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Die verschiedenen Arten cannabisbasierter Arzneimittel
von Tim Dresemann
In Deutschland haben Cannabispatienten derzeit die Wahl zwischen drei verschiedenen Gruppen von cannabisbasierten Arzneimitteln: Cannabisblüten, unterschiedliche Extrakte und Fertigarzneimittel.
Grundsätzlich sollte man zunächst zwischen oraler und inhalativer Aufnahme unterscheiden. Der Einfachheit halber beschränke ich mich auf den Hauptwirkstoff THC. Bei der Inhalation von Cannabisblüten kommt es durch die Temperatur beim Vaporisieren (ca. 180-210 °C) zunächst zur Decarboxylierung. Das in der Pflanze vorliegende THCA (A für „acid“, also Säure) wird dabei durch Abspaltung der Säuregruppe zum pharmakologisch „erwünschten“ THC (genauer: Delta-9-Tetrahydrocannabinol). Dieses wird in der Lunge aufgenommen und über das Blut im Körper verteilt. Bei oraler Einnahme hingegen muss die Decarboxylierung vorher stattfinden. Bei medizinischen Extrakten, die der Patient zur fertigen Anwendung erhält, erfolgt dieser Schritt bereits in der Herstellung. Wer sich aus Blüten oder Harz jedoch ein oral aufzunehmendes Arzneimittel selbst herstellen will, sollte diesen Schritt nicht auslassen. Am einfachsten erfolgt die Decarboxylierung durch Erhitzen des Materials, z. B. im Ofen. Die Temperatur hierfür sollte mindestens 100 °C betragen, darf aber in keinem Fall 157 °C überschreiten, da THC bei diesen Temperaturen verdampft und damit verloren geht. Nimmt man nach dieser Art vorbereitete Präparate ein, landen sie zunächst im Magen. Das nach der Decarboxylierung vorhandene THC geht aber, im Gegensatz zur inhalativen Aufnahme, nicht direkt in den Blutkreislauf über. Es gelangt zunächst in die Leber. Hier wird delta-9-THC zu 11-Hydroxy-THC metabolisiert (d. h. „umgebaut“). Man spricht vom sogenannten First-Pass-Effekt. Die chemischen Bezeichnungen der einzelnen Stoffe sind hierbei nebensächlich. Wichtig ist, dass es sich pharmakologisch gesehen um zwei verschiedene Wirkstoffe handelt. Mit dem Umbau in der Leber verändern sich auch einige entscheidende Wirkeigenschaften: Wirkeintritt, Wirkdauer und Psychoaktivität. Nach der Inhalation von Cannabis tritt die Wirkung bereits nach wenigen Minuten ein und hält für ca. 4 Stunden an. Erfolgt die Einnahme oral, dauert es bis zum Eintritt der Wirkung 45-90 Minuten. Allerdings hält die Wirkung dann bis zu 8 Stunden an. Für die Unterschiede hinsichtlich Wirkeintritt und Wirkdauer gibt es belastbare Zahlen. Die Unterschiede in Sachen Psychoaktivität sind nicht so einfach zu beziffern. Es wird davon ausgegangen, dass oral aufgenommenes THC (also 11-Hydroxy-THC) bis zu 10-mal so psychoaktiv wirken kann, wie das inhalierte Delta-9-THC. Aber Achtung: Das heißt NICHT, dass man bei oralem Konsum von der 10-fachen Menge Ausgangsmaterial ausgehen sollte! Denn die Bioverfügbarkeit von oral aufgenommenem THC ist deutlich geringer als die von inhaliertem. Je nach Quelle geht man von ca. 30 % Bioverfügbarkeit nach Inhalation vs. 4-12 % nach oraler Aufnahme aus. Das heißt: Obwohl nach oraler Aufnahme ein großer Teil THC aus dem Ausgangsmaterial verloren geht, kann der verbleibende Teil dennoch zu einer stärker empfundenen Wirkung führen, als die gleiche Menge inhalativ aufgenommenes THC. Solche Werte sind jedoch großen interindividuellen Schwankungen unterworfen und lassen sich nicht gut verallgemeinern. Auch in Hinblick auf den jeweiligen Anwendungsbereich sind die o. g. Unterschiede von Bedeutung. Ein Patient, der aufgrund chronischer Schmerzen nachts nicht durchschlafen kann, wird von der längeren Wirkung bei oraler Aufnahme profitieren wollen. Ein Migräniker, der einen plötzlich auftretenden Kopfschmerz unterbrechen will, wird hingegen eher die Inhalation bevorzugen, da die Wirkung hier schneller eintritt. Die verschiedenen Arzneimittelgruppen unterscheiden sich aber noch in weiteren Faktoren: Fertigarzneimittel, z. B. das bekannte Mundspray Sativex®, sind hinsichtlich der Konzentrationen ihrer Wirkstoffe standardisiert. Im Fall von Sativex® sind die Wirkstoffe THC und CBD zu fast gleichen Teilen enthalten (2,7 mg THC und 2,5 mg CBD je Sprühstoß). Canemes® ist ein weiteres Fertigarzneimittel in Kapselform. Es enthält ausschließlich den Wirkstoff Nabilon. Dabei handelt es sich um ein vollsynthetisches Derivat des pflanzlich erzeugten THC. Die Dosierung beträgt 1 mg Nabilon je Kapsel.
Das bekannte Dronabinol bezeichnet einen verordnungsfähigen Extrakt, der zwar aus der Hanfpflanze gewonnen wird, jedoch neben THC keine weiteren Wirkstoffe beinhaltet. Dronabinol wird in diesem Zusammenhang synonym mit THC verwendet. Fertigarzneimittel und Einzelwirkstoffe können einfach und sicher dosiert werden. Da sie in Erscheinung und Anwendung klassischen Medikamenten entsprechen, werden sie von vielen Ärzten bevorzugt. Allerdings haben Fertigarzneimittel auch Nachteile. Viele Patienten empfinden den Geschmack von Sativex ® als unangenehm (metallisch). Die Dosierung ist bezogen auf THC nur in Schritten von 2,7 mg möglich (entspricht einem Sprühstoß). Viele Patienten berichten von Reizungen der Mundschleimhaut, die durch die Einnahme entstehen oder sich verschlimmern. Auch die Tatsache, dass es sich bei dem Mundspray um eine alkoholische Lösung handelt, kann für einige Patienten ein Problem darstellen. Ein wesentlicher Nachteil ist, dass pflanzliche Synergien nicht oder nur minimal genutzt werden. Der oft vermutete Entourage-Effekt, der durch Inhalation einer Blüte oder bei Einnahme eines Vollextrakts entsteht, bleibt aus. Die Therapie kann also im Hinblick auf individuelle Symptome und Bedürfnisse der Patienten lediglich über die Dosis angepasst werden. Bei der Anwendung von THC als Einzelwirkstoff kann es zudem leichter zu unerwünschten Nebenwirkungen kommen. Zwischen gewünschtem therapeutischen Effekt und unerwünschter Überdosierung liegt nur ein schmaler Grat. Eine Pufferung der psychoaktiven Effekte des THC, beispielsweise durch Terpene oder gleichzeitig aufgenommenes CBD, findet nicht statt. Das Potenzial einer individualisierten Therapie kann am einfachsten durch Anwendung von Cannabisblüten nutzbar gemacht werden. Durch Wahl einer bestimmten Sorte, oder einer Kombination verschiedener Sorten, kann gezielt auf individuelle Bedürfnisse des Patienten eingegangen werden. Ein chronischer Schmerzpatient kann zum Beispiel abends eine schlaffördernd wirkende und tagsüber eine aktivierende, anregende Sorte nutzen. Wirkportfolios kön
nen so ergänzt und mögliche unerwünschte Nebenwirkungen ausgeglichen werden. Allerdings stellt diese Vielfalt vor allem unerfahrene Ärzte und Patienten vor Herausforderungen. Welche Sorte ist die richtige für welchen Patienten? Wo fange ich an? Eine Berliner Apotheke hatte an einem Tag im März knapp 25 verschiedene Sorten verfügbar. Da kann man sich schon mal überfordert fühlen, denn nicht jeder Arzt/Patient will oder kann sich so tief in die Materie einarbeiten.
Um eine Idee zu bekommen, wohin die Reise in Sachen Sortenvielfalt gehen könnte, lohnt ein Blick in den Artikel "Medizinische Sortenkunde" auf Seite 70. Mithilfe tausender Userdaten kann die stetig wachsende Vielfalt von Cannabissorten nicht nur übersichtlich, sondern auch für eine ganz gezielte Nutzung bestimmter Sorten bei bestimmten Symptomen zugänglich gemacht werden. Eines steht allerdings fest: Der noch immer von einigen Ärzten vorgebrachte Einwand, eine Therapie mit Blüten sei „Steinzeitmedizin“, hält einer näheren Betrachtung nicht stand. Modernste Anbautechnologien sorgen dafür, dass Schwankungen im Wirkstoffgehalt des Blütenmaterials kein relevantes Problem mehr darstellen. Der Anbau unter konstanten klimatischen Bedingungen, die Verwendung genetisch identischen Materials und schließlich die ständigen Laboranalysen, lassen das Endprodukt problemlos strengsten phytopharmazeutischen Ansprüchen genügen. Man könnte also auch in die andere Richtung argumentieren: Die Blüten sind es, die eine individualisierte und differenzierte Therapie erst möglich machen. Und da die Leidensgeschichten realer Patienten so vielfältig sind, wie die Menschen selbst, könnte man gerade hier die Gelegenheit für wahre Innovation erkennen. Blüten sind jedoch nicht die einzige Möglichkeit, das gesamte in der Cannabispflanze enthaltene Spektrum an Wirkstoffen nutzbar zu machen. Vollextrakte sollen in dieser Hinsicht das Beste aus zwei Welten vereinen. Durch das vollständige Profil aller arzneilich wirksamen Substanzen der Cannabisblüte bleibt das synergistische Potenzial erhalten. In Studien konnte schon früh gezeigt werden, dass ein volles Wirkstoffprofil der Anwendung von reinem THC überlegen ist. Außerdem kann durch Anwendung moderner Extraktions- und Analysetechnik eine gleichbleibende Konzentration und Zusammensetzung der wirksamen Substanzen und somit eine präzise und einfache Dosierung, gewährleistet werden. Vollextrakte sind in Deutschland noch eine relativ neue Erscheinung. Solche Extrakte werden zwar mittlerweile von mehreren Herstellern angeboten. Die Standardisierung erfolgt jedoch in erster Linie hinsichtlich der Konzentrationen der Leitsubstanzen THC und CBD. In einigen Fällen kann nicht sichergestellt werden, dass der Extrakt ausschließlich und fortwährend aus einer Sorte hergestellt wird. Auch sind die Extraktionsmethoden nicht immer vollständig bekannt. So kann es sein, dass zwar mit „Vollspektrum“ geworben wird, die einzelnen Bestandteile jedoch in der Extraktion zum Teil - und vor allem zu ungleichen Teilen - verloren gehen. Das Endprodukt enthält zwar im günstigsten Fall alle Bestandteile, die Mengen einzelner, leicht flüchtiger Substanzen (so z. B. viele Terpene) können aber teils erheblich reduziert worden sein. Das Spektrum des Extrakts ist also ein anderes als das der Blüte. Der entscheidende Nachteil, den ich jedoch (noch) gegenüber der Anwendung von Cannabisblüten sehe, ist die mangelnde Vielfalt. Es sind erst wenige Extrakte verfügbar. Oft ist nicht erkennbar, welche Sorte zu ihrer Herstellung verwendet wurde. Zur individuellen Therapiegestaltung können Arzt und Patient hier also (noch) nicht auf die Vielfalt zurückgreifen, die Blüten schon jetzt bieten. Eine Lösung für dieses Problem kann sein, sich in der Apotheke aus der Wunschblütensorte ein Extrakt herstellen zu lassen. Dies ist ohne größere Probleme möglich und so hat der Patient am Ende doch noch die Möglichkeit, seine Therapie so hilfreich wie möglich zu gestalten. Und am Ende des Tages ist es genau das, worum es gehen sollte.