch. Alle sieben Jahre, heißt es dann gerne mal, ändere sich ja der Körper, manche Menschen bekämen dann sogar eine neue Figur und ganz andere Haare.
Ein herrliches Small-Talk-Thema, unverfänglich und nachvollziehbar, eines, bei dem man stets wieder fragen kann: Ist das jetzt nur ein Mythos, oder ist da auch medizinisch was dran?
Zuerst der Mythos: Die Zahl Sieben hat die Menschen schon immer fasziniert, und wer von »schon immer« spricht, kommt selten an den alten Griechen vorbei. Der Philosoph Philon von Alexandria hat kurz nach Christi Geburt das Leben generell betrachtet und es auf der Suche nach einem Muster in Jahrsiebte eingeteilt.
Heißt also, frei nach Philon: Am Ende des ersten Jahrsiebts kommen die Milchzähne, im zweiten die Geschlechtsreife, im dritten beim Mann der Bart, im vierten wird geheiratet, bevor noch Verstand und Gelassenheit fertig ausgebildet werden. »Im zehnten Jahrsiebt aber«, schreibt der Philosoph, »ist es am besten zu sterben, da in dem darüber hinausgehenden Alter der Mensch nur ein gebrechlicher und unnützer Greis ist.«
Zumindest Letzteres ist inzwischen überholt, die Idee hat es trotzdem in die Neuzeit geschafft. Das liegt vor allem an Rudolf Steiner. Er hat, als er Anfang des 20. Jahrhunderts sein anthroposophisches Weltbild entwickelte, ebenfalls in Jahrsiebten gedacht. Ihm ging es dabei weniger um Milchzähne und Barthaare, sondern vor allem um die Entwicklung der Psyche und des Charakters eines Menschen.
Bis hierhin ist die Sieben-Jahre-Theorie genau das: eine Theorie, die im Leben der Menschen nach allgemeinen Gesetzen sucht. Am stärksten davon geprägt ist heute die Waldorfpädagogik nach Rudolf Steiner, die von Geburt bis Zahnwechsel, von Zahnwechsel bis Geschlechtsreife und von Geschlechtsreife bis Mündigkeit denkt – wobei moderne Waldorfpädagogen eine allzu starre Phasenlehre ablehnen.
Nun zur Medizin. Wer etwas über Jahrsiebte in der Wissenschaft wissen will, kann zum Beispiel in Lahnstein in Rheinland-Pfalz anrufen. Dort ist Henning Elsner Chefarzt im psychosomatischen Krankenhaus Lahnhöhne. Elsner hat lange als Internist gearbeitet, klassisch schulmedizinisch. Er hatte aber, so erzählt er, schon immer das Gefühl, körperliche Leiden hingen stark mit seelischen zusammen.
Heute arbeitet Elsner vor allem psychotherapeutisch, und er sagt, dass er in vielen Biografien einen Sieben-Jahre-Rhythmus erkenne. »Bestimmte Lebensthemen fallen einem in bestimmten Lebensphasen einfach mehr auf die Füße«, sagt er. Wenn also um den 21. Geburtstag herum etwas ganz anderes passiere, als da vorgesehen sei, dann sei das manchmal ein Grund für spätere Depressionen oder Angststörungen. »Oft stelle ich mit den Patienten fest, wenn sie dann Jahre später zu mir kommen, dass es damals schon die ersten depressiven Phasen gegeben hat«, sagt Elsner.
Elsner arbeitet ganz konkret mit den Jahrsiebten. Er lässt seine Patienten Fragen zu den einzelnen Lebensabschnitten beantworten. Was war da los in den ersten sieben Jahren? Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Sinneseindruck? Den ersten Teddy? Elsner nennt das eine heilsame Wiederaneignung der eigenen Lebensgeschichte.
Die Jahrsiebte sind eine Art Kompass, eine Erleichterung für Therapeuten und Patienten: Man könne sich so an allgemeinen Gesetzmäßigkeiten durch die eigene Biografie hangeln. »Es gibt einfach Herausforderungen, die in bestimmte Lebensphasen gehören – wenn die Menschen sehen, dass da was dran ist, sind sie oft entlastet«, sagt Elsner.
Nun beruht die Anthroposophie auf Annahmen und Beobachtungen und versteht sich nur als Anregung, selbst über das Leben nachzudenken. Mindestens als Geisteswissenschaft ist sie also immun gegen die Frage, ob es für die Erkenntnisse einen medizinischen Beweis gibt oder nicht. Steiner, der Erfinder des anthroposophischen Weltbildes, hat sich trotzdem weiter in die Wissenschaft vorgewagt: »Der Mensch«,
Schon vielmals sieben Jahre miteinander überschritten: Über mehr als ein Jahrzent hat der Fotograf Vincent Migeat seine Eltern in den Ferien auf Korsika porträtiert.
Seven years plus: for more than a decade, French photographer Vincent Migeat has been portraying his parents during their vacations on Corsica.
schrieb er, »stößt im Laufe von sieben bis acht Jahren seine sämtliche physische Materie ab und erneuert sie.«
Zeit, sich mit der Arbeit des Zellbiologen Jonas Frisén zu beschäftigen. Frisén arbeitet am Karolinska-Institut in Stockholm, einer der angesehensten medizinischen Universitäten in Europa. Er hat, so sagt er, ein bisschen »Amateur-Forschung« zu dem Sieben-Jahre-Mythos betrieben. Seine Forschungen besagen: Der Mensch hat tatsächlich alle sieben bis zehn Jahre einen fast neuen Körper – nur geht die Erneuerung auf der Haut langsamer als im Gehirn.
Wie genau das abläuft, damit hat Frisén schon 2005 für Furore gesorgt. Er errechnete für verschiedene Teile im Körper die Zeit, die es braucht, bis sie sich einmal komplett ausgetauscht haben. Demnach dauert es zwei bis vier Tage, bis das Oberflächengewebe im Dünndarm vollständig ersetzt ist, und acht, bis unsere Lungenbläschen wie neu sind. Eine Fettzelle lebt dagegen acht Jahre, und etwa alle zehn Jahre haben wir ein erneuertes Skelett.
So präzise die Angaben auch sein mögen, das Ganze bleibt noch ein ziemliches Rätsel. Da ist zum Beispiel das Herz, eine der am stärksten beanspruchten Strukturen unseres Körpers. Friséns neueren Studien von 2015 zufolge bildet das Herz eines jungen Erwachsenen jedes Jahr maximal ein Prozent neue Zellen. Senioren schaffen höchstens noch ein halbes Prozent. Und selbst wer lange lebt, hat am Ende kein ganz neues Herz: Höchstens 40 Prozent der verschiedenen Zellen in dem Organ werden in einem Menschenleben ersetzt.
Und da kommt man dann wieder von der Wissenschaft zum Mythos: Auch wenn man sich in verschiedenen Lebensphasen innerlich und äußerlich verändert, bleibt man doch derselbe Mensch.
Denise Peikert arbeitet als Journalistin in Leipzig, unter anderem für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, die ZEIT und den MDR. Am Schreibtisch wühlt sie sich durch klinische Studien und Anklageschriften, draußen trifft sie Menschen in Kuhställen oder Zirkusmanegen.