Erich Kessler, Frank Klötzli und Bernhard Nievergelt Ein Dreigestirn mit nachhaltiger Wirkung für den Naturschutz in der Schweiz Richard Maurer / Mario F. Broggi
Herausgeber: Paul Schiller Stiftung, Zürich www.paul-schiller-stiftung.ch
Richard Maurer und Mario F. Broggi
Erich Kessler – Frank Klötzli – Bernhard Nievergelt Ein Dreigestirn mit nachhaltiger Wirkung für den Naturschutz in der Schweiz
Verantwortlich für die Herausgabe: Paul Schiller Stiftung, Zürich. Stiftungsrat Herbert Bühl (Präsident), Feuerthalen; Irène Inderbitzin, Uster; Maja Nagel-Dettling, Stäfa Schriftenleitung Dr. Mario F. Broggi, Triesen, Fachgutachter Dr. Manuela Di Giulio, Natur Umwelt Wissen GmbH, Zürich, Redaktionsleitung Adresse der Autoren Richard Maurer, Riedsortstrasse 61b, 6353 Weggis Mario F. Broggi, Kirchstrasse 11, FL-9490 Vaduz Layout: Jacqueline Annen, Maschwanden Umschlag und Illustration: Atelier Silvia Ruppen, Vaduz Die Quellen und Bildnachweise finden sich auf S. 163 bzw. 174. Zitierung MAURER, R.; BROGGI, M.F., 2022: Erich Kessler – Frank Klötzli – Bernhard Nievergelt. Ein Dreigestirn mit nachhaltiger Wirkung für den Naturschutz in der Schweiz. Zürich, Paul Schiller Stiftung; Bern, Haupt. 175 S.
1. Auflage: 2022 ISBN Print: ISBN E-Book:
Alle Rechte vorbehalten. Copyright © 2022 Haupt Bern Jede Art der Vervielfältigung ohne Genehmigung des Verlages ist unzulässig. Wir verwenden FSC-Papier. FSC sichert die Nutzung der Wälder gemäss sozialen, ökonomischen und ökologischen Kriterien. Gedruckt in Deutschland Diese Publikation ist in der Deutschen Nationalbibliografie verzeichnet. Mehr Informationen dazu finden Sie unter http://dnb.dnb.de. Der Haupt Verlag wird vom Bundesamt für Kultur für die Jahre 2021–2024 unterstützt. Wir verlegen mit Freude und großem Engagement unsere Bücher. Daher freuen wir uns immer über Anregungen zum Programm und schätzen Hinweise auf Fehler im Buch, sollten uns welche unterlaufen sein. Falls Sie regelmässig Informationen über die aktuellen Titel im Bereich Natur & Garten erhalten möchten, folgen Sie uns über Social Media oder bleiben Sie via Newsletter auf dem neuesten Stand. www.haupt.ch
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Vorwort Ein wirkungsvoll engagierter Vertreter des staatlichen Naturschutzes und zwei Brückenbauer zwischen Hochschule und Praxis stehen im Fokus dieser Gedenkschrift: Erich Kessler, Frank Klötzli und Bernhard Nievergelt zeichneten sich durch eine Grundhaltung und ethische Orientierung aus, wie sie Albert Schweitzer in Worte gefasst hatte: «Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.» Sie lebten nach diesem Leitsatz und waren verbunden mit allem, was mit und um uns lebt. Was ist diesen Persönlichkeiten weiter gemeinsam? Es ist ihr Herzblut des starken Engagements für die Mitwelt, unbesehen der von ihnen vertretenen Institution. Sie wussten, was wichtig ist, wie ein Ökosystem funktioniert und wie dies auf Menschen und ihre Kulturen wirkt. Sie waren nicht nur während der Bürostunden aktiv; sie waren kompetente Anwälte der Natur, mit Visionen und Herzblut ausgestattet für den Erhalt der Biodiversität. Das soll uns ermutigen, die wir im Alltag häufig darin verstrickt sind, die Restnatur zu verteidigen, und wo das Visionäre oft zu kurz kommt. Professionelle Naturschützer brauchen ein starkes Gemüt, um jeden Tag mit neuem Mut aufzustehen und weiter zu wirken, in Kenntnis dessen, was draussen in der Natur täglich verschwindet. Woher überhaupt noch die Motivation aufbringen, sich dennoch einzusetzen? Es sind Engagierte auf allen Kontinenten, die sich unermüdlich einsetzen und unseren Mut bekräftigen. Die beiden Autoren dieses Werkes, Mario F. Broggi und Richard Maurer – selbst engagierte Naturschützer – möchten das vorbildliche Wirken der drei verstorbenen NaturschutzPioniere gerade in Corona-Zeiten nicht vergessen lassen. Die drei Biografien werden in einen umweltpolitischen Kontext gestellt. Die Autoren lassen weitere WeggefährtInnen zu Worte kommen. Sie ziehen auch aus ihrer eigenen Erfahrung einige Schlussfolgerungen. Die Paul Schiller Stiftung freut sich dieses Portrait als zeitgeschichtliches Dokument der Naturschutzgeschichte in der Schweiz veröffentlichen zu können. Sie dankt den beiden Autoren, Richard Maurer und Mario F. Broggi, und allen weiteren Mitbeteiligten für den ehrenamtlichen Einsatz für die Herausgabe dieses Werkes. Die Lektüre dieses Werkes soll uns für den weiteren Einsatz für die Mitwelt motivieren.
Herbert Bühl Präsident Paul Schiller Stiftung, Zürich
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Erich Kessler – Frank Klötzli – Bernhard Nievergelt
Dank Die vorliegende Schrift verdankt ihre Entstehung zahlreichen Fachleuten und befreundeten Weggefährten der hier geehrten Persönlichkeiten. Mit ihrer Rückschau haben sie geholfen, ein Panorama der drei Menschen, ihren Einsatz für den Naturschutz in der Schweiz und deren langfristigen Wirkungen zu ermöglichen. Für diese persönlichen Erinnerungen danken wir: Burga Conradin A., Carraro Gabriele, Gianoni Pippo, Fischer Josef, Göldi Christian, Hindenlang Karin, Hirt Fritz (+), Hurni Hans, Korner-Nievergelt Fränzi, Kuhn Urs, Lebeau Raymond, Marti Karin, Müller Werner, Ragaz Georg, Sailer Elisabeth, Scheurer Thomas, Stulz Franz-Sepp, Weber Darius, Hintermann Urs, Weiss Hans, Wildermuth Hansruedi. Prof. Dr. Heinz Aemisegger, alt Bundesrichter, verdanken wir die Liste von wichtigen Umwelt-Entscheiden des Bundesgerichts. Prof. Dr. Conradin Burga hat uns neben seinen Erinnerungen eine umfangreiche Übersicht von Gutachten von Frank Klötzli zusammengestellt, die im Archiv der ETH hinterlegt sind. Es handelt sich dabei um eine erstmalige Zusammenstellung, die einen besonderen Dank verdient! Fränzi Korner-Nievergelt organisierte uns die Fragebogenaktion. Fredi Guggisberg, Ruedi Haller, Otto Hegg, Theo Hunziker, Liliane Klötzli und Esther Nievergelt, Felix Nievergelt, Hans Lozza, Urs Tester danken wir für Rückmeldungen und Mithilfen bei den Recherchen. Hansruedi Wildermuth hat uns bei der Redaktion der Texte sehr unterstützt. Unser Dank geht schliesslich an alle Persönlichkeiten und Institutionen, die uns Bildmaterial zur Verfügung gestellt haben. Die vorliegende Schrift wäre nicht möglich gewesen ohne die Übernahme der Druckkosten durch die Paul Schiller Stiftung. Wir danken dem Haupt-Verlag für die Herausgabe. Schliesslich möchten wir auch allen anderen Personen danken, die mitgeholfen haben, das Buchprojekt in der einen oder anderen Weise voranzubringen! Richard Maurer und Mario F. Broggi
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Inhalt Vorwort Dank
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Einleitung
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Zeitmarken mit gesamtschweizerischer Bedeutung 2.1 Nationalpark 1914, erste Widerstände gegen Grossprojekte und Schaffung der Eidgenössischen Natur- und Heimatschutzkommission 2.2 Das Umfeld ab 1960 mit Anzeichen der Zeitenwende
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Lebensbilder und persönlichen Erinnerungen 3.1 Erich Kessler 3.2 Frank Klötzli 3.3 Bernhard Nievergelt
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Wichtige Naturschutz-Aktivitäten in der Wirkungszeit der Pioniere 4.1 Die Gunst der Stunde mit Aufschwung für die Rechtsetzung 4.2 Vom Gesetz zu dessen Vollzug 4.3 Von der Sektoralpolitik zur Querschnittsaufgabe 4.4 Naturschutzfachliche Forschung und deren Anwendung 4.5 Ausbildung von Ökologinnen und Ökologen 4.6 Erfolgskontrolle und Monitoring 4.7 Expertenberichte in Rechtsverfahren
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Ein Ausblick auf den künftigen Natur- und Landschaftsschutz 5.1 Die Veränderungen im Umfeld 5.2 Biodiversität in Bedrängnis 5.3 Drei hausgemachte Problemkreise 5.4 Einige neue Herausforderungen 5.5 Was lernen wir vom Wirken der drei Naturschutz-Pioniere?
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Quellen 6.1 Wegweisende Bundesgerichtsentscheide 6.2 Zur Gutachter-Tätigkeit von Frank Klötzli 1964–2000
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Literatur
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Anhang Chronologie wichtiger Ereignisse zum Natur- und Heimatschutz Bildnachweis
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Porträt der Autoren
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Einleitung
Zeitgeschichte hält Erinnerungen an Menschen wach, deren Wirken Spuren hinterlässt, an denen nachfolgende Verantwortliche nicht vorbeikommen. Dies gilt auch für das Dreigestirn Erich Kessler, Frank Klötzli und Bernhard Nievergelt, denen die vorliegende Gedenkschrift gewidmet ist. Alle drei haben einzeln und zusammen den Natur- und Landschaftsschutz in der Schweiz in besonderer Art geprägt. Anlass zur Idee, die drei Persönlichkeiten gemeinsam zu würdigen, war der Hinschied von Frank Klötzli am 17. Dezember 2020 in seinem 87. Lebensjahr und jener von Bernhard Nievergelt am 12. Februar 2021 in seinem 86. Lebensjahr. Die Corona-Pandemie mit ihren Restriktionen verhinderte eine würdige und in ihrer Bedeutung für Wissenschaft und Naturschutz entsprechende Form des Abschieds. Mit ihrem Tod verlor der Natur- und Landschaftsschutz in der Schweiz zwei verdiente und innovative Persönlichkeiten. Zusammen mit Erich Kessler – bis 1992 in der Bundesverwaltung tätig und am 17. November 2007 in seinem 79. Lebensjahr verstorben – verstanden sie es, die Chancen eines neuen Zeitgeistes für den Naturschutz zu nutzen. Dieses wirkungsvolle Zusammenspannen der drei Persönlichkeiten ist es wert, nachgezeichnet zu werden. Obwohl zum Netzwerk der Drei zahlreiche weitere Persönlichkeiten gehörten, die ebenso die Gunst der Stunde nach 1970 zu ergreifen wussten, beruht die Aufmerksamkeit für diese drei Protagonisten auf mehreren Motiven: Ihr vielfältiges Zusammenwirken steht für eine Beziehung, bei der sich Naturschutzforschung und Umsetzung im Dialog gegenseitig befruchteten und unterstützten. Dass Forschung, wenn sie Veränderungen anstossen will, der Umsetzung bedarf, haben die Drei durch gegenseitiges Zuspielen und Ergreifen von Chancen beispielhaft vorgelebt. Und schliesslich: Obwohl die für den Naturschutz fruchtbare Freundschaft der Drei vor allem noch Erinnerung bei Weggefährten ist, entfalteten ihre Werke eine nachhaltige Wirkung. Wir als nachfolgende Akteure konnten von ihrer Tätigkeit profitieren und auf einem soliden Fundament aufbauen. Mit ihrem Ableben sind ihre Errungenschaften jedoch nicht bloss Geschichte, sondern Verantwortung geworden für all jene, welche Natur und Landschaft weiterhin mitgestalten. Die Schrift will die Verdienste der drei miteinander befreundeten Pioniere nicht nur in biografischen Wegmarken festhalten; ihr Wirken fällt in einen umweltpolitischen Kontext, der hier ebenfalls skizziert wird. Da unsere eigenen Begegnungen nur Teilausschnitte im Leben der drei Persönlichkeiten beleuchten, war es uns wichtig, die Erinnerungen weiterer Weggefährten einzuholen. Deren Erlebnisse und Erfahrungen mit Erich Kessler, Frank Klötzli und Bernhard Nievergelt werfen ein Licht auf ein emotional geprägtes Beziehungsnetz und ergeben damit eine würdige und persönliche Bereicherung der Lebensbilder. So wichtig Geschichte auch ist, möchten wir aber nicht beim Rückblick verweilen, sondern aus dem bisherigen Tun einige Visionen für die Zukunft aufzeigen. Schliesslich sei angemerkt, dass die vorliegende Schrift keinen Anspruch auf eine wissenschaftliche Arbeit mit erschöpfender Zitierung von Quellen erhebt; Klammern, Literaturhinweise und Fussnoten unterbrechen den Lauftext und hemmen den Lesefluss, was der Zielsetzung einer würdigen Gedenkschrift nicht angemessen wäre. Alle Aussagen sind indessen belegt und lassen sich anhand des Quellenverzeichnisses nachprüfen. Dass zudem Wiederholungen unvermeidlich sind, ergibt sich aus der vielfältigen Herkunft der Texte.
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Erich Kessler – Frank Klötzli – Bernhard Nievergelt
Abb. 1. Steinbock im Nationalpark, mit Portraits der Promotoren P. Sarasin, S. Brunies, P. Coaz.
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Zeitmarken mit gesamtschweizerischer Bedeutung
Im letzten Jahrhundert springen zwei innovative Zeitfenster für den Natur- und Landschaftsschutz ins Auge: Einerseits die Zeit um die Gründung des Engadiner Nationalparks 1914, zum anderen die Aufbruchsstimmung nach dem Verfassungsartikel zum Natur- und Heimatschutz mit dem nachfolgenden Gesetz (NHG) 1966, dem 1. Europäischen Naturschutzjahr 1970 und der anfangs der 1980er-Jahre ausgelösten Rothenthurm-Initiative. Die wachsende Überzeugung, dass der Umgang mit der Natur zunehmender Sorgfalt bedürfe, hat in den Jahrzehnten dazwischen eine Spur hinterlassen, welche die beiden Zeitfenster miteinander verbindet. Es waren Persönlichkeiten, welche diese Idee verkörperten und unablässig daran arbeiteten, sie in die Tat umzusetzen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ging es vor allem um den Schutz von «Naturdenkmälern» und herausragenden Objekten wie dem Matterhorn oder dem Rheinfall. Auch wenn aufmerksame Vertreter der Idee nach mehr Rücksichtnahme auf die Natur im 19. Jahrhundert immer wieder Einfluss auf die Ausgestaltung der Forst-, Jagd- und Fischereigesetzgebung zu nehmen versuchten, war Naturschutz als Querschnittsaufgabe des Staates über zahlreiche Politikbereiche unbekannt. Rücksicht auf besondere Naturwerte war stets nachgelagertes Interesse. Im Spannungsfeld zwischen Veränderung und Bewahrung wurde die Art und Weise ihrer Berücksichtigung in anderen Teilpolitiken wie Waldpolitik, Jagd- und Fischereirecht, Nutzbarmachung der Wasserkräfte, Raumplanung, Landwirtschaft usw. erst umfassend im Landschaftskonzept Schweiz vom Bundesrat im Jahr 1998 beschlossen und 2020 aktualisiert. Es legt die wesentlichen Verpflichtungen für dreizehn Politikbereiche fest. Im langfristigen Überblick entwickelte sich die Naturschutzpolitik von punktuellen Interventionen hin zu einer Querschnittspolitik. Eine umfassende Darstellung dieser Entwicklung soll hier nicht erschöpfend aufgearbeitet und dargestellt werden. Für eine weitergehende Übersicht über wichtige Ereignisse in der schweizerischen Politik, welche für den Naturschutz bedeutend waren, sei auf BACHMANN 1999, KUPPER 2012, PRO NATURA 2009, MATHIEU et al. 2016 und MIEG und HAEFELI 2019 verwiesen. Den Hintergrund der vorliegenden Gedenkschrift nach 1970 bilden vor allem jene Prozesse, die in einem Bezugsrahmen zur Tätigkeit der drei Persönlichkeiten stehen.
2.1
Nationalpark, erste Widerstände gegen Grossprojekte und Schaffung der Eidgenössischen Natur- und Heimatschutzkommission ENHK
Auch wenn zu Beginn des 20. Jahrhunderts schon bedeutende Einzelaktionen für den Schutz von Monumenten, von Landschaftsteilen oder von Naturerscheinungen umgesetzt werden konnten, so war ein erstes, wichtiges Zeitfenster der schweizerischen Naturschutzpolitik die Schaffung des Nationalparks in der Zeit um 1909 bis 1914. Sie führte nur zum Erfolg dank der Hartnäckigkeit der Promotoren Paul Sarasin, Steivan Brunies und Johann Coaz, die ihr ganzes Netzwerk und ihr taktisches Geschick einsetzten, bis schliesslich 1914 das Nationalparkgesetz im Parlament verabschiedet werden konnte (Abb. 1). Es war kein Sonntagsspaziergang, der Idee gegen mannigfaltige Widerstände in den Gemeinden und im Parlament zum Durchbruch zu verhelfen. So argumentierte etwa ein Nationalrat: «Lassen Sie dieses Projekt in Hinterindien, woher es stammt» (BACHMANN
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1999: 158). Vorausgegangen war die Gründung der Schweizerischen Naturschutzkommission, ein Organ der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft. Zur Finanzierung der Ausgaben für den Nationalpark schuf Paul Sarasin einen «Ein-Franken-Verein», den Schweizerischen Bund für Naturschutz SBN. Ein weiterer Meilenstein war der Erlass des Zivilgesetzbuches. Der Eigentumsbegriff hat in der schweizerischen Gesetzgebung eine zentrale Bedeutung. In der Zeit der Entstehung des Nationalparks wurde er zum Schutz von Natur und Heimat relativiert: 1910 hatte das Parlament das Zivilgesetzbuch verabschiedet, das den Kantonen die Kompetenz gab, Eigentumsbeschränkungen zu erlassen. Sein Art. 702 lautet in der heutigen Fassung:
ZGB Art. 702: «Dem Bunde, den Kantonen und den Gemeinden bleibt es vorbehalten, Beschränkungen des Grundeigentums zum allgemeinen Wohl aufzustellen, wie namentlich ..., die Erhaltung von Altertümern und Naturdenkmälern, die Sicherung der Landschaften und Aussichtspunkte vor Verunstaltung und den Schutz von Heilquellen.»
Darauf erliessen verschiedene Kantone um 1914 Verordnungen über den Natur- und Heimatschutz. Sie blieben zum Teil bis in die 1970er-Jahre in Kraft, waren aber vorwiegend auf Objektschutz ausgerichtet (z. B. Findlinge, Pflanzen). In den ersten zwanzig Jahren des 20. Jahrhunderts erregten Grossprojekte in der Schweiz immer stärkeren Widerstand, sodass etwa 1916 im Gesetz über die Nutzbarmachung der Wasserkräfte in Art. 22 festgehalten wurde: «Naturschönheiten sind zu schonen und da, wo das allgemeine Interesse an ihnen überwiegt, ungeschmälert zu erhalten». Trotzdem machten zahlreiche Projekte für die Wasserkraftnutzung nicht einmal Halt vor bedeutendem Naturerbe (Abb. 2). So argumentierten etwa die Nordostschweizerischen Kraftwerke NOK 1919 mit «Interessen der Allgemeinheit», um die Wasserkraft des Rheinfalls – ein Gemeingut der Menschheit – nutzbar zu machen: «Die Zeit und die Anschauungen haben sich geändert, und so wird auch die Wasserkraft des Rheinfalls, des ängstlich gehüteten Naturwunders, den wirtschaftlichen Interessen der Allgemeinheit dienstbar gemacht werden müssen». Erinnert dies nicht an Argumente, die nach Fukushima im Zusammenhang mit der Energiewende und den Beratungen des Parlaments zum Energiegesetz 2016, fast wörtlich wiederholt wurden? Diese Diskussionen und die Anhebung von Kleinkraftwerken auf die Stufe einer nationalen Bedeutung (in der Verordnung zum Energiegesetz geregelt) demonstrieren, dass die inflationär in zahlreichen Gesetzen eingeführte Interessenabwägung im parlamentarischen Betrieb die Zerstörung von Natur und Landschaft nicht aufhält, oft sogar im Gegenteil legitimiert! Eine der wenigen oder gar die einzige Ausnahme war das Militär, das überall Vorrang hatte. In der weiteren Entwicklung gereichte dies zum Vorteil für die Natur, denn auf zahlreichen Waffen- und Schiessplätzen fand sie refugiale Nischen, die nicht durch andere Nutzungsansprüche gefährdet werden konnten. Eine bemerkenswerte Wegmarke war die Schaffung der Eidgenössischen Natur- und Heimatschutzkommission. Nachdem in den Zwanziger- und Dreissigerjahren die Forderungen nach einem Natur- und Heimatschutzgesetz des Bundes immer nachdrücklicher artikuliert wurden, schuf der Bundesrat 1936 die ENHK, mit folgender Begründung: Sie sollte ein «Bollwerk gegen weitere Begehren nach einem eidgenössischen Gesetz darstellen»!
Zeitmarken mit gesamtschweizerischer Bedeutung
Abb. 2. Staumauer im Bau (Grimsel Juli 2021).
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2.2
Erich Kessler – Frank Klötzli – Bernhard Nievergelt
Das Umfeld ab 1960 mit Anzeichen einer Zeitenwende
Das Umfeld der Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg war geprägt durch die zunehmende Sensibilisierung von Bevölkerung und Politik für die Werte der Landschaft. Wesentliche Auslöser in der Schweiz waren die Reaktion auf überbordende technische Grossprojekte sowie auf die immer markanter sichtbaren Umweltbelastungen. Warnrufe an Tagungen und in Schriften führten zu einem kritischen Hinterfragen des technischen Fortschritts und sensibilisierten die Öffentlichkeit für die offensichtlichen Umweltprobleme, z. B. durch Emil Egli oder Konrad Lorenz. Eindrücklich popularisierte Jörg Müller mit seinen Bildern «Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder» die Landschaftszerstörung (MÜLLER 1977). Auf internationaler Ebene rüttelten verschiedene Aufrufe Öffentlichkeit und Politik auf, so unter anderem Rachel Carson mit «Der stumme Frühling» (CARSON 1968), Dennis Meadows «Die Grenzen des Wachstums» (MEADOWS 1972), 1977 gab der US-Präsident Jimmy Carter den Auftrag zum Bericht «Global 2000». In gesellschaftspolitischer Hinsicht ist an die Globuskrawalle im Juni 1968 zu erinnern, denen auch Friedrich Dürrenmatt als international gefeierter Schriftsteller Sympathien entgegenbrachte. Das Engagement für die Umwelt war denn auch ein wichtiges Anliegen der 1968erBewegung. Was waren die treibenden Kräfte hinter dieser Entwicklung? Ab der Mitte des 20. Jahrhunderts erfuhr der Energieverbrauch einen entscheidenden Wachstumsschub, deren Folgen unter dem Stichwort «1950er-Syndrom» zusammengefasst werden (P FISTER 1995). Vor 1950 war der Energiepfad ressourcenschonend. Er wurde danach abgelöst von
Abb. 3. Das Restwasserproblem – Anlass jahrzehntelanger Kämpfe für ein ökologisch abgestütztes Wasserrecht und dessen schleppender Umsetzung.
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billiger und einfach zur Verfügung stehender Energie. Das stürmische Wirtschaftswachstum war Folge der Unterbewertung des Frankens im System der festen Wechselkurse, der intakte Produktionsapparat nach dem Weltkrieg, die Nachfrage nach Gütern zum Wiederaufbau der europäischen Wirtschaften, der Zustrom billiger ausländischer Arbeitskräfte, und die erfolgreiche wohlfahrtsstaatliche Umverteilungspolitik waren ausschlaggebend. Der Energieverbrauch wuchs stark, ebenso das Bruttoinlandprodukt, damit gekoppelt der Flächenverbrauch von Siedlungen, das Abfallvolumen und die Schadstoffbelastung von Luft, Wasser und Boden. Bundesrat Adolf Ogi hielt im Grusswort anlässlich des Symposiums «Das 1950er-Syndrom» 1994 an der Universität Bern fest: «So kann es nicht weitergehen. Der Verschwendung unserer natürlichen Ressourcen muss Einhalt geboten werden ... Wir leben auf Kosten unserer Nachkommen ...». 1963 grassierte in Zermatt infolge Gewässerverschmutzung eine Typhusepidemie mit Todesopfern und der Hospitalisierung von über 450 Personen, sodass die Hotels geschlossen werden mussten. Die Bilder schäumender, verschmutzter Gewässer zeigten jedermann einen Handlungsbedarf. Für den Gewässerschutz bedeutete dies ein Entwicklungsschub. Überbordende Ausscheidungen von Bauland und Bauerwartungsland führten 1972 zum Bundesgesetz über dringliche Massnahmen auf dem Gebiet der Raumplanung. Mehr im Verborgenen setzte ein verstärkter Rückgang der biologischen Vielfalt ein, am ehesten noch sichtbar mit dem Flächenschwund von Feuchtgebieten, der Kanalisierung von Gewässern und deren vollständigen Nutzung zur Energieproduktion (Abb. 3) usw. Im Klima der Technologiegläubigkeit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden schweizweit Planungen für Grossprojekte aller Art, die jedoch zunehmend der Kritik ausgesetzt waren.
Jetzt wird es zuviel! Vor allem im Alpenraum gerieten immer mehr Erschliessungsprojekte wie Seilbahnen unter Beschuss, sodann auch Kraftwerkprojekte, etwa im Umfeld des Silsersees, durch Aufstau des Inns mit Ableitung des Wassers ins Bergell, in der Schöllenen mit geplanter 90 m hoher Staumauer, die Kraftwerke Rheinau (Abb. 4) Spöl, Ruinaulta, Greina, Curciusa und andere. Exemplarisch sei auch das Vorhaben der Hochrheinschifffahrt erwähnt. In den 1950erJahren existierten Pläne, den Hochrhein zwischen Basel und dem Bodensee schiffbar zu gestalten. Es sollte der Rheinfall mit Schleusen und einem linksseitigen Tunnel für Schiffe bis 80 Meter Länge umgangen werden. Im heutigen Naturschutzgebiet Rheindelta im österreichischen Teil war ein Hafen und ein Flughafen geplant. Der massive Widerstand der Bevölkerung beidseits der Landesgrenze verhinderte dieses Projekt. In der Nordschweiz gab es zahlreiche Grossprojekte, die aufgrund des Wertewandels und neuer Technologien nicht realisiert wurden, zum Beispiel der Wasserwirtschaftsplan an der Reuss mit 15 Kraftwerken zwischen Luzern und Windisch, die Aareschifffahrt, Autobahnprojekte, Umfahrungen usw. Der erwähnte Wasserwirtschaftsplan für die Reuss provozierte Widerstand und war der Impuls für eine Gesetzesinitiative für eine freie Reuss – ohne neue Kraftwerke. Die Volksabstimmung 1965 führte zu einer überwältigenden Ablehnung dieser Kraftwerkprojekte. Auch die Projekte für eine Aare- und Hochrheinschifffahrt mit Hafenanlagen in Klingnau, Brugger Schachen und Aarau kamen nicht zur Ausführung. Bei der Energiepolitik waren selbst Naturschutzkreise überzeugt, dass die Atomkraftwerke alle Zukunftsprobleme lösen würden, was den Verzicht auf Wasserkraftwerke wie
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Abb. 4. Demonstration gegen das Kraftwerkprojekt Rheinau.
etwa in der letzten Stromschnelle am Rhein beim Koblenzer Laufen ermöglichte. Dass jedoch bald darauf der Widerstand gegen das AKW Kaiseraugst entflammte (1975–1985), war noch nicht abzusehen. Widerstand erregten zunehmend auch Autobahnprojekte. Der Kampf um die Linienführung der A3 über den Bözberg mit einer Hochbrücke westlich von Brugg führte unter den veränderten Vorzeichen zur Durchtunnelung des Bözbergs. Bei der A13 entlang des Hinterrheins bei Rhäzüns gelang es mit zähen Verhandlungen die Auenlandschaft zu schonen, um bloss zwei Beispiele zu erwähnen. Mit der zunehmenden Belastung der Umwelt verschoben sich in den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts die auf technische Entwicklung ausgerichteten Wertvorstellungen zunehmend, hin zur Einsicht, dass die Natur verletzlich ist und nicht beliebig genutzt bzw. übernutzt werden darf. Mit der erhöhten Sensibilität der öffentlichen Meinung und der Politik gegenüber der Umwelt im Allgemeinen wurde die Zeit reif, eine aktive Politik zum Schutz der Naturwerte und zur Wiederherstellung von Landschaften aufzubauen. Es zeichnete sich ein «Paradigmenwechsel» ab (vgl. BUNDI 2016); Backhaus (MATHIEU 2016) spricht von «ökologischer Wende» bzw. «Aufbruch». 1970 wird im Rückblick als der Beginn des eigentlichen Natur- und Umweltschutzes im europäischen Raum betrachtet (SCHULZ 2007). Das vom Europarat ausgerufene Naturschutzjahr verstärkte den Umweltdiskurs und förderte auch in der Schweiz das Bewusst-
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sein für Umweltprobleme und die Notwendigkeit des Umweltschutzes nochmals zusätzlich. Nach der deutlichen Annahme des Artikels zum Natur- und Heimatschutz in der Bundesverfassung, dem Erlass des Bundesgesetzes 1966 und dem internationalen Weckruf durch das europäische Naturschutzjahr 1970 waren in erster Linie die Kantone aufgefordert, die Politik eines punktuellen Naturschutzes auszuweiten und vermehrte Anstrengungen zu unternehmen, die Verletzlichkeit der Natur durch eine aktivere Politik besser zu berücksichtigen. Im November 1970 fand unter dem Titel «Schutz unseres Lebensraumes» ein vielbeachtetes Symposium an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich statt (LEIBUNDGUT 1971). Der frühere Rektor der ETH Zürich, Karl Schmid, redete in seinem Referat den Ingenieuren und Wissenschaftlern seiner Hochschule ins Gewissen: «Der Gedanke an die möglichen zerstörerischen Folgen der wissenschaftlich-technischen Tätigkeit sollte für Wissenschaftler so selbstverständlich werden, wie es unser Glaube an die Notwendigkeit des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts ist. Naturschutz, Schutz des Menschen und Schutz der Gesellschaft dürfen von der Wissenschaft nicht bloss geduldet werden; sie muss sich selber an die Spitze dieser Bewegungen stellen. Denn es geht nicht um Sentimentalitäten, sondern um harte Fakten. Die Wissenschaftler, die sich dieser Tatsache bewusst sind, haben die Pflicht, sie der Öffentlichkeit bewusst zu machen, damit die Öffentlichkeit den Recht setzenden Staat zum Handeln zwingt. Es ist Sache der Wissenschaftler, ein Unbehagen, das als Unbehagen nichts fruchtet, zu analysieren und die nötigen Massnahmen zu formulieren.»
Der Weckruf der privaten Organisationen: Das KLN-Inventar Hundert Jahre nach der Gründung des Schweizerischen Bundes für Naturschutz hat die auf Pro Natura umbenannte Organisation unter dem Titel «Die Stimme der Natur» (pro natura 2009) einen geschichtlichen Rückblick und Zukunftsvisionen des Naturschutzes in der Schweiz dargestellt. Wichtig: Bis der Staat aktiv wurde, war es insbesondere diese 1909 gegründete private Organisation, welche die Idee des Natur- und Landschaftsschutzes vorantrieb. Zahlreiche Vorstösse im Parlament, welche auf die Verantwortung des Staates für Natur und Landschaft abzielten, zielten ins Leere. Als Reaktion auf die zunehmende Degradierung der Landschaft und die Untätigkeit des Bundes erarbeiteten der Schweizerische Bund für Naturschutz (SBN), der Schweizerische Heimatschutz (SHS) und der Schweizerische Alpenclub (SAC) gemeinsam ein «Inventar der zu erhaltenden Landschaften und Naturdenkmäler der Schweiz», das 1963 vorgestellt wurde (KLN-Inventar). 1966 verabschiedeten die Eidgenössischen Räte endlich das Naturund Heimatschutzgesetz. Das KLN-Inventar wurde zu einer wichtigen Voraussetzung für den Vollzug durch den Bund. Es diente ihm vorläufig als Grundlage der Verwaltungstätigkeit, bis zum Erlass eines BLN-Inventars durch den Bundesrat. Dieser erfolgte 1977 für Gebiete, die in der Vernehmlassung kaum umstritten waren. Die Kurzbeschreibung der Objekte, basierend auf dem KLN-Inventar, wurde später aufgrund von Bundesgerichtsentscheiden Anlass für die Parlamentarische Verwaltungskontrolle, eine Überarbeitung zu fordern. Die danach umfangreiche Revision der Be schreibung – nicht jedoch der räumlichen Abgrenzungen – wurde vom Bundesrat 2017 genehmigt und die revidierte Verordnung auf den 1. Juni 2017 in Kraft gesetzt.
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Abb. 5. Kampagne für die Rothenthurm-Initiative 1986/87.
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Das Fanal von Rothenthurm 1972 wurden Pläne des EMD für einen Waffenplatz in Rothenthurm bekannt. Sie erregten schweizweiten Widerstand und waren Anlass für eine Volksinitiative zur Ergänzung der Bundesverfassung (Abb. 5). Sie wurde 1983 eingereicht und kam 1987 zur Volksabstimmung. Ihre Annahme mit 57,8 Prozent Ja-Stimmen war eine Überraschung, hatte doch das Parlament als indirekten Gegenvorschlag bereits das Natur- und Heimatschutzgesetz geändert, u. a. mit neuen Bundeskompetenzen für den Biotopschutz. Der Initiativtext lautete: 5 Moore
und Moorlandschaften von besonderer Schönheit und von nationaler Bedeutung sind Schutzobjekte. Es dürfen darin weder Anlagen gebaut noch Bodenveränderungen irgendwelcher Art vorgenommen werden. Ausgenommen sind Einrichtungen, die der Aufrechterhaltung des Schutzzweckes und der bisherigen landwirtschaftlichen Nutzung dienen. Übergangsbestimmung Anlagen, Bauten und Bodenveränderungen, welche dem Zweck der Schutzgebiete widersprechen und nach dem 1. Juni 1983 erstellt werden, insbesondere in der Moorlandschaft von Rothenturm auf dem Gebiet der Kantone Schwyz sowie Zug, müssen zu Lasten der Ersteller abgebrochen und rückgängig gemacht werden. Der ursprüngliche Zustand ist wieder herzustellen.
Der Initiativtext wurde fast wörtlich in die revidierte Bundesverfassung von 1998, Art. 78 Abs. 5 aufgenommen.
Der Staat unter Zugzwang: Umsetzung von Moorschutz und NHG- Aufarbeitung von Defiziten Nach der Annahme der Rothenthurm-Initiative und der Revision des NHG 1988 hatte die Erarbeitung von Fachgrundlagen Priorität. Diese Grundlagen wurden zur Voraussetzung für die Sicherung von Naturschutzgebieten, einem der Kernanliegen des Bundesgesetzes. Rasch folgte die Erarbeitung von Inventaren, so die Bundesinventare der Hoch- und Übergangsmoore sowie der Flachmoore von nationaler Bedeutung, Auen, Amphibienbiotope, Trockenstandorte usw. Um diese umfangreichen Arbeiten leisten zu können, waren ausgebildete Ökologinnen und Ökologen erforderlich. Es entstand nicht nur ein Markt für Naturschutzleistungen als Grundlage für die Etablierung von Ökobüros, sondern auch ein rückwirkender Druck auf praxisorientierte Ausbildungslehrgänge an Hochschulen. Flankierend zu den Anstrengungen im Biotopschutz steuerte die Forschung mit Programmen wie dem MAB-Programm (Man and Biosphere), dem Nationalen Forschungsprogramm 22 «Boden» wichtige Ergebnisse zum besseren Verständnis der Prozesse und Zusammenhänge in Schlüsselbereichen der Umweltpolitik bei. Allein aus der Autorenschaft ist der Nationalfondbericht von BROGGI und SCHLEGEL (1989) zu erwähnen, der für die Landwirtschaft im Mittelland 12 Prozent ökologischen Ausgleich verlangte oder der so genannte «Blaue Bericht», worin 40 bisher teils bewilligte Wasserkraftwerks-Projekte einer Landschaftsverträglichkeitsprüfung unterzogen worden sind und damit eine kritischere Betrachtung der Wasserkraftnutzung auslöste (BROGGI und REITH 1984). In die Zeit der siebziger und achtziger Jahre fielen die bedeutenden Arbeiten von Erich Kessler, Frank Klötzli und Bernhard Nievergelt. Sie nutzten die Gunst der Stunde, um mit Hartnäckigkeit die Anliegen des Naturschutzes voranzubringen. Jede dieser drei Persön-
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Abb. 6. Die geschilderten Ereignisse sind Zeitfenster innerhalb eines längerfristigen Wertewandels. Flusslandschaften repräsentieren beispielhaft das veränderte Verhältnis der Gesellschaft zu Natur und Klima: Vom «Korrektionsfieber» im 19. Jahrhundert zu Revitalisierungen als Reparaturverhalten im 20./21. Jahrhundert (Bünzaue, Möriken).
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lichkeiten ergriff die Chance, in ihrer Funktion zielgerichtet Grundlagen bereitzustellen, sie in einer anwendungsorientierten Form darzustellen und die Umsetzung voranzutreiben. Das Zusammenspiel von Vegetationskunde, Wildtierbiologie, deren Anwendung in der Naturschutzarbeit, die Synergien mit Organisationen und ihren Exponenten – wie etwa Dieter Burckhardt beim Schweizerischen Bund für Naturschutz – und die Umsetzung in den Kantonen führte zu bedeutenden Fortschritten der Naturschutzarbeit. Bevor diese Errungenschaften in Kapitel 4 dargestellt werden, sollen die Biografien der drei Freunde skizziert werden. Neben biografischen Notizen, die mit Fakten im zeitlichen Ablauf Spuren von objektiv nachvollziehbaren Tätigkeiten nachzeichnen, gibt es jedoch eine Fülle von emotional berührenden Ereignissen, welche die Erinnerung von Weggefährten geprägt haben. Um diesen Aspekt der drei Persönlichkeiten zum Ausdruck bringen zu können, haben die Autoren dieser Gedenkschrift einige Personen des damaligen Umfeldes gebeten, Erlebnisse, die für sie Bedeutung hatten, aufzuschreiben. Damit ergibt sich ein Panorama des zwischenmenschlichen Beziehungsgeflechts. Es zeugt von gegenseitigem Respekt, aber auch vom fruchtbaren Austausch und der Weiterentwicklung von Ideen, welche für die Zukunft des Naturschutzes in der Schweiz wichtig werden konnten.
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Porträt der Autoren Mario F. Broggi In Sierre (VS) am 15. 3. 1945 geboren, aufgewachsen in Basel und Allschwil (BL), Studium der Forstwissenschaften an der ETH Zürich, seit 1969 in Liechtenstein wohnhaft, Inhaber von Oekobüros in Vaduz-Schaan (Liechtenstein), Mäder (Vorarlberg), Zürich und Wien. 1986 Doktorat an der Universität für Bodenkultur in Wien und Habilitation 1999 an der Uni Wien, Universitätsdozent an den Universitäten Basel und Wien über alpine Landnutzung und Naturschutz. 1997 Berufung als Direktor der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) bis 2004. Präsidium der Internationalen Alpenschutzkommission CIPRA (1983–1992), langjähriger Experte für Naturschutz im Europarat, in mehreren gemeinnützigen Stiftungen für Naturschutz tätig, so unter anderem für die Bristol Stiftung in Zürich mit Herausgabe von 62 Bänden der Bristolreihe im Haupt-Verlag.
Richard Maurer Über die abgebrochene Lehre als Maschinenzeichner führte der Weg über die Kantonsschule Aarau, dem Biologiestudium in Zürich über Zwischenschritte in die Verwaltung des Kantons Aargau. Zuständig für den Natur- und Landschaftsschutz in der Reusstalsanierung und später im ganzen Kanton. Programmarbeit im Naturschutz (z. B. Auenprogramm, Naturschutz in der Landwirtschaft, Wildtierkorridore, Grundlagen für das Wald-Naturschutz-Programm usw.). Konzeption der Erfolgskontrolle im Natur- und Landschaftsschutz, die von allen Kantonen und dem BAFU als massgebendes Systemverständnis akzeptiert wurde. Als Leiter der Abteilung Landschaft und Gewässer des Kantons mit den Bereichen Hochwasserschutz und Revitalisierung, Naturund Landschaftsschutz sowie Gewässernutzung wurde der Klimawandel mit den akzentuierten Risiken von Hochwasser und Trockenheit zu einem neuen Schwerpunkt. Entwicklung der Nachhaltigkeitsstrategie für den Kanton. Von 2009 bis 2021 Präsident des Stiftungsrates der Schweizerischen Vogelwarte Sempach. Wissenschaftlich bis 1992 Beschäftigung mit der Spinnenfauna der Schweiz und des Alpenraums, mit dem Fokus auf die Eiszeitüberdauerung und der postglazialen Rückwanderung.
Zeitgeschichte hält Erinnerungen an Menschen wach, deren Wirken Spuren hinterlassen hat. Ab 1970 haben drei befreundete Persönlichkeiten – Erich Kessler, Frank Klötzli und Bernhard Nievergelt – einzeln und zusammen den Natur- und Landschaftsschutz in der Schweiz wesentlich mitgeprägt. Ihr vielfältiges Zusammenwirken wird in dieser Gedenkschrift nachgezeichnet. Es steht für eine Beziehung, bei der sich Naturschutzforschung und -umsetzung gegenseitig befruchteten und unterstützten. Alle drei ergriffen die Gunst der Stunde und schufen ein solides Fundament, auf dem Fachleute in Wissenschaft und Umsetzung sowie Engagierte in der Zivilgesellschaft aufbauen konnten. Mit ihrem Ableben sind ihre Errungenschaften nicht nur Geschichte geworden, sondern Verantwortung für all jene, welche Natur und Landschaft mitgestalten. Nicht nur ihre biografischen Wegmarken werden festgehalten, vielmehr wird ihr Wirken in einen umweltpolitischen Kontext gesetzt. Zahlreiche Stimmen von Weggefährtinnen und -gefährten schildern ihre persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse in der Zusammenarbeit mit den drei Protagonisten. Es bleibt dabei aber nicht beim Rückblick: Aus dem bisherigen Tun werden Visionen für die Zukunft im Naturschutz aufgezeigt.
ISBN 978-3-258-08294-3