DIE AMAZONASTAGEBÜCHER Henry Walter Bates’ Zeichnungen & Reiseberichte
Mit Seiten aus seinen illustrierten Tagebüchern und Auszügen aus dem «besten Buch über naturkundliche Reisen, das je veröffentlicht wurde» (Charles Darwin)
DIE AMAZONASTAGEBÜCHER
DIE AMAZONASTAGEBÜCHER Henry Walter Bates’ Zeichnungen & Reiseberichte
Herausgegeben vom Natural History Museum, London
Aus dem Englischen übersetzt von Wiebke Krabbe Haupt Verlag
ANMERKUNG DES VERLAGES 1863 veröffentlichte der Londoner Verlag John Murray erstmals das Werk The Naturalist on The River Amazons in zwei Bänden. 1866 erschien die anonyme deutsche Übersetzung unter dem Titel Der Naturforscher am Amazonenstrom. Leben der Thiere, Sitten und Gebräuche der Bewohner, Schilderung der Natur unter dem Aequator und Abenteuer während eines elfjährigen Aufenthalts bei der Dyk’schen Buchhandlung in Leipzig. Die in diesem Buch abgedruckten Auszüge wurden der englischen Erstauflage entnommen und neu übersetzt. Dabei handelt es sich größtenteils um Beschreibungen naturkundlicher Phänomene, die Bates in Südamerika beobachtete, und Schlussfolgerungen, die er daraus zog. Zwischenüberschriften zeigen an, wo ein neuer Auszug beginnt, und Auslassungszeichen machen Stellen kenntlich, an denen ein Teil des ursprünglichen Texts ausgelassen wurde. Während seines Aufenthalts am Amazonas schrieb und illustrierte Bates zwei Tagebücher, die den gemeinsamen Titel Insect Fauna of the Amazon Valley (deutsch: Insektenfauna des Amazonasbeckens) trugen. Da die beiden Tagebücher jeweils mehrere Hundert Seiten umfassen, wurden für dieses Buch nur die visuell interessantesten Seiten ausgewählt. Die Seiten sind in Originalgröße abgedruckt. Weil die beiden Tagebücher leicht unterschiedliche Formate haben, unterscheiden sich in diesem Buch die Randbereiche der Seiten.
INHALT Einführung
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Der Naturforscher am Amazonas Vorwort Von Pará nach Obydos
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Insektenfauna des Amazonasbeckens Auszüge aus dem ersten Tagebuch
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Der Naturforscher am Amazonas Von Santarém nach Ega
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Insektenfauna des Amazonasbeckens Auszüge aus dem zweiten Tagebuch
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Der Naturforscher am Amazonas Ega und Oberer Amazonas
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Foto von Henry Walter Bates w채hrend seiner Zeit als Zweiter Sekret채r der Royal Geographical Society. Diesen Posten trat er 1864 an, f체nf Jahre nach seiner R체ckkehr vom Amazonas.
EINFÜHRUNG
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ENRY WALTER BATES wurde am 8. Februar 1825 als ältester Sohn eines Strickwarenhändlers in Leicester geboren. Er verließ mit 13 Jahren die Schule und ging bei einem Strickwarenhersteller in die Lehre, um später in den Betrieb seines Vaters einzutreten. Schon als Kind interessierte er sich für die Naturkunde, vor allem für Insekten. Dieses Interesse wuchs, als er 1844 Freundschaft mit Alfred Russell Wallace schloss, der damals Englisch an der Collegiate School in Leicester unterrichtete. Die beiden jungen Männer lasen gern und sammelten mit Begeisterung Käfer. Alexander von Humboldts Berichte über seine Reisen durch Südamerika und Charles Darwins Bericht über seine Reise mit der Beagle brachte sie auf die Idee, sich ganz ihrem Forscherdrang zu widmen und das brasilianische Amazonasgebiet zu bereisen. Im Gegensatz zu Darwin waren Bates und Wallace nicht wohlhabend. Sie finanzierten ihre Reise, indem sie gesammelte Exemplare (Pflanzen, Tiere) nach England schickten und versteigern ließen. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren neue und exotische Arten aus bislang unerforschten Teilen der Erde sehr begehrt. Bevor sie aufbrachen, trennten sich ihre Wege noch einmal, denn Wallace ging für einige Jahre nach Wales, um im Unternehmen seines Bruders eine Lehre als Landvermesser zu absolvieren. Die Landvermessung war damals wegen des schnell wachsenden Eisenbahnnetzes sehr gewinnbringend, und so konnte Wallace das Geld aufbringen, das ihm und Bates erlaubte, ihren Traum zu verwirklichen und nach Südamerika zu reisen.
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Nachdem das British Museum ihnen versichert hatte, dass für Sammelexemplare ein guter Markt vorhanden sei, beauftragten sie das renommierte Auktionshaus Stevens mit dem Verkauf ihrer Funde. Im April 1848 bestiegen Bates und Wallace in Liverpool ein Schiff, das sie nach Pará (heute Belém) nahe der Amazonasmündung bringen sollte. Was für ein gewagtes Unternehmen eine solche Reise in den 1840er-Jahren war, können wir uns heute kaum vorstellen. Moderne Verkehrs- und Kommunikationsmittel machen heute das Reisen einfach und bequem, und Kenntnisse über die Übertragung, Vorbeugung und Behandlung von Tropenkrankheiten helfen, Risiken zu minimieren. Abgesehen von einer 160 Kilometer langen Fahrt flussabwärts auf dem Rio Tocantins verbrachten Bates und Wallace das erste Jahr ihrer Reise in Pará, lernten die dortigen Sitten kennen und übten sich im Sammeln, das ihren Lebensunterhalt darstellte. Die Vielfalt der Tiere, vor allem der Insekten, in den Wäldern und an den Flussufern übertraf alle ihre Erwartungen. Wallace konnte Samuel Stevens berichten, dass sie in den ersten beiden Monaten nicht weniger als «… 553 Lepidoptera-Arten [Schmetterlinge] … 450 Käfer und 400 anderer Ordnungen …» gesammelt hatten. Nach ihrer gemeinsamen Expedition auf dem Rio Tocantins reisten Bates und Wallace meist getrennt, vermutlich, weil sie durch gesammelte Exemplare Geld für weitere Expeditionen aufbrachten – und das war einträglicher, wenn sie an verschiedenen Orten sammelten. Wallace blieb insgesamt vier Jahre in Südamerika. Er bereiste das obere Amazonasgebiet, hauptsächlich um den Rio Negro und den Rio Vaupés. 1852 kehrte er nach England zurück. Auf der Reise entging er nur knapp dem Tod, denn sein Schiff geriet in Brand, und er musste aus dem Rettungsboot zusehen, wie seine gesamte, mühsam zusammengetragene Sammlung im Meer versank. Anschließend reiste er nach Südostasien und machte sich mit seinen herausragenden Sammlungen und Schriften einen Namen. In seinem Essay On the Tendency of Varieties to Depart Indefinitely from the Original Type (deutsch: Über die Neigung der Varietäten, sich unbegrenzt vom ursprünglichen Typus zu entfernen) beschrieb er eine in den Grundzügen sehr ähnliche Evolutionstheorie wie Charles Darwin. Bates dagegen blieb elf Jahre am Amazonas und schickte Teile seiner Sammlungen mit mehreren Schiffen nach England, um das Risiko eines Total-
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Eine Seite aus Henry Walter Bates’ erstem Reisetagebuch, auf der er die durchschnittlichen Temperaturen und Wetterverhältnisse akribisch aufgezeichnet hat.
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Eine der Zeichnungen, die Bates während seiner Reisen auf losen Blättern anfertigte und später seinen Reisetagebüchern beifügte.
verlusts zu vermeiden. Er reiste meist allein, sammelte mit großer Hingabe und verfasste detaillierte Aufzeichnungen über seine Funde und die Ergiebigkeit verschiedener Gebiete. Er lebte äußerst sparsam, reiste meist auf Wasserwegen und hielt unterwegs seine Beobachtungen in Texten und Zeichnungen fest. Während dieser Zeit erkrankte er an Malaria und Gelbfieber. Zeitlebens, auch nach seiner Rückkehr nach England, blieb seine Gesundheit angegriffen. Obwohl Bates’ Hauptinteresse der Entomologie galt, ließ er sich davon beim Sammeln nicht einengen. Neben 14 000 Insektenarten sammelte er rund 712 Säugetier-, Reptilien-, Vogel-, Fisch- und Molluskenarten. Als Helfer engagierte er dabei Einheimische. Bates hat sich aber nicht nur durch seine umfangreichen Sammlungen hervorgetan. Die Dauer und Intensität seines Aufenthalts und sein einzelgängerischer Lebensstil ermöglichten ihm detaillierte Beobachtungen, wie sie heute kaum mehr vorstellbar wären. Er lernte Sprache und Gebräuche vieler indigenen Völker, darunter einige, deren Population
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schon damals rückläufig war und die heute nicht mehr existieren. Er stellte eingehende Studien der Wälder an, aber auch der Insekten und Vögel, die er vor allem sammelte. Er verfügte über die Zeit, das Interesse und die Fähigkeit zu beobachten. So kam es zu der Entdeckung, für die er heute vor allem bekannt ist und die seinen Namen trägt: die Bates’sche Mimikry. Beim Sammeln von Schmetterlingen fiel ihm schon früh auf, dass bestimmte Arten der Gattung Heliconius im Vergleich zu anderen Schmetterlingen langsam flogen und auffällig aussahen. Somit schienen sie eine leichte Beute für Fressfeinde zu sein, wurden jedoch nur selten von Vögeln oder anderen insektenfressenden Tieren gejagt. Er folgerte, teilweise auf Experimente gestützt, dass diese Schmetterlinge giftige oder ungenießbare Stoffe absonderten, sodass Fressfeinde nach einer oder zwei schlechten Erfahrungen lernten, bestimmte Farbmuster zu meiden. Er beobachtete aber auch Schmetterlinge, die teilweise zu anderen Gattungen oder Familien gehörten und ein ähnliches Farbmuster trugen. Sie flogen zusammen mit den giftigen Arten, waren selbst aber nicht giftig. Daraus schloss er, dass es für die nicht giftigen Arten einen Schutz bedeutete, das Aussehen der giftigen nachzuahmen. Er vermutete, dass selbst harmlose Schmetterlinge, die den giftigen entfernt ähnelten, einen geringfügigen Schutz genossen, sodass sie besser überleben und sich fortpflanzen konnten. Seiner Meinung nach konnte so über Hunderte von Generationen eine harmlose Art entstehen, die der giftigen so stark ähnelte, dass selbst ein Entomologe beide sammeln und genau untersuchen musste, um sie zu unterscheiden. Genau das tat er, nachdem ihm das Phänomen aufgefallen war. Einige «Mimen» ähnelten ihren Vorbildern nicht nur im Aussehen, sondern auch im Verhalten: Fluggeschwindigkeit, Flughöhe und Tageszeit. Obwohl manche nicht miteinander verwandt waren, konnte man sie im Flug kaum unterscheiden. Als Bates 1859 nach England zurückkehrte, war er erst 34 Jahre alt, hatte sich aber bereits einen Namen gemacht. Neben Sammelexemplaren hatte er auch Manuskripte wissenschaftlicher Mitteilungen und Artikel nach England geschickt, die Stevens in seinem Auftrag bei Zeitschriften für eine Veröffentlichung eingereicht hatte. Nach seiner Rückkehr begann er mit der Arbeit an seinem Opus magnum, der ausführlichen Beschreibung seiner Reisen sowie
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der wissenschaftlichen und anderen Beobachtungen, die er angestellt hatte. Als Grundlage dienten ihm seine Reisetagebücher und andere Aufzeichnungen aus dieser Zeit. Entwürfe einiger Kapitel schickte er mit der Bitte um Kommentare an Charles Darwin. Dieser ermutigte ihn, die Arbeit fortzusetzen, und empfahl das Buch John Murray, der 1859 auch Darwins Werk On the Origin of Species (deutsch: Über die Entstehung der Arten) veröffentlicht hatte. The Naturalist on the River Amazons erschien 1863 und fand großen Anklang. Darwin selbst bezeichnete es als «das beste Buch über naturkundliche Reisen, das je in England veröffentlicht wurde». Von der zweibändigen Erstausgabe wurden 1250 Exemplare gedruckt, die innerhalb weniger Monate ausverkauft waren. Der Verleger legte Bates nahe, eine einbändige gekürzte Fassung herauszugeben, in der auf technische Beschreibungen weitgehend verzichtet wurde. Diese Ausgabe wurde vielfach nachgedruckt. Erst 1892 erschien eine neue Ausgabe des ungekürzten Werks mit einem Nachruf auf Bates von Edward Codd. Bates bemühte sich um eine Anstellung am British Museum. Dem widersetzten sich aber einige etablierte Taxonomen, die sich daran stießen, dass Bates’ Buch und seine wissenschaftlichen Arbeiten Darwins Theorie über die Entstehung der Arten stützten. 1864 wurde Bates Zweiter Sekretär der Royal Geographical Society. Diese Stellung behielt er 27 Jahre lang. Während dieLoses Blatt mit Zeichnungen von Schmetterlingen, das Bates in sein Reisetagebuch eingeheftet hat. ser Zeit absolvierte er zwei
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13 Quittung über den Verkauf von Bates’ Reisetagebüchern an John James Joicey aus dem Jahr 1917. Die Familie Bates hatte sie früher an den Buchhändler Dulau & Co. veräußert. Das Natural History Museum erwarb sie 1933 von Joicey, als dieser aufgrund eines Bankrotts seine naturkundlichen Sammlungen verkaufen musste.
Amtszeiten als Präsident der Entomological Society. 1871 wurde er zum Fellow der Linnean Society gewählt, 1881 zum Fellow der Royal Society. Bei seiner Rückkehr vom Amazonas hatte Bates einen großen Teil seiner Sammlungen ans British Museum verkauft. Von dort gelangten sie ins Natural History Museum. Fast 75 Jahre später wurde die Sammlung um die beiden Reisetagebücher erweitert, die er in seinen elf Jahren am Amazonas geschrieben und illustriert hatte. Das Museum kaufte sie von John James Joicey, der seine umfangreiche naturkundliche Sammlung veräußern musste, als er Anfang der 1930er-Jahre bankrottging. Joyce selbst hatte die Tagebücher 1917 von einem Buchhändler erworben, der sie von Bates’ Familie gekauft hatte. Dieses Buch ist eine Hommage an Bates’ veröffentlichte und unveröffentlichte Werke. Es enthält drei Kapitel mit ausgewählten Auszügen aus der Erstausgabe von The Naturalist on the River Amazons – das erste über seine Zeit in Pará (heute Belém) und am Unteren Amazonas, das zweite über seine Reise ins Landesinnere von Santarém bis zu seiner Ankunft in Ega (heute Tefé) und das dritte über seine Zeit in Ega und am Oberen Amazonas sowie seine Rückkehr nach Pará. Dazwischen sind ausgewählte Seiten aus seinen beiden handschriftlichen Reisetagebüchern in Originalgröße abgedruckt. Das erste Tagebuch enthält Notizen und Zeichnungen über zahlreiche verschiedene Insekten, das zweite konzentriert sich hauptsächlich auf Schmetterlinge. Zusammen legen die Textauszüge und die Seiten aus den Original-Tagebüchern Zeugnis von den Leistungen eines der bedeutendsten Naturforscher seiner Zeit ab.
Diese Karte war in der ersten Ausgabe von The Naturalist on the River Amazons enthalten. Der Ausschnitt oben links zeigt eine Ăœbersicht des gesamten Amazonasbeckens. Die untere Karte setzt die obere fort; sie zeigen den Verlauf des Amazonas und seiner NebenflĂźsse von der MĂźndung bis zur Grenze Perus.
Abenteuer mit Krauskopfarassaris
Insektenfauna des Amazonasbeckens AUSZĂœGE AUS DEM ERSTEN TAGEBUCH
Der Naturforscher am Amazonas VON SANTARÉM NACH EGA
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er Rio Negro verbreitert sich oberhalb seiner Mündung so stark, dass er wie ein großer See wirkt. Sein schwarzes Wasser hat keine Strömung und scheint vom ungestümen, gelblich trüben Wasser des Solimoens [Solimões] gestaut zu werden. Letzterer speit hier eine endlose Reihe entwurzelter Bäume und Grassoden aus und bildet einen krassen Kontrast zum Rio Negro. Als wir den Fluss überquerten, passierten wir etwa in der Mitte des Wassers eine Linie, an der die Gewässer der beiden Flüsse zusammentreffen und deutlich gegeneinander abgegrenzt sind. Beim Erreichen des anderen Ufers fiel uns eine merkwürdige Veränderung auf. Wie durch Zauberei waren sämtliche lästigen Insekten verschwunden, sogar aus dem Rumpf des Bootes. Aus dem unruhigen Wasser des schnell strömenden Flusses mit seinem steilen, zerklüfteten Ufer waren wir in ruhiges Wasser gefahren. Das sandige Ufer stieg sanft an und bildete behagliche kleine Buchten. Statt flacher Ufer und üppigem, artenreichem Blattwerk lag an diesem Ufer hügeliges Gelände mit dunklen, abgerundeten, einförmigen Wäldern. Die beschwerliche Reise ging ihrem Ende zu. Bei leichtem Wind fuhren wir am Ufer entlang bis zur Stadt Barra [Manaus], die sieben oder acht Meilen oberhalb der Flussmündung liegt.
VON SA N TA R É M NAC H EGA
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SANTARÉM Etwa im April steigt das Wasser [so hoch, dass es die angrenzenden Landflächen überflutet]. Dann sind die Bäume von Blüten bedeckt, und allenthalben sieht man auf den Stämmen eine große, schöne Orchidee, das Epidendron, mit großen weißen Blüten. Mehrere Eisvogel-Arten halten sich hier auf, vier Arten konnten wir auf kleinem Raum beobachten. Die größte war grau gescheckt, etwa so groß wie ein Rabe und hatte einen auffällig großen Schnabel, die kleinste war nicht größer als ein Spatz. Die größte Art nistet in lehmigen Hängen, die drei oder vier Meilen entfernt liegen. Keine Art war so leuchtend gefärbt wie die in England bekannte Eisvogel-Art. Die Blüten an den Bäumen locken zwei oder drei Kolibri-Arten an. Besonders auffällig ist eine Art mit gegabeltem Schwanz (Eupetomena macroura) und smaragdgrün und stahlblau schillerndem Gefieder. Mir fiel auf, dass sie nicht so lange vor den Blüten in der Luft schwebte wie die kleineren Arten. Sie setzte sich häufiger auf Zweige und schnappte nach kleinen vorbeifliegenden Insekten. An den Wald schließt sich ein lang gestrecktes, sandiges Ufer an. Das Land ist hoch und felsig, und der Waldgürtel entlang des Ufers ist breiter als andernorts. Nachdem man noch eine Landzunge umrundet hat, erreicht man endlich die Bucht von Mapirí. Der Anblick des Flusses ist typisch für den Rio Tapajós: Die Ufer sind bewaldet, gegenüber liegt ein Streifen lehmiger Hänge und im Hintergrund sieht man runde Hügel, die ebenfalls bewaldet sind. Eine lange sandige Landzunge springt bis zur Flussmitte vor. Hinter ihr liegt eine riesige Fläche dunklen Wassers, und dahinter ist das andere Ufer des Rio Tapajós gerade noch als graugrüne Baumreihe am Horizont zu erkennen. Wenn in der Trockenheit Luft und Wasser klar sind und der Ostwind frisch weht, gibt die scharf gezeichnete Kulisse von Hügeln, Wäldern und sandigen Ufern diesem Ort einen besonderen Zauber. In kleinen Wassertümpeln entlang der Uferlinie lebten verschiedene Arten von Süßwasser-Weichtieren. Eine länglich turmförmige Melania war am häufigsten vertreten, etwa so häufig wie Limnaea-Arten in Teichen in der Heimat. Im Amazonasgebiet fand ich keine Limnaea und auch keine anderen europäischen Süßwasser-Mollusken. Nach den ersten Stürmen im Februar ist das Ufer übersät mit großen Apfelschnecken (Ampullaria). Die Schnecken leben nicht in den Tümpeln auf dieser Seite des Flusses, sondern werden als unfreiwillige Be-
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sucher ebenso wie zahlreiche Sumpfpflanzen vom anderen Flussufer von Wind und Wellen über den Fluss getragen. Viele Gehäuse enthalten tote Tiere oder sind leer und mehr oder weniger stark beschädigt. Wenn ich hier bei Regenwetter unterwegs war, habe ich fast immer eine oder mehrere Wasserschlangen der Gattung Helicops gesehen. Meist lagen sie versteckt unter den Haufen dicker Wassergräser, die der Wind an Land geworfen hatte. Nahm man das Gras weg, flohen sie sofort ins Wasser. Sie bewegten sich so schnell und tauchten im Wasser sofort in die Tiefe ab, dass es mir nur selten gelang, eine zu fangen. Ich glaube, diese Schlangen werden zusammen mit dem Gras und den schon erwähnten Ampullaria vom sumpfigen Gelände am westlichen Ufer hier angeschwemmt. Ebenso werden auch andere Reptilien und zahlreiche Insekten von den heftigen Stürmen, die im Januar und Februar toben, über den Fluss befördert, aber keine dieser Arten kann dauerhaft auf der Seite von Santarém Fuß fassen. Manchmal werden unzählige Käfer, etwa ein halbes Dutzend verschiedene Arten, über den Fluss getragen. Zwei oder drei Nächte lang sind sie in den Ortschaften lästig, weil sie in jedem Raum um das Licht schwirren. Sie schlüpfen unter die Kleidung, kriechen am Rücken hinunter, fliegen von den Öllampen auf Möbel, Bücher und Papiere und hinterlassen überall Flecke. Die zum Ufer hin offenen Geschäfte sind so voll von ihnen, dass die Kunden beim Einkaufen versuchen, sich nur möglichst kurz im Lichtkegel der großen Messinglampen über dem Tresen aufzuhalten. Diese Arten sind definitiv nicht auf der östlichen Seite des Flusses heimisch, und die Scharen verschwinden bald wieder. Tiere, die nicht ans Westufer zurückkehren können, sterben kläglich, denn Boden, Vegetation und Klima auf der Seite von Santarém sind für Bewohner des anderen Ufers ungeeignet.
ORTSSINN Wenn ich während der größten Hitze der frühen Nachmittagsstunden im Schatten ausruhte, vergnügte ich mich gern damit, den Grabwespen bei ihrer Arbeit zuzuschauen. Eine kleine hellgrüne Art (Bembex ciliata) war um die Bucht von Mapirí sehr verbreitet. Wenn sie am Werk sind, sieht man zahlreiche kleine Sandfontänen über das abschüssige Ufer schießen. Die kleinen Erdarbeiter graben mit ihren kräftigen, mit steifen Borsten besetzten Vorderbeinen enorm schnell und werfen den Sand unter ihren Körpern in einem stetigen
Die englische Originalausgabe erschien 2020 bei Natural History Museum, GB-London, unter dem Titel A Naturalist in the Amazon – The Journals & Writings of Henry Walter Bates Copyright © The Trustees of the Natural History Museum, London, 2020 Die Einführung in diesem Buch stützt sich auf den Aufsatz von Maxwell Barclay in Naturerkundungen mit Skizzenheft und Staffelei. 23 Forschungsreisende aus vier Jahrhunderten (ISBN 978-3-258-08119-9). Der Haupt Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt. 1. Auflage: 2020 Diese Publikation ist in der Deutschen Nationalbibliografie verzeichnet. Mehr Informationen dazu finden Sie unter http://dnb.dnb.de. ISBN 978-3-258-08198-4 Übersetzung aus dem Englischen: Wiebke Krabbe, D-Damlos Umschlag und Satz der deutschsprachigen Ausgabe: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH, D-Göttingen Bildreproduktion: DL Imaging Alle Rechte vorbehalten. Copyright © 2020 für die deutschsprachige Ausgabe: Haupt Bern Jede Art der Vervielfältigung ohne Genehmigung des Verlages ist unzulässig. Printed in China Um lange Transportwege zu vermeiden, hätten wir dieses Buch gerne in Europa gedruckt. Bei Lizenzausgaben wie diesem Buch entscheidet jedoch der Originalverlag über den Druckort. Der Haupt Verlag kompensiert mit einem freiwilligen Beitrag zum Klimaschutz die durch den Transport verursachten CO2-Emissionen und verwendet FSC-Papier aus nachhaltigen Quellen.
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