Zwischen Lesen und Sehen ulrich wilmes
Der Weg, der Mel Bochner zur eigenen künstlerischen Identität führte, war gewunden, von Umwegen und Sackgassen geprägt. Aufgewachsen in Pittsburgh in einem traditionellen jüdischen Elternhaus, erfuhr Bochner eine frühe Prägung durch seinen Vater, einen Schildermaler. Die Beziehung zur Malerei erfolgte also über deren angewandte Funktion der Gestaltung bildlicher und sprachlicher Verweise, die bestimmte Einrichtungen, Anlagen, Waren, Dienstleistungen usw. eindeutig ›bezeichnen‹ oder Regularien, Orientierungen usw. ›erklären‹ sollen. Bochners Interesse an der Malerei wurde demnach durch die funktionale Bedeutung von Bildzeichen angeregt, deren Anliegen eine möglichst ›objektive‹ Vermittlung ihrer Inhalte ist. Das Studium am Carnegie Institute of Technology in Pittsburgh, der heutigen Carnegie Mellon University, schloss er 1962 ab. Wie er selbst sagt fiel, seine Studienzeit in eine interessante Phase, »when the art school was in transition from the old Beaux Arts system to a more Bauhaus kind of model. In the morning you had an Albers design course – color theory, collage studies of geometric shapes and so on; in the afternoon you drew from plaster casts, with charcoal, estompe and a chamois cloth.«1 In diesem Reizklima antagonistischer Lehrauffassungen – auf der einen Seite die traditionelle handwerkliche Schulung an historisch gesicherten künstlerischen Normen und Werten, auf der anderen Seite die Heranführung an eine modernistische Methode auf der Grundlage einer kritischen Analyse eben dieser historischen Bedingungen künstlerischer Theorie und Praxis – versuchten die Studenten ihre eigenen Anschauungen zu finden und zu entwickeln. Bochner nutzte diese Ausbildung nicht als Wegweiser, sondern als pragmatische Verankerung, die den Eintritt in die aktuellen Diskurse der Gegenwartskunst unterstützte. Wie viele seiner Kommilitonen fühlte er sich in dieser Situation manchmal überfordert, insofern er sich mit einer Vielzahl von Fragen konfrontiert sah, wo er eigentlich Antworten erwartete. Nicht von ungefähr suchte er nach seinem Studium nach einer
i ntellektuellen Ausfahrt aus der künstlerischen Einbahnstraße, die ihn nahe daran brachte, seine Berufung aufzugeben. Bochners Arbeit stand zu dieser Zeit noch unter dem Einfluss des Abstrakten Expressionismus, dessen dominante Geltung sich jedoch in Auflösung befand. Künstler wie Jasper Johns und Robert Rauschenberg hatten noch vor der grundsätzlichen Umkehrung durch Pop und Minimal Art die Wendung zu einer wirklichkeitsbezogenen Bildlichkeit eingeleitet, die die Kunst aus der meta physischen Sackgasse herausführte. Sie wurde getragen vom Willen zur Integration der künstlerischen Arbeit in die alltägliche Lebenswelt, die Stoffe und Gestaltungsformen lieferte und somit zu einer ahistorischen, in der Gegenwart angesiedelten bildneri schen Sprache anstiftete. In dieser Phase des Selbstzweifels ging Bochner zunächst nach Mexiko und nach San Francisco, ohne dass seine Malerei dort eine Befreiung von der schier allgegenwärtigen Präsenz des Abstrakten Expressionismus finden konnte. Die Tür, die ihm einen praktischen Weg aus dem Labyrinth ungewollter Einflüsse eröffnen konnte, blieb noch verschlossen. Als intellektuelle Herausforderung zur Überwindung der Krise nahm Bochner durch die Vermittlung eines Freundes ein Philosophiestudium an der Northwestern University in Chicago auf – in den 1960er Jahren eine der führenden Institutionen der usa mit dem Forschungsschwerpunkt auf linguistischer Philo sophie. Wenn auch nicht den erhofften Durchbruch, so brachten ihm die absolvierten Kurse wenigstens das Selbstbewusstsein für die künstlerische Arbeit zurück, verbunden mit der Gewissheit, dass er für diese nur in New York den geeigneten Nährboden finden würde. Nach seinem Umzug im Jahre 1964 arbeitete Bochner zunächst, wie manche seiner Kollegen, als Aufsicht im New Yorker Jewish Museum, das in dieser Zeit aufsehenerregende Ausstellungen zeigte und den jungen Künstlern überdies zu interessanten Kontakten verhalf. Darüber hinaus begann er bald danach, Rezensionen für das Arts Magazine zu schreiben, in denen er seine
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