Stipancic: Werde damit fertig, Genosse!

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springerin Heft 1/2011

»Werde damit fertig, Genosse!« Zur Internationalisierung der ­kroatischen Kulturszene seit den 1960er-Jahren

Josip Stojanovi´c, erster Direktor der Musik Biennale Zagreb, in der Istra Konzerthalle, 1961 Courtesy Muzicki ˇ Biennale Zagreb sowie Cantus Ltd., Zagreb

Karlheinz Stockhausens erster Besuch auf der Musik Biennale 1965

Pierre Schaeffer bei dem Panel »What is Music to Us?«, 14. Mai 1965 Student Centre Forum Zagreb

Text: Branka Stipanˇci´c, Übersetzung: Thomas Raab

Wie funktionierte die Kunstszene in Jugoslawien? Ich möchte diese Frage hier anhand von Zagreb in den 1960er-Jahren ­behandeln. Jugoslawien war damals blockfrei und folgte dem sogenannten Dritten Weg, der weder markwirtschaftlich wie im Westen noch kommunistisch wie im Ostblock ausgerichtet war. Das angepeilte Wirtschaftssystem nannte man »Selbst­ verwaltung«. Und in diesem Schwebezustand fand die Kultur immer Auswege. Um zu zeigen, dass sich die Menschen in Jugoslawien im Gegensatz zu jenen in anderen osteuropäischen Ländern nicht einfach vom Rest der Welt abschneiden ließen, möchte ich mit einem Zitat des Komponisten Milko Kelemen beginnen, dem Gründer der internationalen Musik Biennale: »Mitte der 1950erJahre wohnte ich in Darmstadt, wo ich arbeitete und an der berühmten Darmstädter Schule studierte. Dort traf ich zum ersten Mal Penderecki. […] Als ich dann 1959 nach Zagreb zurückkam, kam mir die Idee zur Biennale. Ich suchte den damaligen Zagreber Bürgermeister Ve´ceslav Holjevac auf und teilte ihm mit, dass ich gerne ein großes Festival organisieren würde. Er blickte nicht einmal von seinen Akten auf. Erst als ich ihm sagte, dass ich, sollte er nicht zusagen, das Festival in Belgrad machen ­würde, sah er mich wie von der Tarantel gestochen an. ›Was willst du machen, was willst du machen?‹, brüllte er. ›Ich kann dir einen Berg Dinar geben, aber keinen einzigen Dollar.‹ Ich fragte ihn, wie ich denn damit die Oper aus Deutschland, das Ballett aus Russland oder ein Orchester aus Amerika engagieren sollte. Doch er meinte nur: ›Werde damit fertig, Genosse!‹ Ich wusste genau, was ich zu tun hatte. Ich begann, mit der Sowjet­ union zu verhandeln. Jugoslawien war damals so etwas wie ­eine Drehscheibe für die Weltpolitik. Ich ging zu Furzeva, die damals russische Kulturministerin war. Ich erzählte ihr vom wachsenden Einfluss Amerikas und des Westens in Jugoslawien, und dass wir in Zagreb dringend das Leningrader Ballet und die Moskauer Philharmoniker brauchten. Sie sagte sofort zu. Und ich musste gar nichts bezahlen.«

Daraufhin reiste Kelemen in die USA und besuchte das State Department in Washington. Dort hatte er einige Gespräche, ­in denen er herausstrich, dass Jugoslawien unter größtem russischen Einfluss stünde und dass die Russen der Zagreb Biennale schon zugestimmt hätten. Kelemen wollte das Chicago Philharmonic Orchestra und das San Francisco Ballet. Er bekam alles, was er von den Amerikanern wollte. »Nachdem ich die Russen und Amerikaner gewonnen hatte, war der Rest ein Kinderspiel. Kein Wunder, dass sie mich später den Musikdiplomaten nannten«, schließt Kelemen seinen Bericht.1 Die Musik Biennale (MB) wurde 1961 gegründet. Berühmte MusikerInnen und TänzerInnen aus Ost und West kamen nach Zagreb, was zu Zeiten des Kalten Krieges in anderen Ländern kaum vorkam. In den frühen 1960er-Jahren traten das Bolschoitheater und die Hamburger Staatsoper auf, Igor Strawinsky kam, Mauricio Kagel, Luigi Nono, John Cage, Lukas Foss, Schostakowitsch, Witold Lutoslawski, Mstislav Rostropowitsch, Stock­ hausen, Bruno Maderna, Pierre Schaeffer, Olivier Messiaen und viele andere mehr. Eine ganze Generation von Avantgarde­ komponisten wie Ivo Malec oder Dubravko Detoni fand sich ein. Doch es entstanden noch viele andere große Kulturein­ richtungen nach dem Motto »Werde damit fertig, Genosse«. Ich nenne hier nur ein paar: die internationale Ausstellungsreihe »Neue Tendenzen« (1961–1973), das Genre Filmfestival (1963– 1970) und die neoavantgardistische Gruppe Gorgona (1959– 1

www.nacional.hr/clanak/33933/46-godina-poslije

Igor Stravinski während einer Probe auf der 2. Musik Biennale Zagreb 1963 Die Sopranistin Martina Arroyo, Solistin bei der Eröffnung der 3. Musik Biennale 1965

1966). Es scheint, als hätten wir heute in Exjugoslawien nur dank Einzelner, die »damit fertig wurden«, eine entsprechende Kunstgeschichte, und das trotz widriger ökonomischer Umstände und eines unterentwickelten Kunstsystems. Die erste Ausstellung in der Reihe »Neue Tendenzen« wurde 1961 auf Initiative des in Deutschland lebenden brasilianischen Künstlers Almir Mavignier veranstaltet. Zusammen mit den Kuratoren der Galerie für zeitgenössische Kunst Zagreb ­hatte er die Idee zu einer Ausstellung, die die damalige Situation der Gegenwartskunst wiedergeben sollte (hauptsächlich den ­Kanon der geometrischen Abstraktion, im Grunde der neokonstruktivistischen Kunst). Zur Ausstellung kamen vorwiegend Kunstschaffende aus dem Westen, zum Beispiel Piero Manzoni, die Gruppe ZERO, Manfredo Massironi, François Morellet oder Dieter Roth. Die zweite Ausstellung im Jahr 1963 präsentierte

58 KünstlerInnen, darunter Getulio Alviani, Enrico Castellani, ­Enzo Mari, Henk Peeters, die Gruppe GRAV, Julio Le Parc, Gruppo T und Gianni Colomo. Bei der dritten Auflage 1965 verdoppelte sich die Anzahl der KünstlerInnen noch einmal. Der überwiegende Teil der ausgestellten Werke gehörte nunmehr zur ­optischen und kinetischen Kunst. Zum ersten Mal kamen neben KünstlerInnen aus den Vereinigten Staaten auch welche aus Osteuropa. Aus der Sowjetunion kam die Gruppe Dviženije, aus dem übrigen Osteuropa Imre Bak, Zdenˇek Sykóra und Miloš ­Urbásek. Auf der vierten »Neue Tendenzen« 1969 stammten fast die Hälfte der Beiträge aus Nordamerika, meist von Mathema­ tikerInnen, PhysikerInnen oder IngenieurInnen, da es um Computerkunst ging. Die fünfte Auflage 1973 galt der Konzeptkunst, wobei viele der Ausstellenden aus Amerika und dem übrigen Westen sowie aus Osteuropa kamen (Štefan Belohradský, ˇ Endre Tót, John Baldessari, Daniel Buren usw.). Das Genre Filmfestival (GEFF) fand von 1963 bis 1970 statt und wurde von Mitgliedern des Kinoclub Zagreb (der Vereinigung der Amateurfilmschaffenden) auf Initiative von Mihovil Pansini gegründet. Das Festival galt dem Experimentalfilm oder, wie es hieß, dem Antifilm. In nur wenigen Jahren reifte das GEFF zu einem internationalen Event heran, auf dem 1970 der amerikanische Undergroundfilm unter dem Hauptthema Sexu­ alität präsentiert wurde. Der Untertitel des Festivals lautete ­»Sexualität als Weg zu einem neuen Humanismus«. Die Gruppe Gorgona wiederum entfaltete zwischen 1959 und 1966 unterschiedlichste Aktivitäten, die mit der Moderne brachen, welche im ehemaligen Jugoslawien so etwas wie ­einen offiziellen Status innehatte. Die Gruppe schuf Konzepte, Projekte, führte Kunstaktionen aus usw. Erste Formen der ­Entmaterialisierung des Kunstobjekts finden sich unter ihren ­Arbeiten. So verschickte Josip Vaništa 1962 an 50 AdressatInnen vom Verteiler des Studio G in Zagreb eine Einladung, auf der er schlicht »freundlich einlud«. Unerwähnt blieb, wohin und wozu man eingeladen war. Bei dieser Einladungskarte ist die Kunst fast immateriell. Sie besteht nur aus einem Text, der


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