ECM - Eine kulturelle Archäologie: Roundtable-Gespräch

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ME

MANFRED EICHER

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OKWUI ENWEZOR

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STEVE L AKE

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K ARL LIPPEGAUS

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MARKUS MÜLLER

Albumcover ( Detail ) The Art Ensemble of Chicago, Nice Guys (ECM 1126)


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OKWUI ENWEZOR

Wenn wir eine Theorie zeitgenössischer Kunst formulieren oder zeitgenössische Kunst so grundlegend wie möglich definieren wollten, müssten wir anführen, dass sie erstens post-medial und zweitens interdisziplinär ist. Das heißt, sie besitzt die Fähigkeit, die Energien unterschiedlicher Disziplinen in ihren Kontext aufzunehmen, sie zu internalisieren. Ein kleiner, aber wichtiger Teil dieser Gleichung ist das Verhältnis von zeitgenössischer Kunst und Musik. Von Fluxus bis zu den Happenings in den späten 50er und 60er Jahren hat es bedeutende kreative Projekte im komplexen Spannungsfeld zwischen experimenteller Musik und Kunst gegeben, die sich mit Entwicklungen in der zeitgenössischen Musik überkreuzten. Als ich über die Gründung und konzeptuelle Ausrichtung von ECM nachdachte, fiel mir noch etwas ein: Die späten 60er Jahre waren eine Zeit des Wandels in der zeitgenössischen Kunst. Die Neubestimmung dessen, was ein Kunstwerk ausmacht, in der Konzeptkunst, das Aufkommen neuer Methoden wie Wiederholung und Serialität im Minimalismus, die Kritik des künstlerischen Objekts, der künstlerischen Ware durch die lexikalischen und indexikalischen Fragestellungen, die sich aus dem Verhältnis von Kunst und post-konzeptuellen Praktiken ergeben. In dieser Hinsicht scheint es viele Schnittpunkte zu ECM zu geben. Deshalb ist ECM – Eine kulturelle Archäologie nicht nur der Versuch, ECM als einzigartiges Kunstprojekt und Kontext für die Arbeit einiger der experimentierfreudigsten, aus den Avantgarde-Projekten der 60er Jahre hervorgegangenen Musiker zu präsentieren, sondern auch ein Ansatz, all diese Kreuzungspunkte zusammenzuführen und damit vielleicht greifbar zu machen, warum ECM so radikale Veränderungen bewirkt hat. Deshalb sollte ich vielleicht mit einer ganz einfachen Frage an dich, Manfred, beginnen: Als ECM gegründet wurde, gabst du ihm den Namen „Edition of Contemporary Music“. Warum? MANFRED EICHER

Um die Firma amtlich anmelden zu können, brauchten wir einen Namen. Ich hatte keine Ahnung, wie sie heißen sollte, und dachte an etwas Neutrales, in dem meine Vorliebe für zeitgenössische Kunst und neue Musik, komponierte und nicht komponierte, zum Ausdruck kam. „Edition of Contemporary Music“ schien mir ein Name zu sein, dessen Lebensdauer nicht auf einige Jahre beschränkt sein würde. Fast 45 Jahre später finde ich immer noch, dass er die Sache ziemlich gut beschreibt. Und er lässt sich vielfältig variieren, so wie später in ECM New Series und ECM Cinema. Manche dachten, er hätte etwas mit meinem Namen zu tun. Das hat er nicht. OE

Es ist erstaunlich, dass du kein fertiges Drehbuch hattest. Selbst der Name kam dir erst im letzten Augenblick. Dennoch musst du eine Idee gehabt haben, welche Musik in dieser von dir gedachten Form entstehen sollte. Kannst du etwas erzählen über das Verhältnis zwischen der Musik, die auf ECM produziert wurde, und deiner Vorstellung davon, wie Musik sein sollte?


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Ich hatte Vorlieben, es gab Musiker, die mir gefielen, aber ich hatte kein Konzept. Es gab nur die Idee, Musik, die mir gefiel, irgendwie anders aufzunehmen, was immer „anders“ bedeuten mochte, denn ich besaß keinerlei Erfahrung als Produzent oder als Toningeneur. Aber ich hörte viel Musik. Klassik. Jazz, vom Label ESP, hinter dem Bernard Stollman stand, ein amerikanischer Rechtsanwalt, der sehr gute Musiker in seine Garage, die sein Studio sein sollte, einlud. Die Musik hörte sich an, als hätte man sie unter Wasser aufgenommen. Andere wunderbare Musik, aber sie klang nicht so, wie ich mir das vorstellte. Als Musiker hat mich Tonqualität interessiert, eben der Klang, und die Ortung der Instrumente. Ich wollte es einmal anders gestalten. Also klopfte ich bei Musikern an, die ich von früher kannte, Paul Bley, Robin Kenyatta, Jim Knapp, Mal Waldron und andere, und fragte, ob sie für uns aufnehmen würden. Und so fanden wir langsam, aber stetig einen eigenen Rhythmus, eine musikalische Aussage und Richtung, die es so nirgendwo anders gab. Viele Labels hatten damals eigene Produzenten – Blue Note, Riverside, Verve, Impulse, alles ausgezeichnete Labels mit unverwechselbarem Stil-, aber als Europäer wollte ich es ein wenig anders machen, mein Wissen und meine Erfahrung als Musiker über komponierte und improvisierte Musik einbringen und beides zusammenführen, ohne zunächst eine Vorstellung zu haben, was dabei herauskommt. OE

Also war dein Ziel, gewissermaßen eine Brücke zu schlagen zwischen Musikern anderswo und der europäischen Tradition, dem europäischen Kontext jener Zeit? ME

Ja. Als erstes lud ich amerikanische Musiker ein, die ich bereits kannte, mit denen ich ab und zu gespielt hatte. Leo Smith, Marion Brown, Paul Bley. Und ich kontaktierte Musiker aus dem Umfeld von Miles Davis, wie Chick Corea und Keith Jarrett, die in Europa aufgetreten waren und die tatsächlich sagten: „Probieren wir’s mal mit Manfred.“ Also probierten wir es, und es gefiel ihnen und uns gefiel es auch. Das war so ziemlich alles, was es bei uns an Konzept gab. OE

Da dies ein freies und offenes Gespräch sein soll, möchte ich euch einladen, jederzeit einzusteigen, wenn ihr etwas ergänzen oder kommentieren oder Manfred eine Frage stellen möchtet. Karl Lippegaus

Ich finde es interessant, dass Manfred ESP erwähnt hat, weil es wirklich sehr spannend war, was ESP ab 1964 machte. Aber es stimmt, alles klang ein bisschen nach Unterwasseraufnahme. Man konnte sie nicht hören, die detaillierten Klanginformationen, die in den Studios, in denen sie aufnahmen – kleine Studios, billige Studios – ja noch vorhanden gewesen waren. Manfred entwickelte etwas wesentlich Detaillierteres und Klareres, einen viel transparenteren


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Sound. Fast, als würde man Musik in 3D hören. Heute heißt das „Dolby Surround Sound“, jedenfalls wenn man in einem guten Kino sitzt. Ein kleines Ensemble klingt plötzlich so, als wäre es ein Orchester, du hörst das Schlagzeug, aber auch alles andere, was gerade passiert, nicht nur Paul Motian. Nicht nur einen kleinen Ausschnitt, wie auf ESP. OE

Eine räumliche Erfahrung von Musik also… KL

… die Erkundung des Raums … OE

… die völlig neu war und den Hörer die Aufnahme ganz anders erleben ließ. KL

Genau. OE

Was meinst du, Markus? MARKUS MÜLLER

Für die mangelnde Aufnahmequalität gab es sicher auch handfeste finanzielle Gründe, besonders bei ESP und ähnlichen Labels; außerdem mussten sie erst lernen, wie man so eine Session vorbereitet und durchführt. Bei ECM interessiert mich der Erfolg von Mal Waldrons erstem ECM-Album [Free at Last, 1969] in Japan. Gab es so etwas wie einen Geschäftsplan für die ersten ein, zwei Jahre? Außerdem meine ich mich zu erinnern, dass ECM ganz am Anfang ein paar Alben herausbrachte, die schon vor Gründung des Labels aufgenommen worden waren – Paul Bley und Gary Peacock fallen mir ein. Auf der anderen Seite gibt es diese berühmte Anekdote von Jan Garbarek, der nach dem ersten Gespräch mit dir, Manfred, dachte, er würde nie wieder etwas von dir hören, weil du so etwas sagtest wie: „Ruf uns nicht an, wir melden uns bei dir.“ Und als du dann doch anriefst und er fragte, ob ECM ein Tape veröffentlichen wolle, das er in der Schublade hatte, wehrtest du gleich ab: Nein, nein, wir wollen etwas Neues mit dir aufnehmen. So kam es, glaube ich, auch zum ersten Kontakt mit Jan Erik Kongshaug in Oslo. Inwiefern unterscheidet sich das Album von Bley und Peacock von deinen eigenen ersten Aufnahmen mit Garbarek?

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Recording Session in Oslo für Kenny Wheelers Deer Wan ( ECM 1102), Jan Garbarek und Manfred Eicher, 1978, Foto: Roberto Masotti

Die erste Begegnung mit Jan Garbarek hatte ich 1968 in Bologna, wo er mit der George Russell Group beim Jazzfestival auftrat. Ich schaute mir das Theater an und hörte interessante Klänge, die aus dem Keller hervordrangen. Als ich hinabstieg, stand da jemand, der aussah wie Alain Delon mit Tenorsaxophon. Es war eine Probe, Terje Rypdal war dabei, Arild Andersen und Jon Christensen, eine große Band. Jan sagte: „Ich hab gehört, dass du eine Plattenfirma gründen willst.“ Ich antwortete: „Oh nein, jetzt noch nicht.“ Aber er ließ nicht locker: „Ich habe ein Band, möchtest du es hören?“ Es waren Aufnahmen mit seinem Quartett. Ich sagte: „Ich glaube nicht. Aber wenn ich ein Label habe, rufe ich dich an und mache selbst ein Album mit dir.“ Ein Jahr später schrieb ich ihm in meinem holprigen Englisch: „Jan, ich würde gerne nach Oslo kommen und mit dir aufnehmen.“ Und er versprach, etwas zu arrangieren. Das war im Sonja-Henie-Museum (heute das Henie-Onstad Art Centre) außerhalb von Oslo. Bjørnar Andresen war der Toningenieur. Auch ein sehr guter Bassist und ein Tontechniker möglicherweise, aber nicht für diese Session. Mitten in der Nacht brachen wir ab und beschlossen, es am nächsten Morgen woanders zu probieren. Arild rief Jan Erik Kongshaug an, der soeben als Toningeneur im Arne Bendixen Studio begonnen hatte, wir fuhren am selben Tag hin und nahmen Afric Pepperbird (1970) auf. Die Aufnahmen verliefen sehr intuitiv, weil wir zunächst alles Mögliche ausprobierten. Schließlich fanden wir einen eigenen Gruppenklang, der auch für diese Musiker neu war. Eine schöne Erfahrung. Nach der Aufnahme fuhr ich sehr stolz mit fünf Mehrspurbändern im Zug zurück nach München. Das Band mit Paul Bley, Gary Peacock und Paul Motian, das ich von Paul zugeschickt bekommen hatte, war von der Musik her sehr überzeugend, klanglich aber nicht. Also fuhr ich mit dem Zweispurband ins Tonstudio Bauer nach Ludwigsburg, um mit Kurt Rapp, der dort Toningenieur war, eine neue Abmischung zu machen und die Reihenfolge anders zu gestalten. Paul war damit einverstanden. Monate später war das Album fertig und bekam fantastische Kritiken, sogar von Richard Williams im Melody Maker, der nicht zuletzt den Klang lobte. Unsere kleinen Nachbesserungen zeigten also Wirkung. Es war nicht nur die Musik, die begeisterte, sondern auch das Klangbild. Danach haben wir Afric Pepperbird von Garbarek herausgebracht, und schon redeten viele über den Sound. Aber es war nicht meine Absicht, einen „besonderen“ Klang zu kreieren, ich wollte ein musikalisches Programm vorstellen und die Musik so aufnehmen, wie ich sie mit meinen Ohren hörte. Die Musik entwickelte eine eigene Dynamik, erreichte immer mehr Menschen, und das Echo war sehr zustimmend. Wir hatten keinen Geschäftsplan, aber den Vorteil, dass wir Manfred Scheffners „Jazz by Post“ nutzen konnten, einen Platten-Versandhandel in München-Pasing, den er zusammen mit Karl Egger gegründet und aufgebaut hatte. Ein bisschen wie Amazon vor 50 Jahren. Als Free at Last gepresst war, verschickten wir sie mit deren Vertrieb. Ich hatte auch Kontakte aus meiner Mitarbeit bei diversen Musikverlagen, und ich schickte diese Platte an Herrn Uehara, einen japanischen Verleger und Agenten,


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der zwar nicht viel von Jazz verstand, aber über große Überzeugungskünste verfügte. Also erwarb eine japanische Firma die Rechte. Per Telex kam das Angebot für einen Vorschuss in die Gleichmannstraße 10 nach München. Ich erinnere, ich war überrascht, wie viel sie boten. Ich schlief eine Nacht darüber und antwortete: „Das ist nicht schlecht, aber es sollten 5.000 Mark mehr sein.“ Und sie meinten: „Hm, ach so.“ Damit war Mal Waldrons Free at Last auf eine internationale Umlaufbahn gebracht und ich konnte mit dieser Vorauszahlung auch einen Teil der wesentlich aufwendigeren Produktion Return to Forever (1972) mit Chick Corea bezahlen. Und alles bewegte sich musikalisch und geschäftlich in die richtige Bahn, auch ohne Geschäftsplan. OE

Es existierten also bereits Strukturen und Jazz by Post war der Vertriebskanal. ME

Es war ein guter Service, den wir für unsere Aufnahmen gerne nutzten. OE

Steve, du arbeitest seit vielen Jahren für ECM, hast das Label aber schon vorher als Hörer und später als Rezensent begleitet. Wie passen deine eigenen Erfahrungen zum bereits Gesagten: War diese räumliche Qualität, die Karl beschrieben hat, auch für dich spürbar? STEVE L AKE

Still aus See the Music von Theodor Kotulla, 1971

OE

Ich finde es interessant, Manfred, dass du sehr genau wusstest, wen du aufnehmen wolltest, also durchaus einen Plan hattest, wenn auch keinen Geschäftsplan. Nach welchen Kriterien hast du dir die Musiker ausgesucht? Und wie ging es dann weiter?

Ja, und zwar schon bevor ich anfing, als Musikjournalist zu arbeiten, als ich einfach nur ein Junge war, der Platten kaufte. Ich verglich zum Beispiel die Alben des Art Ensemble of Chicago, die bei verschiedenen französischen Labels erschienen waren, sehr genau mit dem Sound von Marion Browns Afternoon of a Georgia Faun (1970) oder anderen frühen ECM-Alben. Diese Musik besaß für mich definitiv einen größeren räumlichen Kontext, was mit einer anderen Art des Hörens zu tun zu haben schien. Das merkte ich sofort. Mit der Zeit wurde deutlich, dass ECM hier etwas ganz anders machte als alle anderen. Wie Karl gesagt hat, man kann in die Produktion hineinsehen wie in klares Wasser und die Bewegung der verschiedenen Linien verfolgen. Das war eine ganz neue Erfahrung.


ME

Ich denke, es war Empathie für die Musik selbst und für die Menschen, die ich im Blick hatte. Es gab einige wenige Musiker, die mir wirklich viel bedeuteten, und zu denen nahm ich Kontakt auf, ohne eine finanzielle Grundlage zu haben. Zuerst kam der Kontakt, kamen Gespräche, in denen wir uns annäherten, und dann, als das Geld zur Verfügung stand, klopfte ich bei Freunden und Bekannten an, die mir helfen sollten, das Projekt zu verwirklichen. Damit hatte ich nicht immer Erfolg, aber die Aufnahmen kamen zustande und ich konnte immer dafür bezahlen. Dann überlegten wir, wie man die Musik auf andere Weise präsentieren kann. Die großen Platten­firmen waren damals, Ende der 60er, nicht mehr wirklich interessiert an Jazz. Jazz steckt in einer Sackgasse, hieß es, Jazz ist tot, Jazz ist am Ende – all diese Phrasen, die auch heute wieder gebetsmühlenartig wiederholt werden. Für uns war klar, wir wollten die Musik anders präsentieren, anders verpacken. Die Gestaltung des LPCovers spielte dabei eine wichtige Rolle. Damit gaben wir die Richtung vor und schickten auch eine Botschaft an die Hörerschaft, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Amerika und Japan, in Island und Taiwan. Offenbar gefiel den Leuten, was wir machten, denn sie bestellten mehr als erwartet. Wenn wir Geld hatten, machten wir neue Platten; hatten wir keines, warteten wir, bis wieder etwas hereinkam. OE

Lasst uns nicht zu viel über geschäftliche Dinge sprechen, sondern eher die künstlerischen Aspekte ins Auge fassen. MM

Ich möchte die Auffassung, dass der Sound das alles Entscheidende war, ein wenig in Frage stellen. Natürlich war das ein wichtiger Aspekt, aber für mich ist es nicht der wichtigste. Ich glaube, das erste Mal, dass in der polnischen Jazz-Zeitschrift Jazz Forum etwas über ECM stand, war in der Herbst-/Winter-Ausgabe 1971, als sie die ersten 15 Veröffentlichungen zusammenfassten. Der Schwerpunkt lag dabei auf der künstlerischen Qualität und der musikalischen Bandbreite – ECM sei ein neues und sehr viel versprechendes Label, hieß es, dessen Musik von der internationalen Presse wegen seiner Qualität sehr geschätzt werde. Natürlich, die Klangqualität war hervorragend, völlig anders als bei ESP, vergleichbar eher mit Deutsche Grammophon oder anderen klassischen Labels. Was mich aber viel mehr erstaunt, ist, dass es dir damals gelang, die Crème de la Crème zu Aufnahmen zu bewegen, etwa Chick Corea zu seinem ersten Soloalbum [Piano Improvisations Vol. 1, 1971]. Wie haben sich diese persönlichen Beziehungen entwickelt, als ECM größer wurde? Welche Strategie ermöglichte es, all diese Leute zusammenzubringen und sie viele Jahre bei ECM zu halten? Viele Künstler aus der Anfangszeit, wie Keith Jarrett oder Jan Garbarek, sind heute noch dabei. Was ist das Geheimnis dieser langjährigen Zusammenarbeit?


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Schwer zu sagen, aber Vertrauen und gegenseitiger Respekt gehörten sicher zu den Grundlagen. Geld hat nie eine große Rolle gespielt, es ging immer um künstlerische Fragen und um die Freiheit, etwas im Studio gemeinsam zu entwickeln. Außerdem sprach sich herum, dass es da ein Label, einen Produzenten, einen Toningenieur gab, die versuchten, etwas anders zu machen. Daraus entwickelten sich musikalische Freundschaften, und deshalb haben wir auch nie Exklusivverträge abgeschlossen. Es gibt Verträge, in denen die Bedingungen für eine Aufnahme geregelt sind, aber der Rest beruht auf Vertrauen und Offenheit, und deshalb bleiben die Leute uns über so lange Zeiträume treu. OE

Wie alt warst du da? SL

Im Nachhinein ist es einfach zu sagen, toll, ECM hat so und so viele Aufnahmen mit diesem oder jenem Musiker gemacht. Aber dazu muss man, wie Manfred, eine Vision haben. Für mich ging die ganze Sache mit ECM 1971/72 los, als ich meine ersten Radioprogramme machte. KL

Ich war 17. Das ist 40 Jahre her. Damals entstand ein neues Publikum für eine Musik, an der 17- oder 18-jährige eigentlich nicht sehr interessiert waren. Wie kam es, dass 1970 plötzlich eine Viertelmillion Menschen Miles Davis‘ Doppelalbum Bitches Brew (Columbia) kauften? Das war sensationell. Diese Musik klang überhaupt nicht so, wie man sich Jazz normalerweise vorstellte, sondern ganz anders, neu, futuristisch. Im Anhang von Steves wunderbarem Buch über ECM [Horizons Touched: The Music of ECM, 2007] – ich kenne kein Label, das jemals ein solches Buch herausgebracht hat – findet man die Aufnahmedaten aller ECM-Alben. Man kann also genau nachvollziehen, wann Manfred das erste Mal mit Ralph Towner im Studio war, wann mit Garbarek und so weiter. Das ist alles sehr lange her – heute sind sie Stars, aber damals waren sie es eben nicht, da kannten sie nicht sehr viele. Ich glaube, Manfred kannte Ralph Towner nur von dem Weather-Report-Album [I Sing the Body Electric, 1972], auf dem er das Intro zu „The Moors“ spielt. Gerade mal zwei Minuten auf der zwölfsaitigen Gitarre, und dann machte er 25 Alben für ECM. Bis jetzt...


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Vielleicht war das eine der wichtigsten Innovationen bei ECM, dass das Label weniger Unternehmen war als vielmehr ein kollaborativer Kontext für Künstler, die kamen, um ihre Ideen zu verwirklichen. Es ging eben nicht darum, zigtausende Platten zu verkaufen. Natürlich hat es auch seine Vorteile, erfolgreich zu sein, aber mich interessiert mehr die Dialektik zwischen wirtschaftlicher Unabhängigkeit und künstlerischer Machbarkeit. Das macht die lange Geschichte von ECM als unabhängigem Plattenlabel für mich so faszinierend. ME

Das Schöne ist ja, dass diese künstlerischen Ideen auch viele Händler und Vertriebe ansprachen, die sagten, wir wollen diese Platten verkaufen. Und ich dachte, gut, mal sehen, wie lange ihr das wollt. Schließlich hatten wir einige wirklich radikale Aufnahmen im Programm, wie die Music Improvisation Company oder das Album Music from Two Basses (1971) von Dave Holland und Barre Phillips oder die Aufnahmen mit Derek Bailey und Dave Holland. Es gab schließlich viele Platten, die nicht produziert wurden, um verkauft zu werden, sondern damit es sie überhaupt gab. OE

Das ist ein wichtiger Punkt – die Musik wurde nicht produziert, um in den unendlichen Strom der Waren und Güter einzugehen. KL

Und daran hat sich nichts geändert. Heiner Goebbels’ Stifters Dinge (2007) ist zum Beispiel eines der radikalsten Alben, das ich seit Jahren gehört habe. Es wirft alle deine Vorstellungen von Musik über den Haufen: Was ist Musik? Was ist Klang? SL

Man sollte das Publikum auch nicht unterschätzen. Plattenfirmen neigen dazu, sich aufs hohe Ross zu setzen und die Hörer nicht ernst zu nehmen. ECM hat das nie getan. Wir haben immer gesagt, uns interessiert diese Musik und wir sind überzeugt, dass es da draußen Menschen gibt, für die sie auch interessant sein könnte.


ME

Ich hatte eine Neigung, vielleicht einen Instinkt für Dinge, die mich so sehr ansprachen, dass ich sie unbedingt dokumentieren wollte. Um sie dann interessierten Hörern vorstellen zu können, die dann erst entscheiden, ob etwas Fahrt aufnimmt oder nicht. Es war schon sehr riskant, solche Produktionen zu machen. Aber mit Hilfe von Jazz by Post, später mit Hilfe von Polygram und Phonogram und kleinen Vertrieben konnten wir das Wagnis eingehen. Die gute Pressqualität unserer Schallplatten wurde auch immer hervorgehoben. Wir hatten das Glück, dass wir bei der Deutsche Grammophon produzieren konnten. OE

Ist das eine Fetischisierung des Sounds? KL

Der Herstellung von Schallplatten. OE

Ja, das meinte ich. ME

Eine Platte mit dem bestmöglichen Klang zu machen. OE

Das kommt dabei heraus, ja. KL

Manfred hat mir mal erzählt, dass er nie das naheliegendste Stück an den Anfang setzt, so wie es die meisten großen Plattenfirmen machen, die nach der stärksten Aufnahme suchten und sie zum potenziellen Hit erklärten, der natürlich am Anfang stehen muss. Manfred führt dich hin zu einem besonderen Ereignis. Manchmal hört man das stärkste, bewegendste Stück erst im letzten Drittel und die Stücke davor sind der Weg, der dorthin führt. OE

Obwohl Manfred und Steve sagen, dass sie nur die stärksten… ME

Achtung, das betrifft auch den Kurator! In welchem Raum soll es losgehen? OE

Stimmt. Das ist alles sehr, sehr spannend und bereichernd für mich. Die Richtung, die sich jetzt anbietet, ist natürlich … sobald ihr diese eine Tür geöffnet hattet, musstet ihr auch schauen, was hinter den anderen ist. Lasst uns über die Begegnung mit einer Avantgarde-Musik sprechen, die nicht mit Jazz in Verbindung stand, auch wenn es gewisse Verwandtschaften gab. John Cage zum Beispiel. Wann hielt diese Musik Einzug in das ECM-Repertoire? Komponierte Musik, norwegische Musik, diese Verbindungsglieder zwischen Improvisation und geschriebener Musik?.




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