Esther Peterhans
Der Sehsinn der Tiere
Esther Peterhans
Der Sehsinn der Tiere Einf端hrung in die neuronalen Grundlagen des Sehens
Haupt Verlag
Dr. Esther Peterhans ist Neurobiologin. Tiermedizinstudium und Promotion in Veterinärophthalmologie. 1991 Habilitation in visueller Neurophysiologie und Alfred-Vogt-Preis der Schweizerischen Ophthalmologischen Gesellschaft. 1992–2000 Leiterin des visuellen Forschungslabors der Neurologischen Klinik des Universitätsspitals Zürich und Privatdozentin für visuelle Neurophysiologie an der Universität Bern.
Umschlagabbildungen Vorne Tony Hisgett/Flickr/CC-BY-SA-2.0 (Bartkauzauge); Regine Balmer (Katzenauge); Joxerra Aihartza/Wikimedia Commons/CC-BY-SA-3.0 (Kreuzkrötenauge); virgonira/Depositphotos (Pferdeauge); Nure Alahi Sagor/Wikimedia Commons/CC-BY-SA-4.0 (Insektenauge) Rücken kornienko/Bigstock (Katzenauge) Hinten aaleksander/Bigstock (Hundeaugen)
1. Auflage: 2015 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. ISBN 978-3-258-07913-4 Alle Rechte vorbehalten. Copyright © 2015 Haupt Bern Jede Art der Vervielfältigung ohne Genehmigung des Verlages ist unzulässig. Lektorat: Claudia Huber, D-Erfurt Gestaltung und Satz: Roman Bold & Black, D-Köln Printed in Austria www.haupt.ch
Inhalt
Inhalt
7
1 Augen und Gesichtsfeld
21
2 Optik
35
3 Sehschärfe
55
4 Verlauf der Sehbahn
69
5 Funktionen der Sehbahn
85
6 Farbsehen
105
7 Grundlagen des Formsehens
119
8 Bewegungssehen
135
9 HĂśhere Funktionen
152
Dank
153
Literatur
168
Bild- und Quellennachweis
174
Register
Kapitel 1
Kapitel 1 6
Augen und Gesichtsfeld
7
Augen und Gesichtsfeld Funktion Der Sehsinn hat die Aufgabe, den Lebewesen Informationen über die nähere und weitere Umgebung zu liefern, sei es für die Futteraufnahme oder zum Erkennen von Freunden und Feinden. Er nutzt einen bestimmten Bereich der elektromagnetischen Wellen, die in der Umwelt vorhanden sind, und wandelt diese mittels der Sinneszellen der Netzhaut des Auges in elektrische Signale um. Diese Signale werden über viele verschiedene Stufen verschaltet, angefangen von der Netzhaut über den Sehnerv bis zum Gehirn. Das Gehirn erzeugt aus diesen Signalen die visuelle Wahrnehmung der Umwelt. Im Laufe der Evolution haben sich zwei verschiedene Augentypen entwickelt, die nachfolgend besprochen werden: die Becheraugen und die Facettenaugen. Becheraugen findet man vor allem bei Wirbeltieren und Mollusken, Facettenaugen vor allem bei Arthropoden.
Becheraugen Entwicklung. Abb. 1.1 zeigt vier Arten von Becheraugen (Land & Nilsson, 2006). Der ursprünglichste Typ (A) besteht aus einem einfachen Becher mit einer Öffnung für den Lichteinfall und im Kreis angeordneten Sinneszellen (als gepunktete Fläche dargestellt). Das Licht wird direkt aufgenommen, ohne dazwischengeschaltete Optik. Diesen Augentyp findet man bei aquatischen
Abbildung 1.1 Becheraugen. (A) Einfaches Becherauge mit einer Öffnung für den Lichteinfall und halbkreisförmig angeordneten Sinneszellen (gepunktete Fläche). (B) Becherauge mit Linse. (C) Becherauge mit Hornhaut. (D) Becherauge mit einer hinter den Sinneszellen gelegenen Gewebeschicht (schraffierte Fläche), die das einfallende Licht reflektiert. [Nach Land & Nilsson, 2006]
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Becheraugen
Wirbellosen, z. B. bei Strudelwürmern (Turbellaria), Kopffüßern (Nautilidae) oder Riesenmuscheln (Tridacnidae). Diese Augen ermöglichen den Tieren das Erkennen von Hell und Dunkel in der Umgebung und informieren sie über Lichtquellen. Riesenmuscheln haben mehrere dieser Augen und sehen damit auch andere Lebewesen wie z. B. Fische (Land, 2003). Das Zufügen einer Linse zum Becherauge (B) reduziert das Streulicht und verbessert die Bündelung des Lichts auf die Sinneszellen. Dieser Augentyp kommt bei Mollusken und frühen Wirbeltieren vor. Im Laufe der Evolution, beim Übergang zum Leben auf dem Land, sind Becheraugen mit einer Hornhaut entstanden (C), die einerseits das Auge schützt und anderseits als brechendes Medium dient. Die Augen der heutigen Säugetiere enthalten beides, Hornhaut und Linse, wobei je nach Lebensweise der größte Teil der Brechkraft auf die Hornhaut oder die Linse fällt (s. Kapitel 2). Den vierten, eher seltenen Typ Becherauge (D) findet man bei Jakobsmuscheln (Pecten). Diese Augen enthalten ein Gewebe (schraffierte Fläche in der Abbildung), vergleichbar mit einem Hohlspiegel, welches das einfallende Licht reflektiert und so die Lichtempfindlichkeit der Augen erhöht. Augen der Säugetiere. Abb. 1.2 zeigt ein Schema des menschlichen Auges, eines der am besten untersuchten Augen in der Klasse der Säugetiere. Dieses Auge besteht aus einem optischen Apparat mit Hornhaut (1) und Linse (3).
Die Sinneszellen (Fotorezeptoren) liegen im Augenhintergrund, in der Netzhaut (Retina). Gewisse, vor allem nachtaktive Tierarten haben als äußerste Schicht der Netzhaut eine Struktur entwickelt, das Tapetum lucidum (in der Abbildung rechts der Sinneszellen zu denken), welches das einfallende Licht
Abbildung 1.2 Schema des menschlichen Auges. Die Lichtbrechung geschieht hauptsächlich an der Hornhaut und weniger an der Linse. Die Linse wird durch den Ziliarkörper (Zonulafasern und Muskelring) in Position gehalten. Die Netzhaut (Retina) besteht aus Sinneszellen (Stäbchen, Zapfen), die das einfallende Licht in elektrische Signale umwandeln. Diese werden in einem Geflecht von Nervenzellen verschaltet bis zu den Ganglienzellen, deren Fasern die Signale über den Sehnerv ins Großhirn weiterleiten. Legende: 1, Hornhaut; 2, Ziliarkörper; 3, Linse; 4, Glaskörper. Einschub: Netzhautausschnitt aus dem Original von Abb. 5.5.
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Augen und Gesichtsfeld
reflektiert. Dadurch passiert das Licht die Sinneszellen zweimal, einmal beim Eintritt ins Auge und ein zweites Mal beim Austritt. Diese Reflexion erhöht die Lichtempfindlichkeit des Auges und verbessert das Dämmerungs- und Nachtsehen, z. B. bei Katzen, Hunden oder Füchsen. Der vergrößerte Netzhautausschnitt zeigt schematisch die verschiedenen Zellschichten, ausgehend von den Fotorezeptoren ganz rechts bis zu den wegführenden Fasern der Ganglienzellen links. Säugetiere haben zwei Arten von Fotorezeptoren, die beim Menschen aufgrund ihrer Form als Stäbchen und Zapfen bezeichnet werden. Die Stäbchen generieren das Schwarz-Weiß-Sehen. Sie sind hoch lichtempfindlich und reagieren auch in der Dämmerung und bei Nacht. Die Zapfen generieren das Tag- und Farbsehen und benötigen mehr Licht. Die Fotorezeptoren übertragen ihre Signale an das nachfolgende Nervenzellgeflecht (Horizontal- und Bipolarzellen, amakrine Zellen sowie Ganglienzellen), wo sie mehrfach verschaltet werden. Die Fasern der Ganglienzellen leiten die Signale über den Sehnerv weiter ins Gehirn.
Gesichtsfeld Das Gesichtsfeld entspricht dem Teil der Umwelt, der von einem (monokular) oder von beiden Augen (binokular) gesehen wird. Seine Lage und Größe ist abhängig von der Stellung der Augen und der Verteilung der Sinneszellen in der Netzhaut. Diese beiden Eigenschaften stehen im Zusammenhang mit der Lebensweise der Tiere. Bei Primaten, Katzenartigen und Greifvögeln z. B. sind die Augen eher nach vorne gerichtet, während Huftiere, Nager und Singvögel mehr seitlich gerichtete Augen haben. Die Stellung der Augen kann über den Winkel zwischen der optischen Achse der Augen und der Sehachse definiert werden (s. Kapitel 3, Abb. 3.2). Je größer dieser Winkel, desto seitlicher die Augenstellung. Nachfolgend werden die Methoden zur Bestimmung des Gesichtsfelds von Mensch und Tieren besprochen. Primaten. Beim Menschen und bei Tieren, die für Verhaltensaufgaben trainiert werden können (z. B. Affen), kann das Gesichtsfeld mittels Perimetrie vermessen werden. Dabei werden die Probanden (Testpersonen, Versuchstiere) angewiesen oder im Fall von Tieren trainiert, ihren Blick auf einen Punkt zu fixieren und das Aufblitzen eines zweiten Lichts in der Peripherie durch Knopfdruck oder Ziehen eines Hebels anzuzeigen. Beim Menschen wird die Perimetrie im Rahmen der augenärztlichen Untersuchung durchgeführt (s. Abb. 1.3). Der Patient legt sein Kinn in eine Kopfstütze und hält damit den Kopf in einer fixen Position und den Blick auf einen Fixationspunkt (F) im Zentrum einer Hohlkugel gerichtet. Nun werden Testreize (R) unterschiedlicher Größe und Helligkeit an verschiedenen Stellen der Halbkugel präsentiert. Die Positionen der Reize werden zufällig gewählt, damit der Patient nie weiß, wo der nächste erscheint. Sobald er den Testreiz bemerkt, muss er dies durch Knopfdruck anzeigen. Heute sind Perimeter hocheffiziente, digital gesteuerte Geräte, welche die optischen Reize automatisch präsentieren und die Reaktionen der Patienten 10
Gesichtsfeld
Abbildung 1.3 Schema des Hohlkugelperimeters zur Bestimmung des Gesichtsfelds des Menschen. Der Proband fixiert seinen Blick auf den Punkt (F); der Testpunkt (R) wird zufällig, an verschiedenen Stellen über den Schirm verteilt, präsentiert. [Nach Eysel, 1996]
digital speichern. Die Resultate werden ausgewertet und in der Form einer Grafik präsentiert. Die Wellenlänge der Lichtreize liegt oft im mittleren, «grün-gelben» Bereich, damit möglichst viele Sinneszellen (Stäbchen und Zapfen) aktiviert werden. Werden Testreize unterschiedlicher Wellenlängen benutzt, so ergibt sich für jede Wellenlänge ein etwas anderes Gesichtsfeld, entsprechend der Verteilung der relevanten Fotorezeptoren (s. Kapitel 5). Bei Tieren, die nur schwer trainierbar sind, erfolgt die exakte Messung des Gesichtsfelds meistens an toten Tieren. Dabei wird die Verteilung der Fotorezeptoren oder der Ganglienzellen in der Netzhaut herangezogen sowie die Augenstellung und die natürliche Kopfhaltung des Tieres (Píša, 1939). Abb. 1.4 A zeigt das Gesichtsfeld des Menschen (Hughes, 1977). Der vordere Sektor (schraffiert) entspricht dem binokularen Feld, die seitlichen Sektoren (gepunktet) den monokularen Feldern. In Abb. 1.4 B ist das Resultat der Perimetrie (Durchführung wie oben beschrieben) dargestellt. Die violette Linie gibt die Grenze des linken monokularen Felds an, die blaue Linie die Grenze des rechten monokularen Felds. Der Überlappungsbereich entspricht dem binokularen Feld. Bei Primaten mit nach vorne gerichteten Augen ist dieses Feld groß und dient u. a. der Kontrolle der vielseitig beweglichen Hände. 11
Augen und Gesichtsfeld
Raubtiere. Katzen haben ebenfalls ein breites binokulares Feld (Abb. 1.5 A, schraffierte Fläche), das allerdings etwas schmaler ist als dasjenige des Menschen. Abb. 1.5 B zeigt die Grenzen der beiden monokularen Felder der Katze (Tusa et al., 1978). Die Überlappung dieser Felder entspricht dem binokularen Feld. Bei Hunden ist die Größe des Gesichtsfelds abhängig von der Rasse eines Tieres. Hunde mit länglicher Kopfform wie z. B. Renn- und Jagdhunde haben ein schmaleres binokulares Feld als kurzköpfige Tiere. Abb.1.5 C zeigt das Gesichtsfeld eines Vorstehhundes, schraffiert den binokularen Bereich, gepunktet die monokularen Felder. In Abb. 1.5 D sind die Grenzen des gemessenen binokularen Felds eines Vorstehhundes (durchgezogene Linie) und eines Greyhounds (gestrichelte Linie) dargestellt. Huftiere. Bei Pferden ist das Gesichtsfeld aufgrund ihrer Lebensweise und Nahrungsaufnahme anders organisiert. Abb. 1.6 A zeigt das Gesichtsfeld des Pferdes beim Blick nach vorne. Es wurde, wie oben beschrieben, an toten Tieren bestimmt. Der schraffiert dargestellte Bereich entspricht dem binokularen Feld. Es dehnt sich nach unten aus und ist wichtig für die Futteraufnahme und die Wahrnehmung von Hindernissen. Abb. 1.6 B zeigt die Grenzen des binokularen Gesichtsfelds für ein englisches Halbblutpferd (durchgezogene Linie) und für ein Fohlen einer Kaltblutrasse (gepunktete Linie). Bei Renn- und Wagenpferden werden die seitlichen, monokularen Felder bisweilen mit Scheuklappen abgedeckt, da die Tiere in diesem Bereich auf Bewegung besonders empfindlich sind. Vorbeifahrende Autos oder andere bewegte Objekte können Fluchtreaktionen auslösen, deren Auftreten durch Scheuklappen minimiert werden kann. Rüsseltiere. Bei Elefanten ist das binokulare Feld schmaler als beim Pferd. Abb. 1.7 zeigt den Kopf eines erwachsenen indischen Elefanten in frontaler (A) und seitlicher Ansicht (B). Das Gesichtsfeld wurde unter Berücksichtigung der Verteilung der Zellen in der Netzhaut, der Stellung der Augen und der Kopfhaltung ermittelt. Das schmale binokulare Feld liegt im unteren Aktionsfeld des Rüssels (C, schraffierte Fläche). Dieser Bereich dient der Kontrolle der Rüsselbewegungen während der Futteraufnahme und bei sozialen Kontakten. 12
Abbildung 1.4 Gesichtsfeld des Menschen. (A) Die schraffierte Fläche entspricht dem binokularen Feld. Es ist nach vorne gerichtet und über beide Augen einsehbar. Die gepunkteten Flächen entsprechen den monokularen Feldern. (B) Resultat der in Abb. 1.3 dargestellten Methode der Perimetrie. Das Zentrum des Felds entspricht dem Fixationspunkt. Die blaue Linie umrandet das monokulare Feld des rechten Auges, die violette dasjenige des linken Auges. Die Überlappung der beiden entspricht dem binokularen Feld. Die Hauptachsen ZH (zero horizontal, engl.) und ZV (zero vertical, engl.) kreuzen im Fixationspunkt. [A: Hughes, 1977; B: Eysel, 1996]
Gesichtsfeld
Abbildung 1.5 Gesichtsfeld der Raubtiere. (A) Die gepunkteten Flächen zeigen die monokularen Felder, die schraffierte Fläche das binokulare Gesichtsfeld der Katze. (B) Die Grenzen der monokularen Felder der Katze. Die Überlappung der beiden monokularen Felder entspricht dem binokularen Feld. (C) Gesichtsfeld des Hundes. (D) Die Grenzen des binokularen Gesichtsfelds des Hundes (durchgezogene Linie: Vorstehhund; gestrichelte Linie: Greyhound). [A: Hughes, 1977; B: Tusa et al., 1978; C: Miller & Murphy, 1995; D: Píša, 1939]
Die gepunkteten Flächen zeigen die horizontale Ausdehnung der monokularen Felder im Bereich des schärfsten Sehens (s. Kapitel 3). Vögel. Der Kuhreiher (Bubulcus ibis) lebt in Afrika, Südamerika und Südeuropa, meistens in der Nähe von Gewässern und auf Weiden. Er ernährt sich hauptAbbildung 1.6 Gesichtsfeld des Pferdes. (A) Bereiche der seitlichen, monokularen Felder (punktiert) und des nach vorne gerichteten, binokularen Felds (schraffiert). Für die monokularen Felder ist nur die horizontale Ausdehnung gezeigt, nicht die vertikale. (B) Grenzen des binokularen Gesichtsfelds eines englischen Halbbluts (durchgezogene Linie) und eines Kaltblutfohlens (gepunktete Linie). [B: nach Píša, 1939]
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Augen und Gesichtsfeld
Abbildung 1.7 Gesichtsfeld des Elefanten. (A) Frontale, (B) seitliche Ansicht der Kopfhaltung und der Augenstellung eines erwachsenen, männlichen Tieres. (C) Horizontale Ausdehnung der monokularen Felder (gepunktet) und im Zentrum das binokulare Feld (schraffiert). [Nach Stone & Halasz, 1989]
sächlich von Insekten und anderen wirbellosen Tieren, die durch die Weidetiere aufgeschreckt werden. Im letzten Jahrhundert ist er auch in die Schweiz eingewandert und wurde seither vor allem im Mittelland beobachtet (Maumary et al., 2007). Abb. 1.8 A zeigt ein Männchen im Prachtkleid, Abb. 1.8 B die Körperhaltung beim Jagen (oben) und Beobachten der Umgebung (unten). Die graue Fläche entspricht dem binokularen Feld in der Medianebene (Martin, 2007). In Abb. 1.9 ist das sphärische Gesichtsfeld des Kuhreihers dargestellt.
Abbildung 1.8 Gesichtsfeld des Kuhreihers (1). (A) Männlicher Reiher im Prachtkleid. (B) Binokulares Feld in der Medianebene, oben beim Jagen und unten beim Beobachten des Geländes. [B: nach Martin, 2007]
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Gesichtsfeld
Das binokulare Feld (dunkelgrau) reicht von der Kopfmitte ca. ±11° zur Seite. In der Vertikalen erstreckt es sich von der Stirn bis senkrecht unter den Schnabel (roter Rhombus). Nach der Optik wären auch die hellgrauen Zonen über beide Augen zugänglich. Da der Netzhaut aber in den entsprechenden Bereichen
die Rezeptoren fehlen, sind sie binokular funktionslos. Als gepunktete Flächen dargestellt ist die Lage des Pecten, einer für Vögel typischen Struktur, die ausgehend von der Austrittsstelle des Sehnervs ins Augeninnere zieht. Diese Stelle entspricht dem blinden Fleck. Das Gesichtsfeld wurde mittels Perimetrie bei von Menschen aufgezogenen und trainierten Vögeln ermittelt. Dabei wurde anstelle der beim Menschen verwendeten Halbkugel ein sphärisches Drahtgeflecht mit Führungen zur Positionierung des Augenspiegels benutzt (Martin & Katzir, 1994). Abb. 1.10 zeigt die horizontale Ausdehnung des Gesichtsfelds des Kuhreihers, (A) beim Blick nach vorne (Konvergenz) und (B) beim Blick zur Seite (Divergenz). Das binokulare Feld in (A) entspricht dem der sphärischen Darstellung von Abb. 1.9. Zusätzlich dargestellt ist das breite blinde Feld am Hinterkopf des Tieres. Beide Felder verändern sich, sobald der Vogel die Augen zur Seite dreht (B). Dabei entsteht sowohl vorne im Bereich des Schnabels wie am Hinterkopf des Tieres ein blindes Feld (hellgrau), wobei dasjenige am Hinterkopf schmaler ist als beim Blick nach vorne (A). Das Sehsystem ist der Lebensweise des Vogels optimal angepasst: Beim Blick nach vorne (A) hat er ideale Sehbedingungen zur Futtersuche, zum Aufheben von Nistmaterial oder zum Füttern der Jungtiere. Beim Blick zur Seite (B) ermöglicht eine Rundsicht von fast 360° die Erkennung von Gefahren (Martin, 2007). In Abb. 1.11 A ist das sphärische Gesichtsfeld eines Greifvogels, und zwar des Schlangenadlers (Circaetus gallicus), dargestellt. Seine Augen sind mehr nach vorne gerichtet als die des Kuhreihers. Die dunkelgraue, zentrale Zone
Abbildung 1.9 Gesichtsfeld des Kuhreihers (2). Sphärische Darstellung, in welcher der Äquator der Medianebene entspricht. Der Rhombus (rot) markiert die Lage des Schnabels und die rote Linie im eingeschobenen Bild die horizontale Ebene. Die dunkelgraue Fläche stellt das binokulare Feld dar, die hellgrauen Zonen den optisch möglichen, aber funktionell blinden Teil des binokularen Felds. Die gepunkteten Flächen zeigen die Lage des Pecten, einer für Vögel typischen Struktur, die mit der Austrittsstelle des Sehnervs verbunden ist. [Nach Martin, 2007]
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Augen und Gesichtsfeld
Abbildung 1.10 Gesichtsfeld des Kuhreihers (3). Schnitt durch die horizontale Ebene (rote Linie im eingeschobenen Bild). (A) Gesichtsfeld bei der Blickfixation nach vorne (Konvergenz), (B) Gesichtsfeld beim seitlichen Blick (Divergenz). [Nach Martin, 2007]
entspricht dem binokularen Feld, die hellgrauen Ränder den optisch möglichen, aber binokular blinden Zonen (s. oben, Abb. 1.9). Abb. 1.11 B zeigt die Augenstellung. Unterhalb des Schnabels liegt ein nicht einsehbares blindes Feld. Wenn er ein Beutetier unter Sichtkontrolle ergreifen will, muss der Vogel daher seine Fänge vorne etwas hochziehen (Martin, 2007). Tab. 1 gibt eine Übersicht über die Dimension der binokularen Gesichtsfelder verschiedener Tierarten und des Menschen.
Tabelle 1 Binokulares Gesichtsfeld Tierart
Weite in Grad
Tierart
Weite in Grad 63
Stockente
< 10
Ziege
Reiher1
20–30
Vorstehhund2
78
Eulen
90
1
2
> 50
Foxterrier
Kaninchen2, 3
24–32
Hauskatze3
98
Rind
51
Rhesusaffe
120
57–62
Mensch5
120
1
2
Pferd2
2
4
Die Zahlen repräsentieren Richtwerte. (Quellen: 1, Martin, 2007; 2, Píša, 1939; 3, Hughes, 1977; 4, Bishop, 1984; 5, Eysel, 1996.)
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Facettenaugen
Facettenaugen
Abbildung 1.11 Gesichtsfeld eines Adlers. (A) Sphärische Darstellung mit binokularem Feld (dunkelgrau) und dessen funktionell blinden Rändern (hellgrau). Der Rhombus (rot) entspricht der Lage des Schnabels und die gepunkteten Flächen der Lage des Pecten, einer für Vögel typischen Struktur, die mit der Austrittsstelle des Sehnervs verbunden ist. (B) Das Foto zeigt die Lage des vorderen blinden Felds, unterhalb des Schnabels. [Nach Martin, 2007]
Entwicklung. Im Laufe der Evolution haben sich vier verschiedene Typen von Facettenaugen entwickelt, die in Abb. 1.12 dargestellt sind (Land & Nilsson, 2006). Den Augentyp (A) findet man bei Archenmuscheln (Arcidae). Diese Augen bestehen aus Trichtern, die im Halbkreis angeordnet sind und an deren Grund die Sinneszellen liegen. Facettenaugen mit Linsen (B) findet man bei Arthropoden wie tagaktiven Insekten und Krebsen. Diese Augen sind aus Grundelementen zusammengesetzt, die aus einem optischen Apparat und Sinneszellen bestehen. Facettenaugen, die das einfallende Licht über mehrere Linsen auf die Sinneszellen fokussieren (C, D), findet man bei nachtaktiven Insekten, z. B. bei Motten.
Abbildung 1.12 Facettenaugen. (A) Facettenaugen aus Trichtern, die im Halbkreis angeordnet sind und am Grund lichtempfindliche Sinneszellen enthalten. Im Laufe der Evolution kamen optische Linsen dazu (B), welche das Streulicht vermindern und den Fokus des Lichts auf die Sinneszellen verbessern. Bei gewissen Augentypen (C, D) geschieht dies über mehr als eine Linse. [Nach Land & Nilsson, 2006]
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Augen und Gesichtsfeld
Facettenaugen der Bienen. Da das Sehsystem der als Haustier gehaltenen Honigbiene (Apis mellifera) über viele Jahre im Detail untersucht wurde, soll es hier und in den folgenden Kapiteln als Beispiel für den Sehsinn von Insekten dienen. In Abb. 1.13 A sind eine Arbeiterin (oben) und eine männliche Biene, ein Drohn (unten), abgebildet. Abb. 1.13 B zeigt den Bau der Augen der Bienen. Sie bestehen aus Grundelementen (Ommatidien), welche als brechende Medien eine Linse und einen Kristallkegel enthalten. Außerdem ist, wie bei den meisten Insekten, ein Rhabdom mit acht Sinneszellen (Retinulae) vorhanden. Die Augen der Arbeiterinnen enthalten ca. 5000 Ommatidien, diejenigen der Drohnen ca. 10 000. Die Augen von Arbeiterinnen und Drohnen unterscheiden sich aber auch hinsichtlich der Augenstellung (s. Fotos) und der Verteilung der Fotopigmente über das Auge (Stavenga, 1992).
Abbildung 1.13 Facettenauge der Honigbiene (Apis mellifera). (A) Arbeiterin (oben), deren Augen eher seitlich und nach unten gerichtet sind, und eine männliche Biene (Drohn, unten), deren Augen mehr nach vorne und oben gerichtet sind. (B) Grundelement (Ommatidium) des Auges einer Biene: Es besteht aus acht Sinneszellen (Retinulae), welchen ein optischer Apparat in der Form einer Linse und eines Kristallkegels vorgeschaltet ist. [B: nach Stavenga, 1992]
Gesichtsfeld der Bienen. Abb. 1.14 zeigt die Augenstellung (A) und das Gesichtsfeld (B) einer männlichen Honigbiene. Die Augen der Drohnen laufen dorsal weiter zusammen als bei Arbeiterinnen (s. Abb. 1.13 A oben). Das Gesichtsfeld ist daher nach oben ausgedehnt (gestrichelte Linien). Der Unterschied in der Augenstellung ist vermutlich sinnvoll im Hinblick auf die unterschiedlichen Aufgaben von Arbeiterinnen und Drohnen im Bienenstaat: Arbeiterinnen füttern Jungtiere und suchen Nahrung, Drohnen schwärmen aus und folgen der wegfliegenden Königin. 18
Zusammenfassung
Zusammenfassung
Abbildung 1.14 Gesichtsfeld der männlichen Honigbiene (Drohn). (A) Die Augen sind weiter nach oben gerichtet als bei Arbeiterinnen. Am Scheitel liegen sie eng zusammen. (B) Sphärische Darstellung des oberen (gestrichelte Linie) und unteren (grau eingefärbt) Teils des rechten, monokularen Felds. Abkürzungen: VR, vorderer Rand; HR, hinterer Rand. [B: nach Stavenga, 1992]
Im Laufe der Evolution haben sich grundsätzlich zwei verschiedene Augentypen entwickelt, die besprochen werden, nämlich Becheraugen und Facettenaugen. Die Augenstellung und die Größe der Gesichtsfelder hängen von der Lebensweise der Tiere ab. Das seitliche Gesichtsfeld ist nur über ein Auge einsehbar (monokulares Feld). Es dient dem Überblick über die Umwelt, z. B. für das Erkennen von Feinden. In diesem Feld ist die Wahrnehmung von bewegten Objekten besonders gut. Daher können schnelle Bewegungen im seitlichen Gesichtsfeld (z. B. Autos bei Pferden) Fluchtreaktionen auslösen. Das zentrale Gesichtsfeld ist über beide Augen einsehbar (binokulares Feld). Es dient der Inspektion der Objekte und deren Lokalisation im Raum, z. B. bei der Futtersuche, beim Füttern der Jungtiere und bei sozialen Kontakten.
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Register A Akkommodation 29 Mensch 29, 30 Tierarten, verschiedene 32 Tab. 2, 33 Aktionspotential 75, 76 Asymmetrie der Hirnhälften 148 Augen- und Kopfbewegungen 66, 67 Augenachsen 36 optische Achse 37 Sehachse 37 Augenbau, Säugetiere 9 dioptrischer Apparat 23–28 nachtaktive Tiere 27, 28 tagaktive Tiere 27, 28 Augenspiegel (Ophthalmoskop) 38 Augenstellung 36 Honigbienen 18 Säugetiere 36–38 Vögel 41 Augentypen 8 Becheraugen 8 Facettenaugen 17 B Bewegungssehen 126 1D+2D-Formen 126–129 3D-Formen 130 biologische Bewegungen 133 räumliche Tiefe 132 Bewegungssehen, Tierarten 120 Amphibien 121 Säugetiere 124 Blinder Fleck 37 Säugetiere 38–40 Vögel 43 Brechwerte der Augen 23 Katze 24 Mensch 23 C Camouflage 131, 132 D Dreidimensionale Objekte 130, 148
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E Einzelzellableitung 71, 76 extrazellulär 76, 108 intrazellulär 71–73 F Facettenaugen 17 Honigbienen 18 Krebse 102 Farbsehen, Funktion 92, 96, 99 Fische 99 Primaten 92, 93 Vögel, Ultraviolett (UV) 96–98 Farbsehen, Störungen beim Menschen 93 Blaublindheit (Tritanopie) 93 Grünblindheit (Deuteranopie) 93 Rotblindheit (Protanopie) 93 Farbsehen, Tierarten 89 Achromaten 89 Dichromaten 89–92, 99 Monochromaten 89, 100 Tetrachromaten 94–96, 99 Trichromaten 92, 101 Farbsehen, Untersuchungsmethoden 88 Flimmerfusionsfrequenz (CFF) 122 Tierarten, verschiedene 123 Tab. 8 Formsehen, Gesichter 143 Huftiere 145, 147 Hunde 147 Insekten 148 Primaten 143–145 Vögel 148 Formsehen, Scheinkanten 136 Insekten 140, 141 Säugetiere 136–139 Vögel 142 Fotorezeptoren, Dichte 70 Fotorezeptoren, Fotopigmente 87 Chromophore 87 Evolution 87, 88 Genprototypen 87 Opsine 87 Fotorezeptoren, Morphologie 71 Fotorezeptoren, Öltröpfchen 94 Amphibien, Reptilien 98 Vögel 94
Register
Fotorezeptoren, Signale 71, 72 Wirbellose 72 Wirbeltiere 72, 73 Fototransduktion 71 G Ganglienzellen, Dichte 36 Elefant 40 Eulen 42 Greifvögel 42 Kaninchen 40 Katze 38 Makaken 39 Rind 40 Schwein 40 Singvögel 43 Taube 43 Wolf 39 Ganglienzellen, Morphologie 74 Katze 74 Primaten 75 Ganglienzellen, rezeptive Felder 76 Farbneurone 78, 79 ON- und OFF-Zentrum-Zellen 77, 78 Gehirn, Bau 56 Gehirn, Säugetiere 82 Katze 109 Makaken 83, 146 Mensch 83, 147 Gehirn, Sehbahn 56, 57 Gehirn, Singvögel 64 visueller Wulst 64 Gesichtsausdrücke, emotionale 148 Gesichtsfeld 10 binokulares Feld 10, 16 Tab. 1 monokulares Feld 10 Gesichtsfeld, Tierarten 10–19 Honigbiene 19 Säugetiere 10–14 Vögel 13–17 Gitterreiz 44, 48 Ortsfrequenz 44 Großhirn, Bewegungsanalyse 127 Areale MT, MST, FST, 7a 128 Areale V1, V2, V3, V3A 127 Großhirn, Farbanalyse 82 Areale V1, V2, V4, PITd 82, 83
Großhirn, Formanalyse 106 Gesichter 143, 146 Kontrastkanten, Linien 114, 115 Linienenden, Ecken 112, 113 Scheinkanten 136, 138 Großhirn, Untersuchungsmethoden 107, 139 bildgebende Verfahren (fMRI) 139, 146 Einzelzellableitung 107 optische Ableitungen 109 K Kniehöcker, seitlicher 79, 80 Kontrastempfindlichkeit, Gitterreize 49 Primaten 49 Tierarten, verschiedene 50 L Licht, sichtbares 86 Lichtabsorption des Wassers 98, 99 Lichtbrechung 25, 26 chromatische Aberration 27 Linsen, künstliche 30 Sammellinsen 30, 31 Streulinsen 31, 32 M Membranpotential 71–73 N Nachtsehen, Vögel 64 Cryptochrome 64 geomagnetisches Feld 64 Netzhaut, Bau 9, 73, 74 Netzhaut, Signalübertragung 75–77 O Ommatidium 18 Honigbienen 18 Krebse 102 Optik 22 einfache Systeme 22 zusammengesetzte Systeme 23 Optik, Fehler 30–32 Emmetropie 30 Hypermetropie 30, 31 Myopie 31, 32 Tierarten, verschiedene 32 Tab. 2 Orientierungsselektivität 108–111
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Anhang
P Pecten, Vögel 15, 43 Perimetrie 10 Mensch 11 Vögel 15 Postnodale Distanz (PND) 23 R Retinaler Vergrößerungsfaktor (RMF) 24, 25 Richtungsselektivität 122, 123 Großhirn 125 Netzhaut 124 S Scheinkanten, Funktion im Sehprozess 143 Sehbahn 58 Amphibien 65, 66 Säugetiere 59 Vögel 62, 63 Sehrinde, primäre (Areal V1) 81 Anatomie 81 Lokalisation Zelltypen 116 Zelltypen 111–116 «complex»-Zellen 115, 116 «end-stopped»-Zellen 112–114, 116 «simple»-Zellen 114–116 Farbneurone 79, 116 Sehrinde, Topographie (Areale V1, V2) 60 Katze 109 Primaten 60, 82, 83 Tierarten, verschiedene 61 Sehschärfe, Bestimmungsmethoden 44 Dichte der Fotorezeptoren 44 Dichte der Ganglienzellen 45 Verhaltenstests 46, 47 Sehschärfe, maximale 50 Säugetiere 51 Tab. 4 Vögel 52 Tab. 5 Sehwinkel 24, 25 Stelle des schärfsten Sehens 37 Primaten (Fovea centralis) 39 Säugetiere, verschiedene 38–41 Vögel 42, 43 Stereoskopisches Sehen 59 Synapsen, Typen 75 depolarisierend (erregend) 75 hyperpolarisierend (hemmend) 75
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T Tapetum lucidum 9 Hund 39 Katze 38 Transmitter 75 Ȗ-Aminobuttersäure (GABA) 75 L-Glutamat 75 V Visual streak 38 Elefant 40 Eulen 42 Kaninchen 40 Katze 38 Rind 40 Schwein 40 Wolf 39 W Wahrnehmungsstörungen, kortikale 83, 148 Farben (Achromatopsie) 83 Gesichter (Prosopagnosie) 148 Winkel, Sehachse – optische Achse 36 Katze 37 Mensch 37 Schleiereule 41, 42 Tierarten, verschiedene 37 Tab. 3 Z Zapfen, spektrale Empfindlichkeit 89 Fische 99 Insekten 101 Krebse 102 Meeressäuger 100 Säugetiere 89–92, 95 Tab. 6 Vögel 94–96, 97 Tab. 7