Hilb, Corporate Governance, 3. A.

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Martin Hilb

(Herausgeber)

Corporate Governance im Praxistest


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Martin Hilb

(Herausgeber)

Corporate Governance im Praxistest

3. Auage

Haupt Verlag


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Zum Herausgeber

Prof. Dr. Martin Hilb ist Präsident und Delegierter der Board Foundation (www.icfcg.org), Präsident von «Schweizer Jugend forscht» und Vize-Präsident der Universität Luzern. Er war vormals Ordinarius für Betriebswirtschaft und Geschäftsführender Direktor des Instituts für Führung und Personalmanagement sowie Gründer und Leiter des PhD Programme in International Business an der Universität St. Gallen. In diesem Buch werden die wichtigsten Ergebnisse der besten von Martin Hilb (mit) betreuten Doktorarbeiten im Bereich der Führung und Aufsicht von Unternehmen auf jeweils wenigen Seiten vorgestellt und von namhaften Praktikern und Wissenschaftern bezüglich Relevanz, Innovation und Stringenz kurz kommentiert. Damit soll der Transfer der Forschungsergebnisse in die Praxis gefördert werden. Martin Hilb erhielt 2010 in den USA von der International Academy of Quality eine Goldmedaille «. . . for exceptional contributions to the principles and practice of quality in governance». Er ist nach Prof. Ira Millstein von Yale erst der zweite Wissenschafter, der diese weltweite Auszeichnung erhalten hat.

3. Auflage: 2017 2. Auflage: 2014 1. Auflage: 2012 Der Haupt Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. ISBN 978-3-258-08025-3 Alle Rechte vorbehalten. Copyright © 2012 Haupt Bern Gestaltung Umschlag und Inhalt: René Tschirren Umschlagbild: f1online / © Diamond Jede Art der Vervielfältigung ohne Genehmigung des Verlages ist unzulässig. Printed in Germany


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Inhaltsverzeichnis Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Martin Hilb Teil 1 «Keep it situational». . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Cooperative Governance: Genossenschaftlichkeit als Wettbewerbsvorteil. . . . . . . . . . . . . . . . Von Dr. Mischa Eckart (Japan) Kommentar aus Sicht der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . von Dr. h.c. Franz Marty Vormals Verwaltungsratspräsident der Raiffeisen Gruppe 1.2 Holistic Bank Governance. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . By Dr. Elena Voiakina (Russia) Practical Commentary . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . by Gerhard H. Müller Chief Executive Officer, RBS Coutts Bank Ltd 1.3 New International Bank Governance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . By Dr. Julia Indera Ramlogan (Trinidad and Tobago) Practical Commentary . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . by Sir Winfried Bischoff Chairman, Lloyds Banking Group plc 1.4 Hospital Governance – Unternehmerische Spitalführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von Dr. med. et Dr. oec. Doris Benz (Austria) Kommentar aus Sicht der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . von Johannes Seitz COO des Universitätsspitals Zürich

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17 22

24 30

32 50

52 56

Teil 2 «Keep it strategic» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.1 Corporate Governance and Sustainability . . . . . . . . . . . . . . . . . . . By Dr. Tudor Maxwell (Australia) Practical Commentary . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . by Paul Heinamann Chairman, Alexander Forbes Group Ltd

61 73


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Inhaltsverzeichnis

2.2 Corporate Governance and Innovation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von Dr. Nadine Nortmann Bitzer (Switzerland) Kommentar aus Sicht der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . von Prof. Dr. Pius Baschera VR-Präsident der Hilti AG 2.3 Corporate Governance and Business Development . . . . . . . . . . . . . Von Dr. Olaf Pätz (Germany) Kommentar aus Sicht der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . von Peter Rychiger VR-Präsident Inselspital Bern (Universitätsspital) 2.4 M & A Governance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . By Dr. Farsam Farschtschian (UK) Practical Commentary . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . by Dr. h.c. Helmut Maucher Honorary Chairman Nestlé SA

75 87

90 94

97 106

Teil 3 «Keep it integrated». . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.1 Family Business Governance. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von Dr. Corinne Mühlebach (Switzerland) Kommentar aus Sicht der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . von Dietrich Pestalozzi VR-Präsident und -Delegierter der Pestalozzi + Co AG 3.2 Corporate Governance and Balanced Scorecard . . . . . . . . . . . . . . . Von Dr. Katharina Rick (Dubai) Kommentar aus Sicht der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . von Dr. Dieter Heuskel Chairman Germany, The Boston Consulting Group 3.3 The Role of the Board of Directors in Turnaround Situations. . . . . By Dr. Lisa Hopfmueller (Germany) Kommentar aus Sicht der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . von Lauric Barbier Managing Director & Partner, Helbling Corporate Finance AG 3.4 Der Einfluss des Internationalisierungsgrades von Verwaltungsräten auf den Unternehmenserfolg. . . . . . . . . . . . . . . . Von Dr. Matthias Romer (UK)

111 124

127 132

134 148

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Inhaltsverzeichnis

Kommentar aus Sicht der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . von Martin Hellweg VR-Präsident und Managing Partner der Ally Management Group AG

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Teil 4 «Keep it controlled» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

161

4.1 Agency Assurance: The Role of the Audit Committee in Corporate Governance . . . . . By Prof. Dr. Robert LoBue (USA) Practical Commentary . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . by Edward A. Blechschmidt Former CEO, Novelis Inc. and Gentiva Health Services 4.2 Risk Management at Board and Management Levels . . . . . . . . . . . By Dr. Vinay Kalia (India) Practical Commentary . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . by Prof. Dr. Roland Müller VR-Präsident des Flughafens Altenrhein 4.3 Electronic Corporate Governance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . By Dr. Bernd Beuthel (Switzerland) Kommentar aus Sicht der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . von Dr. Urs Rüegsegger CEO der SWX 4.4 Corporate Governance and Shareholder Value . . . . . . . . . . . . . . . . Von Dr. Tobias Weichsler (Germany) Kommentar aus Sicht der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . von Dr. Jürg Witmer VR-Präsident der Clariant AG und der Givaudan SA

163 170

172 177

179 183

185 190

Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Integrierte Corporate Governance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Martin Hilb

193

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

197

Überblick über innovative praxisrelevante Forschungsarbeiten . . . . . . .

199

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Einleitung


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Corporate Governance-Praxis und -Wissenschaft werden häufig als zwei gegensätzliche Welten wahrgenom men, wie Abbildung 1 veranschaulicht. Corporate GovernancePraxis

Corporate GovernanceWissenschaft Zeitorientierung

Zukunft

Kurzfristigkeit

Zeitperspektive

Langfristigkeit

Reduzierung

Komplexitätsbewältigung

Starke Signale

Reaktionsmuster

Gegenwart

Aktion Strategische Ebene

Problemhandhabung Handlungsebene

Erweiterung Schwache Signale Evaluation Normative Ebene

Abbildung 1: Müssen Corporate Governance-Praxis und –Wissenschaft wirklich zwei Welten sein?

Gemeinsam ist beiden Welten, dass Probleme häufig isoliert wahrgenommen werden. Es erstaunt deshalb wenig, dass sich die Corporate Governance-Forschung und -Praxis immer noch auf einem relativ tiefen Entwicklungsstand befindet. Innovationen können in diesem Bereich u.E. nur dann entstehen, wenn Corporate Governance-Wissenschaft und -Praxis gezielt zusammenarbeiten. Das lehrt uns bereits ein altes Sprichwort: «Wer alleine arbeitet, addiert. Wer zusammenarbeitet, multipliziert.» Die vorliegende Schrift stellt einen weiteren Versuch dar, zwischen Corporate Governance -Wissenschaft und -Praxis eine Brücke zu schlagen. Wir wollen mit dieser Veröffentlichung – wie bereits mit den ersten vier Bänden1 – den Transfer neuer Forschungsergebnisse in die Unternehmenspraxis erleichtern.

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Vgl. Anhang auf Seite 197 ff.


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Einleitung

Band 1

Band 2

Band 3

Band 4

Eine Übersicht über alle bisher erschienenen Zusammenfassungen dieser innovativen praxisrelevanten Forschungsarbeiten finden Sie im Anhang dieses Buches. Die Auswahl der Projekte erfolgt aus der Vielzahl der durch den Herausgeber begutachteten Dissertationen. Dabei haben wir die Arbeiten in vier Empfehlungen unseres «New Corporate Governance»-Ansatzes2 gegliedert: – Keep it situational – Keep it strategic – Keep it integrated – Keep it controlled In dieser Schrift werden (gemäss der folgenden Abbildung 2) in diesen vier Hauptteilen sechzehn innovative Konzepte durch wissenschaftliche Autoren aus elf Ländern vorgestellt. Diese fassen jeweils die Grundlagen der Arbeit zusammen, präsentieren die Hauptergebnisse und geben Empfehlungen an die Praxis ab, die anschliessend von namhaften Praxisvertretern kommentiert werden.

2

Hilb, M. (2011): «New Corporate Governance», Springer, New York, 4th ed.


Einleitung

Theorie

Brücke

Praxis

Teil 1 «Keep it situational» Dr. Mischa Eckart (Japan)

1.1 Cooperative Governance

Dr. h.c. Franz Marty Vormals VR-Präsident der Raiffeisen Gruppe

Dr. Elena Voiakina (Russia)

1.2 Holistic Bank Governance

Gerhard H. Müller Executive Officer, RBS Coutts Bank Ltd.

Dr. Julia Indera Ramlogan (Trinidad and Tobago)

1.3 New International Bank Governance

Sir Winfried Bischoff Chairman, Lloyds Banking Group plc

Dr. med. et Dr. oec. Doris Benz (Austria)

1.4 Hospital Governance – Unternehmerische Spitalführung

Johannes Seitz COO des Universitätsspitals Zürich

Theorie

Brücke

Praxis

Teil 2 «Keep it strategic» Dr. Tudor Maxwell (Australia)

2.1 Corporate Governance and Sustainability

Paul Heinamann Chairman, Alexander Forbes Group Ltd

Dr. Nadine Nortmann Bitzer (Switzerland)

2.2 Corporate Governance and Innovation

Prof. Dr. Pius Baschera VR-Präsident der Hilti AG

Dr. Olaf Pätz (Germany)

2.3 Corporate Governance and Business Development

Peter Rychiger VR-Präsident des Inselspitals Bern (Universitätsspital)

Dr. Farsam Farschtschian (UK)

2.4 M & A Governance

Dr. h.c. Helmut Maucher Honorary Chairman, Nestlé SA

Theorie

Brücke

Praxis

Teil 3 «Keep it integrated» Dr. Corinne Mühlebach (Switzerland)

3.1 Family Governance

Dietrich Pestalozzi VR-Präsident und -Delegierter der Pestalozzi + Co AG

Dr. Katharina Rick (Dubai)

3.2 Corporate Governance and Balanced Scorecard

Dr. Dieter Heuskel Chairman Germany, The Boston Consulting Group

Dr. Lisa Hopfmueller (Germany)

3.3 The Role of the Board of Directors in Turnaround Situations

Lauric Barbier Managing Director & Partner, Helbling Corporate Finance AG

Dr. Matthias Romer (UK)

3.4 Der Einfluss des Internationalisierungsgrades von Verwaltungsräten auf den Unternehmenserfolg

Martin Hellweg VR-Präsident und Managing Partner, Ally Management Group AG

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Einleitung

Theorie

Brücke

Praxis

Teil 4 «Keep it controlled» Prof. Dr. Robert LoBue (USA)

4.1 Agency Assurance: The Role of the Audit Committee in Corporate Governance

Edward A. Blechschmidt Former CEO, Novelis Inc. and Gentiva Health Services

Dr. Vinay Kalia (India)

4.2 Risk Management at Board and Management Levels

Prof. Dr. Roland Müller VR-Präsident des Flughafens Altenrhein

Dr. Bernd Beuthel (Switzerland)

4.2 Electronic Corporate Governance

Dr. Urs Rüegsegger CEO der SWX

Dr. Tobias Weichsler (Germany)

4.4 Cooperative Governance and Shareholder Value

Dr. Jürg Witmer VR-Präsident der Clariant AG und der Givaudan SA

Abbildung 2: Sechzehn innovative Konzepte im Praxistest


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Teil 1 «Keep it situational»


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1.1 Cooperative Governance: Genossenschaftlichkeit als Wettbewerbsvorteil Von Dr. Mischa Eckart (Japan)

mit einem Praxis-Kommentar von Dr. h.c. Franz Marty Vormals Verwaltungsratspräsident der Raiffeisen Gruppe

Aktuelle Fragen Die globale Finanzkrise der Jahre 2007, 2008 und 2009 lässt das Feuer der weltweiten Corporate Governance Debatte wieder stärker brennen. Viele Beobachter und Exponenten fragen sich erneut: Wie können globale Grossunternehmen risikoreiche Auswüchse verhindern? Ist das Ziel der Unternehmung die eindimensionale Gewinnmaximierung? Welchen Stellenwert haben die verschiedenen Stakeholder des Unternehmens? Was bedeuten Ethik und Nachhaltigkeit im unternehmerischen Kontext? Steckt die moderne grosse Aktiengesellschaft in der Governance-Krise? Die Frage nach der «Good Governance» ist komplex, vielschichtig und aktueller denn je. Gewinner- und Verliererunternehmen Gerade in diesem Umfeld sind Unternehmen in punkto Governance auf dem Prüfstand. Kapitalgeber, Kunden, Mitarbeiter, Behörden und Medien evaluieren ihre Engagements und Meinungen zu den verschiedenen Unternehmen neu. Insbesondere die Medien weisen dabei gerne auf die Gewinner- und Verliererunternehmen hin. Am Beispiel der aktuellen Finanzkrise ist dabei auffallend, dass alternative Organisationsformen wie genossenschaftliche Unternehmen


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Teil 1: Keep it situational

als Gewinner bezeichnet werden. Im ersten Halbjahr 2008, beispielsweise flossen den genossenschaftlich organisierten Schweizer Raiffeisenbanken 6 Milliarden Franken an neuen Kundengeldern zu. Ein klarer Gegensatz zum generellen Trend. Genossenschaften als potenzielle Gewinner Hat ihre genossenschaftliche Organisationsform etwas mit dem Erfolg und der Krisensicherheit der schweizerischen Raiffeisen Gruppe zu tun? Während genossenschaftliche Organisation und gute Governance sicherlich keinen unmittelbaren Kausalzusammenhang bilden, ist die Grundthese meiner Arbeit, dass gerade genossenschaftliche Organisationen wertvolle Potenziale besitzen, um gute Governance herbeizuführen und sich im Wettbewerb zu differenzieren. Die Frage ist dabei, welches diese Potenziale sind und wie sie sich auch von nicht per se genossenschaftlich organisierten Unternehmen einsetzen lassen. Licht ins Dunkel Meine Arbeit zum Thema «Cooperative Governance» soll Licht ins Dunkel bringen. Die Dominanz der modernen Kapitalgesellschaft in Wissenschaft und Praxis versperrt den Blick auf andere Organisationsformen und deren Eigenschaften. Das Ziel der Arbeit ist, für Wissenschaftler und Praktiker die Governance von genossenschaftlichen Organisationen aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten und Empfehlungen für diese Zielgruppen zu formulieren. Theoretische Kontrolle des Kooperationsbetriebs Die Studie beleuchtet genossenschaftliche Organisationen zunächst aus mehreren theoretischen Perspektiven. Dabei werden sogenannte kooperative Gruppen näher beleuchtet. Bei kooperativen Gruppen handelt es sich um grössere Mitgliederorganisationen mit mehreren Mitgliederbetrieben und einem zentralen Kooperationsbetrieb, der sich im Besitz der Mitgliederbetriebe befindet. Aus dieser Struktur ergibt sich eine spezielle Governance Problemstellung: die Mitglieder kontrollieren den Kooperationsbetrieb von unten nach oben. Dies führt zu einer Art direktdemokratischen Legitimierung des Kooperationsbetriebs und dessen Board. Gleichzeitig wird aber eine strategische Führung der gesamten Gruppe erschwert.


Cooperative Governance: Genossenschaftlichkeit als Wettbewerbsvorteil

In der genossenschaftlichen Theorie wird dieser Konflikt besonders klar. Kooperationsbetrieb und Mitgliederbetriebe ringen ständig um Fragen der Führung der Gruppe. Es besteht ein inhärenter Governance Konflikt. Da der Kooperationsbetrieb im Eigentum der Mitgliederbetriebe ist, scheint es logisch, dass die Mitgliederbetriebe den Kooperationsbetrieb als Dienstleistungszentrum führen. Diese Sicht wird durch die Agency Theorie bestätigt. Der Kooperationsbetrieb fungiert klar als Agent der Mitgliederbetriebe. Praktische Führung der Mitgliederbetriebe Am Beispiel der zwei Fallstudien der schweizerischen Raiffeisen Gruppe und der schweizerischen Regionalbankengruppe RBA wird aber klar, dass die strategische Führung ein durchaus realistischer Anspruch ist. In der Praxis wirken diese Organisationen eher wie multidivisionale Konzerne oder Franchising Organisationen. Generell befinden sich diese Organisationen in einem Transformationsprozess. Der Kooperationsbetrieb wird immer mehr zur Zentrale (Hauptsitz) und die Mitgliederbetriebe immer mehr zu Vertriebseinheiten (Filialen). In der Praxis lässt sich erkennen, dass diese Spannungsfelder vielschichtig und keineswegs schwarz-weiss sind. Gerade die Raiffeisen Gruppe versucht aktiv, eine Art «Dritten Weg» zu gestalten, in dem sie die Vorteile der strategischen Führung durch den Kooperationsbetrieb und die Kontrolle der Mitgliederbetriebe durch Partizipationsprozesse kombiniert und zu ihrem Vorteil nutzt. Auch die weniger stark integrierte RBA Gruppe steht vor dieser Herausforderung. Die im Rahmen der Studie durchgeführten Interviews mit Exponenten der untersuchten Organisationen zeigen Feststellungen wie: «Die Rolle des Verbands (zentraler Kooperationsbetrieb der Raiffeisen Gruppe) ändert sich vom reinen Dienstleister zur Führungsinstitution», «Es ist absolut kritisch, dass die Mitglieder in die Diskussion um die Strategie der Gruppe einbezogen werden» oder «Die RBA Gruppe ist in ihrem Entwicklungsweg nicht so weit gegangen wie Raiffeisen». Diese Aussagen sind exemplarisch für den Transformationsprozess. Cooperative Governance: ein «sowohl-als-auch» Modell Eine weitere Frage, die in den Interviews häufig aufgeworfen wurde war: «Können es sich genossenschaftliche Organisationen leisten, anders zu sein».

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Teil 1: Keep it situational

Die Frage wird vor dem Hintergrund der hohen Kosten der aktiven Partizipation in genossenschaftlichen Organisationen gestellt. Die Angst besteht, dass teure und langwierige Findungsprozesse genossenschaftliche Gruppen an der für das Überleben im Wettbewerb wichtigen schnellen Entscheidungsfindung behindern. Hier setzt das aus der theoretischen und praktischen Sicht abgeleitete «Cooperative Governance» Modell an. Wie unten abgebildet greift das Modell das zentrale Spannungsfeld in zwei Dimensionen auf: eine notwendige «harte» Dimension und eine differenzierende «weiche» Dimension der Governance. Cooperative Governance Notwendige (harte) top-down Governance Kompetenz

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Typische grosse Publikumsgesellschaften (Kontroll- und Partizipationsdefizit)

Cooperative Governance

(keine Governance Kompetenz)

Typische Genossenschaften (Führungs- und Strategiedefizit)

Differenzierende (weiche) bottom-up Governance Kompetenz

Mit Hilfe des Modells können gängige grosse Aktiengesellschaften kooperativen Gruppen oder Genossenschaften gegenübergestellt werden. In gängigen grossen Aktiengesellschaften besteht das klassische Kontrollproblem (klassische Corporate Governance Debatte) der Eigentümer. Dafür haben diese Organisationen meist kein Führungsproblem. Sie können schnell und umfassend handeln. Dies ist jedoch genau die vermeintliche Schwäche von genossenschaftlichen Organisationen. Die starke Kontrolle durch die Mitglieder erschwert die strategische Führung. Notwendige «harte» Führungskompetenz Gerade aus der Gestaltung dieses Spannungsfelds können nun aber die gängigen grossen Aktiengesellschaften und genossenschaftlichen Organizationen von einander lernen. Genossenschaftliche Organisationen müssen den Führungsanspruch des Kooperationsbetriebs und dessen Managern akzeptieren.


Cooperative Governance: Genossenschaftlichkeit als Wettbewerbsvorteil

Die Autonomie der Mitglieder ist ein Mythos, den es realistisch zu interpretieren gilt. Damit sich gerade grosse Genossenschaften im Wettbewerb behaupten können, braucht es erfahrene und starke Manager. Mit ihnen müssen Strukturen und Prozesse geschaffen werden, in denen effizient Entscheidungen gefällt werden können. Weiche Faktoren als Wettbewerbsfaktor Gleichzeitig sollten genossenschaftliche Organisationen aber der Versuchung widerstehen, auf diesem Weg zu weit zu gehen. Ein Festhalten an der Organisationsform und deren interner Partizipationsprozesse ist absolut notwendig. Durch die aktive Partizipation der Mitglieder geniesst die genossenschaftliche Führung eine Legitimationsgrundlage, die nicht nur vor risikoreichen Auswüchsen schützen sollte, sondern auch als externes Differenzierungsmerkmal im Wettbewerb dienen kann. Die zunehmende Austauschbarkeit der Produkte und Dienstleistungen von Unternehmen führt dazu, dass zunehmend weiche Faktoren im Wettbewerb eine Rolle spielen. Kunden, Mitarbeiter und Kapitalgeber entscheiden sich zunehmend für Unternehmen, die glaubhaft machen, dass sie im Sinne der Stakeholder, nachhaltig handeln und dass sie einen konkreten Sinn stiften. Genossenschaftliche Organisationen sind dem konkreten Nutzen der Mitglieder verpflichtet (Sachziel) und nicht der abstrakten Profitmaximierung (Formalziel). Ohne die aktive Kommunikation der Andersartigkeit von Genossenschaften bleibt dessen Potenzial im Wettbewerb ungenutzt. Viele Kunden beispielsweise wissen nicht, was es heisst ein Mitglied einer Genossenschaft zu sein. Faktoren wie die Möglichkeit der Mitsprache oder der Mitgliedernutzen als konkretes Ziel sind weiche Eigenschaften, die für Kunden, Mitarbeiter und Kapitalgeber entscheidend sein können. Dies ist auch die zentrale Einsicht für die gängigen grossen Aktiengesellschaften. Mit weichen Faktoren differenziert man sich heute im Wettbewerb, insbesondere wenn nachhaltiger Wert für die Aktionäre geschaffen werden soll. Gerade verstärkte Legitimationsprozesse durch vermeintlich teure und langwierige Partizipation der Stakeholder zahlen sich längerfristig aus. Und zwar zweifach: 1. Intern führt die Partizipation der Stakeholder zur Kontrolle des Managements und zum besseren Risikomanagement. 2. Extern führt die Partizipation als weicher Faktor zur Differenzierung im Wettbewerb.

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Teil 1: Keep it situational

Förderung der Vielfalt Wie einleitend erwähnt, wirft die aktuelle Krise in der Finanzindustrie die Frage auf, ob die gängige grosse Aktiengesellschaft aufgrund ihrer Corporate Governance Mängel in der Krise steckt. Gerade vor diesem Hintergrund scheint es unabdingbar, dass die organisationelle Vielfalt im privaten Sektor aktiv gefördert wird. Genossenschaftliche Praktiker sollten stolz auf ihre Organisationen sein und diese weiterentwickeln, ohne die Grundprinzipien aufzugeben. Das Gleiche gilt für die Wissenschaft. Der Mainstream sollte mit Arbeiten zu verschiedenen Organisationsformen bereichert werden. Dominante Dogmen und Forschungslinien sollten in Frage gestellt werden. Eine farbenfrohe Welt sollte mit ebenso farbenreichen Methoden und Theorien beschrieben und erforscht werden.

Kommentar aus Sicht der Praxis von Dr. h.c. Franz Marty Vormals Verwaltungsratspräsident der Raiffeisen Gruppe Raiffeisen als Mitgliederbank Raiffeisen steht ohne Vorbehalt zur Organisationsform als Genossenschaft. Die Mitgliederbank ist heute mit und dank dieser Verfassung die drittgrösste Bankengruppe der Schweiz geworden. Die Mitglieder sind mit ihrer lokalen Raiffeisenbank dreifach verbunden: Sie stellen ihr das Kapital, nutzen ihre Vorteile und entscheiden selbst mit. Diese Kooperation geniesst eine hohe Akzeptanz, denn Raiffeisen zählt bereits über 1.5 Millionen Mitglieder und Jahr für Jahr kommen weitere 100 000 hinzu. Die Raiffeisenbanken pflegen als Unternehmen, das ihren Mitgliedern gehört, ihr unverwechselbares Profil. Zwischen den Raiffeisenbanken und ihren Mitgliedern besteht eine langfristige, meist lebenslange Beziehung. Strategie, Marktbearbeitung und Dienstleistungen sind gezielt auf die Mitglieder als Kunden ausgerichtet, was Kundennähe und Vertrauen schafft. Wie es Mischa Eckart in seiner Dissertation empfiehlt, betrachtet Raiffeisen die Genossenschaftlichkeit als einmalige Chance im Wettbewerb. In Zeiten des Wandels stellt Raiffeisen die langfristige Ausrichtung und Sicherheit in den Vordergrund, nicht die kurzfristigen Erfolge. Raiffeisen steht zu den genossenschaftlichen Werten und zur Tradition und verbindet diese mit den Bedürfnissen der Gegenwart. Die Raiffeisenbanken bleiben lokal veran-


Cooperative Governance: Genossenschaftlichkeit als Wettbewerbsvorteil

kert und vernetzt und werben für die Vorteile der Mitgliedschaft. Der Förderauftrag als Genossenschaft wird laufend aktualisiert, beispielsweise profitieren die Mitglieder vom Gratiseintritt in die Museen oder werden jährlich preisgünstige Familienreisen angeboten. Diese Wertschätzung für die Mitglieder stärkt als weicher Faktor die Bindung und unterscheidet die Raiffeisenbanken von anderen Mitbewerbern. Raiffeisen als kooperative Gruppe Die 360 Raiffeisenbanken sind zu einer Gruppe zusammengeschlossen und sind Eigentümer von Raiffeisen Schweiz als Kooperationsbetrieb. Mischa Eckart beleuchtet in seiner Dissertation die Governance in dieser kooperativen Gruppe und weist darauf hin, dass die Führung eines solchen Genossenschaftsverbandes hohe Anforderungen stellt. Seine Analyse, dass zwischen den Raiffeisenbanken und Raiffeisen Schweiz um die Kontrolle von unten und die Führung von oben gerungen wird, bestätigen Praxis und Erfahrung. Die Empfehlung von Mischa Eckart, diese Spannung auszutragen und einen «Dritten Weg» zu gestalten, sind wegleitend. Tatsächlich beruht der Erfolg der Raiffeisen Gruppe darauf, dass zwischen Raiffeisen Schweiz und den Raiffeisenbanken ein ausgewogenes Verhältnis von Führung und Kontrolle gepflegt wird. Raiffeisen Schweiz entwickelt die Strategie für die ganze Gruppe, stellt sie aber unter den Raiffeisenbanken zur Diskussion, bevor der Verwaltungsrat von Raiffeisen Schweiz definitiv entscheidet. Dieser Partizipationsprozess beansprucht einen hohen Kommunikationsaufwand und ausreichend Zeit. Die Vorteile überwiegen aber im Endergebnis die Nachteile. Dank der Mitbeteiligung der Raiffeisenbanken an der Strategiefindung fliessen eine Vielzahl von Fragen, Überlegungen und Vorschlägen in die Diskussion ein. Die kritische Auseinandersetzung bewahrt vor überstürzten oder unvorsichtigen Beschlüssen. Wenn aber nach abgeschlossenem Meinungsaustausch definitiv entschieden wird, tragen die Raiffeisenbanken das Ergebnis mit und wird die Strategie gemeinsam umgesetzt.

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