Nationalpark-Forschung in der Schweiz Band 108
Nationalpark-Forschung in der Schweiz Herausgegeben von der Forschungskommission des Schweizerischen Nationalparks – eine Kommission der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz SCNAT Recherches scientifiques au Parc National Suisse Publié par la Commission de recherche du Parc National Suisse – une Commission de l’Académie suisse des sciences naturelles SCNAT Ricerca scientifica sul Parco Nazionale Svizzero Pubblicato dalla Commissione di ricerca del Parco Nazionale Svizzero – una Commissione dell’Accademia svizzera di scienze naturali SCNAT Perscrutaziuns scientificas en il Parc Naziunal Svizzer Publitgà da la Cumissiun da perscrutaziun dal Parc Naziunal Svizzer – ina Cumissiun da l’Academia svizra da las scienzas natiralas SCNAT Scientific Research in the Swiss National Park Published by the Research Council of the Swiss National Park – a Council of the Swiss Academy of Sciences SCNAT
Früherer Titel der Reihe (bis Nr. 84): Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchungen im Schweizerischen Nationalpark (vgl. Verzeichnis der bisher erschienenen Arbeiten am Schluss des Buches)
RUDOLF HALLER MAJA RAPP ANDREA HÄMMERLE Herausgeber
Am Puls der Natur Der Nationalpark und sein Direktor im Spannungsfeld zwischen Forschung, Management und Politik
Haupt Verlag
Umschlagabbildung: Éric Alibert
Herausgeber
Rudolf Haller, Maja Rapp und Andrea Hämmerle
Herausgeberin der Publikationsreihe
Forschungskommission des Schweizerischen Nationalparks, eine Kommission der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz (SCNAT)
Gestaltung, Satz und Lithografie
Franziska Bock
Illustrationen
Éric Alibert
Bearbeitung Karten
Maja Rapp
Basisdaten Karten
Schweizerischer Nationalpark, swisstopo
Redaktion und Lektorat
Maja Rapp, Jürg Rohner, Simone Louis
Unterstützung
Zigerli-Hegi-Stiftung Bundesamt für Umwelt (BAFU) Schweizerischer Nationalpark
Zitierung
Haller, R., M. Rapp & A. Hämmerle (Hrsg.) (2018): Am Puls der Natur. Der Nationalpark und sein Direktor im Spannungsfeld zwischen Forschung, Management und Politik. Nat.park-Forsch. Schweiz 108. Haupt Verlag, Bern.
1. Auflage 2018 Diese Publikation ist in der Deutschen Nationalbibliografie verzeichnet. Mehr Informationen dazu sind unter http://dnb.dnb.de zu finden. Der Haupt Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt. ISBN: 978-3-258-08018-5 Alle Rechte vorbehalten. Copyright © 2018 Haupt Bern. Jede Art der Vervielfältigung ohne Genehmigung des Verlages ist unzulässig. Printed in Germany www.haupt.ch
Inhalt
Vorwort der Bundesrätin Doris Leuthard
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Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rudolf Haller, Maja Rapp und Andrea Hämmerle
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Die Könige des alpinen Luftraums – Uhu, Steinadler und Bartgeier David Jenny
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Der Luchs und seine Beute in den Alpen . . . . . . . . . . . . . . . . Urs Breitenmoser
36
Der Kolkrabe als Wegbegleiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heinrich Haller
60
In Szene gesetzt – Ein Blick in die Landschaft des Schweizerischen Nationalparks . . Rudolf Haller und Maja Rapp
88
Der Nationalpark als Theaterkulisse . . . . . . . . . . . . . . . . Hans Lozza, Simon Engeli und Giuseppe Spina
112
Das 100-Jahr-Jubiläum des Nationalparks in der Presse . . . . . . . . . . Norman Backhaus und Sarah Hartmann
134
Der Nationalpark und die Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andrea Hämmerle
152
Die Parallelen von Sport und Wissenschaft in Theorie und Praxis . . . . . . . Jan Rauch und Ursina Haller
176
Naturmuseen im modernen Naturschutz . . . . . . . . . . . . . . . Ueli Rehsteiner
198
Zwölf Ein- und Aussichten
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216
Die Chronologie der Ereignisse . . . . . . . . . . . . . . . . . .
230
Autoren und Literatur
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Vorwort der Bundesrätin
Sein Herz schlägt für den Nationalpark. In seinen Adern pulsiert Forscherblut. Seine institutionelle Hand ist geschickt. Alles vereint in der Person von Heinrich Haller. Getreu dem Titel dieser Festschrift agiert der scheidende Nationalparkdirektor «Am Puls der Natur». Als starke Persönlichkeit und kompetenter Wissenschaftler hat er den Park im Spannungsfeld von Forschung, Management und Politik als Leuchtturm des Naturschutzes positioniert. Der Schweizerische Nationalpark ist das grösste Freilandlabor des Landes. Die Gründerväter wünschten sich, dass hier «auf ewig» die Dynamik der Natur erforscht und darüber berichtet werde. Heinrich Haller hat dieses Vermächtnis beherzigt. Als Forscher treiben ihn Neugierde, Akribie, Beobachtungsgabe und Ausdauer an. Als Direktor vermittelt er diese Erkenntnisse den Parkbesuchern verständlich. Er lässt Fakten sprechen. Die stete Weiterentwicklung des Nationalparks geht er mit Weitblick, Sozialkompetenz und Ausdauer an. Mit Aufklärung begegnet er dem Hang vieler Menschen zur Romantisierung der Natur – und weckt damit bei ihnen ein besseres Verständnis von Fauna und Flora. Heinrich Haller gebührt für seinen Einsatz zugunsten des Schweizerischen Nationalparks Anerkennung und grosser Dank. In der Gewissheit um diese Verdienste darf er die Führung des Parks demnächst in andere Hände übergeben.
Doris Leuthard Bundesrätin Vorsteherin des Eidgenössischen Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation
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Vorwort der Herausgeber
Dieses Buch ist Heinrich Haller gewidmet, der den Schweizerischen Nationalpark (snp) als Direktor nun fast ein Vierteljahrhundert lang entscheidend prägt. Trotzdem wollen wir nicht primär die Verdienste des Geehrten ins Licht stellen und ihn feierlich in die Pension entlassen. Unser Ziel ist vielmehr, ganz verschiedenen Aspekten des Nationalparks auf den Grund zu gehen, Fakten sprechen zu lassen, sie inhaltlich zu diskutieren und weiterzuentwickeln. Einen wichtigen Schwerpunkt des Buches bilden naturwissenschaftliche Beiträge, Heinrich Haller ist ein leidenschaftlicher Forscher und Wildtierbiologe. Er selbst liefert mit seinem Beitrag zum bisher wenig erforschten Thema Kolkrabe im Hochgebirge eine Kostprobe seines wissenschaftlichen Schaffens. Die Herausforderungen, die sich einem Nationalpark im 21. Jahrhundert stellen, beschränken sich aber nicht nur auf naturwissenschaftliche Forschung. So geht es auch um Öffentlichkeitsarbeit, gesellschaftliche und politische Zusammenhänge, um historische und kulturelle Aspekte. Diese Vielfalt wird von Partnern und Wegbegleitern beschrieben. Es ist nicht unser Anspruch, vollständig zu sein, und erst recht nicht, die aufgeworfenen Fragen abschliessend zu beantworten. Weitergehende Untersuchungen sind unerlässlich. Umrahmt werden die Kapitel mit stimmungsvollen Illustrationen vom Naturmaler Éric Alibert, der vor zehn Jahren seine vielen Aquarelle und Zeichnungen aus dem Nationalpark in einem Buch veröffentlicht hat (Alibert & Rouyer 2008).
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Welches sind die prägenden Merkmale des snp? Er ist der älteste Nationalpark im Alpenraum, und er ist bis heute der einzige Nationalpark der Schweiz geblieben. Er ist eines der seltenen vollständig geschützten Naturreservate, Wildnis pur. Seine gesetzlich festgelegten Zielsetzungen sind seit je dieselben: der umfassende Schutz und die freie Entwicklung der Natur, deren wissenschaftliche Erforschung sowie ein Informations- und Bildungsauftrag. Dieses Alleinstellungsmerkmal und die Neugier hinsichtlich der ökologischen Zusammenhänge prägen die Arbeit des Nationalparkdirektors. Treibende Kraft ist seine Begeisterung für die intakte Natur. Im Jahre 2014 feierte der snp sein 100-Jahr-Jubiläum mit vielen breit angelegten Aktivitäten im Parkhauptort Zernez und in der ganzen Schweiz. Das mediale Echo war überwältigend und nur positiv. Der Schweizerische Nationalpark gehört heute zu den bekanntesten und populärsten Einrichtungen der Schweiz, obwohl er relativ klein ist und geografisch an der südöstlichsten Ecke des Landes liegt – weit weg von allen Zentren und Agglomerationen. Vielleicht leistet das vorliegende Buch einen Beitrag zum Verständnis dieses Phänomens.
Rudolf Haller, Maja Rapp und Andrea Hämmerle
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Die Könige des alpinen Luftraums – Uhu, Steinadler und Bartgeier DAVID JENNY
Uhu «Eine der grössten Herausforderungen für einen Feldforscher und Ornithologen ist die Erforschung des Uhus. Er ist ein faszinierender Beutegreifer, kaum sichtbar, gross und erst noch in der Nacht aktiv.» Diese Bemerkung hatte Heinrich Haller anlässlich einer gemeinsamen Feldtour in den 1980er-Jahren gemacht. Wie viele weitere seiner Aussagen im Zusammenhang mit der Wildtierbiologie hat sie sich in meinem Gedächtnis eingeprägt und sie trat bei meinen eigenen langjährigen Nachforschungen über den Uhu Bubo bubo (Abb. 1) wieder in Erinnerung. Auch heute bleibt eine profunde ökologische Datenerhebung beim Uhu schwieriger und aufwendiger als etwa bei Steinadler Aquila chrysaetos oder Bartgeier Gypaetus barbatus. Hallers Aussage widerspiegelt zugleich auch seine wildtierbiologische Motivation, den Spitzenprädatoren (Grossraubtieren) und Greifvögeln auf die Spur zu kommen. Er spricht von Herausforderung und nicht von Schwierigkeiten. Das sind Merkmale des pionierhaften Forschers, der angetrieben durch den Reiz des Neulands sein Streben auf die Klärung offener Fragen ausrichtet. Im Fall von Heinrich Haller sind es die mythenbeladenen Beutegreifer, die ihn besonders faszinieren, wie so manchen Naturfreund auch. Sein Anspruch war und ist es, mit wissenschaftlichen Fakten und Daten solide und umfassende Grundlagen zu schaffen, die den Ansprüchen der charismatischen Arten gerecht werden. Dabei müssen genügend grosse Stichproben untersucht werden, damit allgemeingültige Schlussfolgerungen gezogen werden können. Hallers erste wissenschaftliche Publikation trug den Titel «Zur Populationsökologie des Uhus im Hochgebirge: Bestand, Bestandesentwicklung und Lebensraum in den Rätischen Alpen».
Diplomarbeit an der Uni Bern In dieser Studie, die er 1978 im Rahmen einer Diplomarbeit an der Universität Bern unter der Leitung von Prof. Urs Glutz von Blotzheim erarbeitete, beleuchtete und beurteilte Haller den Zustand der Uhupopulation in Teilen Graubündens
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(Haller 1978). In dieser auf unzähligen (nächtlichen) Feldstunden basierenden Arbeit, wurde es erstmals möglich, die grösste Eule in Graubünden und der Schweiz ökologisch zu beurteilen. Für den Uhu als verletzliche und potenziell gefährdete Art sind derartige Grundlagen für effizienten Artenschutz von hoher Bedeutung. Zudem sind sie heute naturhistorische Dokumente, welche – auf Vergleichsbasis – die Erfassung von Veränderungen des Uhubestands ermöglichen. Abb. 1. Weibchen des Uhupaares bei Silvaplana. Mit 14 aufgezogenen Jungvögeln in 12 Jahren gehört es zum produktivsten Brutpaar im Engadin.
Erste Schritte als Wildtierbiologe Haller hatte während seiner Gymnasialzeit an der Alpinen Mittelschule in Davos als 17-Jähriger ein Uhupaar am Seehorn bei Davos entdeckt. Im Folgejahr (1972) untersuchte er dieses Paar eingehend mit Zelt, Fernrohr und Tonbandgerät. Es entstand eine hundertseitige Studie mit genauen Angaben, Skizzen und Auswertungen über die Biologie des Uhupaars am Seehorn, die von der Stiftung «Schweizer Jugend forscht» ausgezeichnet wurde. Haller beschreibt diese erste wissenschaftliche Arbeit als ausschlaggebend für seinen Werdegang
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zum Wildtierbiologen. Zentral dabei war aber auch sein Kontakt mit dem bekannten Naturforscher und Arzt Rudolf Melcher von Sils. Haller erstattete ihm bei seinen ersten Uhustudien jeweils ausführlich schriftlichen Bericht und erfuhr umgekehrt sehr viel praktisches Fachwissen vom damals wohl besten Uhukenner in der Region. Rudolf Melcher verunglückte mit dem Auto 1974 im Silsersee. Dieser Verlust hat den jugendlichen Haller tief betroffen gemacht.
Pionierhafte Erhebungen auf Populationsebene Das Uhupaar am Seehorn existiert heute nicht mehr. Seit Mitte der 1970er-Jahre gilt das Uhurevier bei Davos als verwaist und auch in der übrigen Landschaft Davos und im oberen Prättigau fehlen heute Uhunachweise, die auf Revierbesetzung hindeuten könnten. Dies belegt die labile Bestandssituation des Uhus in Graubünden. Haller wies in seinem Untersuchungsgebiet zwischen 1974 und 1977 insgesamt 24 besetzte Uhureviere nach. Die Reviere lagen meist perlschnurartig mit im Mittel ca. 7 km Abstand entlang der Haupttalachsen. Das war damals überraschend, denn man ging von weit geringeren Uhuvorkommen aus. Bis anhin fehlten systematische Erhebungen, die Schätzungen basierten ausschliesslich auf Zufallsbeobachtungen. Haller wies erstmals nach, dass sich der Uhubestand seit den direkten Nachstellungen bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts erholen konnte, zumindest im östlichen Graubünden. Uhus wurden in der Schweiz bereits 1926 unter Schutz gestellt. Als Folge direkter Nachstellungen waren Uhus zu jener Zeit in der ganzen Schweiz praktisch verschwunden. Im Engadin und in Graubünden hat sich aber eine kleine Uhupopulation halten können, die bis in die 1970er-Jahre angewachsen ist.
Uhumonitoring im Engadin Hallers Erhebungen aus jener Zeit waren um 2005 Anlass, den Uhubestand im Rahmen eines Brutpaarmonitorings erneut zu erfassen und ihn mit den Daten aus den 1970er-Jahren zu vergleichen. Ziel war es, aus der Bestandsentwicklung in Graubünden allfällige Artenförderungsmassnahmen abzuleiten. Dieser Vergleich wurde auf das Engadin zwischen Maloja und Susch eingeschränkt, weil eine alljährliche systematische Erhebung für diese schwierig zu erfassende Art nur für kleinere Räume realisierbar war. Die Vogelwarte Sempach führt das Uhumonitoring seit 2005 in Zusammenarbeit mit der Ornithologischen Arbeitsgruppe Graubünden und dem Amt für Jagd und Fischerei Graubünden durch.
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Die Könige des alpinen Luftraums – Uhu, Steinadler und Bartgeier
Abb. 2. Anzahl von Paaren besetzter Uhureviere zwischen Maloja und Susch.
Anzahl Revierpaare
Revierbesetzung (Paare) des Uhus im Engadin (Maloja bis Susch)
10 8 6 4 2 0 1975
1980
1985
1990
1995
2000
2005
2010
2015
Die Ergebnisse des Uhumonitorings (Abb. 2) zeigen einen Rückgang der Uhupräsenz im Engadin seit den Untersuchungen von Haller. Die Revierbesetzung liegt hier heute um ca. einen Drittel tiefer als in den 1970er-Jahren. Zudem sind heute Bündner Regionen verwaist, die damals vom Uhu besiedelt waren, so die Landschaft Davos (Uhupaar am Seehorn), das obere Prättigau oder das obere Hinterrheintal. Hallers Erhebungen von damals sind so solide, dass wir heute die Bestandseinbussen mit Sicherheit belegen können. Warum dies so wichtig ist, hat mit dem Umstand zu tun, dass die Zahl der Uhus in anderen Landesteilen durchaus zugenommen hat. Im Jura und in Teilen des Mittellands, wo vor 30 Jahren Uhus noch praktisch fehlten, sind in den letzten 10 Jahren markante Bestandszunahmen zu verzeichnen, deren Ursachen nur teilweise bekannt sind. Für eine Entwarnung in Sachen Artenschutzmassnahmen für den Uhu ist es aber eindeutig zu früh, weil wir in den Schweizer Alpen eine andere Entwicklung feststellen. Aussenstehende hätten gerne eine Antwort auf die Frage nach den Ursachen der unterschiedlichen Entwicklungen des Uhubestands und natürlich, worauf die rückläufige Entwicklung in den Bündner Alpen zurückgeht. Im dicht vom Menschen bevölkerten Mittelland nehmen die Uhuzahlen tendenziell zu, während sie in den abgelegenen Alpentälern seit den 1990er-Jahren wieder zurückgingen.
Uhu
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Abb. 3. Todesursachen gefundener Uhuopfer im Engadin 2005 bis 2016 (n = 26).
Mortalität des Uhus im Engadin
3 2
Bahn 11
Strasse Stromleitung
5
Unbekannt 5
Natürlich
Komplexe Einflussfaktoren Auf die Fragen nach den Ursachen der Veränderungen gibt es keine klaren Antworten, weil die Natur stets multifaktoriell wirkt. Immerhin können wir heute sagen, welche Ingredienzen in der Faktorensuppe zum Tragen kommen. Es ist dies neben dem Nahrungsangebot insbesondere die hohe, unfallbedingte Mortalität der Uhus. Eine im Wallis durchgeführte Studie wies nach, dass sich dort wegen der hohen Mortalität die Uhupopulation nur halten kann, weil ständig neue Uhus aus anderen Gebieten immigrieren (Schaub et al. 2010). Haller konnte bereits 1978 zeigen, wie die hohe Unfallmortalität den Uhus zusetzte. Stromschlagopfer und Verkehrsopfer waren mit 34 % bzw. 28 % der gefundenen toten Uhus bei weitem die häufigsten Todesursachen. Bis heute hat sich dies nicht verändert, im Gegenteil. Der Anteil der Unfallopfer bei den tot gefundenen Uhus ist seither im Engadin von 75 % auf 80 % angestiegen (Abb. 3). Interessanterweise hat sich dabei eine Verschiebung von mehrheitlich durch Stromschlag getöteten Uhus hin zu Bahnopfern abgezeichnet, welche bis 2016 42 % der Todesursachen ausmachten.
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Die Könige des alpinen Luftraums – Uhu, Steinadler und Bartgeier
Unterschiedliche Entwicklungen in den Landesteilen Aber warum sollten die Unfallrisiken den Uhus in den Alpen mehr zusetzen als im Norden der Schweiz? Auf diese Frage können wir heute nur mit Hypothesen antworten. Sie ist aber Anlass dafür, dass durch die Vogelwarte neu auch im Jura ein systematisches Uhumonitoring aufgebaut wird. Es gilt, die unterschiedliche Habitatstruktur zwischen Jura/Mittelland und den Alpen anzuschauen. Während in den nördlichen, ebeneren Gebieten sich die Uhureviere mehrheitlich flächig ausdehnen, werden sie in den Alpentälern entlang der Talachsen kanalisiert und perlschnurartig angeordnet. In diesen Lebensraum-Korridoren finden sich aber – genauso kanalisiert – Verkehrsachsen und Stromleitungen, von denen die hohen Sterberisiken für Uhus, insbesondere für flügge Jungvögel, ausgehen. Oft führen Strassen, Bahnen und Stromleitungen in unmittelbarer Nähe an Brutplätzen vorbei, welche sich typischerweise in den Felsen der angrenzenden Talflanken befinden. Dort fliegen Uhus nachts zur Jagd auf Kleinsäuger in die offenen Kulturlandflächen hinaus und nutzen nicht selten Stromleitungsmasten als Ansitzwarten. Ein weiterer Aspekt ist die Tatsache, dass im Norden der Schweiz und vor allem im angrenzenden Deutschland über Jahrzehnte gezüchtete Uhus in grosser Zahl ausgewildert wurden. Die Zuchtuhus, deren Herkunft leider grösstenteils unbekannt blieb, haben die Bestandsentwicklungen in der Nordschweiz mitgeprägt. Offen bleibt die Frage, inwiefern die Uhus in den Alpen sich von denjenigen im Norden der Schweiz und in Deutschland unterscheiden, genetisch oder auch was das Verhalten betrifft. Bemerkenswert ist jedenfalls die Feststellung, dass Uhus im süddeutschen Raum neben Felsbruten immer wieder auch Nester am Boden, auf Bäumen oder an Gebäuden besetzen, was bis anhin bei Uhus in den Schweizer Alpen noch nie nachgewiesen wurde.
Massnahmen zur Minderung der Sterblichkeit Haller wies schon 1978 auf die Intensivierung des Verkehrs hin und stellte keine optimistischen Prognosen für die Entwicklung des Uhubestands im östlichen Graubünden. Effiziente Artenschutzmassnahmen beim Uhu müssen auf die Minderung von Unfallrisiken ausgerichtet werden, das ist heute unbestritten. Solche Massnahmen wurden im Engadin mittlerweile eingeleitet und teilweise umgesetzt. 2012 wurden sämtliche gefährlichen Mittelspannungsmasten inventarisiert und bezüglich Gefährlichkeit für Uhus priorisiert. Bis 2016 wurden 17 % der gefährlichen Masten vogelsicher gemacht, dank Kooperation der zuständigen Netzbetreiber Engadiner Kraftwerke und Repower. Das dürfte ein Grund
Uhu
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sein, warum sich die Zahl der Stromschlagopfer an Mittelspannungsleitungen im Engadin seither stark verminderte, sich dafür aber der Anteil der Bahnopfer erhöhte. Dies war wiederum Anlass, auch mit der Rhätischen Bahn nach Lösungen zu suchen. Bei der Untersuchung der Bahnopfer stellten wir fest, dass viele der Opfer einen Stromschlag an der Fahrleitung erlitten, bevor sie vom Zug erfasst oder überrollt wurden. Daher wird nun in der Nähe von Uhubrutplätzen mittels Überwachungskameras ermittelt, an welchen Stellen Uhus die Fahrleitungsmasten als Sitzwarten nutzen. Danach wird die Sanierung der gefährlichsten Stellen an den Masten vorgenommen. Auch hier verläuft die Zusammenarbeit mit den Verantwortlichen der Rhätischen Bahn vorbildlich.
Akustische Erhebungen Uhus wecken Sympathie und faszinieren. Wer den Uhu hautnah in freier Wildbahn erlebt, ist ihm schnell verfallen. Neben seiner charismatischen Erscheinung sind es dessen unverkennbaren Lautäusserungen, die unter die Haut gehen. Die Vielfalt des Gesangs und der Rufe der Grosseule ist weit grösser, als früher angenommen wurde. Diese Erkenntnis geht insbesondere aus einer neuen Methodik hervor, welche die Vogelwarte seit zwei Jahren zur Bestandsermittlung im Engadin anwendet. Mittels an Brutplätzen aufgestellten Stimmenrekordern werden Unmengen von Audiodaten aufgenommen und ausgewertet. Dabei sollen neben Präsenzdaten an Brutfelsen auch die Lautäusserungen der Uhus analysiert werden. Neben dem bekannten Balzgesang des Uhumännchens und -weibchens gibt es gegen ein Dutzend weitere, miauende, zischende, klagende, bellende oder entenartige Rufe, die nur erahnen lassen, wie komplex die innerartliche Kommunikation ist. Wer hätte etwa gedacht, dass die Bettelrufe der Jungvögel individuell unterscheidbar sind? Und noch erstaunlicher, dass ein adoptierter Jungvogel von einem benachbarten Elternpaar problemlos aufgenommen und gefüttert wird, obwohl er doch als Fremdling zu erkennen ist? Mit modernen Hilfsmitteln ist es heute etwas einfacher geworden, dem Uhu auf die Schliche zu kommen. Die Herausforderung für den Feldforscher, sich dem Uhu und seiner Situation Schritt für Schritt zu nähern, bleibt allerdings bestehen. Und besonders schön, im März 2017 konnte mitten im Schweizerischen Nationalpark (snp) dank dem Einsatz eines Stimmenrekorders ein besetztes Uhurevier nachgewiesen werden. Unweit eines Felsens, in welchem Heinrich Haller 1976, zwei Jahrzehnte vor seinem Amtsantritt als Nationalparkdirektor, eine Uhubrut entdeckt hatte.
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Die Könige des alpinen Luftraums – Uhu, Steinadler und Bartgeier
Steinadler Waren die Uhustudien Heinrich Hallers quasi sein Gesellenstück als Wildtierbiologe, so waren die Untersuchungen zum Steinadler (Abb. 4) sein Meisterstück. Noch während seiner Uhuarbeit an der Mittelschule in Davos kartierte und dokumentierte er mehrere Steinadlerhorste in der Landschaft Davos. Aus seiner Korrespondenz mit Rudolf Melcher geht hervor, dass er damals bereits Pläne hatte, sich mit wissenschaftlichen Untersuchungen des Steinadlers anzunehmen. Melcher, der sich zu seiner Zeit auch als hervorragender Steinadlerkenner einen Namen machte, war auch hier väterlicher Ratgeber und Motivator. Leider war es Haller durch den frühen Tod Melchers nicht mehr vergönnt, seine intensiven Adlerstudien noch zu Lebzeiten Melchers zu beginnen. Zwischen 1978 und 1982 untersuchte Haller im Rahmen seiner Dissertation «Raumorganisation und Dynamik einer Population des Steinadlers in den Zentralalpen» die Steinadlerpopulation im östlichen Graubünden (Haller 1982). Diese Arbeit entstand wie bereits die Uhustudie zuvor unter der Leitung von Prof. Glutz von Blotzheim an der Universität Bern. Hallers verehrter Doktorvater – dessen Ratschläge, Anregungen und kritische Durchsicht der Manuskripte waren für ihn die entscheidende Hilfe. Abb. 4. Weibchen des Adlerpaars in der Val Tasna. Dieser Brutvogel kam im Mai 2017 durch einen Kampf mit Artgenossen ums Leben.
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Fortsetzung der Adlerstudien nach der Dissertation Danach wandte sich Haller der Erforschung des Luchses in den Nordalpen sowie im Wallis zu und leitete ab 1993 das Naturmuseum St. Gallen. Daneben setzte er seine Forschungen am Steinadler fort. Im Berner Oberland vervollständigte er die Kartierung der Steinadlerreviere inklusive zweier Paare im Bereich des Mittellands und beurteilte die Populationsentwicklung in den Schweizer Alpen (Haller 1988). Während seiner St. Galler Zeit verfasste er eine Studie über die Ausbreitungstendenzen der Steinadler im Alpenvorland (Haller 1994). Ein Gesamtwerk über den Steinadler in Graubünden schloss er kurz nach seinem Stellenantritt als Direktor des snp ab (Haller 1996a). Mit dieser umfassenden Steinadler-Monografie setzte Haller neue Massstäbe in der Kenntnis um den grössten fliegenden Beutegreifer in den Alpen und die Arbeit wird – obwohl in Deutsch verfasst – in den meisten wissenschaftlichen Publikationen über den Steinadler weltweit zitiert. Haller entwirft ein profundes Bild über die Situation der Steinadler in Graubünden, welches historische Entwicklungen, Ursachen für Veränderungen und die Einbettung der Erkenntnisse in einen gesamtökologischen Kontext umfasst. Damit liefert er die entscheidende Grundlage für effizienten Artenschutz des von Natur aus seltenen, verletzlichen Steinadlers. Hallers Hingabe für den Steinadler war Ende der 1980er-Jahre die entscheidende Motivation für meine eigene Hinwendung zum Steinadler im Rahmen einer Dissertation. Während der Realisierung meiner Studie im Kanton Bern, die ebenfalls unter der Leitung von Prof. Glutz von Blotzheim entstand, kam es immer wieder zu gemeinsamen Feldbegehungen und regen Fachdiskussionen, während welchen «die Welt vergessen ging». «Es ist die jagdliche Lebensweise und sein alpiner Lebensraum, welche beim Steinadler besonders faszinieren.» Die Aussage Hallers und sein feu sacré, wie er es nannte, waren so ansteckend, dass auch ich alsbald vom Adlerfieber erfasst wurde und es bis heute bin.
Kernaussagen zum Status der Bündner Steinadler – natürliche Regulation Haller präsentierte mit seinen Studien eine ganze Reihe neuer Erkenntnisse über die alpinen Steinadler. Er wies insbesondere nach, dass die Population in den Alpen einer markanten Dichteregulation unterliegt. Steinadler wurden bis weit ins 20. Jahrhundert hinein aktiv verfolgt und stark dezimiert. Anders als die grossen Beutegreifer Luchs, Wolf und Braunbär und auch der Bartgeier, überlebte er allerdings diesen Ausrottungsfeldzug. Die Population dürfte während des Bestandstiefs um 1920 um 50 Revierpaare im Kanton Graubünden umfasst haben, wie mittels historischer Daten hergeleitet werden konnte. Eine
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Die Könige des alpinen Luftraums – Uhu, Steinadler und Bartgeier
der wichtigsten Datengrundlagen war dabei die legendäre Dokumentation von Carl Stemmler (1955). Die oft gemachte Aussage, dass die Steinadler in den Alpen beinahe ausgerottet wurden, erwies sich gemäss Haller als zu pessimistisch. Bis heute ist der Bündner Adlerbestand auf 120 Paare angewachsen, was deutlich mehr als einer Verdoppelung entspricht (Abb. 5). Im Zuge der Verdichtung des Steinadlerbestands kamen sogenannte dichteabhängige Effekte immer stärker zum Tragen. Gemeint sind innerartliche Konkurrenzeffekte. Haller konnte schon in seiner Dissertation nachweisen, dass dabei unverpaarte junge «Einzeladler» bei dieser natürlichen Bestandsregulation einen Schlüsselfaktor darstellen. So zeigte er, dass es in der Umgebung des snp zwischen den Paarterritorien Einzeladlergebiete gab, welche von unverpaarten Vögeln vor allem im Winter rege genutzt wurden. Dort fanden die jagdlich noch weitgehend unerfahrenen Jungadler viel Aas in Form von umgekommenen Gämsen, Hirschen und Steinböcken notabene im Bereich der Wintereinstände der Huftiere. Daher kommt die geierähnliche Lebensweise der Einzeladler: ausgedehnte Streifzüge auf der Suche nach Fallwild und geklumptes Vorkommen zusammen mit anderen unverpaarten Jungadlern. Eine dieser
Anzahl Revierpaare
Bestandsentwicklung des Steinadlers in Graubünden 120 100 80 60 40 20 0 1900 1910 1920 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020
Steinadler
Abb. 5. Bestandsentwicklung des Steinadlers in Graubünden (Anzahl Revierpaare). Die Angaben beruhen auf Bestandsrekonstruktionen aufgrund historischer Daten (auslaufend) und Ergebnissen des Paarmonitorings Graubünden.
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Einzeladlerzonen lag auf der linken Inntalseite zwischen Brail und Zernez. Die dort angrenzenden Adlerpaare, etwa das Paar in der Val Cluozza, wiesen einen aussergewöhnlich geringen Bruterfolg auf. Der Grund lag in erster Linie im hohen, durch die Eindringlinge ausgelösten territorialen Stress, welcher regelmässiges Brüten oder die ungestörte Aufzucht von Jungvögeln stark einschränkte. Damit gelang der Nachweis eines Regelkreises, welcher auf natürliche Weise eine optimale Anpassung der Produktion von jungen Steinadlern an die Kapazität des Lebensraums ermöglichte. Das war die Perle in Hallers Dissertation, die zu jener Zeit auch in Fachkreisen nicht unumstritten war.
Antrieb für eine weitere Dissertation Es bestand Bedarf nach einer weiteren Klärung der dichteabhängigen Effekte mit noch mehr Daten und Fakten. In dieser Zeit begegnete ich Heinrich Haller zum ersten Mal. Ich reiste an einem Morgen im September 1985 nach Davos, wo ich ihn in seinem Wohnhaus In den Büelen besuchte. Im kleinen Büro im Parterre diskutierten wir ohne Unterbrechung über Steinadler. Als ich um 17.00 auf die Uhr schaute, dachte ich, sie sei defekt – so schnell war die Zeit verflogen. In meiner Dissertation ging es dann um den Nachweis der Einzeladlereffekte in einem anderen Gebiet. Im Berner Oberland konnten diese mittels Messungen der Brutqualität, mit Dummy-Eiern im Horst, Experimenten mit zahmen Beizadlern und mit vielen Feldbeobachtungen im Detail bestätigt werden (Jenny 1992). Haller besuchte mich oft in dieser Zeit, meist vom Wallis aus, wo er seine Luchsforschung betrieb.
Fokus auf die Einzeladler Heinrich Haller widmete sich nach seinen Luchsforschungen nochmals eingehend den Einzeladlern. Es gelang ihm, insgesamt 10 unverpaarte Steinadler zu fangen und zu besendern, wovon drei mit Satelliten-Peilsendern versehen wurden. Das war eine der intensivsten Feldphasen in Hallers Steinadlerzeit. Es galt, morgens vor der Dämmerung, die Verstecke neben den mit toten Huftieren beköderten Fangplätzen zu beziehen, um dann nach stundenlangem Ausharren zuzupacken. Meines Wissens ist Haller der einzige Naturforscher, der Steinadler händisch im Indianerstil mittels sogenannten Adlergammen fing. Später kamen auch Schlagnetzfallen zum Einsatz. Die meisten besenderten Einzeladler wurden mittels Handpeilung geortet. Was dies in den stark gekammerten Bündner Bergen bedeutet, habe ich an einem gemeinsamen Peiltag erlebt. Frühmorgens mit Skis vom Flüelapass aufs 3147 m hohe Flüela-Schwarzhorn rennen, vom
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Die Könige des alpinen Luftraums – Uhu, Steinadler und Bartgeier
Gipfel aus die allgemeine Signalrichtung einpeilen, runterfahren und mit dem Auto auf den Ofenpass fahren, wieder peilen, zurückfahren nach Scuol und mit der Sesselbahn hoch nach Motta Naluns, peilen, dann runter und ins Val S-charl hinein bis vor Tamangur. Haller erklomm das Flüela-Schwarzhorn insgesamt 51-mal für telemetrische Peilungen von Einzeladlern. Es zeigte sich, dass junge Steinadler in grossen Teilen des Alpenraums herumstreifen, stets auf der Suche nach Nahrung, welche in erster Linie aus Fallwild besteht. In der ersten Lebensphase der Adler sind die Streifgebiete am grössten. Ein mit Satellitentelemetrie überwachter Vogel beflog 15 000 km². Etwas ältere Vögel befliegen kleinere Räume und kommen tendenziell wieder ins Gebiet ihrer Herkunft zurück. Man nennt dies Philopatrie oder Heimatliebe. Auch die von Haller ausgewerteten, beringt gefundenen toten Steinadler bestätigen das Phänomen. Nach einer 3- bis 4-jährigen Zeit der Lehr- und Wanderjahre versuchen sich junge Steinadler in ihrem Heimatgebiet zu verpaaren und ein Revier zu besetzen. Dies macht biologisch Sinn, weil sie sich auf diese Weise dort fortpflanzen können, wo sie genetisch am besten angepasst sind.
Abschluss der Steinadlerstudien Mit der Publikation seiner Steinadler-Monografie und mit dem beruflichen Wechsel zum Nationalparkdirektor schloss Haller 1996 seine Forschungen über den Steinadler ab. Er wandte sich nebenberuflich dem Rothirsch zu und später dem Thema Wilderei. Das «Grundinteresse am Steinadler» aber ist geblieben, wie Haller sich ausdrückt. Dies äussert sich in bei Gelegenheit entdeckten Adlerbruten, in anhaltendem Medieninteresse an seinen fachlichen Stellungnahmen in Sachen Steinadler, aber auch in Recherchen für Buchkapitel in anderen Themenbereichen, welche mit dem Steinadler in Verbindung standen. So hat er in seinem jüngsten Werk über die Wilderei im rätischen Dreiländereck – im Fall eines Jagdfrevels nahe der Fuorcla del Gal – so lange mit Feldbeobachtungen recherchiert, bis er aufzeigen konnte, dass es sich beim gewilderten Steinadler um das Weibchen des ansässigen Paars im Raum Punt dal Gall handelte. Und er verfolgt mit Interesse die weitere Entwicklung und Erforschung der Bündner Steinadlerpopulation, die unter anderer Federführung fortgesetzt wurde und wird. Das ist einerseits die durch die Wildhut durchgeführte Überwachung ausgewählter Steinadlerpaare, sogenannter Fokuspaare, im ganzen Kanton Graubünden und andererseits das von der Vogelwarte Sempach koordinierte intensive Brutpaarmonitoring im Engadin seit dem Jahr 2000.
Steinadler
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Das Paarmonitoring bestätigt Hallers Hypothesen Entgegen den Annahmen in den 1990er-Jahren, der Steinadlerbestand in den Schweizer Alpen sei gesättigt, hat sich dieser in den letzten 20 Jahren nochmals weiter verdichtet, wenn auch in abgeschwächter Form. Seit 1994 ist die Zahl der Steinadlerpaare in Graubünden von 107 auf 120 gewachsen, in der Schweiz stieg die Anzahl auf heute 350 Paare an. Damit haben sich auch die Einzeladlereffekte noch weiter akzentuiert. Dies zeigt sich in einer sehr geringen Nachwuchsrate, welche im Engadin im Verlauf der letzten drei Jahre auf unter 0,3 Jungvögel pro Paar und Jahr gesunken ist (Abb. 6). Und sie äussert sich in einem hohen Anteil an Kampfopfern bei tot gefundenen Steinadlern (64 %, n = 44). Der Dichtestress der Steinadler ist seit Hallers Studien nochmals gewachsen und auch die Revierverteilung hat sich verändert. Gab es damals noch paarfreie Zonen, sogenannte Einzeladlergebiete, so haben sich diese durch die Ansiedlung neuer Paare in diesen Gebieten weitgehend aufgelöst. Als Folge davon verteilen sich die unverpaarten Jungadler heute weniger geklumpt, homogener in Zeit und Raum. Dadurch verteilen sich die Einzeladlereffekte gleichmässiger und somit auch der innerartliche Stress auf die Revierpaare. Haller sagte diesen Effekt bereits in den 1990er-Jahren voraus. Und tatsächlich, heute sind die alljährlichen Schwankungen des Bruterfolgs bei den Engadiner Paaren messbar kleiner geworden (Abb. 6).
Bestandsentwicklung und Bruterfolg des Steinadlers im Engadin
Nachwuchsrate
26
0.8
30
0.7 0.6
25
0.5
20
0.4 15
0.3
10
0.2
5
0.1
0
0.0 1975
1980
1985
1990
1995
2000
Die Könige des alpinen Luftraums – Uhu, Steinadler und Bartgeier
2005
2010
2015
Nachwuchsrate
Abb. 6. Bestandsentwicklung (Anzahl Paare) und Bruterfolg (Nachwuchsrate) des Steinadlers im Engadin. Datengrundlagen: 1975 bis 2001 unvollständig, jährliche Nachwuchsraten wurden aus Stichproben extrapoliert. Ab 2002 vollständiger Datensatz.
Anzahl Revierpaare
Paare 35
Steinadlerschutz – heute genauso wichtig wie früher Anders als vor gut einem Jahrhundert gilt der Steinadler heute als Sympathieträger. Sein Bestand hat sich seit dem Aderlass durch direkte Verfolgung erfreulich gut erholt und liegt heute im Bereich der Sättigung. Gleichzeitig nehmen auch Konflikte mit menschbedingten Aktivitäten zu. Störungen an Brutplätzen, Vergiftungen, Rückgang des Lebensraums setzen dem Steinadler vermehrt zu, nicht zuletzt wegen der relativ hohen Paarzahl. Der vollständige Schutz des Steinadlers ist heute mindestens so wichtig wie damals. Es ist nicht ganz einfach, diese vordergründig widersprüchliche Aussage plausibel zu machen. Wie wird heute, in der vitalen alpinen Steinadlerpopulation moderner, unbedingter Artenschutz begründet? Es ist in erster Linie die Verletzlichkeit der naturgemäss seltenen, sogenannten Spitzenprädatoren, die zuoberst in der Nahrungspyramide stehen. 120 Steinadlerpaare in Graubünden stehen einer Bevölkerung von fast 200 000 Menschen gegenüber und die Adler vermehren sich sehr langsam (heute knapp 0,3 Junge pro Paar und Jahr). Ein rein theoretisches, direktes Eingreifen in die Population hätte in kurzer Zeit den Rückgang, ja Zusammenbruch des Adlerbestands zur Folge. Und wenn man sich in die Sicht des Steinadlers hineinversetzt, wird bewusst, dass ein Adlerleben weit weg vom romantischen Bild der grossen Freiheit liegt. Steinadler erleben heute in den meisten Revieren Dichtestress. Dies hat zur Folge, dass sie oft gar nicht mit Brüten beginnen oder eine Brut aufgeben müssen. Hauptgrund sind die vielen fremden Artgenossen, die ständig ins Territorium eindringen und aus Prinzip verjagt werden. Dazu kommen andere, z.T. aggressive Arten wie Kolkraben oder Bartgeier, mit welchen es sich um gute Brutplätze oder um Nahrung zu streiten gilt. Und der Mensch: Seine wachsende Präsenz in den sensiblen Brutbereichen gefährdet den Fortpflanzungserfolg des Steinadlers zusätzlich. In jüngsten Forschungen wurden die anthropogenen Einflüsse auf die Steinadler bestätigt. Neben relativ seltenen Kollisionen zwischen Steinadlern und Segelflugzeugen (Jenny 2010) sind es vermehrt Störungen an Brutplätzen, insbesondere von Fotografen (Jenny 2015) und Bleivergiftungen (Jenny et al. 2016). Letzteres konnte in einer Untersuchung der Vogelwarte und des Amts für Jagd und Fischerei eindrücklich dokumentiert werden (Madry et al. 2015). Die Studie brachte insbesondere versteckte, sogenannte subletale Faktoren zutage, welche Steinadler belasten: Hohe Bleikonzentrationen finden sich in den Knochen der Steinadler. Die Bleiquellen stammen hauptsächlich aus der Jagdmunition. Steinadler nehmen Bleifragmente über Hegeabschüsse, ausgelegtes erlegtes Wildfleisch und jagdliche Aufbrüche auf. Die neuen Erkenntnisse trugen dazu bei, dass
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mittlerweile die Bündner Wildhut und ein Grossteil der Jägerschaft auf bleifreie Munition umgestellt hat. An diesem Beispiel wurde einmal mehr klar, dass ökologisch schädliche Vorgänge oft erst durch intensive Forschung erkannt werden, insbesondere bei der Wirkung von Giftstoffen. Die Umsetzung der entsprechend richtigen Massnahmen ist aber meist schwierig, weil bei versteckten Zusammenhängen viel Überzeugungsaufwand notwendig ist. Gegenwärtig wird eine neue Studie der Vogelwarte zusammen mit Partnern aufgegleist, in welcher junge Steinadler mit hochauflösenden Sendern versehen werden, um deren räumliche Bewegungen festzuhalten. Dabei ist geplant, Jungvögel noch im Horst zu besendern oder sie nach dem Ausfliegen zurückzufangen. Hallers Erfahrungen beim Fang und der Besenderung sind dabei unentbehrlich. Die technologischen Fortschritte bei der Satellitentelemetrie sind seit den 1990er-Jahren allerdings enorm und die Auflösung der zu erwartenden Daten ist so hoch, dass auch Verhaltensaspekte wie Thermikfliegen, Jagdflüge oder territoriale Auseinandersetzungen erkannt und quantifiziert werden können. Damit wird es möglich sein, Hallers Erkenntnisse auf einem noch feineren Level weiter zu untersuchen. Kürzlich fragte ich ihn über die Fangmethodik aus, die – nicht mehr im Stil von Adlergammen – mit Schlagnetzfallen erfolgen soll. Er meinte: «Ich habe solche Fallen noch im Keller und auch sogenannte Falkenhemden, welche zur Immobilisierung der gefangenen Adler dienen (Abb. 7). Du kannst sie haben.» Diese Utensilien sind nun nach einem 25-jährigen Dornröschenschlaf bereit für einen weiteren Einsatz.
Abb. 7. Von Heinrich Haller gefangene junge Steinadler, immobilisiert in Falkenhemden.
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Die Könige des alpinen Luftraums – Uhu, Steinadler und Bartgeier
Autoren und Literatur
Autorenverzeichnis Éric Alibert (1958) illustriert seit Langem Naturmotive und wurde schon mit der Goldmedaille der französischen Naturmaler ausgezeichnet. Er hat zahlreiche Bücher über die grossen Naturgebiete der Erde veröffentlicht. Seine Werke wurden in den Naturhistorischen Museen in Genf und Paris ausgestellt und sind in zahlreichen Privatsammlungen zu finden. Norman Backhaus (1963) hat an der Universität Zürich Geografie, Soziologie und Geschichte studiert und dort in Humangeografie habilitiert. Seine Forschungsschwerpunkte setzt er im Naturschutz und der Landschaftsentwicklung, Prozessen der Globalisierung und Raumaneignung. Er ist Wissenschaftlicher Abteilungsleiter am Geographischen Institut der Universität Zürich und seit 2013 Präsident der Forschungskommission des Schweizerischen Nationalparks (snp). Urs Breitenmoser (1955) hat an der Universität Bern Zoologie studiert und mit einer Arbeit über den Luchs promoviert. Nach einer Weiterbildung an der University of British Columbia in Kanada war er an der Schweizerischen Tollwutzentrale an der Veterinärmedizinischen Fakultät der Universität Bern für die Bekämpfung der Tollwut in der Schweiz zuständig und hat die Grossraubtier-Projekte des Bundes koordiniert. Seit 2002 ist er zusammen mit seiner Frau Christine BreitenmoserWürsten Vorsitzender der iucn/ssc Cat Specialist Group. Die beiden teilen sich heute auch die Geschäftsleitung der Stiftung kora.
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Simon Engeli (1978) studierte an der Scuola Teatro Dimitri. Seit 2002 realisiert er zahlreiche Inszenierungen als Schauspieler, Regisseur und Autor. Er ist Mitbegründer der Theaterwerkstatt Gleis 5 und spielt seit 2016 im Ensemble von «Karl’s kühne Gassenschau». Zusammen mit seinem langjährigen Freund Giuseppe Spina wurde er 2014 mit der künstlerischen Gesamtleitung für laina viva betraut. Er schrieb dieses Stück zum 100-Jahr-Jubiläum des snp und wirkte als Schauspieler mit. Heinrich Haller (1954) hat an der Universität Bern Zoologie, Botanik und Geografie studiert und an der Universität Göttingen in Wildbiologie habilitiert. Seine Fachgebiete sind die Gebirgsökologie im Allgemeinen und die grossen Wildtiere der Alpen im Speziellen. Heinrich Haller ist seit 1996 Direktor des snp. Rudolf Haller (1966) hat an der Universität Zürich Geografie und Kartografie studiert und zum Thema Geoinformationstechnologie und -management promoviert. Er beschäftigt sich mit Fragen der Geografischen Informationssysteme und räumlichen Analysen anhand von Fallbeispielen aus dem snp. Rudolf Haller leitet seit 2000 die Geoinformation im snp und übernahm 2012 auch den Forschungsbereich. Ursina Haller (1985) studierte Politikwissenschaften an der Universität Zürich und gehört zu den erfolgreichsten Snowboarderinnen der Schweiz. Sie nahm an zwei Olympischen Spielen teil und war Vize-Weltmeisterin in der Halfpipe. Seit ihrem Rücktritt vom Spitzensport (2014) ist sie Journalistin, unter anderem bei der «nzz am Sonntag».
Andrea Hämmerle (1946) absolvierte in Zürich und Basel ein Rechtsstudium und promovierte mit einer Arbeit über die Praxis des schweizerischen Strafvollzugs. Später bewirtschaftete er mit seiner Familie einen biologischen Landwirtschaftsbetrieb. Von 1991 bis 2011 war er Nationalrat und von 2001 bis 2008 Präsident der Eidgenössischen Nationalparkkommission (enpk). Sarah Hartmann (1990) hat an der Universität Zürich Geografie studiert und erlangte dort den Master of Science mit Vertiefung in Human- und Wirtschaftsgeografie. Derzeit doktoriert sie am Geographischen Institut der Open University (uk) zum Thema «medical travel facilitation» im Kontext von transnationaler Gesundheitsversorgung und SüdSüd-Mobilität. David Jenny (1959) hat an der Universität Zürich Biologie studiert und an der Universität Bern in Ornithologie promoviert. In Westafrika führte er anschliessend eine Studie über Leoparden durch. Seit 1997 beschäftigt er sich mit der Ökologie von Uhu, Steinadler und Bartgeier. Er unterrichtete als Mittelschullehrer Biologie und arbeitet als Regionalkoordinator im Engadin für die Schweizerische Vogelwarte Sempach und die Stiftung Pro Bartgeier. Hans Lozza (1965) schloss das Studium der Erdwissenschaften und das Höhere Lehramt an der eth Zürich ab. Nach einigen Jahren als Geologe trat er 1995 die Stelle in der Öffentlichkeitsarbeit des snp an. Seit 1997 ist er Leiter des Bereichs Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit. Er wirkte beim Jubiläum 100 Jahre snp als Gesamtprojektleiter.
Maja Rapp (1981) hat an der eth Zürich in Umweltingenieurwissenschaften diplomiert und später berufsbegleitend das Fernstudium Geoinformatik an der Universität Salzburg absolviert. Seit 2011 ist sie im snp im Bereich Forschung und Geoinformation tätig und ist für diverse gis-Projekte zuständig. Jan Rauch (1975) studierte Psychologie, Soziologie und Kriminologie. Nach einem Nachdiplomstudium der Sportpsychologie an der ehsm Magglingen promovierte er an der Universität Zürich zum Thema «Intuitive Physik im Sport». Er arbeitet als Berater von Einzelsportlern und Teams und ist Dozent im Bereich Sport- und Teampsychologie am iap Institut für Angewandte Psychologie der zhaw in Zürich. Er ist Vizepräsident der Swiss Association of Sport Psychology (sasp). Ueli Rehsteiner (1967) studierte in Zürich und Basel Biologie. Er diplomierte und promovierte mit Studien über Vögel. Von 2003 bis 2010 betreute er das nationale Programm «Artenförderung Vögel Schweiz» beim Schweizer Vogelschutz svs/BirdLife Schweiz. Seit 2010 ist er Direktor des Bündner Naturmuseums in Chur und Mitglied der Forschungskommission des snp. Giuseppe Spina (1979) schloss 2004 seine Ausbildung als Schauspieler an der Scuola Teatro Dimitri ab. Seither ist er in der Schweizer Kleinkunstszene mit zahlreichen Ensemblestücken und Solos aufgetreten. 2014 produzierte und inszenierte er laina viva. Seit 2012 betreibt er zusammen mit weiteren Theaterschaffenden die Theaterwerkstatt Gleis 5 in Frauenfeld.
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