DEUTSCHLAND 6 EURO ISSN 1863-9747 74099
ÖSTERREICH 6,90 EUR
SCHWEIZ 9 CHF
HEAR THE WORLD DAS MAGAZIN FÜR HÖR-KULTUR
TAKE THAT FOTOGRAFIERT VON BRYAN ADAMS Herzog & de Meurons Parkhaus in Miami Théâtre de la Gaîté Lyrique Jenson Button Wenn Tarzan brüllt – zu Natur und Kultur des Schreis Die Stimme von Adele
NUMMER NEUNZEHN
Vertrauen Sie der Power für besseres Hören
Neu Die neue Hörgerätefamilie Naída S bietet Menschen mit Hörminderung eine neue Dimension des kraftvollen Hörens. Besseres Hören – in so vielen Situationen wie noch nie! Kontaktieren Sie noch heute Ihren Hörgeräteakustiker und finden Sie Ihren eigenen Grund der Power von Naída S zu vertrauen. www.1000reasonsfornaida.com
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HEAR THE WORLD NUMMER NEUNZEHN
Editorial
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Hear the World Initiative Musiker Patrick Nuo engagiert sich in Kenia für Kinder mit Hörverlust
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COME AGAIN News Lärm
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Frequently Asked Questions
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What’s that sound? Der Sprung ins Wasser
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Produkte
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SAFE AND SOUND Hört die Signale!
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„Von Bäumen, die singen können“
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Wenn Tarzan brüllt – zu Natur und Kultur des Schreis
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EASY LISTENING Ein Märchen wird wahr: die Pet Shop Boys im Ballettsaal
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The Boys Are Back In Town – oder: die glückliche Wiedervereinigung von Take That mit Robbie Williams
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Modern Dance im wahrsten Sinne des Wortes
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James Blake – die Erlösung durch Stille
70
HEAR THE WORLD Wenn Schmerzmittel mehr schaden als helfen: Morbus Samter
22
Wieder hören durch Knochenmark? Die Wissenschaft der Wiederherstellung des Hörvermögens
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Ein Interieur wie ein Orchester
30
Herzog & de Meurons Parkhaus in Miami
32
Nick Knight – klangvolle Namen und große Gesichter auf Hochglanzpapier
74
In der Wunderkammer der digitalen Kultur
38
Die Stimme von Adele
80
Warum Formel-1-Fahrer Jenson Button es cool findet, sein Gehör zu schützen
42
IMPRESSUM
82
4 HEAR THE WORLD
EDITORIAL
Liebe Leserin, lieber Leser, Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, warum unser Magazin ausgerechnet HEAR THE WORLD heißt? An Markennamen gewöhnt man sich schnell. Und HEAR THE WORLD ist inzwischen eine weltweit bekannte und mehrfach preisgekrönte Marke. Es macht das Wesen einer Marke aus, dass sie uns so vertraut und selbstverständlich geworden ist, dass man über ihren „tieferen Sinn“ nicht mehr reflektieren muss. Dass es um gutes Hören geht und um die komplexe Welt des Hörens, ist klar. Aber wir bei HEAR THE WORLD verstehen „Welt“ auch im ureigenen Wortsinne: nämlich geografisch. Das wird auch in dieser neuen Ausgabe deutlich, die Sie gerade in Händen halten. Wie in allen vorangegangenen Ausgaben entführen wir Sie auch diesmal auf eine Weltreise: Wir bringen Sie an Orte, wo sich das sinnliche Erlebnis des Hörens ebenso deutlich erschließt wie seine kulturelle und gesundheitliche Bedeutung. Unsere akustische Tour d’Horizon führt Sie diesmal von Miami über Paris und Eindhoven (Niederlande) bis hin in die Gebirgswälder Europas. Dort, in diesen Gebirgswäldern, wachsen die Fichtenstämme, aus denen die edelsten Instrumente der Musik werden: die Geigen. Besuchen Sie mit uns Martin Schleske, einen der besten Geigenbauer der Welt. Und lesen Sie, warum nur die zähesten Überlebenskünstler unter den Fichten das Holz liefern können, aus dem Künstler die subtilste Musik hervorzaubern. Im niederländischen Eindhoven gestalteten die Designer Miriam van der Lubbe und Niels van Eijk eine in die Jahre gekommene Konzerthalle, das Muziekgebouw, in ein Gesamtkunstwerk um. Sie erfüllten damit den ganzheitlichen Anspruch an Design – nämlich über den reinen Zweck hinaus alle Aspekte des Lebens und Erlebens zu berücksichtigen –, von der Fassade eines Gebäudes bis zum Besteck in dessen Speiseräumen und zur Kleidung der Menschen, die dort arbeiten.
Besichtigen Sie mit uns in Paris einen anderen Kulturtempel, der eine akustische Metamorphose erlebte: Wo einst Jacques Offenbachs heiter-dramatische Musik die feine Gesellschaft des Second Empire erfreute, im Théâtre de la Gaîté Lyrique, tut sich Erstaunliches: Experimentelle und elektronische Musik, Raum- und Lichtexperimente, Video- und Tanzperformances bieten völlig neue Theaterund Hörerfahrungen. Und das in historischer Hülle – ein „clash of cultures“, der keine Angst macht, sondern uns bereichert und öffnet. Auch anscheinend banalste Betonbauten können aufregend sein, wie die berühmten Schweizer Architekten Herzog & de Meuron in Miami demonstrieren: Gleich neben dem berühmten Art-déco-Viertel bauten sie ein luftiges, skulpturales, ja, es klingt wie ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich selbst: ein schönes Parkhaus. Schauen Sie selbst! Natürlich stellen wir Ihnen auch in dieser Ausgabe wieder Menschen vor, die Außerordentliches leisten, wenn es um Hörerlebnisse, um Musik und Musikkultur geht. Stellvertretend sei hier eine junge, aufstrebende Sängerin genannt, deren Stimme von eigenartigem, unwiderstehlichem Reiz ist: Adele, 22 Jahre alt. Sie wurde bereits als „Enkelin“ von Dusty Springfield und „Tochter“ von Amy Winehouse bezeichnet. Hier gilt der Satz: Wir werden noch viel von ihr hören! Nun wünsche ich Ihnen aber erst einmal viel Vergnügen beim Lesen! Ihr
Alexander Zschokke
ZUM TITELBILD Take That wurde fotografiert von Bryan Adams. Die Künstler unterstützen die Initiative Hear the World.
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HEAR THE WORLD INITIATIVE
Musiker Patrick Nuo engagiert sich in Kenia für Kinder mit Hörverlust
Der Schweizer Musiker und Hear the World Botschafter Patrick Nuo möchte hier Unterstützung bieten und besuchte Anfang Mai ein Projekt der Hear the World Foundation in Nairobi. Er begleitete dabei die deutsche HNO-Ärztin Dr. Michaela Fuchs bei ihrer Arbeit. Mit seinem Besuch vor Ort konnte Nuo die von Hörverlust betroffenen Kinder und ihre Lebensbedingungen kennenlernen und sich mit den lokalen Partnern austauschen. „Mein Aufenthalt hier war für mich eine Lektion in Demut. Ich bewundere, wie stark diese Kinder sind, die trotz extremer Armut und Hörminderung so viel Energie und Lebensmut ausstrahlen“, so Nuo. Mit seinem Engagement konnte er nicht nur die Kinder, sondern auch Dr. Michaela Fuchs überzeugen: „Patrick hat mir mit vollem Einsatz und ohne jegliche Berührungsängste assistiert – keine Selbstverständlichkeit unter diesen Bedingungen. Sein Besuch trägt dazu bei, die Öffentlichkeit auf unsere Arbeit aufmerksam zu machen und damit hoffentlich weitere finanzielle Unterstützung zu gewinnen.“
Das Projekt: Zukunftschancen für Kinder in Nairobi Bereits seit 2008 unterstützt die Hear the World Foundation Kinder mit Hörverlust in Nairobi. In enger Zusammenarbeit mit Lufthansa Cargo hat die Schweizer Stiftung ein Hörzentrum im Cargo Human Care Medical Center eingerichtet. Die deutsche HNO-Ärztin Dr. Michaela Fuchs bietet dort unentgeltlich Sprechstunden an und führt Hörtests durch. Der Schweizer Hörgerätehersteller Phonak spendet der Hear the World Foundation regelmäßig Hörgeräte. Beispielsweise erhalten Kinder aus dem Mathare Valley, dem zweitgrößten Slum Nairobis, kostenlos Hörgeräte. Auch die Kinder der Joymereen Gehörlosenschule machen dank neuer digitaler Hörgeräte von Hear the World beachtliche Fortschritte. Um die Kinder nachhaltig zu versorgen, hat die Hear the World Foundation einen Betreuungsring aufgebaut. Dazu gehören neben den HNO-Ärzten im Hörzentrum ein lokaler Hörgeräteakustiker, der die Hörgeräte anpasst und kostenlose Nachversorgung leistet, sowie eine Eltern-Selbsthilfegruppe. 2011 soll zudem vor Ort ein regelmäßiges Sprachtherapie-Angebot aufgebaut werden. Seit Anfang 2010 unterstützt der Hear the World Partner VARTA Microbattery das Projekt mit kostenlosen Hörgerätebatterien. Elena Torresani Erfahren Sie mehr über die Hear the World Foundation: Besuchen Sie www.hear-the-world.com/foundation und werden Sie Fan auf www.facebook.com/CanYouHearTheWorld. Herzlichen Dank für Ihre Spende! Damit die Hear the World Foundation ihre wichtige und nachhaltige Unterstützung von Menschen mit Hörverlust weltweit gewährleisten kann, ist sie auf Spenden angewiesen. Jede Spende trägt dazu bei, benachteiligten Menschen und insbesondere Kindern mehr Lebensqualität zu schenken. Helfen auch Sie mit! Ein leistungsfähiges Hörgerät kann das Leben eines Kindes verändern, dem Kind neue Welten eröffnen und seinen Bildungs- und Berufsweg nachhaltig prägen! Die Hear the World Foundation ist in der ganzen Schweiz steuerbefreit. Bankverbindung für Spenden: UBS AG Zürich, Hear the World Foundation, SWIFT: UBSWCHZH80A IBAN: CH12 0023 0230 4773 8401 U
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Foto: Philipp Rathmer / Sundance
Nairobi, Kenia: Kinder, die hier mit einer Hörminderung zur Welt kommen, haben so gut wie keine Chance auf ein normales Leben. Wie in anderen Entwicklungsländern gibt es in Kenia für diese Kinder kaum Möglichkeiten, medizinische und audiologische Versorgung zu bekommen. Die Folgen eines unbehandelten Hörverlusts sind gravierend: Kinder haben ohne gutes Hören Schwierigkeiten beim Erlernen von Sprache und Defizite in der altersgerechten Entwicklung. Vor allem betroffene Kinder aus sozial benachteiligten Familien haben keine Chance auf Integration, denn sie werden kaum in Schulen akzeptiert und erhalten keine Förderung – in der Folge leben sie oft isoliert und von der Gesellschaft ausgeschlossen.
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NEWS
Lärm Wer raucht, sich falsch ernährt oder sich nicht ausreichend bewegt, gefährdet auf Dauer seine Gesundheit. Das wissen wir. Dass permanenter Verkehrslärm Schlafstörungen, erhöhten Blutdruck oder Herzinfarkte begünstigen kann, ist ebenfalls bekannt. Nichtsdestotrotz sind klare Ergebnisse zu den Auswirkungen des Verkehrslärms auf den Menschen aber vage, da ein Durchschnittswert nur schwer zu errechnen ist und es eher die Spitzenwerte sind, die dem menschlichen Organismus nachweislich schaden. Das European Heart Journal veröffentlicht nun eine Studie der Dänischen Krebsgesellschaft mit über 50.000 Probanden, die den Zusammenhang zwischen röhrenden Motoren, quietschenden Bremsen und lärmenden Hupen und einem erhöhten Schlaganfallrisiko belegt.
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Demnach gehe jeder zwölfte Schlaganfall auf eine durch Verkehrslärm erhöhte Belastung zurück; betroffen hiervon seien eindeutig die Über-65-Jährigen und kaum die Jüngeren. So erhöhten bereits zehn Dezibel mehr alltäglicher Großstadtlärm das Risiko eines Hirninfarkts in der besagten Altersklasse. Übertriebene Sorge sei allerdings trotzdem unangebracht – an die oben erwähnten in Eigenregie verursachten Risikofaktoren reiche der Verkehrslärm laut Experten bei Weitem nicht heran. Sandra Spannaus
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Illustration: CĂŠline Meyrat
FREQUENTLY ASKED QUESTIONS
Bei mir wurde ein Hörsturz (rechtes Ohr) diagnostiziert. Ich bin etwas ratlos bei der Ursachenforschung, schließe jedoch Stress als Ursache aus. Kann hoher Blutdruck einen Hörsturz verursachen? Ich bin 47 Jahre alt und habe bei mehreren Messungen jeweils ca. 153/93. Ein Hörsturz kann auch durch hohen Blutdruck ausgelöst werden. Als Ursache kommen auch Verspannungen im Halswirbelsäulenbereich in Frage. In vielen Fällen findet man allerdings keine greifbare Ursache. Trotzdem sollte man in diesem Fall beim Hausarzt einen Check-up durchführen lassen.
Illustrationen: Samuel Roos
Dr. Michaela Fuchs, HNO-Fachärztin sowie diplomierte Reise- und Touristikmedizinerin
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Wie soll man am besten seine Ohren reinigen? Ich habe seit Kurzem das Gefühl, dass meine Ohren verstopft sind bzw. ich empfinde einen leichten Druck. Ich habe bislang immer ein paar Tropfen Peroxid benutzt und es gab nie ein Problem, aber seit ungefähr einem Monat lässt sich das Ohrenwachs nicht mehr richtig entfernen. Am besten sollten Sie Ihre Ohren von einem Spezialisten untersuchen lassen, um Kontraindikationen auszuschließen. Lassen Sie sich auch beraten, wie man seine Ohren richtig und gefahrlos selbst reinigen kann. Bei vielen auf dem Markt erhältlichen Produkten für die Ohrenreinigung ist Vorsicht geboten. Da man nicht selbst in seine Ohren sehen kann, raten die meisten Audiologen davon ab, etwas ins Ohr einzuführen. Am sichersten ist es, die Ohren von einem Arzt, einer Krankenschwester oder einem Gehörspezialisten reinigen zu lassen. Robert Beiny, Director of Audiology und Besitzer von „The Hearing Healthcare Practice“ in Hertfordshire, England
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WHAT’S THAT SOUND?
Foto: Michael Blann
Der Sprung ins Wasser
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PRODUKTE
Francesco Tristano – bachCage Johann Sebastian Bach war ein bedeutender deutscher Komponist barocker Werke. John Cage war US-Komponist und Schlüsselfigur der „Neuen Musik“. Auf den ersten Blick nahezu unvereinbar, könnte man meinen. Aber Francesco Tristano gelingt es. Mit seinem neuen Album bachCage erweist er den beiden gegensätzlichen Komponisten, die – jeder auf seine Weise – den Werdegang des aufstrebenden Pianisten aus Luxemburg prägten, die Ehre.
Fernab von Tristanos berühmt-berüchtigtem Mix aus Klassik und Elektronik ist ein besonderes Album entstanden, das auch Kritiker versöhnen könnte. Mit Eigenkompositionen sowie Stücken von Cage und Bach, die der junge Künstler mit sehr persönlicher Note interpretiert. Leise, fast meditativ anmutende Klänge und furioses Tastenspiel lösen sich ab und gewähren einmal mehr Einblick in die Vielseitigkeit Tristanos. Seinen Namen wird man sich merken müssen. Und man tut es gerne. ASIN: B004KBSQ2E
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PRODUKTE
Typo Lyrics Eine naheliegende Idee und trotzdem noch nicht dagewesen – die im Birkhäuser Verlag erschienene Publikation „Typo Lyrics – The Sound of Fonts“ vereint zeitgenössische Schriften und Songtexte jeglichen Genres zu einer ausdrucksstarken Präsentation. Die Idee hierzu entspringt der gleichnamigen Rubrik des Slanted Magazin. Musikbegeisterte Grafikdesigner waren aufgerufen, Musikstile und Lyrics aller Art mit geläufigen Schriftgattungen und zeitgenössischen Font-Designs in Einklang zu bringen – über 170 Beiträge von ebenso vielen kreativen Köpfen sind so entstanden und bieten in elf Kapiteln einmalige DesignExperimente zwischen Sound und Font.
Bekannte Grafikdesigner sowie talentierte Neulinge bedienten sich an der Palette von Swing und Pop bis hin zu Krautrock, Chansons und Hip-Hop und ließen die Schriften dazu tanzen. Beiträge von Spex-Chefredakteur Max Dax und dem DJ und Produzenten Frank Wiedemann runden die „Typo Lyrics“ redaktionell ab; weiterhin geben Interviews mit namhaften Gestaltern interessante Einblicke in deren beruflichen Alltag rund ums akustische und visuelle Design. Besonders ansprechend durch das pro Kapitel wechselnde, durchgefärbte Papier und variierende Sonderfarben ist dieses Hardcover-Buch ein informatives und inspirierendes Werk für Typografen, Grafikdesigner und natürlich den Musikliebhaber an sich. ISBN-10: 9783034603669 ISBN-13: 978-3034603669
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PRODUKTE
Plektrum von Deva Jewels Leidenschaft und Fingerfertigkeit bringt man mit einem Gitarristen in Verbindung, und genau diese Eigenschaften finden sich auch in der Schmuckserie von Deva Jewels wieder. Schöne Ideen mit viel Liebe zum Detail umgesetzt. Auf den ersten Blick ist es nicht mehr als ein schlichter silberner Anhänger. Schaut man etwas genauer hin, so erkennt man, dass es sich um ein Plektrum handelt. Jenes Plättchen, das Gitarristen und andere Saitenspieler verwenden, um die Töne, die sie ihrem Instrument entlocken, kraftvoller und prägnanter klingen zu lassen.
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Das Plektrum aus 925 Sterling Silber massiv, in seiner normalen Verwendung meist aus Hartplastik und bunt, ist in diesem Falle elegant und wird – mit einer individuellen Gravur versehen – zum ganz persönlichen Unikat. In weiterer Funktion auch als Schlüsselanhänger erhältlich, schmückt dieses Gitarren-Pic an einer feingliedrigen Kette oder einem farbigen Band je nach Wunsch zurückhaltend oder auffällig den Hals. Musikliebhaber lassen sich so sicher gern an die Kette legen! www.deva-jewels.de
PRODUKTE
Naída S – es gibt keinen Grund, nicht gut zu hören Sicher kennen Sie jemanden, der nicht mehr in allen Situationen optimal hört? Viele Menschen, deren Gehör allmählich nachlässt, zögern die Entscheidung für ein Hörgerät jahrelang hinaus. Nicht so Menschen mit sehr starkem Hörverlust. Sie sind auf eine Hörlösung angewiesen und wissen, wie sehr sie damit ihre Lebensqualität verbessern können. Denn die heutigen Hörlösungen basieren auf ausgeklügelter Technologie und sind darüber hinaus ästhetisch ansprechend im Design. Bereits seit drei Jahren beruht der Erfolg der Power-Hörlösung Naída von Phonak auf verschiedenen Innovationen: Für Personen mit bedeutender Hörminderung sind Ausschluss von Rückkoppelung (Pfeifen) und Hören im Hochfrequenzbereich besonders wichtig. Dank der neuesten Technologie wird Naída S diesen Anforderungen gerecht. Dies bedeutet beispielsweise, dass Klänge wie das für normal Hörende selbstverständliche Vogelgezwitscher oder das Läuten einer Klingel wieder hörbar werden.
Bei der Auswahl eines Hörgeräts spielen auch Design und Größe eine wichtige Rolle. Die modernen Lösungen sind verschwindend klein und unauffällig. Für viele andere Lösungen gilt aber auch die Regel, je stärker der Hörverlust, desto größer das Gerät. Die auf Spitzenleistungen ausgerichtete Technologie von Naída ist jedoch in ein überraschend kleines, robustes und wasserresistentes Gehäuse verpackt und hat sich bereits über Jahre bewährt. Die Reaktionen von Experten und Hörgeräteträgern aus aller Welt sind auf www.1000reasonsfornaida.com nachzulesen. Naída verbindet Menschen mit starkem Hörverlust auch mit mobiler Kommunikation. Durch die Drahtlos- und Freisprechfunktion sowie die Anbindung über FM-Funktechnologie und Bluetooth erschließt sich dem Träger die drahtlose Welt moderner Kommunikationssysteme. Es gibt also keinen überzeugenden Grund, auf die vielen bereichernden, sinnlichen und alltäglichen Klänge verzichten zu müssen. Ob der Ihnen bekannte Jemand, der nicht mehr so gut hört, dies wohl weiß? www.1000reasonsfornaida.com
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WISSEN
Wenn Schmerzmittel mehr schaden als helfen: Morbus Samter Ein seltenes, aber deshalb nicht weniger bedrohliches Krankheitsbild in der Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde ist Morbus Samter, auch ASS-Intoleranz-Syndrom genannt. Bereits drei Jahre nach der Einführung von Aspirin im Jahr 1899 berichteten Ärzte von „allergieähnlichen“ Nebenwirkungen des neuen Medikaments. Während es sich bei Allergien, die meistens durch Pollen, Hausstaubmilben, Tierhaare oder Nahrungsmittel wie Mehl, Milch, Nüsse etc. ausgelöst werden, um überschießende Fehlleistungen der körpereigenen Abwehr handelt, geht die ASS-Intoleranz auf eine Störung der Verstoffwechslung zurück. Diese Störung äußert sich als ein Symptom-Komplex und umfasst die folgenden Symptome: • Schmerzmittelunverträglichkeiten (Aspirin, Ibuprofen, Diclofenac, Indometazin etc.) • Polypen in der Nase • Verlust des Riechvermögens • chronische Rhinitis • Asthma • urtikarielle Hautreaktionen Neuerdings favorisieren Experten eher den Terminus Aspirin-Exacerbated Respiratory Disease (AERD). Dabei liegt die Betonung auf der verschlimmernden Wirkung von Aspirin und anderen Schmerzmitteln, da in den meisten Fällen auch unabhängig von der Einnahme dieser Medikamente eine schwere chronische Atemwegserkrankung vorliegt. Welche Patienten betroffen sind ASS-Intoleranz tritt überwiegend ab dem 30. Lebensjahr in Erscheinung, und zwar meistens bei Frauen. Die Unverträglichkeitsreaktion nach Einnahme des Analgetikums setzt in der Mehrzahl der Fälle innerhalb einer Stunde ein. Sie macht sich als Asthmaanfall bemerkbar, der oft mit Fließschnupfen, Bindehautentzündung und einer starken Errötung im Hals- und Gesichtsbereich einhergeht. In sehr schweren Fällen kann die Attacke bis zum anaphylaktischen Schock und damit sogar zum Tod führen. Über die Häufigkeit der Erkrankungen der oberen Atemwege durch ASS-Intoleranz ist noch wenig bekannt, da bisher nur eine geringe Anzahl von Studien mit sehr begrenzten Patientengruppen durchgeführt wurde. Man schätzt, dass von der Erkrankung etwa acht bis 20 Prozent aller Asthmatiker betroffen und damit der Gefahr ausgesetzt sind, schwerwiegende lebensbedrohliche Anfälle zu erleiden. Bei Patienten mit Nasenpolypen tritt diese Intoleranz zu etwa sechs bis 15 Prozent auf. Nach anderen Publikationen muss jeder zehnte Patient, der aufgrund seiner Polypen an einer chronischen Entzündung der Nasennebenhöhlen (Polyposis nasi) erkrankt ist, mit einer ASSUnverträglichkeit rechnen. Da Nasenpolypen Auslöser von Migräne sein können und Entzündungen der Nasennebenhöhlen pulsierende Schmerzen und / oder Kopfschmerzen hervorrufen, engt die Analgetika-Intoleranz den Behandlungsspielraum der Schmerzbekämpfung stark ein. 22 HEAR THE WORLD
Denn es besteht die Gefahr, dass der Körper auf den Einsatz von Aspirin oder anderen Analgetika mit verstärkten Entzündungsprozessen reagiert, die wiederum die Polypenbildung anregen und Asthmaanfälle auslösen können. ASS-Intoleranz ist also durch ihr multifaktorales Geschehen prädestiniert, einen Circulus vitiosus in Gang zu setzen. Schwierige Diagnose Da die typischen Symptome der ASS-Intoleranz oft nicht gleichzeitig, sondern über Jahre und sogar Jahrzehnte zeitversetzt auftreten, ist die klinische Früherkennung eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen einer Analgetika-Intoleranz und beispielsweise einem wiederkehrenden Befall der Nase mit Polypen oder einem Asthmaanfall oft schwierig. Auch zusätzliche grippale Infekte, Stress oder gleichzeitige allergische Reaktionen auf andere Stoffe und Allergene können die Diagnose erschweren. Folgende Symptome und Befunde lassen auf eine ASS-Intoleranz schließen: schwere Asthmaanfälle, blockierte Nasenatmung und wässriger Schnupfen, besonders nach dem Ausschluss von allergischem Schnupfen durch Allergietests, ferner entzündliche Schwellungen der Schleimhäute der Nasennebenhöhlen (Sinusitis) oder die Bildung von Nasenpolypen. Obwohl durch die Anamnese und Auswertung der Symptomatik oft deutliche Hinweise auf das Vorliegen einer ASS-Intoleranz zu gewinnen sind, ist eine eindeutige Diagnose nur durch Provokationstests möglich. Diese Tests, bei denen den Patienten in Kliniken Aspirin oral, inhalativ oder nasal verabreicht wird, erfordern jedoch einen hohen apparativen und zeitlichen Aufwand, da eine mehrstündige Überwachung notwendig ist. In manchen Krankenhäusern und Therapiezentren werden Provokationstests wegen der Schock-Gefahr ausschließlich auf der Intensivstation durchgeführt. Den Teufel mit dem Beelzebub austreiben Für die Therapie der ASS-Intoleranz stehen heute folgende Medikamente zur Verfügung: Kortisonpräparate, lang wirksame Beta-2-Agonisten und Leukotrien-Antagonisten, die bei Asthmatikern eine Verbesserung der Lungenfunktion bewirken. Der bislang größte Erfolg ist jedoch durch die sogenannte adaptive ASS-Desaktivierung zu erzielen. Sie stellt die einzige kausale Behandlung von Morbus Samter dar und gilt deshalb als Therapie der Wahl. Die ASSDesaktivierung, die der Desensibilisierung bei Allergien entspricht, basiert auf der Beobachtung, dass Patienten mit einer ASS-Unverträglichkeit bis zu drei Tage nach der oralen Verabreichung von Aspirin in geringen Mengen keine Anzeichen einer Intoleranz mehr zeigen und sich die vorher vorhandenen Symptome nach einer erneuten ASSEinnahme abschwächen. Durch die Nutzung dieser sogenannten Refraktärzeit, in der die ASS-Gabe keine unerwünschten Wirkungen zur Folge hat, und durch die allmähliche Erhöhung der ASS-Dosierung lässt sich eine Toleranz gegenüber therapeutischen Dosen von ASS herbeiführen.
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Illustration: Hennie Haworth
Dabei verabreicht man Aspirin in kleinen Dosierungen, die allmählich erhöht werden, bis eine Dosis von 500 mg gut vertragen wird. Während verschiedene Arbeitsgruppen über erfolgreiche Desaktivierungen mit Erhaltungsdosen von 300 mg pro Tag berichten, zeigen andere klinische Untersuchungen sogar eine gleich gute Wirksamkeit bei einer Reduktion auf 100 mg pro Tag. Die adaptive Desaktivierung kann oral oder als Kombination von oraler Verabreichung und Inhalation durchgeführt werden. Neben der Besserung der Symptome von Morbus Samter im Bereich der oberen Atemwege ist die Methode der adaptiven Desaktivierung für alle Patienten von großer Bedeutung, die an rheumatischen Beschwerden, degenerativen Gelenkerkrankungen oder ständig wiederkehrenden Schmerzzuständen leiden und deshalb auf ASS oder andere Analgetika angewiesen sind. Dazu gehört natürlich auch die wachsende Zahl von Patienten, die Aspirin präventiv gegen Herzkrankheiten einnehmen.
Da aber nicht nur Schmerzmittel, sondern auch zahlreiche Nahrungsmittel und Kräuter Salicylate enthalten, von denen oft geringe Mengen ausreichen, um allergieähnliche Intoleranzen hervorzurufen, ist die adaptive Desaktivierung auch in diesen meist unvermeidbaren Fällen das Mittel der Wahl. Häufig auftretende Symptome, der auf Nahrungsmittel-Salicylate zurückgehenden Entzündungsprozesse sind Nasenblockade mit Verlust des Riechvermögens, chronische Rhinitis und urtikarielle Hautreaktionen wie Quaddeln und Rötungen. Analog zur allgemeinen Zunahme von Allergien erwarten Mediziner auch eine Steigerung der ASS-Intoleranzen. Ein wichtiges Forschungsgebiet in diesem Bereich sind umfangreiche multizentrische, durch Placebo kontrollierte Studien, um die optimale ASS-Tagesdosis für die adaptive Desaktivierung zweifelsfrei zu ermitteln und damit die Therapie von Morbus Samter auf eine sichere Basis zu stellen. Anno Bachem
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Illustration: Stefan Kugel
WISSEN
Wieder hören durch Knochenmark? Die Wissenschaft der Wiederherstellung des Hörvermögens Es klingt wie aus einem Zukunftsroman, aber die jüngsten Entwicklungen in der medizinischen Forschung eröffnen neue und interessante Möglichkeiten für die Wiederherstellung eines der wichtigsten menschlichen Sinne – des Hörvermögens. Superman Christopher Reeve, der legendäre Superheld, erlitt 1995 bei einem Reitunfall schwere Rückenmarksverletzungen. Er wurde zum bekannten Fürsprecher der Stammzellentherapie und dank seiner Lobbyarbeit ist das Thema Stammzellen ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Die häufigste und bewährte Stammzellentherapie, die heutzutage durchgeführt wird, ist die Knochenmarkstransplantation zur Bekämpfung von Leukämie. Man geht in der medizinischen Forschung davon aus, dass in Zukunft Technologien, die auf der Stammzellenforschung beruhen, zur Behandlung von Krankheiten wie Krebs, Parkinson, Arthritis, Rückenmarksverletzungen, Multiple Sklerose, Diabetes, Blindheit und Hörverlust eingesetzt werden können. Hörverlust ist eines der häufigsten Leiden der Sinnesorgane. Studien haben sogar gezeigt, dass lärmbedingter Hörverlust die nächste große Epidemie sein wird – und sie wird vor allem die jüngere Generation betreffen (ScienceDaily, 2007). Es gibt jedoch noch viele andere Ursachen für einen Hörverlust, unter anderem genetische oder umweltbedingte Gründe (Infektionen, Frühgeburt und ototoxische Medikamente) oder den natürlichen Alterungsprozess.
Was ist eine Stammzelle? Zellen sind die mikroskopisch kleinen Bausteine des menschlichen Körpers und jede dieser Zellen entspringt einer Stammzelle. Häufig auch als „Master-Stammzellen des Körpers“ bezeichnet, teilen sie sich im Körper oder auch im Labor, um weitere Zellen zu bilden. Diese Zellen bilden sich entweder zu neuen Stammzellen (Selbstregeneration) heraus oder sie entwickeln spezielle Funktionen (Ausdifferenzierung in verschiedene Zelltypen) wie zum Beispiel Blutzellen, Gehirn- oder Leberzellen. Es gibt zwei Arten von Stammzellen: embryonale Stammzellen und adulte Stammzellen Embryonale Stammzellen: Wie der Begriff schon suggeriert, finden sich diese Zellen in Embryos, die vier bis fünf Tage alt sind. Diese Zellen teilen sich in weitere Stammzellen oder differenzieren sich zu anderen Körperzellen aus. Für Forscher haben embryonale Stammzellen das höchste Potenzial, wenn es um Regeneration oder Wiederherstellung von krankem oder beschädigtem menschlichen Gewebe und Organen geht. Adulte Stammzellen finden sich in kleiner Anzahl in den meisten adulten Geweben wie zum Beispiel im Knochenmark. In der Vergangenheit ging man davon aus, dass adulte Stammzellen nur ähnliche Zellformen hervorbringen können. Beispielsweise Knochenmarksstammzellen, die nur Blutzellen bilden. Aktuelle Forschungsergebnisse legen jedoch nahe, dass adulte Stammzellen auch unverwandte Zelltypen bilden können.
Hörverlust – wie kommt es dazu? Haarzellen sind kleine haarähnliche Fortsätze, die die Gehörschnecke, das Sinnesorgan des Innenohrs, auskleiden und das Hören ermöglichen. Wir kommen mit schätzungsweise 30.000 Haarzellen in jedem Ohr auf die Welt. Bei Menschen mit normalem Hörvermögen verwandeln die Haarzellen Geräusche in elektrische Signale, die dann an das Gehirn weitergeleitet und schließlich „gehört“ werden. Ein sensoneuraler Hörverlust kann durch fehlende, beschädigte oder zu wenige Haarzellen verursacht werden. Im Gegensatz zu anderen Körperzellen wie zum Beispiel Hautzellen ist die Fähigkeit der Gehörschnecke zur Regeneration beschränkt und die Wiederherstellung des Hörvermögens somit eine Herausforderung. Interessanterweise gibt es in der Tierwelt keine „tauben“ Vögel oder Fische, da sie die bemerkenswerte Eigenschaft haben, dass beschädigte Haarzellen sehr schnell nachwachsen können! Beim Menschen kommt eine natürliche Erholung von beschädigten Haarzellen manchmal vor und führt zu einer teilweisen Verbesserung des vorübergehenden Hörverlusts. In den meisten Fällen bleibt bei einer schweren Beschädigung jedoch ein dauerhafter Hörverlust bestehen.
Das Potenzial der Stammzellentherapie liegt darin, dass die Transplantation von Zellen anderer Körperteile bestimmte Krankheitszustände heilen, vermeiden oder rückgängig machen könnte. So würden zum Beispiel Knochenmarksstammzellen in Haarzellen verwandelt werden können, um Hörverlust zu begegnen. Die Rolle der Stammzellen im Hinblick auf die Reversibilität eines Hörverlusts Forscher hoffen, dass sie Stammzellen so manipulieren können, dass sie beschädigte Haarzellen regenerieren oder reparieren können und somit ein Hörverlust vermieden oder reversibel gemacht werden kann. Die aktuelle weltweite Forschung ergibt positive Hinweise, dass dies in Zukunft möglich sein könnte.
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In Japan hat man Knochenmarksstammzellen in die Gehörschnecke von Mäusen injiziert, die einen durch Medikamente herbeigeführten Hörverlust hatten. Die mit der Transplantation behandelten Mäuse erholten sich schneller vom Hörverlust, insbesondere was hohe Töne betraf, als diejenigen, die keine Injektion erhalten hatten. Die Forscher konnten zeigen, dass die Knochenmarksstammzellen die Fähigkeit hatten, wie eine Haarzelle des Gehörs zu funktionieren und sogar eine ähnliche Form wie die gesunden Haarzellen aufwiesen (Kamiya et al., 2007).
In einigen Studien deuteten die Ergebnisse darauf hin, dass lärmbedingter Hörverlust reduziert werden konnte, wenn vor und nach einer Lärmbelastung Antioxidantien verabreicht wurden. Überdies belegen weitere Studien die positiven Effekte auf andere Hörstörungen wie Tinnitus, Morbus Menière (Gleichgewichtsstörung) und möglicherweise Presbyakusis (altersbedingte Hörminderung).
Stammzellenforscher in Australien haben herausgefunden, dass Patienten, die seit dem Kleinkind- oder Kindesalter von Hörproblemen betroffen sind, von einer Transplantation von Stammzellen ihrer Nase profitieren könnten! Die Wissenschaftler hatten nasale Stammzellen in die Gehörschnecken von hörgeschädigten Mäusen injiziert. Diese Mäuse waren speziell ausgewählt, da sie bereits nach dem Jungtieralter ein Nachlassen des Hörvermögens zeigten. Das Hörvermögen der Mäuse wurde einen Monat später getestet und es zeigte sich, dass die Mäuse mit den transplantierten Stammzellen besser hören konnten als diejenigen, die keine Stammzellen erhalten hatten. Man geht davon aus, dass die nasalen Stammzellen in der Lage waren, die Gesundheit und Funktion der Haarzellen aufrechtzuerhalten und das Gehör sich somit nicht verschlechterte (Sonali et al., 2001).
Stammzellen- und Gentherapien im Bereich Hörverlust sind noch vergleichsweise junge Forschungsgebiete. Wir sind natürlich noch viele Jahre von der endgültigen Entwicklung einer Impfung oder eines Medikaments entfernt, das den Hörverlust beheben oder diesem vorbeugen könnte. Die Erkenntnisse, die Forscher in den letzten Jahren gewonnen haben, sind jedoch der erste Schritt zu möglichen Behandlungslösungen für genetisch bedingten Hörverlust oder Hörverlust, der durch eine Beschädigung der Haarzellen verursacht wurde.
Andere Vorgehensweisen
Shin-Shin Hobi
In den vergangenen zehn Jahren haben Forscher aus dem Bereich Gentherapie bei ihrer Suche nach einem „Heilmittel“ für Hörverlust überzeugende und positive Ergebnisse vorlegen können. Der vielversprechendste Erfolg im Einsatz der Gentherapie zur Wiederherstellung des Hörvermögens war die Entdeckung eines bestimmten Gens, das das Wachstum von neuen Haarzellen anregt (Hildebrand et al., 2007). Während dies eine erfolgversprechende Behandlung für Patienten darstellen könnte, die später im Leben einen Hörverlust erlitten haben, kann die Gentherapie unter Umständen auch eine Lösung für den genetisch erworbenen Hörverlust bieten. Forscher in Amerika haben erfolgreich ein Schlüsselgen des Gehörs in die sich entwickelnden Ohren embryonaler Mäuse eingefügt. Daraufhin konnten sie nachvollziehen, wie das übertragene Gen effektiv zur Produktion von Haarzellen führte. Im Ergebnis hatten die behandelten Mäuse bei ihrer Geburt mehr Haarzellen als die nicht Behandelten. Antioxidantien werden von der Kosmetik- und Gesundheitsbranche als die Lösung gegen Alterungsprozesse proklamiert, da sie Zellverfall und Entzündungen vorbeugen (Lamm und Arnold, 1999). Studien haben gezeigt, dass Patienten mit plötzlichem Hörverlust bessere Heilungserfolge haben, wenn die Gabe von Antioxidantien mit einer standardmäßigen Steroidtherapie kombiniert wird. 28 HEAR THE WORLD
Die Zukunft: Wird es möglicherweise eine Impfung oder ein Medikament gegen Hörverlust geben?
Ein Hörverlust ist, auch wenn er nicht reversibel ist, vermeidbar und behandelbar. Gehörspezialisten weisen auf die Bedeutung vorbeugender Maßnahmen hin wie die Vermeidung oder Reduzierung von Lärm sowie eine frühestmögliche Behandlung (Hörgeräte).
Case Western Reserve University, „Isolation of Stem Cells May Lead to a Treatment for Hearing Loss“, ScienceDaily 6. April 2007, Web 8. April 2011 Hildebrand M., Newton S., Gubbels S., Sheffield A., Kochhar A., Silva M., Dahl H., Rose S., Behlke M. und Smith (2008), „Advances in Molecular and Cellular Therapies for Hearing Loss“, Molecular Therapy Bd.16 Nr. 2 224-236 Kamiya K., Fujinami Y., Hoya N., Okamoto Y., Kouike H., Komatsuzaki R., Kusano R., Nakagawa S., Satoh H., Fuji M. und Matsunaga T. (2007), „Mesenchymal Stem Cell Transplantation Accelerates Hearing Recovery through the Repair of Injured Cochlear Fibrocytes“, Am J Pathology Bd. 171: 214-226 Lamm K. und Arnold W. (1999), „Successful Treatment of NoiseInduced Cochlear Ischemia, Hypoxia and Hearing Loss“, Ann NY Acad Science (884): 233-248 Sonali R., Sullivan J., Egger V., Borecki A. und Oleskevich S. (2011), „Functional Effects of Adult Human Olfactory Stem Cells on EarlyOnset Sensorineural Hearing Loss“, Stem Cells (10): 670-677
Stammzellen – der ethische Aspekt Stammzellenforschung ist, wie Klonen oder Gentechnik, ein sehr kontrovers diskutiertes und stark polarisierendes Thema. Die religiösen und moralischen Einwände gegen die Stammzellenforschung beziehen sich auf die Verwendung menschlicher Embryonalstammzellen, da diese eine Zerstörung des Embryos mit sich bringt. Menschliche Embryonalstammzellen, die in der Forschung benutzt werden, stammen aus Eizellen, die in einer Klinik fertilisiert wurden und die nicht länger (d.h. nicht mehr für die Einpflanzung) benötigt werden. Sie werden dann auf der Basis einer Einverständniserklärung der Spender für Forschungszwecke zur Verfügung gestellt.
Es gibt sehr große nationale Unterschiede in der Gesetzgebung, die die Verwendung von menschlichen Embryonalstammzellen regelt. In einigen Ländern ist sie illegal oder strengstens reglementiert (z.B. in Deutschland, Österreich, Irland, Italien und Portugal), während sie in anderen befürwortet wird (z.B. in Japan, Indien, Israel und Australien). In den USA ist die Lage nach wie vor uneinheitlich, einige Bundesstaaten haben ein vollständiges Verbot erlassen, während andere die Verwendung von Embryonalstammzellen zulassen. Die ethischen Aspekte, die mit der Verwendung von embryonalen Stammzellen einhergehen, werden wohl dauerhaft ein sensibles Thema bleiben. Es gibt strengste Regeln und Gesetze, was die Forschung unter Ver wendung von Embryonen betrifft, viele sind jedoch der Überzeugung, dass die Forschung mit adulten Stammzellen die einzig akzeptable Alternative darstellt.
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DER KLANG DER DINGE
Ein Interieur wie ein Orchester Wie Niels van Eijk und Miriam van der Lubbe Räume, Möbel, Uniformen, Stoffe, Besteck und Tassen zu einem Gesamtklang verschmolzen. Gestaltung war einst mit dem gesamtheitlichen Anspruch angetreten, die Lebensbedingungen der Menschen „vom Löffel bis zur Stadt“ zu verbessern, wie es Max Bill forderte. Heute aber verortet man gestalterische Gesamtkunstwerke eher in die Vergangenheit – etwa bei dem legendären Kopenhagener SAS Royal Hotel von Arne Jacobsen, für das er zwischen 1956 und 1960 nicht nur die Architektur, sondern auch das komplette Interieur von den Möbeln, über die Leuchten, bis hin zu Stoffen und Besteck entwarf. Lassen sich so unterschiedliche gestalterische Bereiche auch heute noch zu einem überzeugenden Gesamtkunstwerk verbinden? Das niederländische Gestalterduo Miriam van der Lubbe und Niels van Eijk erhielt vor ein paar Jahren einen Auftrag, von dem wohl jeder Gestalter träumt: Für das Eindhovener Muziekgebouw, eine in die Jahre gekommene Konzerthalle aus den frühen Neunzigern, sollten sie gemeinsam mit Philips Ambient Experience Design eine umfassende Neugestaltung „von der Fassade bis zum Manschettenknopf “ konzipieren. „Das Gebäude hatte eine großartige Akustik, aber war ansonsten schrecklich“, so Niels van Eijk. „Alles war am falschen Platz, alles hatte die falschen Farben. Wir wollten den Besuchern ermöglichen, wieder einen Bezug zu diesem Bau zu entwickeln.“ Die beiden Gestalter erarbeiteten ihren Entwurf deshalb von innen nach außen und befassten sich nicht nur mit dem großen Eindruck, sondern auch mit dem kleinsten Detail. So gestalteten sie die hohe gläserne Eingangsfassade ebenso wie die Foyers, die Treppenaufgänge, Zuschauerräume, Umkleiden, Bars und Bistros, die Teppichböden und Decken, Möbel und Tische, aber auch die Kleidung der Mitarbeiter, die Kaffeetassen oder die Boxen für das Prospektmaterial. Der Weg durch die Räume soll sich dem Besucher intuitiv und nicht über Hinweistafeln erschließen: Im ganzen Gebäude finden sich deshalb – neben ein paar wenigen Türbeschriftungen oder Foyerkennungen – keine Schilder. Dafür bestehen die Schall absorbierenden Decken in den Foyers aus unzähligen LED-bestückten Fliesen, die leuchtend den Weg weisen. Hightech, das sich durch das ganze Haus zieht, bleibt weitgehend unsichtbar. Für die Stoffauswahl der Sitze in den Zuschauerräumen analysierten sie die Kleidung der Besucher: Weil sie den Musikern auch bei schlecht besuchten Konzerten den Anblick eines leeren Auditoriums ersparen wollten, bezogen sie die Sitze mit einer unregelmäßigen Folge von Blau- und Grüntönen, die den Eindruck eines bunt gemischten Publikums erwecken. Im großen Saal ist ein einziger Sitz mit gelbem Stoff bezogen, gerade so, als ob eine Besucherin heute ein besonders leuchtendes Kleid gewagt hätte. 30 HEAR THE WORLD
Diese augenzwinkernde Herangehensweise findet sich an vielen Stellen des neu gestalteten Konzerthauses: Auf den Kaffeetassen, die van Eijk und van der Lubbe für die Gastronomie des Hauses entwarfen, finden sich kitschige Blumenmotive, die sich bei näherer Betrachtung als Collage von Instrumenten entpuppen. Mit neun Motiven und fünf verschiedenen Farben entsteht eine riesige Zahl verschiedener Tassendekors, die sicherstellt, dass auch ein regelmäßiger Gast bei jedem Besuch eine andere Tasse bekommt und so schon im kleinsten Detail einen einzigartigen Abend erlebt. Bei den hölzernen „Silver Knot“-Tischen, die sich in den Foyers oder den Künstlerräumen befinden, werden die Astlöcher nicht kaschiert, sondern bewusst betont und mit Silber ausgegossen. Die Spiegeltischchen und -wände in den Künstlergarderoben zitieren die typischen, mit Glühbirnen umsäumten Spiegel, die man aus Hollywoodfilmen kennt. Für das ganze Gebäude entwickelte das Designduo ein Möbelsystem, aus dessen verschiedenen Schalen und Auflagen sich Sessel und Sofas bilden lassen, die mehr oder weniger Abgeschiedenheit erlauben: Mit einer Haube versehen, wird der Sessel zum „Hood Chair“ und damit zum Rückzugsraum. Das Sofa wird mit dem Haubenelement zum „Love Seat“, der sogar über eine integrierte Beleuchtung verfügt. Für einen angeschlossenen Musikladen werden die „Hood Chairs“ zu mit Displays und Lautsprechern ausgestatteten Musikstationen, in denen man Stücken aus der Datenbank lauschen kann. Die Sitzmöbel nehmen laut Aussage der Designer formal keinen Bezug zu Musik oder Klängen – und doch wollen einem ihre eckigen Formen wie eine scharfkantige Komposition erscheinen. Manchen erinnern sie mit ihren additiven Elementen und bunten Farben an das laute Memphis-Design der Achtziger. Präsent und wuchtig, wie sie sind, können sie als Ausdruck einer typisch niederländischen Designhaltung gelten, wo es gerade im öffentlichen Raum oft mehr darum geht, Zugänglichkeit und demokratische Gleichheit zu demonstrieren, als allzu sehr auf Eleganz, Zurückhaltung oder Subtilitäten zu achten. Doch vielleicht behaupten sie auch einfach nur so lange wie möglich ihre Präsenz als kapriziöse Solitäre, um sich am Ende doch in die Orchestrierung von Formen und Farben einzufügen. Miriam van der Lubbe und Niels van Eijk haben mit dem Muziekgebouw Eindhoven ein zeitgenössisches Gesamtkunstwerk gewagt, bei dem sich riesige Räume und eigensinnige Möbel, heterogene Farben und Stoffe, ausgezeichnete Akustik und prägnante Optik zu einem eigenständigen Gesamtklang verbinden. Inklusive des spitzen Klangs eines gelben Sitzes. Markus Frenzl www.ons-adres.nl www.muziekgebouweindhoven.nl
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Foto: Frank Tielemans
Fotos: Iwan Baan
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ARCHITEKTUR
Schöner Parken unter Palmen Herzog & de Meurons Parkhaus in Miami Die Vorstellung eines „schönen“ Parkhauses, das eine vertraute Formensprache aus Sichtbeton nutzt und sich weder versteckt noch verkleidet, erscheint uns, ob unserer Erfahrung mit den lärmigen Zweckbauten unserer städtischen Umwelt, ganz und gar unwahrscheinlich. Die Pritzker-Preisträger Herzog & de Meuron zeigen in Miami, dass es auch anders geht: Gleich um die Ecke des Art-déco-Districts gelegen, ist die offene, skulpturale Betonkonstruktion der Parkgarage mit der Adresse 1111 Lincoln Road luftig-leicht, hell und freundlich, aber trotzdem mit einer deutlichen Verneigung vor dem allseits so verpönten Brutalismus. Nein, Parkhäuser gehören ganz sicher nicht zu den beliebtesten Gebäuden der Moderne. Eng, dunkel, dreckig, furchterregend und unangenehm zu befahren – meist im schlichten Rohbetonkleid machen sie unser Leben einfacher und beleidigen doch so oft unser ästhetisches Auge. Nicht, dass die neue, mehrstöckige Parkgarage der Schweizer Architekten Jacques Herzog und Pierre de Meuron auf den ersten Blick so anders aussieht, aber sie ist dennoch die schicke Neuinterpretation eines architektonischen Klassikers. Trotz funktional nackter Gebäudestruktur aus dem, was Großmeister Le Corbusier charmant mit „Béton brut“ umschrieb, ist der sechsgeschossige Verkehrsbau viel mehr als ein solcher, erfüllt er doch eine Vielzahl von Funktionen über ein „Schöner Parken“ hinaus: An der belebten Geschäftsstraße Lincoln Road gelegen, beherbergt der Bau drei Restaurants und mehrere Geschäfte im Erdgeschoss und weitere auf den anderen fünf Ebenen. Im Umfeld der beliebten Bars und Restaurants der Lincoln Road ist die expressive Garage zu einer neuen und attraktiven Destination mit Vielfachnutzen geworden. Ein Grund dafür ist, dass die Architekten dem Parkhaus-Normmaß von etwas über zwei Meter Deckenhöhe eine transparente Struktur mit mehrgeschossigen Deckenhöhen entgegengesetzt haben. Bis zu sieben Meter bisweilen. „Die Architektur wird durch die Konstruktion bestimmt“, erklären die gefragten Baumeister, und in der Tat, mit dem Aufbrechen der gewöhnlichen Stapeletagen gewinnt der Bau an Eleganz und Großzügigkeit, durch schräge Stützen rhythmisiert. Die Abwesenheit einer Fassadenverkleidung erreicht zusammen mit ultrafeinen Geländern einen Bezug zur Stadt mit unvergleichlichen Ausblicken. So schick, dass der Bauherr sich selbst ein Penthouse auf dem Dach – gleich neben einem Restaurant – genehmigt hat. Hier zeigt sich auch der multifunktionale Charakter, der den Menschen im Mittelpunkt sieht und nicht sein Fahrzeug: Als Eventlocation diente es bereits Magazinen wie Wallpaper* als Hintergrund, aber auch Filmaufnahmen und Partys finden auf den Parkebenen statt. Eine skulpturartige Treppe erlaubt den Autobesitzern einen „Parcours architectural“, der Schritt für Schritt das Gebäude als Tempel für die längst vergangen geglaubte große Zeit der Autofahrer erschließt und damit Bezug nimmt auf die besten Verkehrsbauten der Zwanziger-,
Dreißiger- oder Fünfzigerjahre. Ein Vergnügen, das für vier Dollar die Stunde gewöhnliches Parken in ein angenehmes Erlebnis verwandelt. Ganz so, wie man sich das früher mal gedacht hat: „Lincoln Road 1111 ist das erste Parkhaus, das Autos ausstellt, anstatt sie zu verstecken“, konstatiert auch der Architekturkritiker des New Yorker, Paul Goldberger, und vergisst, dass Paul SchneiderEsleben, der Architekt des Köln-Bonner Flughafens, dies bereits in den Fünfzigerjahren bei seinem HanielParkhaus in Düsseldorf-Grafenberg versucht hat. 65 Millionen US-Dollar hat das inzwischen mehrfach preisgekrönte Parkhaus gekostet, das laut Immobilienentwickler Robert Wennet sich schlicht nicht wie ein Parkhaus anfühlen oder so aussehen sollte. Dabei hat er natürlich vor allem seine unternehmerischen Interessen im Blick gehabt, denn die zusätzlichen Parkmöglichkeiten in der Mischung mit anderen Nutzungen erlaubten ihm, mehr vermietbare Flächen vor allem auch in den oberen Etagen schaffen zu dürfen. Den gehobenen Style, einen Laden im Parkhaus zu haben, erkannten der deutsche Taschen-Verlag und der Kaffee-Anbieter Nespresso sofort. Und die Baubeschreibung von Jacques Herzog könnte auch am nahe gelegenen Strand von Miami Beach zutreffen: „Alles Muskeln ohne Kleidung.“ Für sein Geld hat Wennet gut 300 Parkplätze, eine kleine Bankfiliale und vier Eigentumswohnungen zusätzlich zu den Ladenlokalen und Restaurants bekommen. Appartements, die für rund 2,5 Millionen Dollar über den Tisch gegangen sind. Wohnen im Parkhaus wirtschaftlich sinnvoll zu machen, dazu braucht man wohl den Namen und das Können eines Star-Architekten. International bekannt wurden Herzog & de Meuron mit dem Projekt für die Tate Modern in London, mit der Elbphilharmonie in Hamburg und dem olympischen Nationalstadion in Beijing. In Miami Beach ist nun hohe Kunst an einer profanen Bauaufgabe zu bewundern. Fast ein Grund, sich zum Besuch der Art Basel Miami Beach im Herbst ein Auto zu leihen, nur um es hier abzustellen. Falls Sie mehr über die beachtliche, aber sonst meist unbeachtete Geschichte der modernen Parkgarage wissen wollen, haben Sie zwei Möglichkeiten: Entweder, Sie parken unter Palmen in Miami und erleben das Happy End der Story, oder Sie blättern in Simon Henleys „Parkhaus-Architekturen“ (The Architecture of Parking) und vollziehen die Schritte zwischen dem ersten Parkhaus in Paris von 1905 und Herzog & de Meurons praktischem Profanbau nach. In jedem Falle wünschen wir: weiterhin gute Fahrt! Marcel Krenz
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KUNST
In der Wunderkammer der digitalen Kultur Monumentale Säulen mit dekorativen Goldreliefs und korinthischen Kapitellen tragen das prunkvolle Gewölbe im Foyer des Theaters. Früher, unter Napoleon III., versammelte sich die feine Gesellschaft des Second Empire im Théâtre de la Gaîté Lyrique zu musikalischen Soirées von Jacques Offenbach. Heute trifft sich die Pariser Szene für elektronische Musik und digitale Kultur in den geschichtsträchtigen Hallen. Manuelle Gautrand verwandelte das historische Opernhaus im Zentrum von Paris in ein lebendiges und modernes Forum, das Live-Konzerte und Performances, Video-Inszenierungen sowie Raum- und Lichtexperimente, Theater- und Tanzaufführungen unter seinem Dach vereint. Die historische Fassade und das repräsentative Foyer des Gebäudes im dritten Arrondissement blieben erhalten – in Bezug auf die großteils zerstörten sonstigen Räume und Säle hingegen erhielt die in Marseille geborene Architektin die Carte blanche zu einer umfassenden Neugestaltung.
Statt historischer Kristalllüster geben reduzierte, moderne Deckenleuchten bereits im Foyer einen Hinweis auf die neue Nutzung des Gebäudes. Ihre ausladenden, zylinderförmigen Lampenschirme sind digital bespielt, kommunizieren untereinander und werden zur Projektionsfläche für programmierte Lichtinszenierungen, die dem Namen des Gebäudes Reverenz erweisen und seine Bedeutung ins digitale Zeitalter übertragen. „Gaîté Lyrique“ bedeutet so viel wie „lyrische Heiterkeit“. Verspielt und leicht öffnet sich hinter der historischen Fassade eine experimentelle Welt, die Besucher mit Ausstellungen und speziellen Räumen für Installationen, Konzertsälen und Audio-Boxen in ein Universum der Entdeckungen und Wahrnehmungen einführt. Die historische Entwicklung vom Phonographen bis zum iPad, vom Cinematographen bis zu 3-D-Techniken wird dabei ebenso beleuchtet wie aktuelle Ereignisse, die in Konzerten, Live-Performances und Multimedia-Installationen erfahrbar werden. „Wir wollen hier das zeitgenössische Phänomen der digitalen Kultur beleuchten und einen Schlüssel zum Verständnis dessen liefern, was heute vor sich geht“, erläutert Jérôme Delormas, Direktor der Gaîté Lyrique. Als eine Art Tool Box der digitalen Kultur und Labor für kulturelle Begegnungen zeigt die Gaîté Lyrique Projekte junger experimenteller Theatergruppen wie des Rimini Protokoll Kollektivs, bietet Avantgardemusikern wie Brian Eno Raum für 3-D-Performances und stellt persönliche Sichtweisen wie die der britischen Künstlergruppe Matt Pyke & Friends auf die Welt neuer Technologien vor. In der furiosen Installation „Rien à cacher / Rien à craindre“, welche die britische Künstlergruppe United Visual Artists zur Eröffnung des Gebäudes schuf, verschmelzen Licht, Raum und Klang zu einer umfassenden multimedialen Inszenierung, wobei sich die Grenzen jeweils auflösen und zu einem sinnlichen Gesamteindruck verbinden.
Fotos: © Vincent Fillon
„Für ein Gebäude ist es wichtig, dass es mehrere Geschichten und mehrere Leben hat, vor allem, wenn es sich dabei um ein öffentliches Gebäude handelt. Es war sehr reizvoll für mich, die Verbindung zwischen digitaler Kunst und elektronischer Musik auf der einen Seite und der Vergangenheit auf der anderen Seite herzustellen – zu all den mehr oder weniger glanzvollen Seiten, die den Charakter dieses Gebäudes geprägt haben“, erläutert Manuelle Gautrand ihren Entwurfsansatz. 1862 war das Theater im Zentrum von Paris eröffnet worden, doch der Glanz der zweiten Kaiserzeit stellt nur eine kurze Phase seiner spannungsreichen Geschichte dar. So wurde das Haus mehrfach umgebaut und umgenutzt, bis es in den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts als Vergnügungstempel verkam und bis zur Unkenntlichkeit entstellt wurde. Mit der Schließung Ende der Achtzigerjahre verlor die Stadt ein kulturelles Zentrum, dessen Wiedereröffnung sich der Pariser Bürgermeister Bertrand Delanoë seit seiner Wahl 2001 annahm. Insgesamt 85 Millionen Euro stellte die Stadt für den Umbau und die Umwandlung des Hauses in ein modernes Forum zur Verfügung. Nach rund acht Jahren Planungs- und Bauzeit wurde die Gaîté Lyrique im März 2011 wieder eröffnet. Das vielseitige kulturelle Programm des Hauses spricht nun vor allem ein junges Publikum im Alter zwischen 15 und 35 Jahren an.
Digitaler Frohsinn
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Blackbox für Klang- und Multimediainstallationen
Architektur und Begegnung
Kernstück der neuen Gaîté Lyrique, die auf insgesamt 9.000 Quadratmetern Kapazitäten für 1.500 Besucher bietet und fünf ihrer sieben Stockwerke für das Publikum öffnet, sind drei Räume für Konzerte und Performances. Wie einzelne Module fügen sich die Säle zu einem breiten Angebot, das den Künstlern und dem Publikum gleichermaßen eine große Bandbreite an Erfahrungs- und Inszenierungsmöglichkeiten bietet. Der große Saal ist aus akustischen Gründen als Blackbox konzipiert, die wie ein Theater im Theater im inneren Gebäudekern liegt und sich von ihrer Umgebung abschottet, sodass die benachbarten Wohnhäuser der Gaîté nicht beeinträchtigt werden. Die insgesamt 300 Sitzplätze des Saals sind als flexibles Set an Möglichkeiten in verschiedenen Konstellationen denkbar und können je nach Bedarf wie die Bühne selbst konfiguriert und um Bildschirminszenierungen ergänzt werden. Insgesamt 46 Screens und ein aufwendiges akustisches System machen den Saal zu einer variabel bespielbaren großen Bühne, die Künstler jeweils neu gestalten und ausrichten können. Von außen wird der große Saal durch eine Spiegelwand erkennbar, die ihn von den angrenzenden Räumen trennt. Unterschiedliche Raumproportionen, Bühneninszenierungen und Klang- sowie Multimediaabenteuer sind dank seines hohen technischen Standards auch im kleinen Saal möglich. Mit 70 bis 150 Plätzen bleibt auch er in seiner Struktur flexibel: Seitenwände können verschoben und der Boden in verschiedenen Höhen fixiert werden, sodass alle Arten an Performances, Konzerten und Installationen denkbar sind.
„Für mich ist das gesamte Gebäude eine Art Körper, in dem sich die Künstler einrichten und von überall aus kommunizieren können“, erklärt Manuelle Gautrand. Ihre Architektur versteht sich als ein Dispositiv für die Begegnung mit der digitalen Kultur, sie macht Erfahrungen möglich, gibt einen wandelbaren und je nach Bedarf veränderbaren Rahmen für sie vor, und optimiert die Möglichkeiten und Voraussetzungen für die Wahrnehmung. Die Begegnung mit dem historischen Theatergebäude wird so zum Abenteuer der digitalen Kultur: Heute Abend diskutiert das niederländische Duo Joan Heemskerk and Dirk Paesmans mit Besuchern über die Folklore im World Wide Web, später treten mit Congos und Abyssinians zwei jamaikanische Reggae-Größen auf, und morgen wird die Gruppe versus 2.0 den großen Saal mit ihrem ElektropopKonzert in eine vibrierende Erlebnishöhle verwandeln. Schon immer war Paris eine Stadt, die sich den Künsten gegenüber aufgeschlossen gab. Bis heute hat sie diese Rolle dank des politischen Selbstverständnisses nicht aufgegeben und fördert die digitale Kultur mit großer Geste. Ihr überhaupt Raum zuzugestehen, ist nicht selbstverständlich. Sie dann noch in einem Traditionsgebäude wie der Gaîté Lyrique anzusiedeln, ist ein starkes Zeichen für die Zukunft. Nicht nur den Fans kommt dieses Zeichen zugute, sondern auch neugierigen Besuchern, die schnell bekehrt werden können. Sandra Hofmeister
Ein besonderes Erlebnis in der Gaîté Lyrique bleibt die „Chambre sonore“: Als fensterloser Raum in wechselnde Lichtfarben gehüllt, reagiert der sensitive Boden auf seine Besucher und setzt Bewegungen in eine programmierte Welt aus Klängen und Lichteffekten um. Wie einzelne Module gruppieren sich Empfang, Ausstellungen, Cafés und Foyer um die beiden Säle und das Auditorium. Dabei sind verschiedene Funktionen teilweise in offene Boxen integriert, in denen Manuelle Gautrand ihr Spiel mit dem Raum im Raum aufgreift. Mal werden die farbigen Elemente als Audioboxen und mal als Video-Plätze genutzt. Sie können aber auch als Büro- und als Künstlerarbeitsplätze dienen. Für die Künstler in Residence und für Workshops, die in der Gaîté ebenfalls angeboten werden, gibt es außerdem Ton-, Aufnahme- und Multimediastudios, die unter dem Dach des Hauses liegen.
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SPORT
Extremsport für die Ohren – oder: Warum Formel-1-Fahrer Jenson Button es cool findet, sein Gehör zu schützen Wer in Fragebögen unter Hobbys „Golf und Triathlon“ angibt, hat entweder zu viel Freizeit oder aber einen sehr anspruchsvollen Beruf. Letzteres trifft auf Jenson Alexander Lyons Button (Member of the British Empire) zu. Der Mann, dem nicht nur die Formel-1-Offiziellen einen „geschmeidigen Fahrstil“ bescheinigen, gehört zu den erfolgreichsten aktiven Rennfahrern der Welt. Zuletzt stand er beim Großen Preis von Spanien neben dem amtierenden Weltmeister Sebastian Vettel (Red Bull) und seinem McLaren-Mercedes-Teamkollegen Lewis Hamilton auf dem Siegertreppchen. Wie seine beiden Kollegen war auch Button bereits einmal Weltmeister. Das war vor zwei Jahren. Bei Redaktionsschluss lag er auf dem sehr respektablen Platz vier der Fahrerwertung und er zeigt auch in schwierigen Zeiten immer wieder, dass mit ihm jederzeit zu rechnen ist. Wie Triathlon ist auch Rennfahren ein Extremsport, und zwar nicht nur schnell und gefährlich, sondern auch extrem laut. Trotzdem oder gerade deshalb „verlasse ich mich stark auf mein Gehör“, sagt Button, der als 50. Botschafter der Hear the World Initiative möglichst vielen Menschen ein Vorbild sein will, und dazu aufruft, das Gehör zu schützen.
Als willkommene Abwechslung zum Summen der Rennmotoren hört der Brite privat einen Musikmix, den man mit Fug und Recht „eklektisch“ nennen darf. Neben den von BBC1-DJ Steve Lamacq gefeierten Pigeon Detectives, einer jungen Beatkapelle aus Leeds, schätzt Jenson vor allem ambitionierte R&B-Sounds wie die von GrammyGewinner Maxwell, der mit seiner „Urban Hang Suite“ Mitte und Ende der Neunzigerjahre Maßstäbe in Sachen „Neo Soul“ setzen konnte. „In der lauten Welt des Motorsports sind gutes Hören und der Schutz des Gehörs von großer Bedeutung“, sagt Jenson Button. „Sei es beim Finetuning vor dem Start oder bei der Kommunikation mit dem Team während des Rennens – ich muss mich zu 100 Prozent auf mein Gehör verlassen können.“ Deshalb liegt ihm die Mission von Hear the World besonders am Herzen: „Die Fähigkeit, gut zu hören, hat einen großen Einfluss auf unsere Lebensqualität und macht die Kommunikation mit unserer Umwelt erst möglich. Daher ist es so wichtig, dass wir unser Gehör schätzen und schützen.“ Christian Arndt
Foto: Bryan Adams
Bereits mit neun Jahren beginnt Jenson mit dem Kartsport, unterstützt von seinem Vater, der selbst als Rennfahrer in der britischen Rallycross-Serie erfolgreich war. Mit achtzehn gewinnt der junge Button die Meisterschaft in der britischen Formel Ford und fährt bis auf Rang zwei der Europa-Wertung vor. Ein Jahr später belegt er den dritten Platz in der Formel 3, bevor er als Zwanzigjähriger seine erste Saison in der Formel 1 fährt und gleich beachtliche zwölf Weltcup-Punkte einsammelt. Seit seinem Debüt in der Königsklasse des Rennsports gilt Button als Spaßvogel, der bei allem gebotenen Ehrgeiz selten den Humor verliert. Sein gewinnendes Lächeln und sein jungenhafter Charme haben den Briten zum Sympathieträger und zu einem der beliebtesten Fahrer im Formel-1-Rennzirkus gemacht. Doch allein seinem rennfahrerischen Können und seiner strategischen Cleverness ist es zu verdanken, dass der 31-Jährige in verschiedenen Teams seit über zehn Jahren immer wieder erfolgreich an der Spitze der anspruchsvollsten automobilen Rennklasse mitfährt. Natürlich gibt es Höhen und Tiefen, die man aushalten muss. Zum Beispiel in Monaco, wo er sich im Jahr 2009 mit einen triumphalen Start-Ziel-Sieg „einen Platz in den Geschichtsbüchern der Formel 1“ (The Express) sicherte und im Jahr darauf kurz nach dem Start „vom Hero zum Zero“ (The Sun) abgeschrieben wurde, obwohl der Ausfall seines Wagens kurz nach Rennbeginn „nur“ auf den Fehler eines Mechanikers zurückzuführen war. Nicht bekannt ist, ob der Mechaniker noch für Buttons Team tätig ist.
Natürlich ist vor allem das Geräusch seines McLaren Mercedes MP 4-26 wie Musik in seinen Ohren, und diese gehört auch zum essenziellen Bordwerkzeug, das Button für das „Finetuning des Autos vor dem Rennen“ benötigt: Mit bis zu 18.000 Umdrehungen pro Minute rotiert die Kurbelwelle des nur knapp 100 Kilo schweren AchtzylinderHochleistungsmotors mit 32 Ventilen, und das Ganze passiert nur etwa eine Armlänge hinter dem Kopf des Fahrers. Undenkbar, dass sich der Rennfahrer oder ein Mechaniker ohne Gehörschutz dieser Klangkulisse nähert.
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REISEN
Hört die Signale! Island bietet dem Auge so schöne, oft unwirklich anmutende Aussichten, dass es manchmal gut ist, nur auf die Geräusche der Insel zu vertrauen. In einer Kneipe in Reykjavík sitzt ein Mann und fuchtelt mit den Armen. Gerade hätte er beinahe die Bedienung erwischt. Dann wäre eine Fuhre teures Importbier dahin gewesen, die Frau konnte eben noch ausweichen. Vielleicht war sie gewarnt durch die Geräusche, die der Mann macht. Jón Þór Birgisson, genannt Jónsi, demonstriert Freunden, wie sich die Brandung oben bei Húsavík anhört: „knnzsscchwmmm!“ und behauptet, diesen Wellenschlag aus allen Brandungen des Landes heraushören zu können, was ihm aber niemand glaubt. Als ob die Brandung bei Djupívogur im Osten anders klingen würde! „Tut sie“, ruft Jónsi, „kschschschmmmbl!“ Völlig anderer Strand, völlig andere Kiesel! Jónsi ist Sänger der isländischen Band Sigur Rós und war in seiner Heimat unterwegs: Ideen sammeln, Inspirationen suchen, besondere Klänge finden. Kritiker haben ja schon immer viel Island in den eigenwilligen Kreationen der Band gehört. Für sie klangen die übereinandergestapelten Stimmen nach Polarlichtern und die mit dem Cellobogen traktierte Elektrogitarre nach einem Gletscher, von dem eine große Eiswand abzubrechen droht, und möglicherweise lagen sie ja alle richtig: Vielleicht ist die Musik von Sigur Rós tatsächlich eine Umsetzung all jener Geräusche, nach denen Island klingt. Und vielleicht schaut Jónsi deshalb jetzt aus dem Fenster. Draußen auf der Hverfisgata zankt sich ein Schwarm Möwen um einen Fisch. Ihr Zetern ist derart laut und schrill, dass es durch Scheiben und Kneipenlärm dringt. Es hört sich an wie ein außer Kontrolle geratener Streichersatz.
Wo wir gerade dabei sind: Auch das Autofahren ist hier ein akustisches Erlebnis. Auf einer Schotterpiste wie der „52“ ins Kaldidalur-Tal etwa. Es rattert und rumpelt und kracht derart über Wellen und Schlaglöcher, dass die Musik aus dem MP3-Player nur noch als Geräuschkulisse wahrnehmbar ist: Es müssen vier Millionen Steinchen sein, die pro Minute von unten gegen das Bodenblech fliegen, mindestens. Das prasselnde Stakkato gehört schon nach wenigen Kilometern so selbstverständlich dazu, dass die Stille beim Anhalten beinahe unheimlich wirkt. Während dieser Stopps ist da manchmal allerdings ein anderes Geräusch, das Mietwagenfahrer gar nicht gerne hören: Das leise Zischen, wenn die Luft aus einem defekten Reifen entweicht. Noch ungeliebter ist nur das isländische „Slurpppppsch“. Das kommt aus dem Fußraum des Mietwagens, wenn in der Furt doch wesentlich mehr Wasser war als vermutet. Islands Flüsse sind die ungestümen Brüder seiner still ruhenden Seen und Fjorde. Sie sprudeln und rauschen, gespeist von den Hochlandgletschern, angetrieben von Höhenunterschieden. Vor allem an späten Sommernachmittagen, wenn die Sonne den ganzen Tag über Zeit zum Eisschmelzen hatte, gebärden sie sich wie wild: Dann sind aus den harmlosen Bächen des frühen Morgens schäumende Ströme geworden. Und überall dort, wo sich diese Flüsse über Kanten und Klippen in die Tiefe stürzen, scheint die ganze Welt nur noch aus Tosen zu bestehen: Wer je in der dröhnenden Gischt eines Gullfoss, Dettifoss oder Dynjandi gestanden hat, wird für kontinentaleuropäische Wasserfälle anschließend nur noch ein müdes Achselzucken übrig haben. Fotos: Sabine Reitmaier
Kann man ein Land hören? Man kann. Bei Island funktioniert das sogar ziemlich gut. Paradoxerweise liegt das an seiner grandiosen Optik: Island ist eine Insel der Bilderbuch-Panoramen, bei denen man sich ab und zu klarmachen muss, dass sie tatsächlich real sind. Da hilft es, sich zur Abwechslung auf einen anderen Sinn zu konzentrieren. Und natürlich hängt es auch damit zusammen, dass Island außerhalb seiner zwei, drei größeren Städte so gut wie menschenleer ist, nur 318.000 Einwohner auf 103.000 Quadratkilometern: Würde man diese Bevölkerungsdichte auf Manhattan umlegen, lebten dort 224 Menschen. Und dass dort, wo der Mensch die Welt allein lässt, die Welt sowieso voller Klang ist, das hat man ja eh schon immer geahnt.
An einem frühen Morgen am Jökulsárlón zum Beispiel: Da ist die Stille nicht still. Nicht wirklich. Nur oberflächlich. Ein paar hundert Meter am Ufer des Sees in Richtung Gletscher, und Island lässt von sich hören. Die großen und kleinen Treibeisberge schaben und schurren gegeneinander, um sie herum gluckst das Wasser. Schall liebt ruhiges, stehendes Wasser, keine andere Oberfläche transportiert Geräusche besser und weiter. In Island gibt es solches Wasser überall: Vulkan- und Gletscherseen, Buchten, schmale Fjorde. Wer an ihren Ufern steht, ist Besucher in einem Konzertsaal der Natur. Er kann das schnelle Flügelschlagen einer startenden Gänsefamilie hören. Das Springen der Lachse. Das Poltern der Steine, die Schafshufe weit oben im Berg losgetreten haben. Das einsame Auto, das auf der anderen Fjordseite fährt.
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Einen Abend am Geysir vergisst man sowieso nicht mehr. Der Namenspate aller anderen Geysire auf der Welt liegt nur 90 Busminuten von Islands Hauptstadt entfernt, deshalb gibt es hier tagsüber keine ruhige Minute. Irgendwann aber wird es leerer, und irgendwann ist man ganz allein zwischen zischenden Erdlöchern und blubberndem Schlamm. Geysir selbst ist ein unzuverlässiger Gesell, aber Strokkur nebendran ist alle paar Minuten aktiv. Kurz vorher beginnt das Wasser drumherum zu wallen und zu schäumen, und dann faucht es, als werde ein mittelschwerer Hurrikan im Erdinnern gefangen gehalten. Die Wasserdampfsäule schießt dann trotzdem so plötzlich in den Himmel, dass man mehrere Durchgänge benötigt, um ein einziges vorzeigbares Foto hinzubekommen. Zu ihren heißen Quellen haben die Isländer übrigens ein ganz besonderes Verhältnis: Früher empfingen die Clanchefs der Wikinger Gäste gerne in thermischen Pools, und wenn heute irgendwo auf dieser Insel debattiert oder diskutiert wird, dann geschieht das garantiert in einem Hot Pot unter freiem Himmel. Insofern verwundert es nicht, dass die Übernahme eines heimischen Energieunternehmens durch einen kanadischen Konzern neulich zu landesweiter Empörung führte – die heißen Quellen wurden mitverkauft. Flugs war unter Leitung der Sängerin Björk ein dreitägiger Protest-Karaoke-Marathon organisiert. Den Verkauf des Energieunternehmens konnten die Demonstranten zwar nicht mehr rückgängig machen. Mit ihrem Karaoke-Marathon Anfang Januar aber haben sie immerhin erreicht, dass Islands Naturreserven nun zum öffentlichen Eigentum erklärt werden sollen. 48.000 Isländer hatten die Petition unterschrieben. Das sind 15 Prozent der Bevölkerung. Möglicherweise hätten noch mehr protestiert, wenn das Wetter besser gewesen wäre.
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Wenn es also nicht schüttet oder stürmt, dann ist es am berühmtesten Ort des Landes schon beinahe unheimlich still: Als habe jemand dort oben den Stecker gezogen und damit sämtliche Weltgeräusche abgestellt – so liegt die historische Versammlungsstätte Þingvellir geschützt im Rücken einer Felswand. In der Geschichte Islands und in der kollektiven Psyche des Landes nimmt Þingvellir eine Sonderstellung ein: Hier tagte nach der Besiedlung der Insel durch norwegische Wikinger einst das Parlament, wahrscheinlich nur, weil es nirgendwo eine heiße Quelle gab, die genügend Platz bot. Hier wurde der tausendste Jahrestag der Staatsgründung gefeiert und die Republik ausgerufen. Þingvellir ist ein beinahe heiliger Ort für die Isländer, beladen mit Geschichte und Geschichten. Manchmal, heißt es, soll man hier das Raunen der Vergangenheit vernehmen können – wenn man ein Ohr dafür hat. Jónsi, der Sänger, war neulich auch hier unterwegs. Vielleicht kann man es ja hören, wenn das neue Album von Sigur Rós demnächst erscheint. Stefan Nink www.visiticeland.com zuerst erschienen in: Süddeutsche Zeitung, Donnerstag, 7. April 2011
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Illustration: Malin Rosenqvist
DIE WELT DER SINNE
„Von Bäumen, die singen können“ Nur einer schafft es – nur etwa einer von 10.000 Fichtenstämmen kommt auf den Werkstatttisch von Martin Schleske, damit aus ihm eine Geige der Meisterklasse wird. Leiden muss so ein Baum – 200 bis 300 Jahre lang auf magerem Boden raues Klima erdulden, Wasserknappheit aushalten und die eisige Kälte im Gebirge kurz unterhalb der Baumgrenze durchstehen. Nur aus einem „krisengeschüttelten“ Stamm, der sich langsam wachsend durch sein Leben kämpfen musste, wird ein gutes Klangholz. Eine Fichte in der Ebene, unter besten Bedingungen und im Überfluss schnell in die Höhe geschossen, hat keine Widerstandskraft. Sie hat kein klingendes Resonanzholz, keine Persönlichkeit. „Unser Leben ist ja auch kein Weg im Flachland, auch der Mensch entwickelt sich durch Krisen“, sagt der Geigenbaumeister Martin Schleske. Die New York Times bezeichnet ihn als einen der „führenden Geigenbauer unserer Zeit“, die deutsche Tageszeitung Die Welt nennt ihn den „Stradivari des 21. Jahrhunderts“.
Vom Bergwald in die Werkstatt
Aber was ist denn das Geheimnis weltberühmter Geigen? Das richtige Klangholz zu finden? Das handwerkliche Können, die präzise Schleifarbeit? Oder die beinahe therapeutische Sensibilität des Geigenbauers, in seinem Gegenüber zu erkennen, welche Art Geige genau zu diesem Musiker passt?
Und dennoch ist der Mann mit dem Markenzeichen „dunkle Lederkappe“, der in seiner Jugend neben Geige auch E-Gitarre gespielt hat, jedes Mal ein wenig nervös, wenn ein Kunde ein Instrument in Auftrag gibt: „Es ist immer eine Art Schöpfungsakt“, erzählt er. Sensibilität und ein genaues Gespür braucht es, um zu erkennen, welche Geige genau zu diesem Musiker passt. „Für einen Musiker wird die Geige zu einem Teil seines Körpers, sie wird seine innere Stimme.“ Die Herkunft des Wortes „Person“ – zusammengesetzt aus per (= hindurch) und sonum (= Ton) – zeigt den ursprünglichen Zusammenhang von Stimme und Charakter eines Menschen. Wenn Martin Schleske über Geigen wie Stradivari oder Guarneri spricht, könnte man meinen, es handle sich um Frauencharaktere, und ein bisschen kommt einem seine Rolle auch wie die eines Partnervermittlers vor. „Eine Guarneri ist wie eine rassige dunkelhaarige Zigeunerin, sie ist frech, leidenschaftlich und kämpferisch. Ihre Töne kann man bearbeiten, sie lassen sich ‚kneten‘, da ist ein Widerstand – ähnlich einem kräftigen Händedruck.“ Ganz anders die Stradivari: „Sie ist eher eine heilige Madonna, manches Mal ein wenig divenhaft. Sie ist zu unglaublichen Klängen in der Lage, aber schätzt es gar nicht, Erwartungen eines Musikers zu erfüllen, der sich in den Vordergrund spielen will. Dann reagiert sie auch mal beleidigt und macht zu.“ Ihm würde eine solche anspruchsvolle Geige postwendend wieder auf den Werkstatttisch gelegt werden, schmunzelt Schleske, doch bei einer „Strad“ – wie sie von den Musikern genannt wird – gilt es als Teil ihrer seit 300 Jahren gereiften Persönlichkeit, für die schon mal bis zu vier Millionen Euro gezahlt werden.
Es gibt sie nur in ganz bestimmten Gegenden der Alpen, diese „Giganten der Gebirge“, oft an die 50 Meter hoch, astfrei und von enormer Festigkeit. Diese Bergfichten sind es, von denen Martin Schleske sagt, in ihnen liege die „Berufung zum Klang“. Früher ist der 45-Jährige selbst im Bergwald herumgeklettert, hat sich in den bayrischen Alpen durch Schnee und Kälte gekämpft, mit Proviant und Kettensäge im Gepäck. Jeder Geigenbauer hat so seine Informanten, ein Netzwerk aus Förstern und Holzhändlern. Hat ein Sturm oben am Berg einige der massiven Fichten gefällt, beginnt das Rennen. Jetzt schnell nach oben und sich die besten Stämme sichern, bevor andere davon Wind bekommen … „Einen speckigen Glanz muss das Holz haben, wenn es aufgeschnitten wird, es darf nicht staubig aussehen“, sagt Schleske. Wenn zurechtgesägte Stammteile zum Abtransport den Hang bergab poltern, erkennt er als Fachmann bereits, ob der Baum ein „Sänger“ ist: Manche klingen beim Aufprall „wie ein Glockenschlag, frei und hell im Ton“, andere nur „dumpf und hölzern“. Dieser freie Klang – für ihn nimmt so ein Geigenbauer alle Strapazen auf sich! Heute fehlt Schleske meist die Zeit für solche Expeditionen. Zwei bis dreimal pro Jahr besucht er seinen Holzhändler, der sich auf Klangholz spezialisiert hat. Doch Detektivarbeit ist es immer noch: „Am wichtigsten ist es nach wie vor, der Erste zu sein, wenn eine neue Lieferung kommt.“ Dann steht er beim Händler, schaut mit Kennerblick oft 3.000 sogenannte „Deckenkeile“ durch, doch nur fünf davon sind wirkliches Spitzenholz.
Zurechtgeschnitten und mit einer Buchstaben-Zahlenkombination genau nummeriert, werden die guten Stücke dann erst mal im Regal der Stockdorfer Werkstatt im Süden von München einsortiert. Selbst aus den USA und aus Asien kommen Kunden angereist, nehmen monatelange Wartezeiten in Kauf, um sich eine Schleske-Geige bauen zu lassen: „Seit ich diese Geige habe, spiele ich die romantischen Konzerte wie Brahms oder Sibelius nicht mehr auf meiner Stradivari“, sagt die Londoner Solistin Jeanne Christé v. Bennigsen. Jehi Bahk, Konzertmeister in Seoul, findet hier einen „auf allen Saiten ausgewogenen Klang, wie man ihn nur von den besten italienischen Meistergeigen des 18. Jahrhunderts erwarten kann.“ Der Stargeiger Ingolf Turban lobt die schönste E-Saite, die er je gehört habe: „Hier habe ich das Gefühl, nicht mehr Geige zu spielen, sondern zu singen.“
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Im Vergleich dazu scheint eine Schleske-Geige beinahe ein Schnäppchen: Für 20.000 bis 25.000 Euro erhält ein Geiger ein Instrument der Solistenklasse. Noch dazu eines, das man sich selbst einspielen, sozusagen maßschneidern kann: Die Vorstellung, eine frisch zusammengebaute Geige sei ein fertiges Instrument, ist weit gefehlt. Nur etwa die Hälfte ihres Charakters bringt die Geige mit, den anderen Teil entwickelt sie erst gemeinsam mit dem, der auf ihr musiziert – Teamwork sozusagen. Sensibilität und Maßarbeit Doch bis zum ersten „Date“ ist es ein weiter Weg, der einem Geigenbaumeister einiges abverlangt. Wo manch einer kaum zwischen einem „e“ und einem „d“ unterscheiden kann, ist der Mann mit der Kappe in der Lage, auf einer Geige bis zu 30 verschiedene Varianten eines einzigen Tons zu erkennen. Immer wieder ganz genau hinhören – auch ein Geheimnis des Geigenbaus. Zuerst dem Kunden mit seinen Wünschen und Erwartungen genau zuhören und später bei der Arbeit dem Klang des Holzes lauschen. Eine enorme Konzentration und feine Antennen für sein Gegenüber braucht es für dieses Handwerk. Eine Anstrengung, von der man sich regenerieren muss. „Wenn ich abends aus der Werkstatt komme, drehe ich meiner Familie zu Hause oft erst mal die Musik ab, am liebsten ist mir dann einfach die Stille.“ Sitzt man Martin Schleske gegenüber, spürt man die Sensibilität, sich auf Menschen wie auch auf Instrumente einzulassen. Empfindsamkeit gepaart mit einer ruhigen und bedächtigen Ausstrahlung – das braucht es wohl, wenn man wochenlang mit größter Genauigkeit an einem Instrument arbeitet. Schleift er für eine Geigendecke an der Bergfichte, können schon ein paar zehntel Millimeter den Klang verändern. „Man muss achtsam sein und dem Holz gerecht werden“, nennt er es. Nie dürfe man gegen die Faser arbeiten. Eine Aussage, die sich für den gläubigen Schleske auf das Leben übertragen lässt. In seinem Buch „Der Klang: Vom unerhörten Sinn des Lebens“ vergleicht er den Bau einer Geige mit der persönlichen Entwicklung eines Menschen. Im Grunde gehe es den Menschen wie der Bergfichte: Erst die Krisen lassen die Persönlichkeit reifen. Die Spannung zwischen Sanftheit und Kraft, zwischen Zulassen und Gestalten, Vertrauen und Überraschung bestimmt unser Leben. Die gleichen Gegensatzpaare sind es, die Klang und Schönheit einer Geige vervollkommnen. Das Streben nach Vollkommenheit nicht mit Perfektion zu verwechseln, ist dem Holzkünstler wichtig: „Ein perfekter Klang ohne Ecken und Kanten hat keine Seele, keinen Charakter.“
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Der Spagat zwischen Handwerk und Forschung Fällt es schwer, die fertige Geige abzugeben, mit der man so viel Zeit verbracht hat? Nein, meint Schleske, „sie muss aus dem Haus und motiviert mich, beim nächsten Instrument wieder eine Kleinigkeit besser zu machen.“ Denn eigentlich sieht er sich mehr als Geigenentwickler denn als Geigenbauer. Um Phänomene der Akustik besser verstehen zu können, um zu ergründen, warum manche Töne in uns eine Gänsehaut auslösen, hat er nach seiner Meisterprüfung zum Geigenbauer auch noch Physik studiert. Von seiner gemütlichen Werkstatt geht man durch eine Schiebetür in eine andere Welt – das hochmoderne Akustiklabor. Ungleich nüchterner ist hier die Atmosphäre. Fast hat man ein bisschen Mitleid mit der kleinen hölzernen Geige, die hier so ganz allein und ungeschützt mitten im Raum aufgehängt ist, um ihre Klänge preiszugeben. Mit einem Impulshammer wird sie abgeklopft, ähnlich einem Patienten, der mit dem Stethoskop untersucht wird. Mit Methoden aus der Luft- und Raumfahrttechnik werden Modal- und Schallanalysen durchgeführt, um ihren „akustischen Fingerabdruck“ zu ermitteln. Um kleinste Details sichtbar zu machen, kann das Geigenholz mittels Raster-Elektronenmikroskop um das 600-Fache vergrößert werden. Auch die Lackierung – oft sind es 15 Schichten, mit denen das Instrument versiegelt wird – spielt eine große Rolle. Sie können den Klang des Holzes um mehr das Dreifache dämpfen. An die 300 verschiedene Lackzusammenstellungen hat Schleske in den vergangenen Jahren untersucht. Viele Jahre hat er in die Forschung investiert, nichts scheint unentdeckt zu bleiben. Gestartet mit der Motivation, den Zauber und das Charisma einer Stradivari zu kopieren, hat er mittlerweile seine eigene Linie gefunden, ein Instrument zu kreieren, dessen Klang die Menschen berührt und ihnen unter die Haut geht. Das schönste Kompliment für Martin Schleske ist, zu merken, dass die „Eheanbahnung“ geklappt hat. Neulich habe er einem jungen talentierten Musiker eine Geige gebaut. Als der Schüler sie das erste Mal spielte, wirkte er nicht nur stolz, sondern regelrecht verliebt. „Seine ganze Körperhaltung war plötzlich verändert, er stand aufrechter, er wuchs mit seiner Geige – das passte einfach.“ Daniela Tewes www.schleske.de Martin Schleske: Geigenbauer. „Der Klang: Vom unerhörten Sinn des Lebens.“ Mit Fotos von Donata Wenders. Kösel-Verlag 2010 (die englische und französische Ausgabe sind in Planung)
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5.680 Karat lupenreiner Sound. Desktop-Audiosysteme verdienen nur selten Superlative für ihre Leistung oder Ästhetik – das Lautsprechersystem GLA-55 von Harman Kardon jedoch ist ganz klar einmalig. Als erstes Soundsystem für Computer, iPods und sonstige Multimediageräte, das den Qualitätsansprüchen wahrer Musikliebhaber gerecht wird, besticht das GLA-55 durch perfekte akustische Leistung und sein absolut einmaliges Design mit dem exquisiten, kristallklaren Gehäuse. Dank einzigartiger, patentierter HARMAN Technologie ist der Klang so akzentuiert und transparent, wie es das Design der Lautsprecher verheißt. Besuchen Sie Ihren Harman Kardon-Händler, oder rufen Sie www.harmankardon.com auf, und entdecken Sie Technik, die bestens unterhält.
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DIE WELT DER SINNE
Wenn Tarzan brüllt – zu Natur und Kultur des Schreis Einer Kartoffel oder Auster bringen wir nur wenig Mitgefühl entgegen. Das beobachtete einst Samuel Butler und fand auch gleich eine Ursache dafür: „Da sie uns nicht mit Wehgeschrei belästigen“, so schreibt er, „nennen wir diese Dinge gefühllos, und vom menschlichen Standpunkt aus sind sie es auch; aber die Menschheit ist nicht jedermann.“ Und so denken Kultur und Zivilisation – will sagen: ihre menschlichen Vertreter – gerade anhand des Schreis über das nach, was dazu gehört und was außen vor bleiben soll. Und das ist auch heute noch von Interesse. Etwa wenn es um eine Ökonomie der Aufmerksamkeit geht, um Medien, Werbung und Politik als „Schrei oder Stirb“-Geschäft. Denn: „Wenn jemand brüllt, sind seine Worte nicht mehr wichtig“, konstatierte schon Sir Peter Ustinov. Aber was ist nun ein Schrei? Der Schrei, so meint man, sei das Gegenteil von Kultur. Im Schrei verdichtet sich das Leben zu einer einzigen Äußerung. Mit aller Kraft ausgestoßen, ist er die Summe aller möglichen Empfindungen. Menschen schreien vor Wut und Lust, in Freude oder Schmerz, aus Angst und Anstrengung, aus Protest oder zur Warnung. Dass man seine Stimme erhebt, um sich jemandem verständlich zu machen, der weiter weg ist oder einen anfangs nicht hört, beschreibt dagegen kommunikative Ausnahmen. Denn Schreie „gellen“ und „schrillen“, sind „verzweifelt“ oder „durchdringend“, selten „aussagekräftig“, niemals „beredt“.
Auch wenn die ersten Schreie kein echtes Sprechen sind, so können sie doch etwas signalisieren: das Alleinesein, Hunger oder Durst. Außerdem lässt sich an ihnen ermessen, wie langsam oder schnell ein Kind sprechen lernt. Denn die Sprachentwicklung folgt einem Plan: Einbogen-, Doppelbogenschreie und komplexere Schreie, Sprachspiel, marginales und kanonisches Lallen, erste Worte. Schreie haben meist mit dem Körper zu tun, für manche mit all dem, was am Menschen „tierhaft“ ist, oder, wertfreier und laut Friedrich Nietzsche, mit dem ganzen „Übermaß der Natur in Lust, Leid und Erkenntnis, bis zum durchdringenden Schrei.“ Denn: „Ob’s grauenvoll, ob es großartig ist: / Nicht ich bin es, der schreit, die Erde dröhnt”, schreibt der vor etwas mehr als hundert Jahren geborene ungarische Dichter Attila József. Im Normalfall sind Schreie einfach. Und doch neigen wir dazu sie zu interpretieren. Das hat mit dem zu tun, was wir wissen und erwarten. Oder, um es mit Gonzalo Torrente Ballester zu sagen „… belesen, wie du bist, hast du den Schrei mit dem von Peter Pan verglichen, nachdem er einen Haufen Piraten erlegt hat“. Gerade dort, wo man den Schrei nicht hört, nämlich in der bildenden Kunst, wird dieses Interpretieren offensichtlich, denn hier erzählt es uns ganze Geschichten. Auf einer antiken Vase ist eine Szene Homers zu sehen. Der alte Priamos betritt die Hütte Achills. Er besucht seinen Feind, um ihn um die Leiche seines Sohnes zu bitten. Der Betrachter sieht ihn bereits, den geschundenen Leichnam. Noch hat ihn der Vater nicht entdeckt, aber wir wissen von Homer, dass er gleich schreien wird. Und: Obwohl weder zu hören noch zu sehen, ist dieser Schrei der Vase eingebrannt, und einst nahm jeder Gebildete ihn wahr.
Illustration: Daniel Lachenmeier
Mittags im Dschungel: Wasser plätschert, Vögel zwitschern, aber dann brüllt Tarzan. Er ruft die Natur um Hilfe, Elefanten und Affen eilen herbei und sogar Löwen kommen herzu. Tarzan röhrt und macht seinen Feinden Angst. Und auch am Ende des Films heißt es: Tarzan schreit. Denn so bestätigt er seit 1912, als ihn sich der Schriftsteller Edgar Rice Burroughs erdachte, dass er, wieder einmal, gesiegt hat. Folgerichtig baten amerikanische Soldaten den berühmtesten aller Tarzan-Darsteller, Johnny Weissmuller, Schauspieler und Schwimmerass, seinen Schrei auch auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkrieges auszustoßen.
Der Schriftsteller Arno Schmidt bemerkte einmal, dass man einem Schreienden keine Nationalität mehr anmerke. Und vielleicht hatte er damit die Schmerzensschreie derer im Sinn, die im Krieg verwundet wurden. Andererseits glaubt man, dass schon Neugeborene in ihrer Muttersprache schreien. Demnach schreien französische Kinder an- und deutsche Kinder absteigend. Das Fachblatt Current Biology erklärt das so: Kinder bekommen bereits im Mutterleib Sprache zu hören, und kaum sind sie geboren, stärkt Nachahmung die Bindung zur Mutter.
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Am 14. Januar 1506 stieß ein Winzer in Rom auf ein Gewölbe unter dem Hügel Esquilin. Darin fanden sich Skulpturen, lebensgroß. Es war die sogenannte Laokoongruppe, die Plinius der Ältere allen anderen Kunstwerken vorzog. Figuren aus Marmor zeigen eine Szene aus Vergils „Aeneis“: Die Göttin Athene hetzt Laokoon und seinen Söhnen Seeschlangen auf den Leib und bald „tönt klagend sein Schrei hinauf zu den Sternen“. Später, im 18. Jahrhundert dann begann sich die klassische Ästhetik eines Johann Joachim Winckelmann an der Laokoongruppe abzuarbeiten, gerade weil der mit den mächtigen Schlangen ringende Vater eher zu seufzen als zu schreien scheint. Aber macht ihn das wirklich, wie Winckelmann behauptete, zum Inbegriff des antiken Helden, voll „edler Einfalt und stiller Größe“? Oder ist es, wie Gotthold Ephraim Lessing entgegnete, einfach die beste Lösung eines künstlerischen Problems, „weil das Schreien … das Gesicht auf eine ekelhafte Weise verstellet“?
Aber nicht nur bezogen auf die Kultur, auch im Hinblick auf die Gesellschaft boten Schreie faszinierende Aspekte. So verband man schon die französische Revolution mit „Geschrei“. Und Karl Marx schrieb 1840 zur „Unruhe“ unter Arbeitern: „Merkwürdiges Geschrei und Lärm der Bevölkerung bei einer plötzlichen Disette oder bloßer Furcht derselben.”
Ende des 19. Jahrhunderts begann Edvard Munch mit seinem Bild „Der Schrei“ und malte über 50 Versionen. Das ist ein extremes Beispiel für „Seelenmalerei“ und gilt als das erste expressionistische Motiv. Das ist vor allem deshalb von Interesse, weil der Expressionismus in der Kunst, aber auch in Literatur und Musik als „Epoche des Schreis“ gilt. Ob Themen wie Angst, Ich-Verlust, Wahnsinn, Begehren oder Rausch, alle sind sie geeignet, den Schrei als extremen Ausdruck ins Feld zu führen. Besonders in der expressionistischen Kriegslyrik markiert der Schrei die andere Seite der Sprache. Und das war ein wichtiger Schritt in der Kulturgeschichte. Denn es hat lange gedauert, bis der Schrei wirklich unartikuliertes Gebrüll sein durfte und nicht mehr wortreich umschrieben werden musste. Von Antonin Artaud schließlich stammt „Pour en finir avec le jugement de Dieu“, „Schluss mit dem Gottesgericht“, ein kreatürliches Schrei-Theater, das eigentlich fürs französische Radio konzipiert, aber dann doch nicht gesendet wurde. Mittlerweile wird es zu den Feiern des freien Schreis gerechnet, der sich heute in der E-Musik genauso findet wie in Comics, Punk und Heavy Metal.
Schreie geben uns noch manches Rätsel auf. An der Grenzstation Wagah zwischen Indien und Pakistan brüllen sich bei jeder Ablösung der Wachposten Hunderte, manchmal Tausende Parolen zu. Seit 400 Jahren gibt es in Japan den „Nakisumo“, einen Wettbewerb, bei dem Babys von SumoRingern zum Schreien gebracht werden. Damit bitten Eltern die Götter um Gesundheit. Außerdem soll das Brüllen böse Geister vertreiben. An mehreren Universitäten Schwedens schreien Studenten des Nachts, was ihre Kehle hergibt. Eine besonders schöne, aber wohl nicht ganz schlüssige Deutung dieses rätselhaften Brauchs besagt, die Tradition reiche zurück bis ins 12. Jahrhundert, als Uppsala christianisiert wurde. Dabei verstanden die Schweden nicht, wie das ginge, beten, und so schrieen sie zu Gott. Profaner indes: Ein Student will in den Achzigerjahren des 20. Jahrhunderts mit dem Schreien begonnen haben, um seine Prüfungsangst loszuwerden.
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Doch trotz aller Massenerlebnisse im 18. und 19. Jahrhundert nahm eine Soziologie der Masse erst im 20. Jahrhundert ihren Anfang. Denn erst mit wachsenden Städten und Industrien enstand eine Massengesellschaft. So setzte sich auch Elias Canetti mit „Masse und Macht“ auseinander. Für ihn war es übrigens der Torjubel, der Schrei der Masse bei einem Fußballspiel, der ihn auf die Idee brachte, sich mit dem „eigentümlichen Dröhnen“ zu beschäftigen, das die Masse erzeugt, wenn sie, wo immer, erst zur Masse wird.
Und auch in den Medien ist der Schrei ein wesentliches Element. Das hat etwa technische Gründe. So rührt das unangenehme Gefühl, dass einem das Gegenüber stets ins Ohr brülle, beim Handy-Telefonat wohl vom fehlenden Raumeindruck her. Aber auch wer gegen die Technik agiert, kann laut werden. So etwa, wenn Redner, obwohl es dank Verstärkung gar nicht nötig wäre, unwilkürlich schreien, wenn sie sich einer größeren Menschenmenge gegenüber sehen.
Und dann sind da noch die Themen, die nach Schreien schreien. Eine Tür öffnet sich, eine Stufe knarzt, ein Schatten. Und dann schreit Jamie Lee Curtis in „Halloween“ oder später Neve Campell oder Naomi Watts – und mit ihnen die unangefochtenen „Scream-Queens“ des Horrorfilms. Und was ist der „Wilhelm Scream“? Ursprünglich war es ein Insiderscherz unter Sounddesignern. Jetzt ist es ein Schrei, der in über 200 Filmen zu hören ist und das meist mehrmals. Im Film „The Charge at Feather River“, einem Western aus dem Jahr 1953, wird die Figur des Private Wilhelm von einem Pfeil in den Oberschenkel getroffen. Wilhelm schreit. Und dieser Schrei landet in der Sound Bibliothek von Warner Brothers. Jahre später machte sich Ben Burtt einen Spaß daraus, ein und denselben Schrei immer wieder in den Filmen unterzubringen, an denen er gerade arbeitete, so bei „Star Wars“ und „Indiana Jones“. Und viele Sound-Leute taten es ihm nach. Übrigens kann man in den „Star Wars“-Filmen zweimal den Schrei des Tarzan hören und das in einem hochtechnisierten Ambiente. In seiner ursprünglichen Geschichte ist Tarzan der Sohn eines britischen Lords, aber im Dschungel aufgewachsen, verachtet er die Kultur, Gesellschaft und Technik Englands und sehnt sich nach der Einfachheit der Natur. Schließlich kehrt er mit Jane zurück nach Afrika, … wo er den „Siegesschrei eines Affenbullen“ ausstößt. Max Ackermann
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KLASSIK
Ein Märchen wird wahr: die Pet Shop Boys im Ballettsaal Die Pet Shop Boys haben Musik für ein Ballett geschrieben. Das erfolgreiche Pop-Duo hat bereits 2001 ein Musical komponiert und 2004 Eisensteins Stummfilm-Klassiker „Panzerkreuzer Potemkin“ neu vertont. Im März dieses Jahres folgte nun der neueste Streich von Neil Tennant und Chris Lowe: Musik für ein klassisches Ballett nach einem Märchen von Hans Christian Andersen. „Das Unglaublichste“ beziehungsweise „The Most Incredible Thing“ handelt von einem König, der einen Wettbewerb ins Leben ruft. Derjenige, der das Unglaublichste tun kann, soll die Königstochter und das halbe Reich bekommen. Die ersten Bewerber fliegen sofort raus: „Einer aß so viel, dass er starb; zwei richteten sich durch Trinken zugrunde.“ Das beeindruckt die königliche Jury wenig. Erst ein junger Mann, „herzensgut und fröhlich wie ein Kind“, kann die Juroren und das Volk überzeugen. Seine Erfindung ist eine Uhr, die zu jeder vollen Stunde verschiedene Charaktere erscheinen lässt, so zum Beispiel Adam und Eva, die Heiligen Drei Könige, die vier Jahreszeiten oder etwa die zehn Gebote. Das ist das Unglaublichste, das alle je gesehen haben, darin sind alle sich einig. Happy… nein! Plötzlich taucht „ein langer starkknochiger kräftiger Mann“ auf, haut die Uhr mit einer Axt in tausend Stücke und gewinnt mit diesem Gewaltakt tatsächlich den Wettbewerb. Wie das?
Foto: Hugo Glendinning
So: „Mein Tun hat sein Werk geschlagen und euch alle geschlagen. Ich habe das Unglaublichste getan!“ Aha. Das hört sich irgendwie nicht nach dem gewohnten MärchenHappyend an …Und richtig, die unglaublich schreckliche Tat bleibt natürlich nicht ungesühnt. Am Hochzeitstag üben zwölf Wesen aus der Uhr Rache. Der Bräutigam wird mit einem Morgenstern erschlagen und die Prinzessin darf doch noch den herzensguten, jungen Mann heiraten. Ende gut, alles gut: „…und alle freuten sich, alle segneten ihn. Nicht ein Neider war da – ja, das war das Unglaublichste!“ Erstaunlich ist, dass die Pet Shop Boys hier Musik geschrieben haben, die weitestgehend ohne Texte auskommt. Nur bei dem über sieben Minuten langen „The Grind“ – nach dem „Prologue“ das zweite Stück auf dem Soundtrack – erhebt Sänger Neil Tennant kurz die Stimme. Da ist er, der Pet-Shop-Boys-Moment! Doch auch bei den überwiegend instrumentalen Klängen scheint die unverkennbare Handschrift der beiden Briten durch. Die Kompositionen sind gewohnt üppig und bilden eine Mischung aus den üblichen Synthesizer-Klängen, dem typischen Pet-Shop-BoysElektro-Pop und großen Orchester-Arrangements. Der Anfang von „The Miracle Ceremony“ erinnert sogar leicht an den Pet-Shop-Boys-Hit „It’s A Sin“.
Jedoch ohne die dazugehörigen Tänzer in ihren Kostümen und das aufwendige Szenenbild wirkt das über 80-minütige Werk stellenweise etwas farblos. Zum Glück finden sich im CD-Booklet, einem Libretto ähnlich, Beschreibungen zu den einzelnen Stücken der jeweiligen Ballett-Szene. Man kann also seiner Fantasie freien Lauf lassen und sich sein eigenes Ballett samt Bühnenbild und Tänzern dazu denken. Wer die Aufführungen in London verpasst hat, muss in der Tat noch ein Weilchen mit seinen eigenen Bildern vorlieb nehmen. Die Fans hatten nur zehn Tage lang Gelegenheit, „The Most Incredible Thing“ am Londoner Sadler’s Wells Theatre zu sehen. Weitere Aufführungen sind dort erst für 2012 geplant, der Mitschnitt der BBC soll immerhin noch in diesem Jahr zu sehen sein. Die Idee, das Märchen des dänischen Schriftstellers Hans Christian Andersen als Ballett aufführen zu lassen und den dazugehörigen Soundtrack zu schreiben, hatten die Pet Shop Boys schon vor vier Jahren. Als sie der befreundete Tänzer Ivan Putrov zur gleichen Zeit bat, die Musik für eines seiner Tanzstücke zu schreiben, war der Grundstein gelegt. Putrov übernahm die Rolle des Bösewichts, Javier De Frutos Choreografie und Regie. Für die Orchestrierung griffen die Pet Shop Boys wieder auf den deutschen Komponisten und Musikproduzenten Sven Helbig zurück, mit dem sie bereits bei „Panzerkreuzer Potemkin“ zusammen gearbeitet hatten. Der Dramaturg Matthew Dunster schrieb das Drehbuch, Katrina Lindsay entwarf die Kostüme, Tal Rosner steuerte digitale Effekte und Videoprojektionen bei und Paul Arditti übernahm das Sound-Design. Hat man jedoch nur die CD zur Verfügung, fehlt einfach das visuelle Element, obwohl das Album beim Anhören durchaus Neugierde weckt, wie denn Musik und Tanz zusammen gehen. Der weniger offene Pet-Shop-Boys-Fan könnte Schwierigkeiten haben: Verglichen mit dem bisherigen Schaffen von Tennant und Lowe, steht hier der PopAspekt deutlich im Hintergrund. So spaltet auch „The Most Incredible Thing“, ebenso wie ihre Bearbeitung des Stummfilms „Panzerkreuzer Potemkin“, die Anhänger. Denn die gewohnten Pet-Shop-Boys-Pop-Epen, die man noch auf dem 2009 erschienenen letzten Album „Yes“ hören konnte, haben den opulenten orchestralen Klängen Platz gemacht. Dem geneigten Filmmusik-Freund aber eröffnet sich hier die Möglichkeit, Pop-Musik in Kombination mit klassischem Soundtrack-Flair zu erleben. Zumindest für jene wird „The Most Incredible Thing“ zu einem unglaublichen Erlebnis. Matthias Westerweller A Sadler’s Wells Production, Pet Shop Boys & Javier De Frutos, „The Most Incredible Thing“ www.sadlerswells.com
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MODERN
The Boys Are Back In Town – oder: Die glückliche Wiedervereinigung von Take That mit Robbie Williams Manchester im Jahr 1990. Der Musikmanager Nigel MartinSmith lernt den 19-jährigen Gary Barlow kennen, der bereits seit Jahren als Songwriter und Pianist durch den Norden Englands tourt. Martin-Smith kommt auf die clevere Idee, eine Boyband nach dem Vorbild der höchst erfolgreichen New Kids On The Block zu formen. In dem Studio, wo er mit Barlow erste Songs aufnimmt, arbeitet ein gewisser Mark Owen als Tea-Boy und wird sogleich für die Band rekrutiert, ebenso die Breakdancer Howard Donald und Jason Orange. Ein zweiter Leadsänger wird per Inserat gesucht und gefunden, er heißt Robert Peter Williams und wird mit sechzehn Jahren als fünftes und jüngstes Bandmitglied aufgenommen. Dank der Kontakte ihres Managers treten Take That zunächst vor allem in Gay Clubs auf, wo sie erste Erfolge feiern. In den Medien machen sie vor allem durch ihre Bühnen-Outfits und durch gewagte Tanzeinlagen auf sich aufmerksam. Doch bald wird klar, dass sie auch musikalisch einiges zu bieten haben, und ab 1992 gibt es kein Halten mehr. Mit dem Tavares-Cover „It only takes a minute“ erklimmen sie Platz sieben und mit dem BarryManilow-Klassiker „Could it be magic“ sogar Platz drei in den UK-Charts. Im Jahr darauf gewinnen sie den ersten von vier Brit Awards, 1994 und 1995 folgen dann zwei MTV European Music Awards in den Prestige-Kategorien „Best Group“ und „Best Live Act“. Dass sie von der ernsthaften Musikpresse weiterhin belächelt oder verhöhnt werden, ficht die fünf nicht an, denn Millionen kreischender Fans können bekanntlich nicht irren. Vor allem in England, aber auch in Kontinentaleuropa nimmt die Verehrung der Band zuweilen hysterische Züge an und erinnert nicht wenige Beobachter an die Beatlemania der Sechziger. „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“, schrieb einst der Dichter Hermann Hesse, doch erst mit dem Ende beginnt die Legende. Als Take That einen Tag vor dem Valentinstag des Jahres 1996 ihre Auflösung bekannt geben, wehen europaweit in Millionen Teenagerherzen die Flaggen auf Halbmast. Die vom durchaus seriösen Allmusic-Guide als „populärste britische Teen Pop Sensation seit den 60ern“ bezeichnete Band ist am Ende. In London, Wien, Berlin und anderen Metropolen werden Krisentelefone für suizidale Fans eingerichtet.
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Was war passiert? Ausgerechnet auf dem Höhepunkt ihres Ruhms, als das Quintett mit „Back For Good“ in sage und schreibe 31 Ländern der Welt Platz eins der Charts erobert und erstmals auch in den USA in die Top Ten der „Billboard Hot Hundred“ vordringt, zieht der ebenso charismatische wie erratische Frontmann Robbie Williams die Reißleine und steigt aus der Band aus. Seine Kollegen halten noch ein dreiviertel Jahr lang durch, bis auch sie das Handtuch werfen. Fanclubs, Biografen und Klatschjournalisten haben das Problem längst identifiziert, nämlich die Konkurrenz zwischen dem begabten Sänger und Songwriter Barlow und dem Showtalent Williams, der mit der Zeit auch stimmlich mehr und mehr in den Vordergrund drängte. Dieses ungleiche Gespann hatte die Band einerseits zu immer größeren Erfolgen angetrieben, zugleich aber auch auf immer neue Zerreißproben gestellt. Außerdem war mit Blur, Oasis, Suede, Pulp und der ganzen Britpop-Welle ein anderer musikalischer Zeitgeist eingekehrt, der sich zumindest im Mutterland des Pop zum beinahe absoluten Geschmacksdiktat entwickelte. Nicht abzusehen war im Juli 1995, dass es fünfzehn Jahre dauern würde, bis sich Robbie und Gary mit dem gemeinsam geschriebenen Song „Shame“ öffentlichkeitswirksam wieder versöhnen. So geschehen im vergangenen Herbst. Der Song ist eine solide Pop-Ballade, deren Intro ein wenig an McCartneys „Blackbird“ erinnert, doch ein Muss für alte und junge Fans ist vor allem der Videoclip zu „Shame“: In viereinhalb Minuten an der Bar, auf der Tanzfläche und in freier Natur werden die Erzrivalen wieder (?) zu „Buddies“. Das Quartett Barlow, Donald, Orange und Owen hatte bereits im Jahr 2006 wieder zusammengefunden und mit Beautiful World ein höchst erfolgreiches Comeback-Album veröffentlicht, das allein in Großbritannien achtfach mit Platin ausgezeichnet wurde und insgesamt rund drei Millionen Einheiten verkaufte. Insidern dürfte jedoch vor allem das Coverfoto aufgefallen sein, ein Gruppenfoto aus der Vogelperspektive, das eine große Lücke in der Mitte ließ, die erst im Herbst 2010 wieder gefüllt wurde, als die Mutter aller (europäischen) Boybands ihren verlorenen Sohn wieder in die Arme schließen konnte.
Nun ist Robbie wieder im Boot und gibt zu Protokoll, er fühle sich mit seinen vier Kollegen „wie zu Hause“. Mit der epischen Single „Flood“ – übrigens von allen fünf Bandmitgliedern gemeinsam komponiert – kehren die quirligen Breakdancer von einst als seriös gekleidete Männer im mittleren Alter zurück in eine radikal veränderte Musikszene, die seltsamerweise ganz dringend auf die Take That Reunion mit Robbie Williams gewartet zu haben scheint. Was nicht heißt, dass sie musikalisch nichts Neues zu bieten hätten. Ganz im Gegenteil: Der Titel des aktuellen Albums „Progress“ ist absolut ernst gemeint. KuschelBalladen und Disco-Revival bleiben hier Randerscheinungen. Stattdessen gibt es rockige Momente („SOS“) und stark elektrifizierte Beats („Wait“, „Kidz“), die irgendwo zwischen den frühen Pet Shop Boys und den aktuell angesagten Hurts unterwegs sind. Letztere stammen übrigens gleichfalls aus Manchester und bezeichnen sich gern als „Söhne von Joy Division und Take That“. Die einstige Boyband ist nicht nur äußerlich „erwachsen“ geworden, sondern auch musikalisch ganz im 21. Jahrhundert angekommen. Letzteres ist nicht nur, aber auch dem kongenialen Produzenten Stuart Price zu verdanken. Der dreifache Grammy-Gewinner hat mit seiner Band Zoot Woman und davor schon (als 19-Jähriger) unter dem Alias „Jacques Lu Cont“ mit dem Projekt „Les Rhythmes Digitales“ große Erfolge gefeiert und hat im Nebenerwerb als Remixer die Hits von Madonna, Coldplay, Depeche Mode und Lady Gaga clubtauglich macht. Take That hat er einen modernen, kantigen Sound verpasst, der zum Teil in krassem Kontrast zu den sonst gewohnten Disco-Anklängen und Harmoniegesängen steht, die von Take-That-Fans aller Glaubensrichtungen so geschätzt wurden.
Wie gut die Kombination von Gary, Robbie, Howard, Mark und Jason mit Stuart Price funktioniert, wird weniger auf der ersten Hit-Single „Flood“ und sehr viel mehr bei Songs wie dem martialischen „Kidz“ deutlich. Einerseits erweist man hier rund 45 Sekunden lang dem Kinks-Klassiker „Lazing On A Sunny Afternoon“ deutliche Reverenz, dann aber feuert Price eine Salve perkussiver Electro-Sounds ab, die von den Stimmen der wackeren Fünf aus Manchester nur knapp übertönt werden. Das ist großes Kino für die Ohren. Einziger Schwachpunkt des Albums: Man merkt den meisten Songs deutlich – zuweilen sogar überdeutlich – an, wie sehr die Band heutzutage ernst genommen werden will. Aber wer wollte es ihnen verübeln – im YoutubeZeitalter, wo Dutzende Live-Videos aus „grauer Vorzeit“ noch heute millionenfach betrachtet und „geteilt“ werden. Das World Wide Web bewahrt nicht nur die Highlights, sondern konserviert auch gnadenlos die peinlichsten Momente ihrer Karriere. Auf die Frage im Titel eines ihrer ersten großen Hits, „Could it be magic?“, würden sie heute wohl nicht mit den Armen rudern, sondern souverän antworten: „Yes we can!“ Die „Magic“ ist noch da. Nur wirken Take That nicht mehr wie knuffige Kaninchen im Hut eines Zauberers. Sie zaubern jetzt selbst. Mit Take That ist wieder zu rechnen, und in den Kontext ihrer mit „Progress“ bestandenen Reifeprüfung passt auch die Nachricht, dass sich die gesamte Band als Botschafter der Hear The World Initiative zur Verfügung gestellt hat: „Auf unser Gehör müssen wir uns täglich verlassen können, besonders natürlich als Musiker“, sagt Robbie Williams und ergänzt: „Wir sind stolz, diese Initiative zu unterstützen und auch dankbar, damit einen Beitrag zu leisten, um auf das Thema Hörverlust aufmerksam zu machen.“ Christian Arndt
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Foto: Bryan Adams
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PORTRÄT
Modern Dance im wahrsten Sinne des Wortes Mit der Motion Bank, einem Notationssystem für digitale Online-Partituren von Choreografen, geht die Forsythe Company neue Wege und bietet eine neue, andere Form der Wahrnehmung von Tanz und Bewegung. Was für die Musik längst existiert, soll für den Tanz einheitlich auf den Weg gebracht werden: Bewegungsabläufe und Choreografien sollen digital erfasst und Künstlern und Tanzwissenschaftlern zu Lehr- und Nachschlagezwecken zugänglich gemacht werden. Ohne das Stück je live auf der Bühne gesehen zu haben, soll so selbst die komplette Rekonstruktion einer Choreografie möglich sein. Bereits vor einigen Jahren entwickelte William Forsythe den Prototypen des Systems, das nun bis zum Jahre 2013 in Zusammenarbeit mit Partnern aus unterschiedlichen Forschungsbereichen perfektioniert werden soll: Die Ohio State University steuert ihr „Advanced Computing Center for Art and Design“ bei, und verschiedene Hochschulen für Gestaltung, Tanz und darstellende Kunst sind mit von der Partie. Wissenschaftlich begleitet wird das Projekt von Hirnforschern des Max-Planck-Instituts in Frankfurt und der Humboldt Universität Berlin. Ein Ministerium sowie Kulturstiftungen und private Förderer unterstützen das Projekt darüber hinaus finanziell. Die Methode vereint gängige Verfahren der IT- und Animationstechnologie: Die Bewegungsabläufe eines Stückes bzw. die Choreografie werden aus unterschiedlicher Perspektive gefilmt und mit Hilfe einer passenden Software in das Notationssystem übertragen. Pausen, Übergänge, Impulse und Regieanweisungen des Choreografen werden ebenfalls berücksichtigt und komplettieren die Partitur.
So soll es Choreografen möglich sein, ihre Arbeiten leicht verständlich, benutzerfreundlich und kostengünstig digital festzuhalten. Sollte sich das Verfahren in der bereits begonnenen Probephase mit ausgewählten Choreografen unterschiedlicher künstlerischer Schaffensweise bewähren, so steht der Errichtung einer Bibliothek für digitale Tanzpartituren nichts im Wege – Sinn und Zweck soll sein, diese Software künftig kostenlos allen Choreografen zur Verfügung zu stellen, die ihre Stücke verschriftlichen möchten und diese dann im Gegenzug in der Datenbank Motion Bank archivieren und der Nachwelt zur Verfügung stellen. Veranschaulicht wird die Entwicklung des Programms während der vier Jahre durch öffentliche Lecture Performances, Workshops mit Wissenschaftlern und Experten sowie Meisterklassen für Studierende und Nachwuchskünstler. Ein intensiver Austausch über die Ergebnisse ähnlicher Projekte oder bereits bestehender Studien ist gewünscht – William Forsythes „Schaffung einer neuen Art von ‚Tanzliteratur‘ für eine breite und interaktive Leserschaft“ soll schließlich nicht auf wackeligen Füßen stehen. Die erste Workshopwoche mit Schwerpunkt Ausbildungsarbeit ist im Frankfurter Lab bereits mit internationalen Teilnehmern und namhaften Gastdozenten, die variantenreich über die Entwicklung von Choreografie referierten, über die Bühne gegangen. Weiterhin ist das neue Stück „Solo“ der Choreografin Deborah Hay als Erstes von geplanten Dreien aufgezeichnet worden, um am Computer mit den neu erarbeiteten Methoden nachbereitet und analysiert zu werden. Im Herbst dann wird das Stück live aufgeführt. Bis dahin wird bei Motion Bank fleißig weiter getanzt und getüftelt. Klar ist jedenfalls: der technische Fortschritt macht auch vor der Bewegung nicht mehr halt … let’s dance online! Sandra Spannaus
© Synchronous Object, for One Flat Thing, reproduced. The Ohio State University and The Forsythe Company
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MODERN
James Blake – die Erlösung durch Stille „Es gibt Klänge, die erst dann richtig zur Geltung kommen, wenn man sie plötzlich nicht mehr hört.“ Solche musikalischen Erkenntnisse erwartet man im Normalfall von gereiften Musikern, die im Alter immer mehr zur Weisheit und dem Verständnis für die Interaktion von absoluter Stille und Sound sowie zu viel Raum für einzeln gespielte Noten kommen. Das eine ist unabdingbar für das andere. Wenn dieses Zitat aber von einem erst 22-jährigen Menschen stammt, dann ist es definitiv an der Zeit, ihm hier im Magazin einen Platz einzuräumen. Ladies and Gentlemen, bitte spitzen Sie Ihre Ohren, schalten Sie alle störenden Elemente ab, lehnen Sie sich zurück und lauschen Sie der wunderbaren Musik von James Blake aus London Town mit dem von ihm selbst ins Leben gebrachten Genre-BluesDubstep-Pop oder einfacher ausgedrückt Gospel Music 2011. Angefangen hat diese Entwicklung zum bisher frischesten musikalischen Entwurf des laufenden Jahres, der sich im Prinzip auf schon einige Jahrhunderte alte Säulen der Musik stützt, im zarten Alter von sechs Jahren, als James Blake das erste Mal am Piano saß und auf eigene Faust übte, bis er schließlich klassischen Unterricht bekam, der ihm zunächst keinen Spaß machte, aber doch zu einer weiteren Erkenntnis führte: „Mir war schon sehr, sehr früh klar, dass es letztlich etwas Gutes sein musste, wenn ich dadurch Fortschritte machte. Also blieb ich dabei, machte weiter. Ich konnte sehen, wie ich immer besser wurde am Klavier.“ Was sich zunächst anhört wie die Aussage eines jungen Strebers, ist wohl zurückzuführen auf die familiäre Umgebung, in die Blake hineingeboren wurde. Beide Eltern waren erfolgreiche Freiberufler, die Mutter Grafikdesignerin und der Vater ein nicht ganz unbekannter Musiker in der progressiven Rockszene der Siebzigerjahre als Mitglied der Band Colosseum und später dann bis heute als Solokünstler, nun eher im folkig-rockigen Singer/ Songwriter-Bereich angesiedelt und ausgestattet mit eigenem Studio, sein Name: James Litherland.
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Doch statt der rockigen Elemente der Musik seines Vaters waren es eher Soul- und vor allem Gospelplatten, zu denen Blake als Teenager anfing mit seiner Stimme zu spielen. „Das war ganz klassische Harmonielehre, wenn man so will. Ich lernte früh, wie man Gospel-Songs auf der Orgel spielt – ich stand nämlich schon sehr früh auf Gospel, also echt alte Gospel-Sachen, den Sound von Reverend James Cleveland und all diese Wahnsinnsaufnahmen, die für mich allein in klavierspielerischer Hinsicht von Interesse waren. Danach fuhr ich voll auf Art Tatum und Errol Garner ab, obwohl ich mir eigentlich nie viel aus Jazz gemacht habe. Ich hatte immer den Eindruck, dass die Ära des Jazz schon vorbei war, und ich war vielmehr auf der Suche nach etwas Anderem, etwas Neuem.“ So weit Blake im Originalton der Info zum Debütalbum „James Blake“ (Atlas/Polydor). Der Mann, der den Soul und Jazz trotzdem so tief inhaliert und verstanden hat, ist nur schwer ans Mikrophon zum Interview zu bekommen, auch das gehört wohl zu dem scheinbaren Masterplan, der sich immer mehr im Lebensweg des Londoners bildete. Dazu passt auch, dass eines der raren Interviews im Büro des Pfarrers der Central Presbyterian Church in New York stattfand, am zweiten Ort seiner ersten Liveauftritte in den USA im März 2011. Doch zurück zum alles entscheidenden und soundprägenden Moment, der letztendlich dafür verantwortlich ist, dass man auf Journalistenseite für James Blake sogar ein neues Genre namens „Post-Dubstep“ erfand, was nur mit seiner Affinität zu „Nautilus – Subbässen aus 20.000 Meilen unter dem Meer“ zu tun haben kann. Der OriginalDubstep-Sound des Londoner Underground der Clubnacht „FWD>>“ im mit außergewöhnlich gutem Soundsystem ausgestatteten Club Plastic People brachte das Neue, den Schritt hin zur Produktion am Computer, um die Tiefen und auch die Pausen dieser aufregenden und nur auf die Tanzfläche zielenden Tracks auszuloten.
Man ist nun geneigt zu sagen, dass der Rest Geschichte ist, nach ein paar Vinyl-Veröffentlichungen mit Dubstep-Anklängen, außergewöhnlichen DJ-Auftritten, bei denen er öfters Pausen zwischen den Platten lässt, um diese besser nachwirken zu lassen, und zwei großartigen, mit unterschiedlichen Ansätzen staffierten EPs auf dem renommierten, früher eher für Techno bekannten R&S Label aus Belgien, „CMYK“ und „Klavierwerke EP“, auf denen er noch seine Stimme zurückhaltend und mit Effekten verfremdet einsetzte, war es die Coverversion eines Songs der Kanadierin Leslie Feist, die ihn schlagartig ins nächste Universum katapultierte. „Limit To Your Love“ vereint Pause und Sound, Klavier und Subbässe stehen sich gegenüber, und über allem schwebt diese seelenvolle Stimme, zerbrechlich und sehr stark zugleich. „Wenn du anfängst zu singen, verändert es alles, du schlägst die Brücke zum Publikum und gibst deinen Gefühlen den direkten Ausdruck“, so Blake im Büro des Pfarrers in New York. Fast noch eindrucksvoller gelang es ihm, den Song „It’s My Turn“ seines Vaters zu einem der berührendsten und gleichzeitig erschütternsten Momente aktueller Musik zu verwandeln, „The William Scream“ – ein Stück wie der Soundtrack eines endlosen freien Falls mit offenem Ende. Oder das mehrstimmige „I Never Learnt To Share“, welches sich nach dem A-cappella-Anfang durch schier endlose und fast schon bedrohlich in Moll schwingende Kirchenorgeln hochschraubt, bis die Erlösung in Form des Wechsels zu Dur wieder versöhnt und einem den Glauben an das Gute zurückschenkt. Er hat schließlich doch gelernt zu teilen.
James Blake schafft beides, man könnte seine Songs nur spüren oder eben dazu als Zugabe der Stimme und den immer sehr kurzen, aber prägnanten Botschaften zuhören. Ein wahres Wunderkind, versehen mit einer Gabe, die nur sehr wenige auf diesem Planeten besitzen. Tief in der Seele verwurzelte Soulmusic, die gekommen ist, um zu bleiben. Wie traditionelle und zeitlos ergreifende Gospels. Inklusive lange nachhallender, wundervoller Stille. („Hallelujah“ und „Amen“). PS: Nicht unerwähnt sollte bleiben, dass James Blake ein großer Fan von Joni Mitchell ist, besonders ihr großartiges, wundervoll stilles Album „Blue“ beeinflusste den Londoner beim Komponieren, das darauf enthaltene „Case Of You“ taucht immer wieder in seinen Livesets auf. Musik erster Klasse eines Pianisten und Singer / Songwriters, und schaut man sich das Cover an, möchte man meinen, dass Joni Mitchell auch visuell einen Einfluss auf Blake hatte. Michael Rütten Empfehlenswert: Musik: James Blake „James Blake“ (Atlas/Polydor) Das Interview in New York: www.noisevox.com Face Time: James Blake Live: Wo immer Sie die Gelegenheit bekommen. Bisher gab es auch zahlreiche Shows in Kirchen. Eine ausgedehnte Europatour wird im Herbst 2011 folgen.
„Ich stehe halt auf große Gefühle. Das ist schon fast ein richtiger Spleen von mir. Ich will Dance-Tracks produzieren, die meine Zuhörer so berühren, wie das sonst nur eine uralte Soul-Nummer schaffen würde. Sie sollen unter die Haut gehen wie Folk-Songs, also ganz organisch klingen und vor allem menschlich. Überhaupt geht es mir immer um diese menschliche Note in der Musik.“
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Foto: Dan Wilton
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Nick Knight – klangvolle Namen und große Gesichter auf Hochglanzpapier Nick Knight ist einer der größten Modefotografen unserer Zeit. Seine Qualitäten wissen Stardesigner wie Musiker gleichermaßen zu schätzen. Seine Arbeiten sind oft unkonventionell und überraschend – knallige, geradezu kreischende Farben in den Produktionen mit Björk oder Lady Gaga sind ebenso zu finden wie die eher leisen, harmonischen Bilder seiner Flora-Reihe. Nick Knight erkennt die wahre Schönheit, abseits von symmetrischen Gesichtern und perfekt drapierten Stoffen. Er schockt und schmeichelt und definiert Schönheit neu. Er hat mit namhaften Modehäusern zusammengearbeitet und die meisten Topmodels vor der Linse gehabt. Zahlreiche Coverfotos für die großen Modemagazine dieser Welt gehen ebenso auf seine Rechnung wie die maßgeblichen Werbekampagnen für Dior, Louis Vuitton oder Levi Strauss.
Night setzt aggressive farbliche Akzente, die seinen Fotografien den Touch eines modernen Gemäldes geben, und überzeugt gleichermaßen mit sanften Schwarz-WeißImpressionen aus weich fallenden Stoffbahnen auf zarter Haut. Imagemaker Knight sieht aber das Ende der klassischen Modefotografie gekommen und stellte mit seinem Modeblog SHOWstudio bereits früh die Weichen für die Zukunft im Netz. Ein Grund mehr für den Bildband, der Einblick in sein Schaffen der vergangenen Jahre gewährt und seine Magie des Augenblicks in nachhaltigen Bildern veranschaulicht. Ein Musthave für Modeliebhaber und Fotografiefreunde. Sandra Spannaus www.nickknight.com www.showstudio.com
Nick Knight Photographien 1994 – 2009 Mit einem Text von Charlotte Cotton Englische Ausgabe mit deutscher Textbeilage Buchdesign von Paul Hetherington 264 Seiten, 429 Farb- und Duotone-Tafeln ISBN 978-3-8296-0426-0 Ladenpreis: € 68,– / SFr 110,–
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ROSE, 2003
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Fotos: Š Nick Knight , courtesy Schirmer / Mosel
MICKY HICKS, DOLLS, SHOWSTUDIO, 2000 76 HEAR THE WORLD
KATE MOSS, BRITISH VOGUE (COVER), SEPTEMBER, 2000 HEAR THE WORLD 77
DEVON AOKI, DEVON, ALEXANDER MCQUEEN, VISIONAIRE 20, 1997 78 HEAR THE WORLD
SHALOM HARLOW, LOUIS VUITTON, 1996 HEAR THE WORLD 79
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Die Stimme von Adele
Geisterstimmen tragen eine Geschichte mit sich. Wenn man sie hört, hört man immer auch etwas anderes mit: etwas Vertrautes, eine Erinnerung, Authentizitätspartikel. Sie sind Teil eines Stimmenflusses, der seine Quelle an einem weit zurückliegenden Ort hat und der, angekommen im Meer, sich mit vielen anderen Strömungen vermischt, sodass kein Ursprung mehr auszumachen ist. Adele hat solch eine Stimme. Eine einzige, wiedererkennbare Stimme zwar, aber auch eine, deren Stammbaum weit verästelt ist, deren Ahnenlinie Jahrzehnte in Jazz, Blues und Soul zurückreicht. Wenn von Musikjournalisten geschrieben wird, Adele – und auch Sängerinnen wie Duffy oder Rumer – seien die Töchter von Amy Winehouse und die Enkelinnen von Dusty Springfield, so mag das zutreffen. Aber auch Winehouse und Springfield standen bereits auf den Schultern riesiger Sängerinnen. Adele ist sehr jung, inzwischen 22; ihre Stimme ist es hingegen nicht. Sie hat jenen einnehmenden, warmen Ton, der manchmal eine aufgeraute, kratzige, melancholische Tönung annimmt, als würde sie so hörbar machen wollen, dass in der Liebe immer auch der Schmerz verborgen ist. Adele versteht es zu modulieren, ihre Stücke zu inszenieren. Sie spürt den Wörtern nach und gibt jedem einzelnen Wort eine Bedeutung, die weit über seinen Sinn hinausreicht. Sie macht etwa aus einem altersmilden Bob-DylanLiebessong eine Hymne der Anbetung; und sie hat, was vielen anderen Sängerinnen ihrer Generation fehlt: Maß und Balance. R’n’B- und Soulkünstlerinnen verlieren sich zuweilen in arglos-zweckfreien Koloraturen, die nichts zum Ausdruck bringen als technische Fähigkeiten, die zuweilen den Kern eines Songs komplett sprengen können, sodass nur noch Splitter zurückbleiben. Adele ist eine coole Blue-Eyed-Soul-Sängerin; sie muss nichts beweisen, sondern erfasst die Songs, begreift sie, schmeichelt ihnen, ohne sie zu Tode zu interpretieren. Man hört darin die Souveränität von Jazz- und Soulsängerinnen, die sich nicht in hysterische Oktavhöhen trällern müssen, um ihre Seele zu entäußern. Adele hat eine Geisterstimme, eine historische Stimme.
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Adele Adkins wurde 1988 in London geboren. Sie gehört einer Generation an, die nicht mehr den klassischen Weg gegangen ist, um bekannt zu werden. Wo Musikerinnen ihres Schlags in früheren Zeiten in Kaschemmen und kleinen Clubs ihre ersten Sporen verdienten, schloss sie ein Studium an der Brit School of Performing Arts ab. Für Adele spricht, dass sie heute behauptet, sich dort eher gelangweilt zu haben. Sie schickte auch keine 200 Demoaufnahmen an Plattenfirmen, bis sie endlich erhört wurde, sondern stellte Songs auf ihre „Myspace“-Seite – dort wurden Tausende Internet-User und Scouts von Plattenfirmen auf sie aufmerksam. Mit 19 Jahren produzierte sie ihre erste Platte, die sinnigerweise unter dem Titel „19“ erschienen ist und zu einem Überraschungserfolg wurde. „21“, das Nachfolgealbum aus dem letzten Jahr, toppte diesen frühen Höhenflug noch um einiges. Ein paar der Stücke auf „21“ wurden von dem legendären Rick Rubin produziert. Es ist ein grandioses Mainstream-Album geworden, etwas gefälliger als das Debüt; nicht alle Songs haben einen einnehmenden Charakter, aber auch aus den schlichtesten Popnummern kann Adele noch etwas Magisches zaubern. Adele scheint, wenn man ihren Interviews Glauben schenken darf, ihre Karriere sehr selbstbestimmt anzugehen. Das liegt wohl nicht zuletzt daran, dass sie etwas hat, auf das sie sich verlassen kann und das sie unabhängig macht von den flüchtigen Moden im Pop: ihre Stimme. So könnte sich auch ihr Erfolg gerade bei einem Publikum erklären, das ansonsten auf Lady Gaga oder Rihanna abonniert ist. Adeles treueste Hörerinnen (und auch Hörer) sind jung, selbstbewusst, ein bisschen nostalgisch, genervt von Hochglanzkünstlern, und sie tragen eine Sehnsucht nach Gefühlen, nach Geschichte und Gegenwart mit sich herum. Adele verleiht dieser Sehnsucht eine Stimme. Ulrich Rüdenauer
Foto: Mari Sarii
Es gibt jene Stimmen, die aus einem anderen Universum zu kommen scheinen, die bisher ungehört waren und nun plötzlich etwas Neues aufreißen, mitunter etwas Schmerzliches, Peinsames oder auch Rührung auslösen können. Nennen wir sie: authentische Jetztstimmen. Und dann gibt es jene, die auf etwas zu rekurrieren scheinen, was wir bereits kennen, etwas in uns Schlummerndes oder Abgespeichertes, etwas durch die Zeiten als kollektive Hörerfahrung Getragenes. Stimmen, die selber ein Gedächtnis haben, die ein Echo benennbarer und unbenennbarer Vergangenheiten sind, die nicht losgelöst gedacht werden können von einer Tradition, in der sie stehen. Sie können durchaus originell und authentisch sein, aber nicht originär – in ihnen steckt der Gesang der Vorfahren. Nennen wir sie: Geisterstimmen.
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Trademark Publishing, Westendstr. 87, 60325 Frankfurt am Main, Deutschland Verlagsleitung Armin J. Noll Herausgeber Alexander Zschokke Redaktion Maarten Barmentlo, Heiko Ernst, Markus Frenzl, Christian Gärtner, Antonia Henschel (V.i.S.d.P.G.), Karl W. Henschel, Christine Ringhoff, Elena Torresani Titelfoto Bryan Adams Mitarbeiter dieser Ausgabe Bryan Adams, Max Ackermann, Christian Arndt, Anno Bachem, Markus Frenzl, Hennie Haworth, Shin-Shin Hobi, Sandra Hofmeister, Marcel Krenz, Stefan Kugel, Daniel Lachenmeier, Sylvia Meyer-Rothen, Céline Meyrat, Sabine Reitmaier, Samuel Roos, Malin Rosenqvist, Ulrich Rüdenauer, Michael Rütten, Sandra Spannaus, Daniela Tewes, Matthias Westerweller Art Direction Antonia Henschel Produktion Remo Weiss Übersetzungen Jeremy Gaines Druck pva, Druck und Medien-Dienstleistungen GmbH, Landau/Pfalz, Deutschland www.hear-the-world.com ISSN 1863-9747
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