ZUGABE 2 - Das Theatermagazin

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MAGAZIN 02 - 2018

Der Rasende Schauspieler Andreas Spaniol über „Othello“ Aufruhr im Mattiswald „Ronja Räubertochter“ Wer ist hier verrückt? „Pension Schöller“ Potsdam liest ein Buch Lesen Sie mit! Szene aus „Der gute Mensch von Sezuan“ (mit Alina Wolff)


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EDITORIAL Verehrtes Publikum,

Bettina Jahnke, Intendantin

der Anfang ist gemacht. Die ersten Premieren haben

Meine letzte Stadterkundung führte mich mit dem

das Licht der Öffentlichkeit erblickt, und wir Theater-

Fahrrad über den Telegrafenberg durch einen end-

leute spüren endlich: Wir sind angekommen. Jetzt

losen Kiefernwald bis in die Waldstadt und von dort

gibt es sie, die langersehnte Begegnung mit Ihnen,

zum Schlaatz. Und mitten in der Platte fühlte ich

unserem Publikum. Und es hat mich gefreut, dass Sie

mich plötzlich wieder auf vertrautem Terrain. Genau

so zahlreich erschienen sind und bei beiden Eröff-

in so einem DDR-Neubaugebiet, in Rostock-Lütten

nungspartys auch lange geblieben sind. Es gab viele

Klein, bin ich groß geworden. Die gleichen windigen

wunderbare, herzliche und neugierige Begegnungen,

Ecken, die bekannten Betonoberflächen und das

die Lust auf mehr machen.

viele Grün, das diesen Stadtteil inzwischen durch-

Theater wird erst im Austausch lebendig, und wenn

wachsen hat. Auch das ist Potsdam, auch hier

nach den langen Wochen der Probenzeit endlich

hängen unsere Hans-Otto-Plakate an den Litfass-

die Zuschauer*innen im Saal sitzen, dann spüren wir:

säulen, und auch für diesen Teil der Stadt machen

Jetzt wird es ernst. Nun beginnt der Theateralltag,

wir Theater. Und so freut es mich außerordentlich,

eine Premiere folgt der nächsten, und unser Reper-

dass ich am 29. November bei Martina Wilczynski im

toirebetrieb kommt ins Laufen.

Friedrich-Reinsch-Haus eingeladen bin. Ich wünsche

Aber auch innerhalb des Hauses sind wir Neuen

mir, dass viele Schlaatzer und Waldstädter kommen

gut angekommen, die Wege werden wiedererkannt,

und wir einen unterhaltsamen Abend zusammen

die Gesichter langsam den Namen zugeordnet, die

haben werden.

Arbeitsabläufe spielen sich ein, und allmählich wird das Fremde vertraut.

Es grüßt Sie herzlich,

Und wie im Theater, so auch in der Stadt.

Bettina Jahnke

„Für euch bin ich doch nur ’n Freak“ Der Schauspieler Andreas Spaniol über Theater in der Fußgängerzone, das Ankommen in Potsdam und die Einsamkeit des Othello, als der er gerade am Hans Otto Theater zu sehen ist Einen Vorgeschmack auf „Othello“ bekamen die Potsdamer*innen

Nicht direkt. Aber wenn ich gesagt habe: „Für manchen hier bin ich zu

schon im September in der Brandenburger Straße: Bei der Aktion

weiß“, gab es jedesmal einen Lacher.

„SchauSpielFenster“ wurdest du im Geschäft Intersport Olympia für deine Rolle geschminkt und trugst danach einen Monolog aus dem

Bei Shakespeare ist Othello schwarz, er wird aber in der Inszenierung

Stück vor. Wie hast du diesen Außeneinsatz erlebt?

von Mario Holetzeck anders markiert – nämlich mit einer weißen Perü-

Andreas Spaniol: Das hat sehr viel Spaß gemacht. Zuerst dachte ich,

cke. Warum dieser Kunstgriff?

ein Monolog in der Fußgängerzone – das kann schwierig werden! Wir

Es gibt ja diese „Blackfacing“-Debatte im Theater. Und die Frage war:

haben eine Textstelle ausgesucht, in der sich Othello an das venezia-

Wie trägt man dem Rechnung? Das Regieteam kam mit dem Vorschlag,

nische Volk bzw. an die Armee wendet. Ihm wurde gerade die Macht

Othello als eine Art Albino darzustellen. Ich finde diese Lösung gut, weil

übertragen, er soll den Feldzug gegen die Osmanen anführen. Das

sie das Problem anders greifbar macht. In Afrika gibt es auch „schwar-

Ganze hat einen sehr offensiven, einladenden Charakter. Ich wollte es

ze Albinos“, die nicht selten aus ihren Gemeinschaften ausgeschlossen

eigentlich nur zwei-, dreimal innerhalb dieser zwei Stunden machen, bis

oder getötet werden, weil sie Unglück bedeuten. Der Albino in unserer

ich sah, dass sich immer wieder neugierige Menschentrauben bilde-

Gesellschaft wirkt ganz anders. Es hat erstmal so eine „freakige“ Kom-

ten. Und ich dachte: Jetzt aber raus, unters Volk! Othello sagt in dieser

ponente. Und da sind wir an dem Punkt Ausgrenzung über Äußerlichkei-

Situation, dass er für den einen oder anderen möglicherweise nicht die

ten. Das ist hochaktuell.

richtige Hautfarbe habe. Er glaube aber daran, dass man die Probleme der Republik Venedig nur gemeinsam lösen könne und er sich in diesen

Gehen wir nochmal einen Schritt zurück und betrachten deinen Wer-

Dienst stellen werde. Das hat wunderbar funktioniert – die Leute waren

degang. Du hast eine Ausbildung zum Elektromechaniker gemacht.

dran, schienen sehr interessiert.

Warum ist keiner aus dir geworden?

Wurdest du auch angesprochen?

dann hab ich das gemacht. Nebenher habe ich Theater gespielt.

Mein Vater hat immer gesagt: Du lernst erstmal ein Handwerk! Und


INTERVIEW

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„Für manchen hier bin ich zu weiß“: Andreas Spaniol als Othello bei der Aktion „SchauSpielFenster“ am 22. September (links: Maskenbildnerin Sophie Schütt) Aber erst durch die langjährige Arbeit in diesem Jugendclub des Kinder-

liebt und Jago es trotzdem schafft, ihn so zu verunsichern, dass er sie

und Jugendtheaters in Saarbrücken wurde mir klar, dass mir das sehr

am Ende umbringt? Was ist das für eine seltsame Nibelungentreue zu

viel mehr bedeutet als alles andere. Ich glaube, ich wäre ein guter Elek-

Jago? Warum redet er nicht offen mit ihr? Desdemona ist sich natürlich

tromechaniker geworden, aber irgendwie merkte ich: Das kann’s nicht

keiner Schuld bewusst und sagt gerade darum immer die vermeintlich

sein. Dann dachte ich diesen verrückten Gedanken zu Ende, bewarb

falschen Sachen. Das wiederum nährt seinen Zweifel. Alles zusammen

mich an einer Hochschule und begann, Schauspiel zu studieren.

führt zu einer unfassbaren Implosion und wirft ihn letzten Endes darauf zurück, was er ist: Er gehört nicht dazu. Es war eine Illusion.

Was war so verrückt daran? Ich komme aus einem kleinen Dorf im Saarland. Da gab es entweder

Was fasziniert dich an der Figur Othello?

Handwerker oder Bergarbeiter. Künstler gab es meines Wissens nicht.

Zum einen diese ganz außergewöhnliche, besondere Liebe zu Desde-

Mein Entschluss führte damals sogar zu Verwerfungen im Freundes-

mona, die es schafft, alle Zweifel auszutilgen, alles wegzudrücken. Und

kreis meiner Eltern. Da hieß es: Der spinnt! Was soll das? Wenn das mein

dann diese Erkenntnis: Ich bin halt für euch doch nur ’n Freak. Am Ende

Junge wäre …!

ist er ganz allein. Und begreift, dass er sich die Welt schöner geredet hat, als sie ist. Diese Verunsicherung treibt ihn in die Raserei und lässt

Dein Weg führte dann von der Hochschule in Bern über Stationen in

ihn das Kostbarste in seinem Leben töten.

Trier und Zürich nach Neuss. Von dort zog es dich nun mit der Intendantin Bettina Jahnke und zwei Kolleg*innen aus dem Ensemble nach

Die Inszenierung ist noch in Neuss entstanden und kommt nun hier

Potsdam. Wie fühlt sich dieser Wechsel an?

in teilweise neuer Besetzung auf die Bühne. Wird sie sich dadurch

Ich laufe immer noch mit großen Augen durch die Gegend. Das Haus

nochmal verändern?

ist viel größer als in Neuss. Hier arbeiten viele wirklich tolle Schauspieler

Davon gehe ich aus. Das Tolle an dieser Theaterarbeit ist für mich

und gute Regisseure. Das fühlt sich alles sehr gut und richtig an.

unter anderem die Begegnung mit den Kolleg*innen, das gemeinsame Ringen um die Sache. Ich versuche, mit größtmöglicher Neugierde dem

Deine erste Premiere war „Der gute Mensch von Sezuan“, wo du unter

Blick des anderen zu begegnen. Insofern freue ich mich auf diese neu-

anderem den Schreiner spieltest. Nun also „Othello“. Worum geht es

en Lesarten, beispielsweise in der Begegnung mit Laura Hänsel, die die

in diesem Stück?

Rolle der Desdemona übernimmt.

Othello wird aufgrund seiner Fähigkeiten als Feldherr in eine GesellInterview: Björn Achenbach

schaft aufgenommen, in die er nicht hineingehört. Er glaubt irgendwann dazuzugehören. Er verliebt sich in Desdemona, sie verliebt sich in ihn. Diese Art Liebe ist etwas Neues und auch Unbekanntes in seinem Leben. Doch durch die Intrige, die Jago hinter seinem Rücken anzettelt, nimmt dieses Gefühl des Fremdseins in ihm wieder überhand. Desdemona hat ihn faktisch nicht betrogen, trotzdem reichen die Nadelstiche

NÄCHSTE VORSTELLUNGEN VON „OTHELLO“ 3-NOV / 14-NOV, jeweils 19:30 Uhr

von Jago aus, um ihn massiv zu verunsichern. Ich habe mich natür-

2-DEZ, 15 Uhr / 27-DEZ, 19:30 Uhr

lich gefragt: Wie kann es sein, dass Othello Desdemona so abgöttisch

Karten: 0331 9811-8 oder hansottotheater.de


4 Poetisch & politisch Für die junge Regisseurin Milena Paulovics ist „Ronja Räubertochter“ mehr als nur eine schöne Geschichte für Kinder. Denn sie spielt im Mattiswald. Eine der schönsten Geschichten für Kinder – das ist „Ronja Räuber-

Während Ronja beginnt, sich zu lösen und selbstständig zu werden,

tochter“ für mich. Sie balanciert auf dem Grat zwischen spielerischem

durchläuft ihr Vater Mattis einen schmerzhaften Prozess – bis es ihm

Humor, wilder Derbheit und fantastischer Mythenwelt – und lebt zugleich

gelingt zu erkennen, dass er seine Tochter loslassen muss, wenn er sie

von thematischer Tiefe und einer faszinierenden Vielschichtigkeit. Da-

nicht verlieren will. Es ist eine Geschichte, die Mut macht, wie so viele

mit spricht sie Kinder verschiedenen Alters und Erwachsene gleicher-

der wunderbaren Geschichten von Astrid Lindgren. Sie macht Mut,

maßen an, weil wir sie im Theater auf mehreren Ebenen erzählen können.

den eigenen Weg zu gehen, sich der Angst vor dem Unbekannten zu stellen und unterscheiden zu lernen, wann Angst lebenserhaltend ist

Der Stoff begleitet mich schon lange, und ich freue mich, ihn jetzt mit

und wann es sich lohnt, sie zu überwinden.

meinem wunderbaren Ensemble in Potsdam zeigen zu können. Für mich ist das Stück poetisch und politisch zugleich. In der fantastischen

In den letzten Wochen hat die Frage, welchen Wert wir einem Jahr-

Abenteuergeschichte steckt ein Gegenentwurf zu dem ewig alten

hunderte alten Wald geben wollen, in der öffentlichen Diskussion eine

Glauben, Gewalt sei ein sinnvolles Mittel zur Lösung von Konflikten. Wir

wichtige Rolle gespielt, und es bedeutet mir viel, mit unserem Stück

zeigen eine Freundschaft, die stärker ist als der Hass zweier verfeinde-

darauf reagieren zu können. So ist „Ronja Räubertochter“ für mich

ter Gruppen, der von Generation zu Generation weitergegeben wird.

auch ein starkes Plädoyer für einen respektvollen Umgang mit der Welt,

Durch ihre Begegnung mit Birk begreift Ronja zudem, dass es viele Ge-

in der wir leben. Milena Paulovics

schöpfe gibt, die alle ein Recht auf einen Platz in der Welt haben – die Rumpelwichte genauso wie die Graugnome, die gefährlichen Wilddruden oder die erst so gehassten Borkaräuber.

PREMIERE 9-NOV-2018 / 10 UHR GROSSES HAUS / 6+

Familienvorstellungen: 10-NOV, 15 Uhr / 9-DEZ, 15 + 18 Uhr

16-DEZ / 26-DEZ, jeweils 15 Uhr Karten: 0331 9811-8 oder hansottotheater.de

MAZ-Abonnenten erhalten mit der AboPlus-Karte 10 % Bonus auf alle Vorstellungen des Hans Otto Theaters!

Bo-Phyllis Strube (Ronja) und Lukas Benjamin Engel (Birk)


5 „Wir haben alle eine Meise“ Der Regisseur Jan Jochymski über die unverwüstliche Komik von „Pension Schöller“ und den Reiz des Verrücktseins

PREMIERE 30-NOV-2018 19:30 UHR GROSSES HAUS Weitere Vorstellungen:

7-DEZ / 8-DEZ, jeweils 19:30 Uhr 21-DEZ, 20 Uhr / 31-DEZ, 15 + 19 Uhr Karten: 0331 9811-8 oder hansottotheater.de Die Welt steht Kopf: René Schwittay (Professor Bernhardy) und Jon-Kaare Koppe (Philipp Klapproth) Kaum zu glauben, das Original stammt aus dem Jahr 1890! Warum tun

neuen Freund einen Besuch abzustatten. Die „Verrückten“ fallen in die

wir uns das heute, nach 128 Jahren, noch an? Warum wird dieses Stück

ländliche Idylle ein. Der Wahnsinn hält Einzug in Klapproths Wohnzimmer.

immer wieder auf den Spielplan geholt? Kann solch betagter Humor Jan Jochymski

heute noch den Geschmack des Publikums treffen? Ja, denn „Irre“ gibt es überall und zu jeder Zeit. Und wie schwer ist es oft zu unterscheiden, wer verrückt ist und wer nicht. Wir haben alle unseren Vogel. Oder sagen wir mal so: Wir alle haben eine Meise, bei jedem von uns ist eine Schraube locker oder wir haben nicht alle Tassen im Schrank. Und was ist so schlimm an einer gut ge-

„Pension Schöller“ – wer spielt wen?

pflegten Macke? Oftmals macht es ja gerade den Reiz einer Person

Auf Schauspieler Jon-Kaare Koppe wartet in „Pension Schöller“

aus, dass sie nicht so tickt wie der Rest. Wir unterscheiden uns durch

mit der Rolle des Philipp Klapproth ein, wie man im Theater-

unsere Ticks voneinander, sei es ein außergewöhnliches Hobby oder

jargon sagt, „gefundenes Fressen“. Aber auch andere Figuren

eine unappetitliche Angewohnheit.

dieses berühmten Schwanks bieten fantastisches Spielmaterial. Denn dieser Klapproth trifft in Berlin im Café der „Pen-

Die Grundidee des Stückes wird wohl noch in 100 Jahren komisch sein:

sion Schöller“ auf Menschen, von denen er glaubt, sie seien

Ein bunt zusammengewürfelter Haufen Pensionsgäste in der Weltstadt

Patient*innen einer Kureinrichtung für Nervenkranke. Wer hier

Berlin wird von einem Provinzler namens Klapproth als echter Irren-

allerdings „verrückt“ und wer „normal“ ist, wird zunehmend

haufen angesehen und auch so behandelt. Der Grund für diese Art von

fragwürdig. Denn Klapproth sieht sich nicht nur den Attacken

Verwechslung liegt in der Sensationslust Klapproths, der endlich

eines arbeitslosen Feldwebels (Henning Strübbe) ausgesetzt,

einmal echte Irre sehen will, um später am heimatlichen Stammtisch

er lässt sich von einer nach Romanstoffen gierenden Schrift-

damit prahlen zu können.

stellerin (Bettina Riebesel) dazu hinreißen, selbst die irrsten

Die ganze Farce wird eingerührt von Klapproths Neffen Alfred und

theaterbegeisterter junger Mann (Hannes Schumacher) voller

Familiengeschichten zu erfinden. Dann konfrontiert ihn ein Schöllers Tochter Franziska, die für ihre gemeinsame Zukunft Geld von

Emphase mit dramatischen Zitaten, die durch dessen grandio-

Klapproth fordern, wenn sie ihm seinen Wunsch erfüllen. Eine

sen Sprachfehler eher nach abstrakter Kunst klingen. Und ein

Win-Win-Situation, in der die ahnungslosen Pensionsgäste benutzt

Weltreisender (René Schwittay) überfällt Klapproth mit Anek-

werden. Diese haben aber im zweiten Teil des Stückes die Möglichkeit,

doten über eine spektakuläre Löwenjagd unter afrikanischem

den Spieß umzudrehen. Auf eine vermeintliche Einladung Klapproths

Himmel. Klapproths Welt steht bald Kopf.

hin machen sie sich auf den Weg nach Kyritz an der Knatter, um ihrem


6 Potsdam liest ein Buch Lesen als Gemeinschaftserlebnis: Das Hans Otto Theater und mehrere Partner starten einen literarischen Marathon durch die Stadt.

Die Organisatorinnen: Alexandra Engelmann und Bettina Jantzen im Literaturladen Wist Bereits vor 16 Jahren wurde in Potsdam erstmals das Projekt „Eine

Von Januar bis März 2019 finden immer wieder kostenlose Lesungen an

Stadt liest ein Buch“ ins Leben gerufen. Damit gehörte die branden-

überraschenden Orten statt. Einige Lesungen werden vorab im Spiel-

burgische Hauptstadt neben Hamburg, Köln, Bad Hersfeld und Hanau

plan des Hans Otto Theaters angekündigt, andere werden spontan

zu den ersten deutschen Städten, in denen die Bürger*innen dazu

stattfinden und auf der Webseite und in den sozialen Medien kurzfris-

eingeladen wurden, gemeinsam ein literarisches Werk zu erforschen

tig angekündigt. Ziel ist es, bei regelmäßiger Teilnahme so nach

und zu diskutieren.

und nach das gesamte Buch hören zu können.

Die Idee dieser Leseaktion als Gemeinschaftserlebnis stammt ursprüng-

Wer möchte, kann sich auch aktiv beteiligen: indem man sich selbst

lich aus Amerika. Bereits 1998 las ganz Seattle den Roman „The Sweet

als Vorleser*in anmeldet oder einen Ort zur Verfügung stellt, an dem

Hereafter“ („Das süße Jenseits“) von Russel Banks. Aufgrund des großen

gelesen werden kann. Egal, ob gemütliche WG-Küche, rustikaler Boots-

Erfolges expandierte die Idee und eroberte bis 2007 noch weitere 404

club oder exotischer Wintergarten, ob Teestube, Sauna oder Garten-

US-amerikanische Städte. Das Lesefieber griff auch auf andere Länder

laube – das Hans Otto Theater freut sich über Vorschläge von Potsda-

über: In Kanada, Australien, Italien, England, Österreich oder auch

mer*innen, die Lust haben, die Leseaktion zu sich einzuladen. Bitte an

Dänemark stürzten sich immer mehr lesebegeisterte Menschen auf

die Mailadresse potsdamliest@hansottotheater.de senden.

ein Buch. Wie genau das alles funktioniert, wo die Boxen für die Stimmzettel aufSeit 2002 floriert die Idee auch in Deutschland, und das Hans Otto

gestellt werden oder auch, wie das Online-Voting abläuft, erfahren Sie

Theater greift sie nun auf Initiative der Potsdamer Schriftstellerin Antje

rechtzeitig auf der Webseite des Hans Otto Theaters und bei der Auf-

Rávic Strubel erneut für Potsdam auf. Gemeinsam mit Marion Mattekat

taktveranstaltung am 15. November. Alexandra Engelmann

von der Stadt- und Landesbibliothek, Karin Graf vom Verein lit:pots, Carsten Wist vom Literaturladen Wist und Hendrik Röder vom Brandenburgischen Literaturbüro lädt das Theater die Potsdamer*innen dazu ein, sich an dem gigantischen Lesezirkel zu beteiligen. Und das Beste daran: Sie dürfen das Buch, das alle lesen, selbst aussuchen. Fünf Werke werden von Antje Rávic Strubel und den anderen in einer Auftaktveranstaltung am 15. November zur Wahl gestellt. Welches Buch dann gewinnt, entscheiden die Potsdamer*innen bis Mitte Dezember durch

AUFTAKT – DIE BUCHVORSTELLUNG: 15-NOV-2018 / 19:30 UHR REITHALLE BOX EINTRITT FREI Mitmachen unter potsdamliest@hansottotheater.de hansottotheater.de

Stimmzettelabgabe oder per Online-Voting. PRÄSENTIERT VON der Märkischen Allgemeinen Zeitung


7 „Wann macht man das schon noch?“ Die Schriftstellerin Antje Rávic Strubel über die Reihe „Potsdam liest ein Buch“, Vorleser*innen im Landtag und die Sehnsucht nach nächtlichen Debatten über Literatur Da gibt es die Möglichkeit, aus der virtuellen Blase auszusteigen, weil es eben auch draußen im Dreidimensionalen eine Community gibt. Und mit einer gewissen Sehnsucht erinnere ich mich an die langen nächtlichen Debatten beim Studium, als wir uns die Köpfe heiß geredet haben – und worüber? Über ein Kapitel, eine Seite, manchmal nur einen Satz aus einem Buch und dann übernächtigt, aber beglückt nach Hause gingen. Wann macht man das schon noch? Als Schriftstellerin ist es außerdem eine tolle Erfahrung, wenn eine ganze Stadt an derselben Stelle lacht …

„MIR GEFÄLLT DARAN AUCH DAS ALTMODISCHE.“ Du wirst zur Auftaktveranstaltung am 15. November ein Buch vorschlagen. Ist das eine schwere Entscheidung? Angesichts der scheinbar großen Auswahl ist es schwer, aber dann auch wieder nicht. Denn wenn ich mich frage, was mir in letzter Zeit wirklich gut gefallen hat, in welchem Buch ich in diesem kindlichen Sinne des Lesens abgetaucht bin, was mich glücklich gemacht, aber auch zum Denken gebracht hat, dann fallen mir nicht wirklich viele Bücher ein. Entscheidend für mich als Schriftstellerin ist aber auch, dass mich die Sprache, der Ton fesseln. Das darf kein Allerweltsruntererzählen sein. Von Januar bis März 2019 soll es überall im Stadtgebiet „Flashmob-Lesungen“ geben. Wenn du dir etwas wünschen könntest: Die Impulsgeberin: Antje Rávic Strubel

Wo oder von wem sollte das Buch unbedingt vorgelesen werden?

Als wir uns vor fast eineinhalb Jahren persönlich kennenlernten,

ordneten im Potsdamer Landtag wünschen, die den Saal des schreck-

Ich würde mir einige gute Vorleserinnen und Vorleser unter den Abgewarst du es, die den Impuls zu einer solchen Veranstaltung in die

lichen Stadtschlosses aus den Angeln heben und in einen berauschen-

Runde gab. Woher kam die Idee?

den, literarischen Schwebezustand versetzen.

Antje Rávic Strubel: Andere Städte betreiben dieses Format schon lange erfolgreich, und ich habe mich immer gefragt, warum Potsdam

Interview: Bettina Jantzen

das nicht schafft. Von Seiten literarischer Veranstalter hat es den Versuch vor einigen Jahren schon einmal gegeben, allerdings nur kurz. Eine Stadt wie Potsdam, die so viel Wert auf Kunst und Kultur legt und Theodor Fontane hoch und runter dekliniert, sollte es nicht schaffen,

Antje Rávic Strubel

eine spannende, stadtviertelübergreifende Debatte über ein Werk der

lebt und arbeitet als Schriftstellerin in Potsdam. Zu ihren Ver-

Gegenwartsliteratur zu entfachen?

öffentlichungen gehören die Romane „Tupolew 134“ (CH. Beck,

Was gefällt dir an diesem Format besonders gut?

Tage in die Nacht“ (S. Fischer, 2011) und „In den Wäldern des

2004), „Kältere Schichten der Luft“ (S. Fischer, 2007), „Sturz der Auf meinen Lesereisen fällt mir immer wieder auf, wie gern Menschen

menschlichen Herzens“ (S. Fischer, 2016). Ihre „Gebrauchsan-

sich über ein Buch, das sie gemeinsam gelesen haben, austauschen

weisung für Potsdam und Brandenburg“ (Piper Verlag) ist eine

und wie leicht es ist, über ein Buch miteinander ins Gespräch zu kom-

heiter-kritische Hommage an ihre Herkunftsregion. Ihr Werk

men. Mit Menschen, die man sonst nie kennenlernen würde, können

wurde u. a. mit dem Hermann-Hesse-Preis und dem Kritiker-

sich so auch Gespräche über Dinge ergeben, über die man sonst viel-

preis der Akademie der Künste ausgezeichnet.

leicht nie sprechen würde. Mir gefällt daran auch das Altmodische:


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SCOBEL FRAGT

Die Kraft des Dialogs Nachdenken auf offener Bühne: Mit Marianne Birthler und Eugen Ruge als Gästen startet die neue Reihe „Scobel fragt“ im Hans Otto Theater. inmitten der Maschinerie des Theaters, wird Gert Scobel gemeinsam mit Gästen und Zuschauer*innen Platz nehmen, um Gedanken, Einsichten und Utopien zu entwickeln. Zum Auftakt geht es um das deutsch-deutsche Verhältnis: Ein Blick auf die aktuellen Entwicklungen zeigt, wie tief die Gräben zwischen vielen Menschen aus Ost- und Westdeutschland noch sind – sowohl, was ihre Einkommensverhältnisse als auch was ihr Selbstverständnis betrifft. Die Risslinie scheint eben nicht wie von selbst zuzuwachsen. Was ließe sich mit Blick auf eine bessere Zukunft ändern? Müsste man nicht zunächst, ähnlich wie in einer Therapie, die Wahrnehmung der Vergangenheit aufarbeiten, um Wunden und Brüche zu heilen? Welche Fehler und Versäumnisse sind beim Prozess der WieTalk auf offener Bühne: Der Fernsehmoderator und Philosoph Gert Scobel

dervereinigung geschehen? Wie kann man einander in Respekt

Der Journalist Gert Scobel ist eine Ausnahmeerscheinung in der

vor den nun einmal sehr verschiedenen Biografien und Lebensleis-

deutschen Fernsehlandschaft. Während dort oft schrille, laute Töne

tungen begegnen?

dominieren, um die Erregung und damit die Quote hochzutreiben, setzt Scobel in seinen Sendungen auf die Kraft des zivilisierten Dialogs und

Um diese Fragen zu diskutieren, hat Gert Scobel zwei kompetente

aufklärerischen Nachdenkens – wobei er das Kunststück vollbringt,

Gäste eingeladen: Marianne Birthler, die elf Jahre lang die Stasiunter-

durch seine lockere, ironische Art gleichzeitig gut zu unterhalten. Viele

lagenbehörde geleitet und als Politikerin die gesellschaftliche Entwick-

Jahre war er Anchorman beim 3-Sat-Klassiker „Kulturzeit“ und beim

lung im Osten aktiv mitgestaltet hat, sowie Eugen Ruge, der in seinem

„Morgenmagazin“ der ARD. Als Moderator und Redakteur leitete er

Roman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ ein anschauliches Bild der

zahlreiche TV-Formate in den Bereichen Wissenschaft, Literatur und

DDR-Vergangenheit zeichnet und zugleich einen besonderen Blick auf

Philosophie. Seine Sendungen sind informativ und publikumsnah zu-

die Zeit der Wiedervereinigung wirft. Eine Theaterfassung des Romans

gleich. Dafür wurde er mit dem Deutschen Fernsehpreis und zweimal

ist derzeit im Hans Otto Theater zu erleben.

mit dem renommierten Grimme-Preis ausgezeichnet. In der neuen Gesprächsreihe „Scobel fragt“, die er am Hans Otto Theater moderiert, wird er sich jeweils mit zwei Expert*innen zu zentralen Themen unserer Gegenwart austauschen. In einer Zeit, in der einfache Botschaften und gefühlte Wahrheiten die Stimmung im Land gefährlich aufpeitschen und Spaltungen befördern, will Scobel im besonnenen Dialog verschiedene Perspektiven aufeinander beziehen. Das Gespräch über die Grenzen der Disziplinen der Wissenschaften und Künste hinweg soll in gemeinsame Erkenntnisse münden.

Christopher Hanf

Scobel fragt: Ost & West – kommt die Zukunft von allein?

Gert Scobel im Gespräch mit Marianne Birthler und Eugen Ruge

13-NOV-2018 / 19 UHR GROSSES HAUS, BÜHNE

Karten: 0331 9811-8 oder hansottotheater.de

Dieser Austausch findet an einem ganz besonderen Ort statt, nämlich

IN ZUSAMMENARBEIT MIT rbb kulturradio

direkt auf der Bühne. Dort, wo sonst die Schauspieler*innen agieren,

PRÄSENTIERT VON DEN Potsdamer Neuesten Nachrichten


9 Die Schatteninterpretin Gudrun Hillert ist Dolmetscherin für Gebärdensprache. Auf der Bühne übersetzt sie in Echtzeit das Spiel der Figuren für Menschen, die nicht hören können. Wenn am Ende einer Aufführung nicht nur geklatscht wird, sondern

Potsdam für taube Studierende, bildete an der Berliner Humboldt-Uni-

auch Arme in die Luft schnellen und Hände lautlos ihrer Begeisterung

versität Hochschüler*innen im Beruf aus. Heute arbeitet sie als selbst-

Ausdruck verleihen, dann waren Gudrun Hillert und ihr Kollege Christian

ständige Dolmetscherin und vermittelt die Kommunikation zwischen

Pflugfelder wieder einmal Teil des Bühnengeschehens. Seit 1996 über-

Hörenden und Nicht-Hörenden unter anderem am Theater.

setzen die beiden am Hans Otto Theater bis zu sechs Vorstellungen pro Spielzeit simultan in Gebärdensprache. Damit ermöglichen sie ein inklu-

Das Prinzip ist immer das gleiche: Es geht darum, über Sprachgrenzen

sives Theatererlebnis jenseits des Hörvermögens der Zuschauer*innen.

hinweg die Tore zu einer anderen Welt zu öffnen: den Hörenden eine

Das sogenannte „Sign-Spot-Programm“ ist durch diese Kontinuität und

Ahnung von einer tonlosen Welt zu verschaffen und den Tauben den

den Einsatz von „shadow interpreting“ deutschlandweit einzigartig. Das

Zugang zur geräuschvollen Welt zu ermöglichen.

„Beschatten von Schauspieler*innen“ ist mehr als eine Übersetzung – es ist eine „eigene Kunstform“, wie die Jury des BKM-Preises Kulturelle

Die Kunst besteht darin, für jede Produktion eine adäquate Übertra-

Bildung schon 2012 feststellte.

gung zu finden, die nicht als Störung, sondern als Bereicherung wahrgenommen wird. Manchmal entstehen dabei magische Momente. So rief etwa Katharina Thalbach in der Rolle des Theaterdirektors Striese im „Raub der Sabinerinnen“ den Dolmetscher*innen spontan zu: „Sie sind engagiert!“ Augenblicklich war eine weitere Spielebene zum Vergnügen aller entstanden. „Was wir machen, ist keine Hexerei“, sagt Gudrun Hillert mit einem fröhlichen Lachen, „aber wenn das Publikum verzaubert ist, freut uns das sehr.“

Manuela Gerlach

„Dieses unermessliche Drama“: Gudrun Hillert spricht mit den Händen Wer Gudrun Hillert auf der Bühne beobachtet, spürt ihre Leidenschaft für die Sache. Obwohl sie kein Schauspielstudium absolviert hat, fühlt sie sich hier sichtlich zu Hause. Jede Gebärde führt sie mit unglaublicher Präzision und Präsenz aus, ohne sich in den Vordergrund zu spielen. Klug und feinsinnig erfasst sie die Figuren und ihre Motive, die sie dolmetscht. Aber auch Bühnengeräusche und sogar Musik werden von ihr mühelos übertragen. Dabei reicht ihr Repertoire von Shakespeare bis zur Postdramatik. Schon als 13-Jährige erlernte Gudrun Hillert autodidaktisch die Gebärdensprache. Damals war eine Familie mit einem tauben Mädchen in ihr Dorf gezogen und sie erlebte die permanente Ausgrenzung hautnah mit. „Dieses unermessliche Drama können sich hörende Menschen gar nicht vorstellen: Du bleibst dauernd außen vor, bist von sämtlichen Alltagsinformationen abgeschnitten, erlebst Radio, Fernsehen, Kino und

NÄCHSTE VORSTELLUNGEN MIT SIMULTANER ÜBERTRAGUNG IN DIE GEBÄRDENSPRACHE:

Ziemlich beste Freunde

19-NOV-2018 / 18 UHR REITHALLE (AUSVERKAUFT)

Ronja Räubertochter

13-DEZ-2018 / 10 UHR 16-DEZ / 15 UHR GROSSES HAUS

Karten: hansottotheater.de oder Fax 0311 9811-900

Theater immer ohne Ton! Sogar an der Sonderschule wird dir die Bildung verwehrt, weil die Lehrer*innen die Gebärdensprache nicht können.“

Gefördert aus Mitteln des Ministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie des Landes Brandenburg (MASGF), insbesondere

Diese Erfahrung war prägend für ihre berufliche Karriere. Sie wurde Dol-

des Beauftragten der Landesregierung für die Belange der Menschen

metscherin für Gebärdensprache, übersetzte an der Fachhochschule

mit Behinderungen


10 Lebe lieber ungewöhnlich Sie liebt das Risiko und sucht auch im Theater nach dem Abgründigen. Da passt es ins Bild, dass die Schauspielerin Ulrike Beerbaum demnächst in Sibylle Bergs Stück „Viel gut essen“ zu sehen ist.

OFFENE PROBE 22-NOV-2018 19 BIS 20 UHR REITHALLE EINTRITT FREI PREMIERE 8-DEZ-2018 19:30 UHR REITHALLE Weitere Vorstellungen: 13-DEZ / 21-DEZ, jeweils 19:30 Uhr Karten: 0331 9811-8 oder hansottotheater.de Das Ensemble von „Viel gut essen“ (3. von links: Ulrike Beerbaum) Ulrike Beerbaum klettert gern. Die junge Schauspielerin, die mit Beginn

So ist sie auch fasziniert von den Texten der Autorin Sibylle Berg, weil

der Spielzeit neu ins Ensemble des Hans Otto Theaters gekommen ist,

darin mit blitzender Ironie, scharfer Komik und einer Prise Sarkasmus

kann sich dafür begeistern, beim Sportklettern („Bouldern“) an einer

gesellschaftspolitische Schieflagen und die Verzweiflung über die Ein-

steilen Wand zu hängen und sich ihren Weg hinauf zu bahnen. Wenn es

richtung der Welt thematisiert werden. Sie freut sich sehr auf die Arbeit

schwierig wird, dann findet sie das gerade gut.

an Sibylle Bergs Stück „Viel gut essen“, das sie gemeinsam mit einem siebenköpfigen Ensemble auf die Bühne der Reithalle bringen wird.

Hindernisse zu überwinden, hat sie schon immer gereizt. Als junges

Darin geht es um einen ganz normalen Mann, dessen Ziel im Leben es

Mädchen fiel es ihr keineswegs leicht, sich vor der Schulklasse zu

war, seiner kleinen Familie Sicherheit und Geborgenheit zu bieten.

äußern. Aber weil sie etwas zu sagen hatte und etwas sagen wollte,

Dann aber fällt seine ganze Existenz auseinander: Frau und Kind verlas-

gelang es ihr, die eigene Schüchternheit zu überwinden. Ihre Lust, das

sen ihn, er verliert seinen Job. Er beginnt sich in seinem Umfeld fremd

Risiko zu suchen, hat vielleicht auch dazu beigetragen, dass sie schon

zu fühlen. Der Mann versteht die Welt nicht mehr und verwandelt sich

im Alter von 16 Jahren Schauspielerin werden wollte. Als Schülerin fuhr

in einen rechtspopulistischen Wutbürger.

sie jede Woche fast eine Stunde lang mit dem Bus von ihrem Heimatdorf nach Schwerin, um dort im Jungen Theaterclub mitzumachen. Sehr

Die Frustration des Mannes kann Ulrike Beerbaum teilweise nachvoll-

gern erinnert sie sich dabei an ein Projekt, für das sie den Fundus ihres

ziehen. Sein Problem sei, dass er sich in seiner Opferrolle einrichte und

Vaters, eines Orthopädiemechanikers, plünderte, um sich eine Körper-

es versäume, über seine Ängste und Wünsche zu sprechen, die Kom-

choreografie mit Bein- und Armprothesen auszudenken.

munikation zu suchen, statt sich in seinem Hass zu vergraben. Leider fehlt ihm jede Selbstdistanz, leider kann er nicht über sich lachen. Das

Die körperliche Dimension des Theaterspiels ist ihr bis heute wichtig.

wiederum schildert Sibylle Berg auf komische Weise. Ulrike Beerbaum

Ihr Lieblingsunterricht während des Schauspielstudiums an der Univer-

sieht der Kletterpartie durch diesen hochaktuellen Text gespannt ent-

sität der Künste Berlin war der Bewegungskurs. Und auch im Blick auf

gegen, gilt es doch, das tragikomische Potenzial dieser Situation mit

ihr erstes Festengagement, das sie von 2010 bis 2016 ans Staatstheater

viel Körpereinsatz für das Theater zu entdecken.

Mainz führte, denkt sie gern an Rollen zurück, bei denen sie sich ihren Figuren über eine skurrile, absurde Körperlichkeit nähern konnte. Auch in klassischen und eher tragischen Rollen sucht sie nach Momenten der Komik und Groteske. Beerbaum interessiert sich dafür, das Verrückte, Seltsame, Ungewöhnliche im Alltäglichen aufzuspüren.

Christopher Hanf


LETZTE FRAGEN

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„Die Architektur des Raumes aufgreifen“ Matthias Müller, Technischer Direktor des Hans Otto Theaters und Bühnenbildner der Potsdamer Winteroper „Theodora“, über die Verwandlung der Friedenskirche in einen Theaterraum verwandeln, denn der sakrale Raum wird von dieser Funktion architektonisch geprägt. Für die Regisseurin und mich bestand die Aufgabe darin, mit der starken Setzung des Raumes umzugehen. Mein Ansatz war, die architektonischen Elemente aufzugreifen und sie in das Bühnenbild einfließen zu lassen. In Händels Oratorium „Theodora“ wird eine Geschichte aus dem frühen Christentum im untergehenden römischen Reich erzählt. Christen werden verfolgt, die Titelheldin stirbt als christliche Märtyrerin. Wie erschließt sich der mehrfache Szenenwechsel von den Römern zu den Christen im Bühnenbild? Es galt, den starken Kontrast zwischen heidnischen Römern und Ohne Matthias Müller geht nichts am Hans Otto Theater. Als Technischer

Christen deutlich zu machen. Die einen stehen für Prunk, Machtgier

Direktor verantwortet er nicht nur die Bühnenaufbauten aller Auffüh-

und Gewalt, die anderen für Verzicht, Vergebung und Gewaltlosigkeit.

rungen, sondern beschafft auch alles, was Regisseur*innen für ihre

Theodoras Welt, nämlich die christliche, ist ja mit dem Kirchenraum be-

Inszenierungen brauchen – ob eine Automobilkarosse für „Wintermär-

reits vorhanden: Christus als Weltenherrscher und das Kreuz auf dem

chen“ oder Wasserfluten für „Der gute Mensch von Sezuan“. Zugleich ist

Altar. Das Oratorium beginnt mit einem Fest zu Ehren Jupiters. Der

er Bühnen-und Kostümbildner und hat als solcher bereits in Darmstadt,

christliche Raum ist also zunächst durch die Römer „besetzt“ und ent-

Wiesbaden, Linz und Regensburg gearbeitet. In Potsdam stattete er zu-

sprechend entfremdet. Dafür lassen wir einen Theaterraum mit roten

letzt „Ein Sommernachtstraum“, „Der Zauberer von Oz“ und „Rio Reiser.

Vorhängen entstehen, der die christlichen Zeichen ignoriert und verdeckt.

König von Deutschland“ aus. Seit 2013 betreut Matthias Müller die sze-

Im Zentrum steht ein Grundbau, der die bestmögliche Sicht für das

nischen Oratorienaufführungen in der Friedenskirche, zum zweiten Mal

Publikum gewährleistet. Um diese Bühne in den Kirchenraum zu in-

nach „Cain und Abel“ ist er zugleich auch Bühnenbildner.

tegrieren, verlängern wir den Altar und gewinnen so eine Spielfläche,

Vor welchen Herausforderungen steht man mit diesem

Christen möglich wäre. Ich bin gespannt, wie die Regisseurin und ihr

Aufführungsort?

Choreograf mit dem Bühnenbild und den Herausforderungen der Kirche

Matthias Müller: Die Friedenskirche gehört zum Weltkulturerbe und

umgehen werden.

auf der sowohl ein Festgelage der Römer als auch das Abendmahl der

Interview: Carola Gerbert

steht unter Denkmalschutz. Die Wahrung des Bauwerks hat höchste Priorität. Ich bin sehr froh, dass sich über die Jahre mit den Verantwortlichen der Preußischen Stiftung Schlösser und Gärten und der Friedens-

Koproduktion mit der Kammerphilharmonie Potsdam

kirchengemeinde ein echtes Vertrauensverhältnis entwickelt hat, das es uns erlaubt, Konzepte und Ideen zur theatralen Gestaltung des Raumes zu erproben.

PREMIERE 22-NOV-2018 / 19 UHR FRIEDENSKIRCHE SANSSOUCI

Die Kirche ist ja kein Theater. Sie ist ein geweihter, heiliger Ort mit all

Weitere Vorstellungen:

seiner Symbolik für die evangelische Gemeinde und den Gottesdienst.

23-NOV / 24-NOV / 29-NOV / 30-NOV / 1-DEZ, jeweils 19 Uhr

Das macht es umso schwieriger, den Raum in einen Theaterraum zu

Karten: 0331 9811-8 oder hansottotheater.de


Hans Otto leuchtet Mit zwei rauschenden Festen am 22. September und 6. Oktober wurde die neue Spielzeit am Hans Otto Theater eröffnet. Vier ausverkaufte Premieren, zwei Konzerte, ausgelassene Partystim-

Kurzinterviews präsentierten. Die Presse berichtete ausgiebig und

mung im Glasfoyer und auf den Seeterrassen – so sah er aus, der Start

das rbb-Fernsehen war mit einer Live-Schaltung vor Ort.

der neuen Intendantin Bettina Jahnke und ihres Teams. An beiden Tagen

Die Berliner Morgenpost sagte es am schönsten. Ihre Schlagzeile:

konnte das Publikum die Schauspieler*innen des Ensembles hautnah

„In Potsdam scheint jetzt vieles möglich!“

erleben, die sich auf der kleinen Bühne im Glasfoyer mit sympathischen

Impressum Herausgeber Hans Otto Theater GmbH / Schiffbauergasse 11 / 14467 Potsdam Spielzeit 2018/19 Intendantin Bettina Jahnke Geschäftsführender Direktor Volkmar Raback Redaktion Kommunikation und Marketing, Dramaturgie Konzeption Pongping Konzeption & Gestaltung Roya Visual Ideas Fotos Zaia Alexander (S. 7), Thomas M. Jauk (Titel, S. 2-6 sowie 9-12), Josephine John (S. 12 Mitte rechts), Benjamin Warneke (S. 12 Mitte) Druck Pressedruck Potsdam GmbH, Friedrich-Engels-Str. 24, 14473 Potsdam Redaktionsschluss 12. Oktober 2018 Ein Unternehmen der Landeshauptstadt Potsdam, gefördert mit Mitteln der Landeshauptstadt Potsdam und des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg


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