Usability Professionals: Erfahrung
1/2009
i-com
Kai Eckoldt und Benjamin N.N. Schulz
Das Auto als Musikinstrument: gemeinsames Trommeln als positives Erlebnis 1. Einleitung Autofahren ist für viele Menschen eine zentrale Tätigkeit. Dabei wird – verständlicherweise – meist die Sicherheit beim Führen eines Fahrzeugs betont. Eine ganze Reihe sicherheitsrelevanter Assistenzsysteme sind bereits realisiert oder befinden sich in der Entwicklung, wie z. B. Unterstützung beim Brems- oder Überholvorgang, Schutz vorm Einschlafen am Steuer, automatisches Ausweichen oder Abstandhalten. Da Autofahren eine weitestgehend prozeduralisierbare Aufgabe ist, die leicht zu Monotonie, Unterforderung und Langeweile führt, spielt auch Unterhaltung im Auto oft eine wichtige Rolle. Dazu steht meist ein einfaches HiFiGerät zur Verfügung, das den ganzen Autoinnenraum „bespielt“, oder aber aufwändigere Systeme, die es den Mitfahrern erlauben, individuelle Audio- oder gar Videoprogramme zu hören oder zu sehen. Sowohl die sicherheitsrelevanten als auch die unterhaltungsorientierten Funktionen eines Autos sind primär am Fahrer, also individuell, orientiert. Wenig Aufmerksamkeit wird auf die soziale Interaktion im Auto gerichtet, obwohl es eine Vielzahl von Situationen gibt, in denen mehrere Personen im Auto, auch für längere Zeit, zusammenkommen und miteinander interagieren müssen oder könnten (z.B. Bei-Laune-Halten der Kinder, gemeinsames Essen und Trinken, Streitschlichten zwischen den Kindern). Ziel unseres Projektes war es, das Fahrzeug explizit als einen sozialen Raum zu verstehen und Wege zu finden, die soziale Interaktion und das gemeinsame Erleben („co-experience“, Battarbee 2003a, 2003b) anzuregen und zu intensivieren. Es entstand im Rahmen eines Aufenthaltes an der Universität für Kunst und Design in Helsinki, angeregt und geleitet von Prof. Dr. Ilpo Koskinen. DOI 10.1524/icom.2009.0014
Die soziale Interaktion im Auto ist ein „blinder Fleck“ der Autoindustrie, die, primär fahrerzentriert, die individuelle Sicherheit und den individuellen physischen Komfort betont. Unser Ziel war es, das Auto losgelöst vom eigentlichen Fahren als einen Aufenthaltsraum zu verstehen, in dem mehrere Personen auf engstem Raum über einen längeren Zeitraum zusammenkommen.
2. Exploration In einer ersten empirischen Exploration mit potentiellen Benutzern konzentrierten wir uns auf die Frage, wie Menschen im Auto miteinander kommunizieren. Um die wesentlichen Probleme selbst zu erfahren, verlagerten wir sowohl unseren gesamten Arbeitsprozess, als auch Teile des normalen Tagesablaufs, wie die Einnahme der Mahlzeiten, in das Auto. Ein solches „in-situ“ Gestalten soll sicherstellen, dass der eigentliche Nutzungskontext mit seinen Details immer präsent ist und so optimal durch entsprechende Gestaltungslösungen adressiert wird. Dies soll sowohl die Relevanz als auch Passung der erarbeiteten Gestaltungslösung erhöhen. Darüber hinaus haben wir eine Familie (eine Frau, zwei Kinder) auf mehreren Autofahrten begleitet. Während der Fahrten ließen wir die Insassen besondere Situationen nachspielen und führten halbstrukturierte, offene Interviews durch. Dadurch konnten wir verschiedene Probleme und Prozeduren (wie z. B. Streitschlichten) erfahren und dokumentieren. Zusätzlich führten wir, sowohl im Auto als auch im Zug, mit fünf weiteren Familien offene Interviews über ihre sozialen Interaktionen und gemeinsamen Erlebnisse durch. Durch die vorherigen Untersuchungen wussten wir bereits, dass oftmals gerade alleinerziehende Eltern weite Strecken lieber mit dem Zug
reisen, um die stressige soziale Situation im Auto zu vermeiden.
3. Musik Gestaltung interessiert sich primär für das Potential erhobener Daten, neue Lösungen und Ideen für die gestellte Gestaltungsaufgabe (hier Verbesserung der sozialen Interaktion und Intensivieren gemeinsamer positiver Erlebnisse im Auto) zu generieren. In der vorliegenden Exploration zeigte sich eine enge Verbindung zwischen Auto und Musik, auf die wir uns im weiteren Gestaltungsprozess konzentrierten. Musikhören lässt sich gut mit dem eher prozeduralen Autofahren verbinden und lindert Langeweile und Monotonie. Es ist also kein Wunder, dass Autoradios zur Standardausstattung eines Autos gehören – eine der wenigen Komponenten, die nichts mit der eigentlichen Bedienaufgabe zu tun hat. Musik hat das Potential, Emotionen hervorzurufen. Sie animiert zum Singen und Trommeln. Gemeinsames Singen im Auto macht die Musik auch zu einer Quelle sozialer Interaktion. Im Rahmen unserer Exploration berichteten ältere Personen beispielsweise, dass das gemeinsame Singen früher eine in vielen Familien übliche Ablenkung während der Autofahrt war. Heute beobachteten wir stattdessen, dass das Autoradio eher die soziale Interaktion stört (in dem es beispielsweise Konversation erschwert). Gemeinsames Singen wird kaum noch praktiziert. Eine noch gravierendere Einschränkung der Interaktion findet durch die Benutzung von MP3-Playern statt. Die Kinder in unsere Exploration konsumierten häufig ihre eigene Musik, statt aktiv an einer sozialen Interaktion teilzunehmen oder sie gar zu initiieren. Die privat konsumierte Musik führte zur Isolation trotz gleichzeitig erfahrbarer körperlicher Nähe im Auto. Dies gerade mit Hilfe
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