H A U SD
E
R KUNST
Von der Glasglocke zum Käfig Die Entwicklungsstufen der Cells von Louise Bourgeois Julienne Lorz Als Louise Bourgeois 1986 Articulated Lair schuf, konnte sie bereits auf ein umfangreiches Œuvre zurückblicken. In den vorausgegangenen vierzig Jahren hatte sie in einer Vielfalt an Ausdrucksmedien, die von kleinen Zeichnungen bis zu großen Installationen reichten, eine reiche und komplexe künstlerische Sprache entwickelt. Articulated Lair nahm eine neue Werkgruppe vorweg, die Bourgeois später Cells (Zellen) nannte. Bemerkenswerterweise erstreckt sich die Serie über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahrzehnten und endet im Jahr 2008, nur zwei Jahre vor dem Tod der Künstlerin. Während die psychologische Motivation hinter ihrer Kunst und der emotionale Grundtenor, der ihr Werk durchzieht, in dieser Serie konsistent bleiben, stechen die Zellen in der formalen und räumlichen Art ihrer Darstellung hervor. Sie stellen eine zentrale Entwicklungslinie in Bourgeois’ langer Karriere dar, sind jedoch nicht isoliert zu sehen, sondern vielmehr als eine Fortsetzung ihrer künstlerischen, konzeptuellen und persönlichen Anliegen, die sich bereits in ihren frühen Arbeiten der 1940er-Jahre ankündigten. Man könnte diesen Weg sogar noch weiter zurückverfolgen, hat doch die Künstlerin selbst erklärt, dass die Wurzeln ihres gesamten Schaffens in ihrer frühen Kindheit zu finden seien. Doch während Bourgeois’ Autobiografie mit Sicherheit eine bedeutende Rolle in ihren künstlerischen Bestrebungen spielt, soll sich hier der Fokus auf die Kunstwerke richten, insbesondere auf die konzeptuelle und formale Ausrichtung der Zellen und ihre Entwicklungsstufen. Ein Werk, das als früher Vorläufer der Zellen gelten könnte, ist eine kleine Tuschzeichnung ohne Titel auf rosa Papier aus dem Jahr 1943. Sie zeigt unter einer Glasglocke den Kopf einer Frau, der auf einem spitz zulaufenden Formsegment mit kurvig geschwungener Basis steckt. Ihre Augen sind weit geöffnet und sie lächelt, lacht sogar, ungeachtet der Tatsache, dass sie von ihrem Körper getrennt und von ihrer Umgebung abgeschnitten ist – zur Schau gestellt wie eine empfindliche Rarität, die aufbewahrt und vor äußeren Einflüssen geschützt werden muss. Zu sehen ist auch eine eigenartige ovale Umrisslinie, die die Konturen ihres Gesichts zu definieren scheint, aber gleichzeitig vor ihrem Gesicht in der Schwebe verharrt. Diese Kontur könnte schlicht als Beleg dafür gelten, dass die Künstlerin den endgültigen Gesichtsschnitt gefunden hat, doch in Anbetracht der betonten Augenpartie und deren leichter Verzerrung könnte man die Linie auch für den Rand eines Vergrößerungsglases oder einer Linse halten, wie sie in etlichen der Zellen anklingen sollten, die Jahrzehnte später entstanden sind. Interessant ist auch, dass die Glasglocke selbst, ein Motiv, das in mehreren Skulpturen und Druckgrafiken von Bourgeois wiederkehrt, durch die Wölbung wie ein Vergrößerungsglas wirkt. Doch es sind die mit dieser Zeichnung einhergehenden Implikationen, die bemerkenswert sind: eine gefangene Frau, die dennoch ihre Isolation zu genießen scheint; ihr Gemütszustand, der von jedem emotionalen Austausch ebenso abgeschnitten ist wie der Kopf von ihrem Körper – durch transparentes Glas geschützt, das selbst zerbrechlich ist, vor aller Augen zur
S
T
R
E
T
C
H
Y
O
U
R
V
I
E
W