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Ein AuĂ&#x;enseiter in der Kunst Karl Junker und das Junkerhaus in Lemgo



Ein Außenseiter in der Kunst Karl Junker und das Junkerhaus in Lemgo Herausgegeben im Auftrag des Arbeitskreises Karl Junker von Jürgen Scheffler

Schriften des Städtischen Museums Lemgo Band 12

Verlag für Regionalgeschichte Bielefeld 2011


Autorinnen und Autoren

Jürgen Scheffler, Leiter des Städtischen Museums Lemgo. Verfasser zahlreicher Publikationen zur Stadt- und Regionalgeschichte, darunter „Karl Junker und das Junkerhaus. Kunst und Architektur in Lippe um 1900“ (Herausgegeben zusammen mit Regina Fritsch, 2000).

Dr. Anne-Kathrin Wielgosz, Associate Professor, Department of Languages and Letters, Walsh University, North Canton, Ohio, USA.

Dr. Hartmut Kraft, Facharzt für Nervenheilkunde, Psychoanalytiker und Lehranalytiker in freier Praxis, Köln. Verfasser mehrerer Bücher zu den Grenzbereichen zwischen Medizin, Psychoanalyse, Kunst und Ethnologie, darunter „Grenzgänger zwischen Kunst und Psychiatrie“ (2005). Aufbau eigener wissenschaftlicher Sammlungen.

Dr. Thomas Dann, Jugendzahnarzt des Kreises Lippe und Kunsthistoriker. Verfasser zahlreicher Publikationen zur Möbelforschung, zuletzt „Möbelschätze aus Lippe: Vier Generationen Tischler Beneke in Detmold 1816–1964“ (2011).

Prof. Dr. Roger Cardinal, Emeritus Professor, Literary & Visual Studies, University of Kent, Canterbury, England. Verfasser zahlreicher Bücher und Beiträge zur Art Brut/Outsider Art, u.a. „Outsider Art” (1972).

Dr. Ines Katenhusen, Referentin für Öffentlichkeitsarbeit und Grundsatzangelegenheiten des Dekanats, Philosophische Fakultät, Leibniz Universität Hannover. Verfasserin zahlreicher Publikationen zur Kunst- und Kulturgeschichte Hannovers in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, darunter „Kunst und Politik. Hannovers Auseinandersetzung mit der Moderne in der Weimarer Republik“ (1998).


Inhalt

Seite

Jürgen Scheffler

Der Künstler Karl Junker Leben, Werk und Rezeption

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Anne-Kathrin Wielgosz

Wurzelwerk

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Hartmut Kraft

Welchen Sinn macht es, bei Karl Junker nach einer psychiatrischen Diagnose zu fragen?

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Thomas Dann

Individuelles aus Holz Karl Junkers Möbel und Raumausstattungen

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Roger Cardinal

Das Junkerhaus als Meisterwerk der Outsider Architektur

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Ines Katenhusen

Herbert von Garvens (1883–1953) Ein „Kampfgenosse“ der künstlerischen Moderne in Hannover

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J端rgen Scheffler


Der K端nstler Karl Junker Leben, Werk und Rezeption

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Wandschrank mit Selbstbildnis (Kreismuseum Genthin)


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Jürgen Scheffler

„Fremd- und eigenartig“: Das erste Museum in Lemgo

Ansichtskarte des Junkerhauses, 1933

Die Karte befindet sich in der Sammlung Junkerhaus des Städtischen Museums Lemgo. Die hohe Wertschätzung für die ausdauernde handwerkliche Arbeit Karl Junkers wurde auch von einer Besucherin zum Ausdruck gebracht, die das Junkerhaus im Jahr 1905 besuchte, dabei wohl von Karl Junker selbst geführt wurde und auf einer Postkarte darüber berichtete: „Es gehörte eine unendliche Ausdauer u. Arbeitskraft dazu, dieses Gebäude, dessen Inneres dem Äußeren entspricht, auszuführen.“ Stadtarchiv Lemgo, Ansichtskarten-Sammlung. 2 Führer durch Lemgo und Umgebung, Lemgo 1907, S. 38/39.

Am 16. August 1933 kaufte eine Besucherin des Junkerhauses nach ihrem Rundgang eine Ansichtskarte und berichtete über ihre Eindrücke. „Das Häuschen, was ihr auf der Karte seht, besichtigen wir gerade. Das ist von einem Einsiedler geschnitzt. Ich kann es gar nicht so schreiben, was für ein kostbares Häuschen das ist an Handarbeit. Sämtliche Möbel sind geschnitzt, das wär was für Onkel Ernst.“ Auf der Karte ist die von hohen Bäumen verdeckte Fassade des Junkerhauses abgebildet. Der handschriftliche Text verweist nicht nur auf die lange Tradition, die das Junkerhaus als touristische Sehenswürdigkeit in der Stadt Lemgo hat, sondern er zeigt auch, was den Besucherinnen und Besuchern vor Ort erzählt wurde und wie sie das Haus wahrgenommen haben. Im Vordergrund stand die Geschichte des allein und abgeschieden lebenden Holzschnitzers. Das hat die Verfasserin der Karte beeindruckt und daraus resultierte ihre besondere Wertschätzung des Hauses.1 Nicht erst in den 1930er Jahren, sondern bereits zu Karl Junkers Lebzeiten konnten Besucherinnen und Besucher das Haus besichtigen. Es war damit das erste Museum in der Stadt Lemgo. Karl Junker selbst hat die Besucher durch sein Haus geführt und „für die Instandhaltung des Hauses vom Besucher 20 Pf. Eintrittsgeld“ erhoben. In einem Reiseführer aus dem Jahre 1907 wurde das Haus und seine Umgebung recht ausführlich beschrieben: „Es liegt rechts auf einer kleinen Anhöhe, unmittelbar vor der Lemgoer Brauerei. Durch einen aus Birken gebildeten Laubengang gelangen wir an das Haus, dessen äusseres Gesamtbild uns unwillkürlich in Märchenstimmung versetzt, die noch erhöht wird, wenn wir das Innere betreten. Gleich rechts haben wir die Bildergalerie des Künstlers vor uns, der das ganze Haus nach seinem eigenen Stile bemalt, verziert und mit selbstangefertigten Möbeln ausgestattet hat. Alles, was wir sehen, mutet uns fremdund eigenartig an; beschreiben lässt es sich nicht.“2

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Vom Handwerksgesellen zum Künstler: Karl Junker Karl Junker wurde am 30. August 1850 in Lemgo geboren. Er war das erste Kind des Schmiedemeisters August Wilhelm Heinrich Junker, geb. 1821 in Lage als Sohn eines Zieglers, und seiner Ehefrau Luise Henriette Bökhaus, geb. 1826 in Lemgo als Tochter eines Hufschmiedes. Im Jahre 1852 kam ein zweiter Sohn (August Wilhelm Heinrich) zur Welt. Die Familie lebte im Haus des


Der Künstler Karl Junker

Leben, Werk und Rezeption

Großvaters im Zentrum der kleinen Stadt. Bereits 1857 war Karl Junker ein Waisenkind: Die Mutter starb 1853, der Bruder 1854 und der Vater 1857. Alle drei waren an Tuberkulose erkrankt. Im gleichen Jahr übernahm der Großvater Arnold Bökhaus zusammen mit zwei anderen Lemgoer Handwerksmeistern aus der Verwandtschaft die Vormundschaft. Da der Großvater dem Vater im Jahre 1855 Haus und Land überschrieben hatte, war Karl Junker nach dem frühen Tod des Vaters im Besitz einer Erbschaft im Wert von 1.000 Talern.3 Nach dem Besuch der Bürgerschule und der ersten drei Klassen des Gymnasiums beendete Karl Junker seine Schulzeit im Jahre 1864. Im Jahre 1865 begann er eine Tischlerlehre bei einem Lemgoer Tischlermeister. Nach Abschluss der Lehrzeit arbeitete er als Tischlergeselle in Hamburg und Berlin. Aus dieser Zeit sind zwei Briefe erhalten, in denen er u.a. schreibt, er habe sich in die Tochter seines Meisters verliebt und hege die Hoffnung, später dessen Geschäft zu übernehmen.4 Die Briefe gehören zu den wenigen biografischen Dokumenten von Karl Junker, von dem es weder Tagebücher noch größere Briefkonvolute oder gar programmatische künstlerische Äusserungen gibt. Obwohl er nach seiner eigenen Äusserung noch 1870 ein Leben als Handwerker und Geschäftsmann plante, entschied er sich nur ein Jahr später für ein Kunststudium. Im Jahre 1871 zog Karl Junker deshalb von Hamburg nach München, der führenden Kunstmetropole in Deutschland. In München besuchte er zunächst die Kunstgewerbeschule und seit 1875 die Akademie der Bildenden Künste, die zu den renommiertesten Ausbildungsstätten für Künstler in Deutschland gehörte.5 Junker trug sich am 17. April 1875 in das Matrikelbuch der Akademie ein, und zwar in die Natur-Klasse.6p S. 50 Während seines Aufenthaltes in München hatte ihn der Lemgoer Buchbinder Friedrich Ludwig Ohle, der Adressat des Briefes aus Berlin, „auf dem Spaziergang“ getroffen. Ohle hielt in seinem Tagebuch die Begegnung fest: „Verschiedene Rundgänge gemacht. Abends gekegelt mit andern Künstlern. Am anderen Morgen mit Junker in der neuen Pinakothek gewesen.“7 Im Gegensatz zur Immatrikulation gibt es kein Zeugnis für den Abschluss des Studiums. Im Jahre 1877 entschloss sich Karl Junker zu einer Reise nach Italien. Im Katalogtext der Ausstellung der Neuen Secession hieß es dazu lapidar: „Der Münchener Malunterricht aber behagte ihm nicht, es trieb ihn nach Italien.“8 Karl Meier hatte in seiner Darstellung der Biografie

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Die Daten dieses Abschnittes beruhen auf der unveröffentlichten Studie von Bernd Enke, seit über 20 Jahren die wichtigste Arbeit zur Biografie von Karl Junker. Ders.: Karl Junker. Biographie. Maschinenschriftliches Manuskript, Detmold o. J. Vgl. auch Ders.: Biographische Anmerkungen zur Künstlerpersönlichkeit: Karl Junker (1850–1912), in: Fritsch, Regina/ Scheffler, Jürgen (Hg.): Karl Junker und das Junkerhaus. Kunst und Architektur in Lippe um 1900, Bielefeld 2000 (= Schriften des Städtischen Museums Lemgo, Bd. 4), S. 13–20. 4 Karl Junker an den früheren Nachbarn Friedrich Ludwig Ohle, Berlin, 10. Juli 1870: „Ich liebe dort (in Hamburg. d. V.) nämlich die Tochter meines Meisters, ein Mädchen jung und schön, Vater und Mutter derselben wissen um unsere Liebe und sind damit einverstanden. Ich habe deshalb gegründete Hoffnung, dessen Geschäft nebst Mobilien-Magazin, welches eins der ersten Geschäfte Hamburgs ist, später noch mal zu übernähmen, da dessen Sohn, welcher augenblicklich als einjährig Freiwilliger dient, wenn er ausgedient hat, nach Amerika will.“ Junker war zusammen mit seinem Freund Fritz Stapperfenne, der ebenfalls aus Lemgo stammte, von Hamburg nach Berlin gereist, um sich „in anderen Werkstetten zu vervollkommnen“. Als er den Brief schrieb, wollte er allerdings Berlin verlassen und seinen freiwilligen Militärdienst in Detmold ableisten. Der Brief befindet sich in Privatbesitz, eine Abschrift in der Sammlung Junkerhaus des Städtischen Museums Lemgo. 5 Mai, Ekkehard: Die deutschen Kunstakademien im 19. Jahrhundert. Künstlerausbildung zwischen Tradition und Avantgarde, Köln/Weimar/Wien 2010. 6 03148 Karl Junker, Matrikelbuch 1841-1884, http://matrikel.adbk. de/05ordner/mb_18411884/ jahr_1875/matrikel-03148 (Zugriff vom 25/07/11). Dort steht als Berufsangabe des Vaters: „Doktor der Philologie“, was Bernd Enke als Ausdruck von Angeberei interpretiert. 7 Das Tagebuch von Friedrich Ludwig Ohle befindet sich in Privatbesitz. 8 Neue Secession. Sechste Ausstellung. Neue Galerie Berlin W, Lennestr. 6a, Berlin 1913/14.


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Blatt aus einem Skizzenbuch der Italienreise, 1877/78

Jürgen Scheffler

Junkers konstatiert, Junker habe den „Rompreis“ der Akademie gewonnen.9 Zwar gab es im Königreich Bayern Stipendien für Studierende, um nach Italien zu reisen, aber Quellen, die die Verleihung eines Stipendiums oder eines Preises an Karl Junker belegen, fehlen. Junker folgte mit seinem Entschluss zur Italienreise dem Modell der Bildungsreise von Künstlern und Architekten, wie sie seit Ende des 18. Jahrhunderts fester Bestandteil der Ausbildung war.10 Zahlreiche Skizzen aus dem Nachlass zeigen die Städte und Orte, die er besucht und in denen er Architektur und Kunstwerke gezeichnet hat. Seine Reise führte ihn bis nach Pompeji. Im Winter 1877/78 hielt er sich in der Künstlerkolonie Olevano Romano auf, wo er sich 1878 als „Maler aus München“ in das Gästebuch der Casa Baldi eintrug.11 Anfang der 1880er Jahre war Junker erneut in München gemeldet. Damit konnte er, wenn er wollte, in Kontakt mit den aktuellen künstlerischen Entwicklungen bleiben, aber die Stadt wies auf Grund der großen Zahl der dort lebenden Künstler auch eine starke „Hierarchisierung der Künstler in arm und reich“ auf.12 Vermutlich resultierte daraus der Entschluss zur Rückkehr in seine Heimatstadt Lemgo in den Jahren 1883 bis 1886, wo darüber hinaus die Erbschaft des Großvaters auf ihn wartete. Im Jahre 1883 konnte er die erste Auftragsarbeit übernehmen: die Festadresse der lippischen Städte zur Silberhochzeit des Fürsten Woldemar und der Fürstin Sophie.p S. 53 Im gleichen Jahr beauftragte ihn der Lemgoer Pfarrer Hugo Rothert mit der Gestaltung des Titelkupfers für das von ihm gegründete „Lemgoer Gemeindeblatt“.13p S. 55 Die Rückkehr nach Lemgo hatte sich für den 33jährigen Künstler als durchaus erfolgreich erwiesen. Allerdings gibt es keine Quellenbelege dafür, dass er im Anschluss an diese Arbeiten weitere Aufträge bekam. Karl Junker und sein Haus „am Hamelschen Wege“

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Meier-Lemgo, Karl: Das schöne alte Lemgo, Lemgo 1927, S. 89. Aus der umfangreichen Literatur zu den Italien-Reisen von Künstlern und Architekten: Imorde, Joseph/Pieper, Jan (Hg.): Die Grand Tour in Moderne und Nachmoderne, Tübingen 2008. Belloni, Coriolano: I Pittori di Olevano, Rom 1970, S. 98. Ruppert, Wolfgang: Der moderne Künstler. Zur Sozial- und Kulturgeschichte der kreativen Individualität in der kulturellen Moderne im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Frankfurt 2000, S. 194. Lemgoer Gemeindeblatt Nr. 1 vom 6. Januar 1884.

Am 27. Oktober 1889 stellte Karl Junker zusammen mit dem Zimmermeister Heinrich Schirneker den Antrag „zur Erbauung seines Hauses am Hamelschen Wege“. Bereits im Baugesuch findet sich der Hinweis auf die besondere Ausstattung des Hauses: „Die Wände und Decken der Haupträume des Hauses beabsichtige ich durch Täfel und Schnitzwerk mit theilweiser Malerei zu bekleiden…“. Dass es sich um ein Haus für einen Künstler handelte, ging aus der Beschreibung der Raumaufteilung und der beigefügten Zeichnung deutlich hervor. Denn er plante Atelier und Werkstatt sowie einen Lagerraum.p S.48 Dass er darüber hinaus


Der Künstler Karl Junker

Leben, Werk und Rezeption

gehobene Ansprüche an sein Wohnhaus stellte, zeigte sich in der Planung von „Salon und Fremdenzimmer“.14 Am 9. März 1891 war der Rohbau fertiggestellt. Junker konnte sein Haus beziehen. Auf einem Foto aus dem Jahre 1893 ist das Haus mit den verkleideten Fassaden und den fertig gestellten Außenanlagen zu sehen. In einem Reiseführer aus dem Jahre 1895 wurde auf die Möglichkeit der Besichtigung des Hauses hingewiesen, das „dem Kunsttischler Junker gehört und in seiner Art jedenfalls ganz alleinstehend ist (Entree 25 Pf.)“.15 Mit den von ihm gebauten Möbeln, mit seinen Gemälden und Skulpturen wuchs das private Museum. Nur wenige Quellen belegen, dass sich Karl Junker über die Arbeit an und in seinem Haus hinaus am öffentlichen Leben beteiligte. So bewarb er sich im Jahre 1899 mit einem Entwurf erfolglos für den Wettbewerb um die Errichtung des Detmolder Marktbrunnens. Und im Jahre 1900 wandte er sich mit einer spektakulären Mitteilung über einen archäologischen Fund an die Öffentlichkeit. Die Lippische Post berichtete am 25. September 1900, Karl Junker habe in der Maibolte zwischen Lemgo und Dörentrup „SteinUeberreste“ untersucht, die nach seiner Ansicht „unzweifelhaft römischen Ursprungs sind“. Für Junker ist „die Annahme nicht ausgeschlossen, dass die fragliche Stelle von den Römern zur Errichtung eines Denkmals an die Hermannsschlacht ausersehen sei.“ Der Redakteur konnte sich allerdings den in Klammern hinzugefügten Hinweis nicht verkneifen: „Obiges bringen wir unter allem Vorbehalt.“16 Vermutlich trugen Äußerungen wie diese dazu bei, das Bild von Karl Junker als eines am Rande der städtischen Gesellschaft lebenden Außenseiters zu verstärken. Am Ende seines Lebens lebte er sehr zurückgezogen in seinem Haus, im Alltag unterstützt und versorgt von Menschen in der Nachbarschaft. Er starb am 25. Januar 1912. Die Nachrufe, die in der Lippischen Post und in der Lippischen Landes-Zeitung erschienen, bestätigten das Bild des Außenseiters. So schrieb die Lippische Landes-Zeitung: „Mit ihm ist ein Mann verschieden, der in völliger Zurückgezogenheit lebte und nur seinen eigenen Ideen nachging. (…) Er verlies seine Wohnung nur zur Mittagszeit, um sein Mittagessen in einem Gasthause in der Stadt einzunehmen.“17 Allerdings war auch ein gewisser Stolz über das Werk des Künstlers erkennbar. So veröffentlichte die Lippische Post einen kurzen Bericht darüber, dass man „unsern alten guten Junker zur letzten Ruhestätte“ getragen hatte. Dies war verbunden mit der Würdigung seines Lebenswerkes als „eine(r)

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Modell für den Wettbewerb zur Errichtung des Marktbrunnens in Detmold, 1899

14 Bauakte Hamelner Straße 36, in: Information Bauamt, Bauaktenarchiv. Ausführlich hierzu: Güntzel, Jochen Georg: Der Architekturmaler Karl Junker und der Zimmermeister Heinrich Schirneker: Ihre Anteile an Bauplan und Modell des Hauses, in: Fritsch, Regina/Scheffler, Jürgen (Hg.), wie Anm. 3, S. 21–48. 15 Führer durch das Soolbad Salzuflen nebst Touren nach dem Lippischen Hügellande, dem Teutoburger Walde und Wesergebirge, Salzuflen 1895, S. 32. 16 Lippische Post Nr. 225 vom 25. September 1900. 17 Lippische Landes-Zeitung vom 28. Januar 1912.


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Jürgen Scheffler

Sehenswürdigkeit (…), die schon von vielen Tausenden von Fremden und Einheimischen besucht und bewundert wurde und fernerhin hoffentlich besucht werden kann.“18 Laut Nachlassaufstellung hinterließ Karl Junker seinen Verwandten eine Erbschaft in Höhe von 37.288 Mk, wobei der Wert des Gartengrundstücks mit Gebäude auf 10.350 Mk beziffert wurde. Darüber hinaus fanden sich „Wertpapiere und Forderungen einschl. Zinsen“ in Höhe von 25.967,11 Mk.19 Allerdings hatte die Erbschaft ein gerichtliches Nachspiel. Es entstand ein Streit zwischen den Verwandten und einer Familie aus der Nachbarschaft, die Junker versorgt hatte und sich nun auch einen Anteil des Nachlasses erhoffte. Schließlich ging der Streit aber zugunsten der Verwandten aus, worüber sogar in den lokalen Zeitungen berichtet wurde. 20

Nachlassaufstellung, Dezember 1912

18 Lippische Post vom 31. Januar 1912. 19 Nachlassaufstellung, in: Städtisches Museum Lemgo, Sammlung Karl Junker. 20 Vgl. Lippische Landes-Zeitung vom 20. Oktober 1912 und Lippische Nachrichten Nr. 127 vom 22. Oktober 1912. In beiden Artikeln wurde die Höhe des Nachlasses mit „zirka 45.000 Mk.“ bezeichnet. „Nächste und alleinige Erbin“ war die Ehefrau des Schuhmachermeisters August Junker in Schötmar. 21 Neue Secession, wie Anm. 8. Zur Ausstellung: Katerndahl, Jörg: Karl Junkers Werk als Quelle psychiatrischer Begutachtung nach dem Tode, in: Fritsch, Regina/Scheffler, Jürgen (Hg.), wie Anm. 3, S. 97/98. 22 Glaser, Curt: Freie und neue Sezession in Berlin, in: Kunstchronik. N.F., Bd. 25, 1913/14, Sp. 452–456. Der Cicerone, VI. Jg., 1914, S. 337.

Kunst und Wahn. Die posthume Entdeckung des Künstlers Karl Junker Erst nach seinem Tod wurde das Werk von Karl Junker entdeckt. Aus den Sammlungen des Berliner Ehepaares Paul und Marie Arndt sowie des Hannoveraner Galeristen Herbert von Garvens stammten die fünf Holzskulpturen und 50 Gemälde, Aquarelle und Zeichnungen, die in der sechsten Ausstellung der Berliner Neuen Secession im April/Mai 1914 gezeigt wurden. Junkers Werke bildeten einen thematischen Schwerpunkt der Ausstellung, die Gemälde von 23 zeitgenössischen Künstlern umfasste, darunter Raoul Dufy, Wilhelm Morgner und Karl Schmidt-Rottluff. Der Beitrag zum Katalog, der mit einem Zitat von Herbert von Garvens überschrieben war, würdigte das Junkerhaus als „merkwürdigen Tempel seiner Kunst“ und hob in den Werken Junkers „das Streben nach Entäußerlichung, nach Verinnerlichung, nach Primitivität des Ausdrucks“ hervor. Aus seinen Werken, „die schon etwa 20 Jahre alt sind“, spricht „der Geist, der die Bestrebungen der jüngsten Generation beseelt.“21 Während einige Rezensenten, wie Curt Glaser in der „Kunstchronik“, dem Tenor dieser Interpretation durchaus folgten, gab es auch Kritik an dem „Stil aus zweiter Hand“. 22 Im Katalog wurde Karl Junker als Sonderling und Einsiedler beschrieben, der die Öffentlichkeit gescheut hatte. Es war aber nicht die Rede von einer schizophrenen Erkrankung. Diese These wurde erst in den 1920er Jahren formuliert, als das Werk von Karl Junker in den Fokus der Fachöffentlichkeit von Sammlern und Psychiatern geriet. Zwar hatte der Kunstwissenschaftler


Der Künstler Karl Junker

Leben, Werk und Rezeption

und Psychiater Hans Prinzhorn in seinem wegweisenden Buch „Bildnerei der Geisteskranken“ Karl Junker keine Fallstudie gewidmet, aber er und Karl Wilmanns, der Klinikdirektor, erwarben Arbeiten von Junker für die Sammlung der Psychiatrischen Universitätsklinik in Heidelberg. Die Arbeiten stammten aus der Galerie von Herbert von Garvens. 23 In der Heidelberger Sammlung befanden sich ebenfalls Arbeiten von Hermann Behle, geboren 1867, der Patient in der Anstalt Lindenhaus in Brake bei Lemgo war. 24 Da Hans Prinzhorn Behle in seinem geplanten Buch „etwas eingehender“ behandeln wollte, bat Wilmanns den Direktor des Lindenhauses, Wilhelm Alter, um biografische Informationen. In seinem Brief erkundigte sich Wilmanns beiläufig auch nach Karl Junker, von dem sich ebenfalls „einige Stücke – teils im Original, teils in Photographien“ in der Sammlung befanden. Wilmanns war zu der Diagnose gelangt, es bei Karl Junker „mit einem Endzustand der Dementia praecox zu tun zu haben“, aber er hatte „bislang keine authentische Nachricht über ihn bekommen können“. In seinem Antwortschreiben vom 21. Dezember 1921 bestätigte Wilhelm Alter die Vermutung von Karl Wilmanns und fügte eine ausführliche Beschreibung hinzu: „Er war ein schizophrener Sonderling, der völlig menschenscheu für sich gehaust und sich lediglich seinen verschrobenen Schnitzereien und Zeichnungen gewidmet hat. Er hat sich ohne jede Bedienung geholfen, sein Haus durfte zeitweilig von keinem Menschen betreten, die Nahrungsmittel mussten ihm vor die Haustür gestellt werden. Er verließ sein Haus nur zur Zeit der Dunkelheit. Nicht ohne Interesse ist auch seine Vorgeschichte: war von Jugend auf malerisch begabt, machte dann eine unerwartete, größere Erbschaft, ging nach Italien und soll in Rom in deutschen Künstlerkreisen eine gewisse Rolle gespielt, aber schließlich ein schweres psychisches Trauma erlebt haben. Er kam dann als schroffer Menschenfeind zurück und entgleiste rasch in eine paranoide Schizophrenie. Einige seiner Arbeiten waren koloristisch von höchstem Rang; das Beste hat er am Ende seines Lebens vernichtet.“ Da im Gegensatz zu Hermann Behle keine Patientenakte von Karl Junker aus der Anstalt Lindenhaus überliefert ist, konnten Alters Äußerungen nicht auf einer Untersuchung beruhen. Sie verdeutlichen vielmehr, wie bereits wenige Jahre nach Junkers Tod Mythen und Legenden entstanden waren, die nun mit psychiatrischen Diagnosen verknüpft wurden. 25

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Patientenakten der Heilund Pflegeanstalt Lindenhaus: Hermann Behle (Landesarchiv Detmold)

23 Zumindest eine Arbeit von Karl Junker in der Prinzhorn-Sammlung trägt sogar die Aufschrift „Garvens, Hannover“. Zur Verbindung zwischen Hans Prinzhorn und Herbert von Garvens: Brand-Claussen, Bettina: Das „Museum für pathologische Kunst“ in Heidelberg. Von den Anfängen bis 1945, in: Wahnsinnige Schönheit. Prinzhorn-Sammlung, Heidelberg 1997, S. 15. Im Jahre 1932 erwarb die Heidelberger Klinik vier weitere Junker-Arbeiten vom Kunsthaus Karl v. d. Porten in Hannover. Die Arbeiten waren der Klinik vom Bürgermeister der Stadt Lemgo im Auftrag des Kunsthauses übersandt worden. Den Hinweis auf den Briefwechsel verdanke ich Sabine Hohnholz, Heidelberg. 24 Prinzhorn, Hans: Bildnerei der Geisteskranken. Ein Beitrag zur Psychologie und Psychopathologie der Gestaltung, Heidelberg/New York/ Tokyo 1983 (3. Auflage), S. 240–248. Wahnsinnige Schönheit, wie Anm. 23, S. 54–57. 25 Landesarchiv Nordrhein-Westfalen Ostwestfalen-Lippe, L 107 D Nr. 253. Den Hinweis auf die Korrespondenz zwischen Wilhelm Alter und Karl Junker in der Akte von Hermann Behle verdanke ich ebenfalls Sabine Hohnholz, Heidelberg.


14 26 Weygandt (Wilhelm): Die Staatskrankenanstalt Friedrichsberg und Psychiatrische Universitätsklinik Hamburg, Düsseldorf 1928, S. 53. Zur Konkurrenz zwischen Hans Prinzhorn und Wilhelm Weygandt beim Aufbau der Sammlungen (auch mit Blick auf Karl Junker): Brand-Claussen, Bettina: Häßlich, falsch, krank. „Irrenkunst“ und „irre“ Kunst zwischen Wilhelm Weygandt und Carl Schneider, in: Mundt, Christoph/Hohendorf, Gerrit/ Rotzoll, Maike (Hg.): Psychiatrische Forschung und NS-„Euthanasie“. Beiträge zur einer Gedenkveranstaltung an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg, Heidelberg 2001, S. 265–320. 27 Weber-Jasper, Eliabeth: Wilhelm Weygandt (1870–1939). Psychiatrie zwischen erkenntnistheoretischem Idealismus und Rassenhygiene, Husum 1996 (= Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, H. 76), S. 220. 28 Kreyenberg, Gerhard: Das Junkerhaus in Lemgo i. L. Ein Beitrag zur Bildnerei der Schizophrenen, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, Bd. 114, 1928, S. 152–172. Vgl. Katerndahl, Jörg, wie Anm. 11. sowie Ders.: „Bildnerei von Schiziophrenen“. Zur Problematik der Beziehungssetzung von Psyche und Kunst im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, Hildesheim/Zürich/New York 2005 (= Studien zur Kunstgeschichte, Bd. 167), S. 149–151. Wilhelm Weygandt war der Doktorvater von Gerhard Kreyenberg. 29 Enste, Walter: Irrsinn und Kunst. Das Junker-Haus in Lemgo in ärztlicher Betrachtung, in: Lippische Post vom 25. Januar 1941. Lippische LandesZeitung, Jg. 1952, Nr. 255. Dort heisst es: „Bürgermeister Kuhlmann, Dr. Karl Meier und Herr Warling standen den staunenden Besuchern, die gar nicht genug erfahren konnten, zu Erklärungen und Auskünften zur Verfügung. Ergebnis der Diagnose: Schizophrenie, aber das ist ein sehr nichtssagendes Wort, das die verschiedensten Ercheinungsformen umfaßt.“ 30 Behrends (Kurt): Skulpturelle Architektur eines schizophrenen Künstlers, in: SANDOZ (Hg.): Ungewöhnliche Materialien im künstlerischen Schaffen Schizophrener, Basel 1967 (= Psychopathologie und bildnerischer Ausdruck. Eine internationale ikonographische Sammlung, 12. Serie). Über das Junkerhaus referierte Kurt Behrends auf dem VII. Kolloquium der Société Internationale de Psychopathologie de l’Expression „Psychopathologie und Kunst“ am 26. bis 28. September 1969 in Linz. Den Hinweis verdanke ich der Galeristin Susanne

Jürgen Scheffler

Nicht nur die Psychiater Hans Prinzhorn und Karl Wilmanns in Heidelberg hatten Arbeiten von Karl Junker für ihre Sammlung erworben. Auch der Hamburger Psychiater Wilhelm Weygandt, der seine Sammlung in Konkurrenz zu Hans Prinzhorn aufbaute, hatte in seiner „Sammlung pathologischer Kunst“ in der Anstalt Friedrichsberg zahlreiche Arbeiten aus dem Junkerhaus, und zwar Gemälde, Skulpturen und einen Stuhl.26 Die Sammlung gilt heute als verschollen. Im Unterschied zu Hans Prinzhorn, von dem es keine Äusserung über Karl Junkers Biografie und Werk gibt, nahm Weygandt in Vorträgen und Aufsätzen Bezug auf Karl Junker, dessen Werk er in einem Vortrag vor dem „Deutschen Verein für Psychiatrie“ im Jahre 1928 als „die Entladungen des Schaffensdranges eines Schizoparanoiden“ interpretierte. 27 Im gleichen Jahr erschien der ausführliche Aufsatz des in Bethel und später an den Alsterdorfer Anstalten tätigen Psychiaters Gerhard Kreyenberg, eines Schülers von Wilhelm Weygandt, für den das Junkerhaus „zu dem Originellsten gehört, was um die Wende unseres Jahrhunderts an pathologischer Schnitzkunst und Ornamentik geschaffen worden ist.“ Für ihn litt Junker an einer „paranoide(n) Demenz“ und er kam zu dem Resümee: „Junker war kein Künstler, sondern ein Kranker, der schwer unter seiner Krankheit litt.“28 Die psychiatrische Rezeption prägte das Bild von Karl Junker in der Fachöffentlichkeit über Jahrzehnte. Mit großer Selbstverständlichkeit besichtigten Psychiater zu unterschiedlichen Zeiten und Anlässen das Haus, wie im Jahre 1941 der Psychiater Walter Enste und im Jahre 1952 ein Fortbildungskurs des Landeskrankenhauses Gütersloh.29 Auch die Wiederentdeckung des Junkerhauses in den späten 1960er Jahren vollzog sich im Zeichen der Psychiatrie. Der Arzt Kurt Behrends aus Düsseldorf war auf das Werk Junkers aufmerksam geworden und hatte in einer Publikation, einem Vortrag und einem Film Junkers Werk als das „eines schizophrenen Künstlers“ dargestellt, unter Berufung auf den Aufsatz von Kreyenberg. Allerdings beschränkte er sich nicht auf die psychiatrische Diagnose. Ohne den Begriff des Gesamtkunstwerkes zu erwähnen, sah er Junkers „einmalig(e)“ Leistung in dem „Versuch, unter Verwendung naturalistischer Elemente einen skulpturellen Architekturstil zu begründen“ und dabei „die Grenzen zwischen Plastik, Malerei und Architektur“ aufzuheben.30 Die Interpretation des Junkerhauses als Werk eines an Schizophrenie erkrankten Künstlers spielt in der Sekundärliteratur eine große Rolle. Hartmut Kraft hat Junkers Werk in seinem


Der Künstler Karl Junker

Leben, Werk und Rezeption

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Buch „Grenzgänger zwischen Kunst und Psychiatrie“ an prominenter Stelle diskutiert,31 und John MacGregor hat das Junkerhaus vor einigen Jahren in der Zeitschrift „Raw Vision“ als ein Beispiel „schizophrener Architektur“ interpretiert.32 Natürlich bleibt es wichtig festzuhalten, dass die Deutung von Karl Junker als eines an Schizophrenie erkrankten Künstlers nicht auf einer ärztlichen Untersuchung und einer sich darauf stützenden Diagnose beruhte, sondern zu den wesentlichen Aspekten der Rezeptionsgeschichte des Werkes gehört. Dennoch wird bis in die Gegenwart hinein die Frage nach einer möglichen schizophrenen Erkrankung aufgeworfen und zu beantworten versucht, nicht um sein künstlerisches Werk abzuwerten, sondern um es besser verstehen zu können.33

Titelblatt des ersten Führers zum Junkerhaus, 1929

Das Junkerhaus als Baudenkmal Während die Psychiatrie das Werk von Karl Junker seit den 1920er Jahren entdeckt hatte, tat sich die Denkmalpflege mit dem Erhalt des Hauses schwer. Die Bemühungen des Vereins Alt Lemgo um die Unterschutzstellung in den 1920er Jahren blieben ohne Erfolg. Nach Ansicht der lippischen Regierung in Detmold war das Haus „kein ernst zu nehmendes Kunstwerk“. Der Antrag, es in die Liste der Baudenkmäler aufzunehmen, war zwar von der Stadt Lemgo unterstützt worden, aber mit Blick auf die zu erwartenden Bauunterhaltungskosten wollte man selbst den Schutz nicht übernehmen. Die Stadt wies allerdings den Besitzer des Junkerhauses, den Schuhwarenfabrikanten Junker in Schötmar, darauf hin, „dass ein Verkauf, auch des Inhalts, unstatthaft ist.“34 In Lemgo war es vor allem der Verein Alt Lemgo und sein Vorsitzender, der Gymnasiallehrer Karl Meier, die sich um den Erhalt des Hauses und des Werkes von Karl Junker kümmerten. Karl Meier hatte in seinem 1927 veröffentlichten Buch „Das schöne alte Lemgo“ dem Junkerhaus ein eigenes Kapitel gewidmet. Eine erweiterte Form dieses Kapitels veröffentlichte er als eigenständige Schrift unter dem Titel „Das Junkerhaus und sein Schöpfer“. Er porträtierte Junker als einen zurückgezogen lebenden, unermüdlich tätigen Künstler, über dessen künstlerische Vorstellungen und Ziele kaum etwas bekannt war. „Als junger Mann von etwa 30 Jahren kehrte Junker in seine Heimatstadt zurück. Mit welchen Plänen? Welchen Lebenszielen? Wir wissen es nicht.“ Er stellte die verfügbaren biografischen Informationen zusammen, wobei er auch auf die mündlichen

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Zander, Köln. Schließlich war er Autor des Films „Imaginäre Behausungen“. Kurt Behrends übernahm im Zuge seiner Besuche im Junkerhaus einige Arbeiten von Karl Junker in seine private Sammlung. Aus seinem Besitz gelangte später eine Reihe von Objekten auf den Kunstmarkt und danach in andere Sammlungen. Jagfeld, Monika: „nach hundert Jahren wird man erkennen, was ich war“. Eine Holzskulptur von Karl Junker (1850–1912), in: Röske, Thomas/Brand-Claussen, Bettina/Dammann, Gerhard (Hg.): wahnsinn sammeln. Outsider Art aus der Sammlung Dammann, Heidelberg 2006, S. 168. Kraft, Hartmut: Grenzgänger zwischen Kunst und Psychiatrie, Köln 2005 (3. Auflage), S. 21–28. MacGregor, John: Junker House. The Architecture of Madness, in: Raw Vision, Jg. 2002, Nr. 41, S. 48–57. Kraft, Hartmut: Karl Junker war schizophren. Ja und? In: Weinhart, Martina/Hollein, Max (Hg.): Weltenwandler. Die Kunst der Outsider, Ostfildern 2010, S. 129. Vgl. auch Ders.: Haus = Person. Anmerkungen zu einer Psychologie des Hauses als Bildthema, in: Kunstforum international, Bd. 182, 2006, S. 75–89. Schreiben der Lippischen Regierung, Abteilung des Inneren, an den Magistrat der Stadt Lemgo vom 16. Dezember 1927 sowie Protokoll der Magistratssitzung vom 2. Januar 1928, in: Stadtarchiv Lemgo, Verwaltungsarchiv, Kulturamt, 41.37.01. Vgl. auch Scheffler, Jürgen: Lemgo und das Junkerhaus: Heimatbewegung, Denkmalpflege, Kommunalpolitik und Tourismus, in: Fritsch, Regina/ Scheffler, Jürgen (Hg.), wie Anm. 3, S. 114/115.


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Giebelansicht mit Belvedere, um 1920

Junkerhaus mit Nebengebäuden (Laubengang), um 1900

35 Meier-Lemgo, Karl, wie Anm. 9, S. 92. 36 Ebd., S. 93. 37 Ders.: Das Junkerhaus und sein Schöpfer, Lemgo 1929, S. 16. 38 Steinecke, Walter: Junkerhaus. Aus dem Haus einer suchenden Seele, Lemgo 1924.

Jürgen Scheffler

Überlieferungen vor Ort zurückgriff. So war es Karl Meier, der die Äußerung Karl Junkers gegenüber „einem Jugendfreunde“ festhielt: „Ich werde einen neuen Stil erfinden. Man wird mich vielleicht nicht gleich verstehen. Es wird mir ergehen, wie Richard Wagner und seiner Musik. Aber später, nach 50, vielleicht nach 100 Jahren wird man erkennen, was ich war.“35 Wer allerdings dieser Jugendfreund von Karl Junker war und wie authentisch die von ihm in Anführungszeichen gesetzten Äußerungen waren, teilte Karl Meier ebenso wenig mit wie die Quellen für andere von ihm aufgezeichnete Überlieferungen. Zwar deutete Karl Meier in seinem Text seine Kenntnis der psychiatrischen Diskussion an, aber diese Deutung war für ihn kein Kriterium für eine mögliche Aberkennung des künstlerischen Wertes der Arbeiten von Karl Junker. „Das Werk Junkers ist das Werk eines Psychopathen. Es darum abzulehnen, wäre lächerlich. Denn daß Genie und Wahnsinn eng benachbart wohnen, ist heute eine Binsenwahrheit. Wir wollen Junker nicht als großes Genie aufbauschen. Das war er nicht. Auch sein Größenwahn ist ein Symptom geistiger Abnormität. Aber sein Werk ist und bleibt hoher Beachtung würdig, als das Dokument eines einzigartigen Menschen, mit Zügen stärkster, stilbildender Schaffenskraft.“36 Auch als sich Meier in einer zweiten Fassung explizit auf den Aufsatz von Kreyenberg bezog, sah er in der psychiatrischen Deutung von Junkers Biografie „keine Herabsetzung seiner Leistung“. Am Schluss seiner Arbeit bedauerte er vor allem den drohenden „Verfall“ des Junkerhauses, „das als Gesamtlebensäußerung eines ausdrucksstarken Künstlers und als Dokument eines tragischen Menschenschicksals verdiente, erhalten und gepflegt zu werden.“37 Entgegen der Befürchtung von Karl Meier blieb das Junkerhaus in seiner äußeren und inneren Gestaltung weitgehend unverändert erhalten. Allerdings ging eine Reihe der Dachaufbauten verloren, und der Laubengang sowie die auf frühen Postkarten abgebildeten Nebengebäude verschwanden vollständig. Die Jahre der NS-Herrschaft überstand das Haus, das sich im Besitz der Erben befand, unbeschadet. Der Künstler und Grafiker Walter Steinecke, der im Jahre 1924 eine Mappe über das Junkerhaus veröffentlicht hatte, gehörte als Gauamtsleiter des NS-Gaues Westfalen-Nord zu den einflussreichsten Repräsentanten der NSDAP auf lokaler und regionaler Ebene.38 Vielleicht hat er im Hintergrund mit dazu beigetragen, das Haus zu erhalten. Begehrlichkeiten enstanden dagegen in den frühen Nachkriegsjahren. Es gab eine Reihe von Anfragen


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an die Stadtverwaltung von Flüchtlingen und Vertriebenen, die auf der Suche nach einer Wohnung oder einem Haus waren und von dem unbewohnten Junkerhaus gehört hatten. Aber die Erben verzichteten darauf, das Haus zu vermieten oder gar zu verkaufen, und bewahrten es damit vor Eingriffen durch neue Bewohner. Das „Gespensterhaus“: Das Junkerhaus als Kuriosum und Sehenswürdigkeit In den Nachkriegsjahren gewann das Junkerhaus plötzlich einen überraschenden Bekanntheitsgrad. In zahlreichen Zeitungen erschienen Artikel über das „Gespensterhaus“.39 Auch in einem Faltblatt, das in den 1950er Jahren vom Städtischen Verkehrsund Reisebüro herausgegeben worden war, wurde der Aspekt der „Gespenster“ betont: „grinsende Fratzen an Decken und Wänden, Schlangen, Drachen und anderes Urweltgetier.“40 Dort wurde konstatiert, das Junkerhaus sei eine „Kuriosität und nur als solche sehenswert“. 41 Einige Jahre lang wurde auch der Grabstein im Garten des Hauses aufgestellt, wodurch der Eindruck entstand, Junker sei auf seinem Grundstück beerdigt worden. Dies verstärkte noch den Eindruck des Kuriosums.42 Vor allem aber rückte die Geschichte der „unerfüllten Liebe“ in den Vordergrund der Präsentation. In den 1970er Jahren wurde diese Deutung gleichsam offiziell, denn vor dem Haus wurde ein Schild mit dem Text „Denkmal eines unglücklich Liebenden“ aufgestellt. Mit 15.000 Besuchern im Jahre 1956 gehörte das Junkerhaus zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt. Trotz zahlreicher Bedenken in der Kommunalpolitik übernahm die Stadt in den Jahren 1958 bis 1960 das Haus in städtischen Besitz. Zwar wurden in den folgenden Jahren die Mittel für dringend notwendige Reparaturen bereitgestellt, aber die Regelungen für die Betreuung und die Aufsicht bestanden weitgehend unverändert fort. Viele Besucherinnen und Besucher holten sich den Schlüssel bei dem Aufsicht führenden Ehepaar und gingen dann allein durch das Haus. Der künstlerische Nachlass von Karl Junker lag – wie von Junker hinterlassen – weitgehend ungeschützt im Haus. Manche Arbeit fand ihren Liebhaber, manchmal aus dem Wunsch heraus, ein Werk, das in seinem Erhalt bedroht zu sein schien, wenigstens in einem Einzelstück zu bewahren. Dieser Zustand währte mehr als zehn Jahre, bis im Jahre 1971 der Verein Alt Lemgo sich bereit erklärte, „die

Radierung von Walter Steinecke, 1924

39 Die Zeitungsartikel trugen Überschriften wie „Gespensterhaus in Lemgo“, „Das seltsamste Haus auf der Erde“ und „Tausend dämonische Fratzen. Das unheimliche Haus“. Sie erschienen im Jahre 1952/53 u. a. im Hamburger Abendblatt und in der Münchner Illustrierten. 40 Alte Hansestadt Lemgo. Junkerhaus in Lemgo, Lemgo o. J. (um 1957). 41 Ebd. 42 Das Hinweisschild wurde im Jahre 1977 entfernt. Der Hinweis auf die Grabstätte auf dem Grundstück fand sogar Eingang in das wichtigste Handbuch zu den Bau- und Kunstdenkmälern der Stadt. Vgl. Gaul, Otto/Korn, Ulf-Dietrich: Stadt Lemgo, Münster 1983 (= Bau- und Kunstdenkmäler von Westfalen, Bd. 49/Teil I), S. 945.


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Jürgen Scheffler

erdrückende Vielzahl von Stelen, verstaubten Gemälden und nicht zum Wohnhaus passendem Schnitzwerk“ aus dem Haus auszuräumen und an einem sicheren Ort aufzubewahren.43 Der lange Weg zum Kunstmuseum: Instandsetzung, Erweiterung und Neueröffnung

Wolfram Bangen, Restaurator, bei der Arbeit im Junkerhaus, 2003/2004

43 Scheffler, Jürgen, wie Anm. 34, S. 120/121. 44 Zu den Ergebnissen Pietsch, Annik: Karl Junker: Ein Moderner in der Tradition – Ergebnisse einer kunsttechnologischen Untersuchung, in: Fritsch, Regina/Scheffler, Jürgen (Hg.), wie Anm. 3, S. 77–91. Das Restaurierungsgutachten war von der STAFF Stiftung Lemgo finanziell gefördert worden. 45 Bangen, Wolfram/Grote, Norbert: Das Junkerhaus in Lemgo. Ein begehbares Kunstwerk, in: VDR Beiträge zur Erhaltung von Kunst- und Kulturgut, H. 2/2010, S. 27–40.

Die Aktion des Vereins Alt Lemgo war der Beginn der Sicherung und Bewahrung des Nachlasses. Im Jahre 1981 ging das Haus in die fachliche Zuständigkeit des neu eingerichteten städtischen Archiv- und Museumsamtes über. Mit Unterstützung und finanzieller Förderung des Westfälischen Museumsamtes in Münster wurden die Gemälde, Skulpturen und Zeichnungen inventarisiert. Auch erste Restaurierungsmaßnahmen wurden durchgeführt. Die Diskussion über die notwendigen Maßnahmen zur dauerhaften Instandsetzung und Restaurierung des Hauses dauerten mehr als 15 Jahre. Die Eintragung des Junkerhauses in die Denkmalliste der Stadt Lemgo erfolgte erst im Jahre 1991. Im Jahre 1998 fand ein interdisziplinäres Symposium statt, bei dem Museumswissenschaftler, Kunsthistoriker, Denkmalpfleger, Restauratoren sowie Verantwortliche der Stadt Lemgo die Möglichkeiten der Erhaltung des Junkerhauses und der Präsentation des künstlerischen Nachlasses von Karl Junker diskutierten. Zeitgleich konnte ein Restaurierungsgutachten in Auftrag gegeben werden, das mit einer kunsttechnologischen Untersuchung verbunden war.44 Auf der Grundlage des Gutachtens der Zentralen Restaurierungswerkstatt des Westfälischen Museumsamtes wurde der Förderantrag über den Verein Alt Lemgo an die Nordrhein-Westfalen-Stiftung gestellt. Die Nordrhein-Westfalen-Stiftung bewilligte die Förderung und stellte im April 2001 dem Verein Alt Lemgo die Summe von bis zu 1 Mio. DM für die „Sanierung und Erweiterung der musealen Nutzung des Junkerhauses in Lemgo“ zur Verfügung. In enger Zusammenarbeit zwischen dem Verein, der Stadt Lemgo, dem Westfälischen Museumsamt, dem Amt für Denkmalpflege und der Nordrhein-Westfalen-Stiftung wurden die Restaurierungsmaßnahmen in den Jahren 2001 bis 2004 durchgeführt, und zwar von den Mitarbeitern der Zentralen Restaurierungswerkstatt des Westfälischen Museumsamtes.45 Parallel dazu entstand ein moderner Museumsanbau hinter dem Junkerhaus (Entwurf: Reinhard Schwakenberg, Lemgo), der durch einen überdachten Glasgang mit dem Junkerhaus verbunden ist. Das neue Museum Junkerhaus wurde am 7. September 2004 eröff-


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net. Mit dem Foyer und der Ausstellungshalle wurden die Voraussetzungen geschaffen, das umfangreiche künstlerische Werk von Karl Junker – die Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen, Modelle und Möbel – nun in unmittelbarer räumlicher Nachbarschaft zum Junkerhaus zeigen zu können.46 Grenzgänger und Weltenwandler: Karl Junker in Sammlungen und Ausstellungen Sieht man einmal von Herbert von Garvens ab, so nahm die Kunstszene das Werk von Karl Junker erst viele Jahrzehnte nach dessen Tod zur Kenntnis. In der lokalen Überlieferung wurde das Bild eines gescheiterten Künstlers gezeichnet. Karl Meier schrieb unter Bezug auf die mündliche Überlieferung, Junker sei „einmal mit einer großen Kiste voll eigener Schöpfungen nach Berlin“ gereist, um dort auszustellen. „Aber kleinlaut kam Junker zurück.“ 47 Weder in Lemgo und Detmold noch in anderen Städten gab es Ausstellungen mit seinen Werken oder Käufer und Sammler seiner Arbeiten.48 Aus den wenigen erhaltenen Briefen ist nicht zu ersehen, ob das Sammlerehepaar Paul und Marie Arndt und der Galerist Herbert von Garvens, aus deren Besitz die Leihgaben für die Ausstellung der Neuen Secession 1913/14 kamen, unmittelbaren Kontakt zu Karl Junker hatten oder ob sie die Arbeiten von den Erben erworben haben. Neben den Werken in den bereits erwähnten Sammlungen „pathologischer Kunst“ in Heidelberg und Hamburg gab es auch Arbeiten von Karl Junker in einer bislang nicht identifizierten Privatsammlung. Gerhard Kreyenberg schrieb in seinem Aufsatz, er habe „bei einem Bücherrevisor in Magdeburg eine Unmenge Junkerscher Sachen, die dorthin verkauft wurden“, entdeckt. „In einem Schranke fand ich hier ein schönes Selbstbildnis Junkers aus früherer Zeit.“49 Dieser Schrank p S. 4/5 sowie zwei Stühle befinden sich heute im Kreismuseum Genthin. Was Ausstellungsbemühungen nach dem Zweiten Weltkrieg anbetrifft, so gibt es zwar mündliche Überlieferungen, dass einige Arbeiten von Karl Junker im Rahmen der Documenta ausgestellt werden sollten, aber Quellenbelege in der städtischen Aktenüberlieferung liegen dafür nicht vor.50 Vermutlich wäre an die Documenta 5 zu denken, in der Harald Szeemann Arbeiten aus dem Bereich der Art Brut gezeigt hat. Die Wiederentdeckung des künstlerischen Werkes von Karl Junker begann damit erst mit den beiden Ausstellungen, die der Psychologe Wilhelm Salber im Jahre 1978 in der Sparkasse Lemgo und

Stuhl mit Ornamenten und Figuren (Kreismuseum Genthin)

46 Fritsch, Regina: Junkerhaus Lemgo, Detmold 2004 (= Lippische Kulturlandschaften, H. 1). 47 Meier, wie Anm. 37, S. 13. 48 Scheffler, Jürgen, wie Anm. 34, S. 113. 49 Kreyenberg, Gerhard, wie Anm. 28, S. 170. Den Hinweis auf die Objekte verdanke ich Antonia Beran, Leiterin des Kreismuseums Genthin. 50 Der mittlerweile verstorbene frühere Leiter des städtischen Hochbauamtes in Lemgo, Gerhard Pohl, hat dem Verfasser davon erzählt. Quellenbelege in der städtischen Aktenüberlieferung für diese Erzählung konnten bislang nicht ermittelt werden.


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„Die Gertrudenklause bei Lemgo, gem. von Karl Junker“, Öl auf Holz, o. J.

51 Salber, Wilhelm: Drehfiguren. Karl Junker: Maler, Architekt, Bildhauer, Lemgo 1978. Karl Junker. Faltblatt zur Ausstellung im Kölnischen Kunstverein, 20. Oktober – 3. Dezember 1978. 52 Müller, Renate: Untersuchungen zur Biographie Karl Junkers (1850–1912). Schriftliche Arbeit zur DiplomVorprüfung im Fach Psychologie der Universität zu Köln, Köln 1977. 53 Gorsen, Peter: Karl Junker, 1850– 1912. Das Haus in Lemgo, in: Brugger, Ingried/Gorsen, Peter/Schröder, Klaus Albrecht (Hg.): Kunst & Wahn. Wien/Köln 1997, S. 283-289. 54 Kellein, Thomas (Hg.): 10.01. Kunst in Ostwestfalen-Lippe, Bielefeld 1998, S. 30. 55 Museum De Stadshof Zwolle: Bruggen slaan, Zwolle 2000, S. 32/33. The Slovak National Gallery: insita. 8th Triennal of Self-Taught Art, Bratislava 2007, S. 34–35. MARTa Herford: Loss of Control. Grenzgänger zur Kunst von Félicien Rops bis heute, Herford 2010, S. 240-243. 56 Kraft, Hartmut, wie Anm. 33, S. 116–125. Vgl. auch seinen Beitrag im vorliegenden Band.

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im Kölnischen Kunstverein initiierte.51 Der Ausstellung vorausgegangen war ein Studienprojekt, das Wilhelm Salber mit Studierenden durchgeführt hatte. In diesem Rahmen wurden Interviews mit älteren Lemgoer Bürgerinnen und Bürgern geführt, die über ihre Erinnerung an Karl Junker und Besuche im Junkerhaus berichteten.52 Die Kölner Ausstellung fand eine überraschend große Resonanz in den Medien. Nach dem Ende der Ausstellungen versank das Werk allerdings wieder im Dornröschenschlaf. Die in Lemgo diskutierten Überlegungen für ein Junkermuseum ließen sich zur damaligen Zeit nicht realisieren. In den 1990er Jahren wuchs das überregionale Interesse für das Werk von Karl Junker. Im Jahre 1997 wurden Gemälde, Skulpturen und das Modell des Junkerhauses in der Ausstellung „Kunst & Wahn“ im Kunstforum Wien gezeigt. 53 1998/99 waren Arbeiten in der Ausstellung „10.01. Kunst in Ostwestfalen-Lippe“ der Kunsthalle Bielefeld zu sehen. Thomas Kellein, Kurator der Ausstellung, sprach im Katalogtext mit Blick auf das Gemälde „Die Altäre der 12 Götter bei Asendorf“ gar von einem „revolutionären Bild“. p 4.U.S. Denn „Junker hat für seine Götter eine weiße, gipsartige Stereotype entwickelt, die Skulpturen von Brancusi, Arp oder Georgia O’ Keefe vorwegzunehmen scheint.“54 Weitere Ausstellungen, in denen Arbeiten von Junker gezeigt wurden, gab es im Museum De Stadshof Zwolle (Bruggen slaan, 2000), in der Prinzhorn-Sammlung Heidelberg (wahnsinn sammeln, 2006), in der Slowakischen Nationalgalerie Bratislava (INSITA 2007), in der Kunststätte Bossard in Jesteburg („Ein Kuriosum in der Kunstgeschichte: Karl Junker“, ebenfalls 2007) und im Museum MARTa Herford (2008/2009).55 Die Ausstellung „Loss of Control. Grenzgänge zur Kunst von Félicien Rops bis heute“, die von Jan Hoet kuratiert wurde, führte zur Wiederentdeckung einer erstaunlichen Verbindung. Denn bereits Herbert von Garvens hatte in seiner Galerie neben den Arbeiten von James Ensor, um dessen Werk er sich besonders bemühte, sowohl Arbeiten von Félicien Rops als auch von Karl Junker ausgestellt. p S. 90 Im Herbst/Winter 2010/2011 wurden schließlich mehr als 25 Arbeiten von Karl Junker in der Ausstellung „Weltenwandler. Die Kunst der Outsider“ in der Schirn Kunsthalle Frankfurt gezeigt.56 Karl Junker und die Outsider Art Die Mehrzahl der Ausstellungen, in denen Werke von Karl Junker zu sehen waren, zeigten Arbeiten von Künstlerinnen und Künst-


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lern, die der Outsider Art zugerechnet werden. Seit mehr als 30 Jahren wird das Werk von Karl Junker vor allem von ausländischen Kunstwissenschaftlern in den Kontext der Outsider Art gestellt. Bereits in der schwedischen Publikation „Särlingar i konsten“ (Außenseiter in der Kunst) aus dem Jahre 1978 ist neben dem Palais Idéal von Fernand Cheval, dem Maison Picassiette von Raymond Isidore und dem Werk von Adolf Wölfli auch das Junkerhaus in Bild und Text vorgestellt worden.57 Roger Cardinal hat das Haus jüngst als „the most significant example of Outsider Architecture in Germany“ bezeichnet.58 Und der amerikanische Kunsthistoriker John MacGregor sieht in Junkers Arbeiten „ein Werk von internationaler künstlerischer Bedeutung, einzigartig im Kontext der Weltarchitektur und ein Meisterwerk der Outsider Art.”59 Auch Leonhard Emmerling hat sich in einem Beitrag, in dem er den obsessiven Gestaltungswillen Junkers in den Mittelpunkt stellte, für die Zuordnung des Junkerhauses zur Art Brut ausgesprochen.60 Neben diesen dezidierten Zuordnungen des Werkes von Karl Junker zur Outsider Art gibt es auch abwägendere Darstellungen, wie die der Kuratorin Monika Jagfeld, die zur Zurückhaltung gegenüber der „Parallelisierung zu Projekten von Outsider-Künstlern wie Ferdinand Cheval, Robert Tatin oder Richard Greaves“ gemahnt hat.61 Jüngst hat Caroline Mischer eine explizite Gegenposition bezogen und konstatiert, dass sich „Karl Junker definitiv nicht als Art Brut-Künstler bezeichnen lässt“. Sie verweist in ihrer Argumentation darauf, dass weder das Kriterium der fehlenden künstlerischen oder handwerklichen Ausbildung noch das Kriterium des in Isolation erschaffenen Werkes auf Karl Junkers Werk zutreffe.62 Eckart Bergmann hat für die architektur- und kunsthistorische Einordnung des Junkerhauses die Begriffe „Künstlerhaus und Gesamtkunstwerk“ vorgeschlagen. 63 Bettina Rudhof hat in ihrem Beitrag über das Junkerhaus als Künstlerhaus zwar den Vergleich zum Palais Idéal von Ferdinand Cheval und zur Kapelle Güell von Antoni Gaudí gezogen, aber darauf verzichtet, das Werk in den Kontext der Outsider Art zu stellen. Vielmehr deutet sie Chevals Palais und das Junkerhaus als Ausdruck einer „wahlverwandten Traumwelt“. Die Raumschöpfung von Karl Junker, der „vieles zu früh vollzog“, verweist für sie auf die künstlerische Avantgarde des 20. Jahrhunderts.64 Dennoch zeigen die Ausstellungen „Loss of Control“ und „Weltenwandler“, dass jenseits aller begrifflichen Auseinandersetzung die Herausforderung bleibt, die Außenseiterstellung

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Ohne Titel, Öl auf Holz, o.J. 57 Kjellgren, Thomas/Nordgren, Sune: Junkerhaus, in: Särlingar i Konsten. Kalejdoskop, Nr. 4 & 5, 1978, S. 36-39. 58 Cardinal, Roger: Karl Junker, in: The Slovak National Gallery, wie Anm. 55, S. 34. 59 MacGregor, John M.: Karl Junker: Das Unheimliche als Haus, in: Fritsch, Regina/Scheffler, Jürgen (Hg.), wie Anm. 3, S. 220/221. 60 Emmerling, Leonhard: Obsessives Ornament. Das Junker-Haus in Lemgo als ein Werk der Art Brut, in: archithese. Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur, Jg. 2001, H. 6, S. 48–53. 61 Jagfeld, Monika, wie Anm. 30, S. 170. 62 Mischer, Carolin: Das Junkerhaus in Lemgo und der Künstler Karl Junker. Künstlerisches Manifest oder Außenseiterkunst? Köln 2011 (= Paderborner Beiträge zur Geschichte, Bd. 17), S. 81. 63 Bergmann, Eckart: Das Junkerhaus als Künstlerhaus und Gesamtkunstwerk, in: Fritsch, Regina/Scheffler, Jürgen (Hg.), wie Anm. 3, S. 127: „Das Junkerhaus ist keinesfalls das Werk eines gestörten Sonderlings, es verarbeitet vielmehr in vielfältiger Weise traditionelle und innovative künstlerische Strömungen der Zeit und erscheint eingebettet in den Historismus und den Aufbruch der Moderne im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts.“ Ders.: Kunst-Haus: Das Junkerhaus in Lemgo 1898 (!)–1912, in: Alexianer Krankenhaus Münster (Hg): Freies Atelier und Kunsttherapie in der Psychiatrie. Aktuelle Konzepte im Vergleich, Münster 2001, S. 33–40. 64 Rudhof, Bettina: Bauen wie im Traum – das Junkerhaus in Lemgo. Ein Beitrag zur Geschichte der Künstlerhäuser, Brakel/Detmold 2010 (= Wege zur Architektur, Bd. 7).


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65 Jadí, Inge: Der Andere, in: Fritsch, Regina/Scheffler, Jürgen (Hg.), wie Anm. 3, S. 190. 66 Fol, Carine: Loss of Control. Von der Hysterie zur Dreamachine, in: MARTa Herford, wie Anm. 55, S. 120–134. 67 Zu einer vergleichenden Betrachtung des neuen Museums Junkerhaus: Otto, Anke: Zur strukturellen Entwicklung von Künstlerhäusern in Norddeutschland, in: Dröge, Kurt/ Hoffmann, Detlef (Hg.): Museum revisited. Transdisziplinäre Perspektiven auf eine Institution im Wandel, Bielefeld 2010, S. 295–302. 68 Pfeiffer, Götz J.: „… lohnt es sich allein um Junkers willen …“ Kunsthistorische Studie zu 53 Wand- und Decken-Bildfeldern des Junkerhauses, zu 16 Tafelbildern und zu einem Leinwandgemälde des Lemgoer Künstlers Karl Junker. Unv. Manuskript, Frankfurt 2002. Ders.: „Deine Seele …, die sich in den Irrgängen phantastischer Paläste zurechtfand“. Kunsthistorische Studie mit Katalog zu 99 Wand- und Decken-Bildfeldern in sechs Räumen des Junkerhauses in Lemgo sowie zu einem Leinwandgemälde und drei Tafelbildern Karl Junkers (1850–1912). Unv. Manuskript, Frankfurt 2006/2007. Daraus hervorgegangen ist der Aufsatz: Ders.: Orpheus in der Unterwelt bei Karl Junker (1850–1912). Der Künstler und seine Werke zwischen Fatum und Fama, in: Rosenland. Zeitschrift für lippische Geschichte, H. 2, 2005, S. 19–37 (www.rosenland-lippe.de). 69 Mittlerweile liegen zwei Arbeiten vor, deren Autorinnen Ideen für museumspädagogische Angebote entwickelt und erprobt haben. Dudei, Nina: Das Junkerhaus in Lemgo – Museumspädagogische Aspekte. Schriftliche Hausarbeit vorgelegt im Rahmen der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Grund-, Haupt-, Real- und Gesamtschulen mit dem Schwerpunkt Grundschule in Kunst/Gestalten, Universität Paderborn 2009. Rählert, Franziska: Schau genau hin! Was ist in diesen Ornamenten drin? Konzept zur Förderung der Wahrnehmung und Deutung von künstlerischen Objekten am Beispiel des Lemgoer Junkerhaus. Schriftliche Hausarbeit im Rahmen der Zweiten Staatsprüfung für das Lehramt für die Primarstufe, Detmold/Lemgo 2010. 70 Zuletzt: AD. Architectural Digest, Februar 2009. Bauwelt, 37.10, 2010. Vgl. auch Scheffler, Jürgen: On Solid Ground, in: The Outsider, Vol. 9, 2004, Nr. 1, S. 20–24.

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des Künstlers Karl Junker und seine ungewöhnliche Raumschöpfung zu reflektieren. Inge Jadí, die langjährige Kuratorin der Prinzhorn-Sammlung, hat dafür plädiert, sich von der „eigensinnige(n) Welt Junkers“ und dem „fremden Sinn“, mit dem man beim Besuch im Junkerhaus konfrontiert wird, berühren zu lassen und bei der Erforschung des Werkes auf die Einbeziehung „hermeneutisch orientierte(r) psychologische(r) bzw. psychopathologische(r) Zugangsweise(n)“ nicht zu verzichten.65 Mit Blick auf den Status der Outsider Art, die mittlerweile den Weg zur offiziellen Anerkennung gefunden hat, wie nicht zuletzt die genannten Ausstellungen zeigen, plädiert die Kuratorin Carine Fol in ihrem Beitrag für den Katalog der Ausstellung „Loss of Control“ dafür, „die Grenzen der Art Brut auf(zu)brechen“. Aus einer solchen Perspektive heraus würden auch neue Formen der Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Werk von Karl Junker entstehen können, im Spannungsfeld „zwischen offizieller Kunst und Außenseiterkunst“.66 Die Neueröffnung des Museums Junkerhaus und die Vortragsreihe in den Jahren 2006–2010 Mit der Eröffnung des Museums Junkerhaus im Jahre 2004 kam der langjährige Prozess der Musealisierung zum Abschluss.67 Die grundlegende Instandsetzung des Hauses ist beendet, aber die Arbeiten zur Bewahrung des Werkes, die Bauunterhaltung und die präventive Konservierung müssen fortgesetzt werden. Auch nach der Eröffnung wurden Gemälde und Skulpturen mit finanzieller Förderung der Nordrhein-Westfalen-Stiftung, des LWL-Museumsamtes und des Landes Nordrhein-Westfalen (im Rahmen der Restaurierungsprogramms Bildende Kunst) restauriert. Im Junkerhaus selbst wurden im Rahmen von Werkverträgen die Wand- und Deckengemälde inventarisiert.68 Auch die museumspädagogische Arbeit konnte intensiviert werden, nicht zuletzt auf Grund von Anregungen, die aus der Zusammenarbeit mit Universitäten und Schulen resultierten.69 In zahlreichen Zeitschriften ist in den vergangenen Jahren über das Museum Junkerhaus berichtet worden.70 Auch international weist das Haus einen hohen Bekanntheitsgrad auf. Um nur wenige Beispiele anzuführen: Noch vor der Neueröffnung hat der japanische Künstler Yoshitomo Nara zusammen mit einem Team von Redakteuren und einem Fotografen das Junkerhaus im Jahre 2004 besucht. Ein Foto der Bildreportage, die über seinen Besuch entstand, ist als Titelbild einer japanischen Ausgabe


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des „Esquire“-Magazins veröffentlicht worden. In den Jahren 2006 und 2008 haben Studierende des Chicagoer School of the Art Institutes das Haus im Rahmen einer Studienreise zu Orten der Outsider Art in Deutschland, Österreich und der Schweiz besucht und in einem Workshop über die Zuordnung des Junkerhauses zur Outsider Art sowie über die Restaurierungserfahrungen diskutiert. Ein besonderer Höhepunkt der Öffentlichkeitsarbeit war die Einbeziehung des Junkerhauses in die „Rede zur Architektur“, die 2010 im Rahmen des ostwestfälischlippischen Literatur- und Musikfestes „Wege durch das Land“ stattfand. Unter dem Titel „Bauen wie im Traum“ ging es um die Geschichte der Künstlerhäuser, wobei ein Schwerpunkt auf das Junkerhaus einerseits und das Steinhaus des österreichischen Architekten Günther Domenig andererseits gelegt wurde, und es bestand die Möglichkeit, im Rahmen der Veranstaltung das Junkerhaus zu besichtigen.71 Im Jahre 2005 wurde die Vortragsreihe des Arbeitskreises Karl Junker gestartet. Sie begann mit einer Lesung des aus Lemgo stammenden Schriftstellers Eckart Kleßmann aus seinen damals noch unveröffentlichten Kindheits- und Jugenderinnerungen, in denen er auch über seine Besuche im Junkerhaus berichtete.72 Dem folgten Vorträge der Historikerin Ines Katenhusen (Universität Hannover), des Neurologen, Psychoanalytikers und Sammlers Hartmut Kraft (Köln), des Kunsthistorikers und Literaturwissenschaftlers Roger Cardinal (Universität Canterbury, England), des Kunsthistorikers Götz J. Pfeiffer (Frankfurt/Kassel), des Kunsthistorikers Thomas Dann (Detmold) und der Literaturwissenschaftlerin Anne-Kathrin Wielgosz (Walsh University Ohio, USA). In den Vorträgen wurden sowohl neue Forschungsergebnisse zum Werk von Karl Junker vorgestellt als auch Fragen der kunstwissenschaftlichen Einordnung seines Werkes – zum Teil kontrovers – diskutiert. In den vergangenen Jahren wurde vielfach der Wunsch nach einer Druckfassung der Vorträge geäußert. In diesem Band werden fünf Vorträge in einer für den Druck überarbeiteten Fassung veröffentlicht. Die Beiträge verdeutlichen, wie vielfältig die Fragen sind, die das Werk von Karl Junker aufwirft, und wie unterschiedlich die Antworten ausfallen, die im In- und Ausland darauf gegeben werden. Der Arbeitskreis Karl Junker wird die Diskussion fortsetzen. Seit Beginn der Zusammenarbeit zwischen dem Städtischen Museum und dem Verein Alt Lemgo hat Karl Schölpert, langjähriges Vorstandsmitglied des Vereins, den Arbeitskreis Karl Junker geleitet und geprägt. Ihm ist dieser Band gewidmet.

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Japanische Ausgabe des Esquire-Magazins mit einem Artikel über den Besuch des Künstlers Yoshitomo Nara im Junkerhaus, 2004

Vortrag von Prof. Dr. Roger Cardinal, Canterbury, im Museum Junkerhaus, 2. März 2007

71 Vgl. die Publikation, in der die Rede von Bettina Rudhof veröffentlicht wurde: Dies., wie Anm. 64. 72 Eckart Kleßmann: Über dir Flügel gebreitet. Eine Kindheit 1933–1945, Bielefeld 2007, S. 85–87.


Anne-Kathrin Wielgosz

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Bildfeld im Treppenaufgang. Dargestellt sind zwei Personen, die als Mutter und Kind identifiziert werden kĂśnnen. Sie schauen direkt auf den Betrach-

ter. Die Darstellung gehĂśrt zum Bildprogramm im VestibĂźl und im Treppenhaus, das um die Themen Mann und Frau als Paar sowie als Familie mit Kindern kreist.


Wurzelwerk

Detail einer Stele

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Bei dem um Anmerkungen ergänzten und überarbeiteten Vortragstext handelt es sich um die gekürzte deutsche Fassung des Vortrages „Root-Growth: The Junkerhaus Lemgo“, der auf der Tagung „Double Edges: rhetorics/rhizomes/regions“ der International Association for Philosophy and Literature gehalten wurde, die vom 1. bis 7. Juni 2009 an der Brunel University, Uxbridge, West London, stattfand.


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Fassade mit Eingang

Wiege im Schlafzimmer

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Enke, Bernd: Karl Junker. Biographie. Unveröffentlichtes Manuskript, Detmold/Lemgo 1982, S. 2. 2 Huppelsberg, Joachim: Karl Junker. Architekt. Holzschnitzer. Maler 1850–1912, Lemgo 1983, S. 39.

Anne-Kathrin Wielgosz

Ein Leben wie das Karl Junkers fordert Legenden ein. Das Folgende zumindest steht fest: Karl Junker verwaiste früh. Noch im Kindesalter verstarb sein jüngerer Bruder. Er selbst war als Tischlergeselle in Hamburg unglücklich in die Tochter seines Meisters verliebt, zog daraufhin weit weg nach München, um an der Kunstakademie zu studieren, und begab sich danach für ein paar Jahre auf Italienreise, bevor er in seine kleine, norddeutsche Heimatstadt Lemgo zurückkehrte und sich dort niederließ. Was er dort fand, war das Erbe seines Großvaters und die Zeit, um unbehelligt zu arbeiten. Aber bald schon und wiederholt traf er auf künstlerisches Unverständnis und berufliche Ablehnung. So erscheint es fast wie ein Akt des Aufbegehrens, als er, nun schon vierzigjährig, sein eigenwilligstes und einzigartiges Projekt begann: Er wollte für sich ein Haus entwerfen, bauen, einrichten und dekorieren, ohne jedes ästhetische Zugeständnis, als letztes Zeugnis seines Rechts, als Architekt und Künstler verstanden zu werden. Angeblich soll er erklärt haben: „Ich werde einen neuen Stil erfinden. Man wird mich vielleicht nicht gleich verstehen. Es wird mir ergehen, wie Richard Wagner und seiner Musik. Aber später, nach 50, vielleicht nach 100 Jahren wird man erkennen, was ich war“.1 Heute endlich ist das Junkerhaus anerkannt als einmaliges Gesamtkunstwerk und Höhepunkt des Lebenswerkes von Karl Junker, der „zugleich Schöpfer und Gefangener einer außergewöhnlichen [künstlerischen] Idee“ und ihrer kontrolliert systematischen Ausführung war.2 In immer größerer Zurückgezogenheit lebte und arbeitete Junker in seinem Haus für den Rest seines Lebens. Er starb dort, ein etwas wunderlicher Einsiedler, im Alter von 61 Jahren. Seit 1891 steht das Gebäude nun dort, etwas zurückgesetzt, mit seiner lebhaften und dennoch disziplinierten Fassade aus Rechtecken und axialen Verweisen. Hier treffen klassisch akademische Proportionen und die Ungewöhnlichkeit eines Belvedere auf den regional typischen Fachwerkbau. Für den ersten Antrag zur Baugenehmigung soll Junker ein hölzernes Modell präsentiert haben, dessen Module auseinander genommen werden konnten. Die Form der Aufteilung reicht weit hinaus über die wider Erwarten konventionell bürgerliche Anlage des Hauses mit Vestibül, Atelier, Werkstatt, Küche und – ein besonderer Komfort in jener Zeit – einer Innentoilette im Erdgeschoss. Im ersten Stockwerk befinden sich Salon, Wohnzimmer, Gäste-, Kinder- und das mit einer wunderschönen Wiege ausgestattete Elternschlafzimmer. Mit Geduld und Ausdauer schien sich Junker auf ein Leben vorzubereiten, das sich nie verwirklichen ließ.


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Doch die, die über die Schwelle treten, spüren eine schwere Last aus Sehnsucht und Leid, hier, wo der Staub die Zeit verlangsamt, Warten in jeder Ecke hockt und Treue festgenagelt scheint. Notlagen sind durchaus Angst einflössend, aber das Junkerhaus ist genau das, eine gebaute Notwendigkeit. Als solche hat es der Zeit und der Vernachlässigung widerstanden und bleibt ein Werk von erstaunlicher Entschlossenheit und Konsequenz, im Rhythmus seiner eigenen Regeln, aber ohne klaren Vorläufer oder künstlerischen Bezugspunkt. Es ist die primäre Funktion eines jeden Hauses, Schutz zu bieten, doch mehr noch verwahrte Junker seine Einsamkeit im Innern von Gehäusen. Das Baumaterial für Möbel, Tür-, Fensterund Bilderrahmen, oft mit bemalten Reliefs verziert, wird geerdet durch Schnitzereien, so roh und knorpelig wie Wurzeln. Vor kassettierten Wänden, unter getäfelten Deckenmedaillons und in der stillen Gegenwart von Möbeln, die aus „der Wand heraus“ zu wachsen scheinen3 und in denen sich „das Wachstum der Bäume ... im Schnitzwerk“ fortsetzt,4 findet sich das Wertvollste in einem geschnitzten Wandschrank im Wohnzimmer. Auf der Innenseite der Schranktür befestigt ist Junkers intimstes Fensterbild, eine gemalte Familienszene: Im Hintergrund Kirchtürme, im Vordergrund schauen eine Frau und ein Kind aus dem Fenster, während ein Mann (mit dunklem Bart, Hut, und wohl von einem Geschäft zurückkehrend) von draussen die Frau umarmt, während der Junge ihm zuwinkt. Zu diesem Schrank gehört der Schlüssel, der wie selbstverständlich einen Innenraum öffnet, in dem sich die Dinge als vorherseh- und kontrollierbar erweisen. Dennoch, wenn Junker geschnitzte Möbel mit hölzernen Modellen verziert, Umgürtungen zu Schirmständern macht oder die Spitze eines geschnitzten Baldachins zum Aufhängen einer Lampe benutzt, balanciert er auf dem prekären Grad von Grenzlinien. Seine Bilder sind in Schnitzwerk eingefasst, das in den Wänden aufgeht und in aufgenagelten Latten fortgesetzt wird. Junkers Rahmen gelingt beides. Sie umgrenzen und verbinden. Aber ganz gleich, um welches Verhältnis es sich handelt, jede Einfassung hat ihren Preis: Sie grenzt einen Raum ein, manchmal sogar einen Lebensraum, und was ausgeschlossen ist, mag für immer ein „Anderswo“ bleiben. Junker, mit so wenig Kontakt zur Außenwelt, musste sich mit dem Verlassen seines Hauses dem Risiko des Lebens ausgesetzt fühlen, und das verkraften vielleicht nur die Furchtlosen. Wer das Haus über das Vestibül betritt, befindet sich sogleich unter einem Dickicht von rohen Stöcken und abgestor-

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Wandschrank im Wohnzimmer mit Fensterbild

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Fritsch, Regina: Truhe, Schrank, und Bett. Zur Funktionalität und künstlerischen Gestaltung der Möbel von Karl Junker, in: Fritsch, Regina/ Scheffler, Jürgen (Hg.): Karl Junker und das Junkerhaus, Bielefeld 2000 (= Schriften des Städtischen Museums Lemgo, Bd. 4), S. 58. 4 Mischer, Stefan: Das Heim als Heiligtum. Das Junkerhaus im Spannungsfeld von Nationalromantik und christlicher Erneuerungsbewegung. Magisterarbeit, Hamburg 1998, S. 64.


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Deckenkonstruktion im Vestibül

Bauplan: Schnitt, 1889 5 Güntzel, Jochen Georg: Der Architekturmaler Karl Junker und der Zimmermeister Heinrich Schirneker. Ihre Anteile an Bauplan und Modell des Junkerhauses, in: Fritsch, Regina/ Scheffler, Jürgen (Hg.), wie Anm. 3, S. 26. 6 Bergmann, Eckart: Das Junkerhaus als Künstlerhaus und Gesamtkunstwerk, in: ebd., S. 134. 7 Salber, Wilhelm: Drehfiguren. Karl Junker. Maler, Architekt, Bildhauer, Köln 1978, S. 46.

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benen Ästen. Mit seiner „Stabornamentik“ und im so genannten „Knorpelstil“ überkrustet Junker den Innenraum wie mit einer verknöcherten Wucherung, schmückt, ja krönt sogar Möbel mit Labyrinthen aus Holz oder übernagelt sie mit einem Gitterwerk aus Leisten. Dekoration haftet sich wie natürlich an Säume, dort, wo Objekte oder Materialien aufeinander stoßen, um sie zu verbinden. Junker aber begreift Ornamentierung als etwas mehr und führt sie aus als etwas anderes, nämlich das geordnete und beständige Füllen einer Oberfläche mit dem immer gleichen plastischen Schmuckwerk. Hier arbeitet sich nicht der Furor eines Genies ab, sondern die Angst vor der Leere, körperlich vermittelt durch eine Überfülle von Holz und der Macht von Gewohnheit, und mit jeder neuen Verzierung scheint Junker zu sagen: „Diese Arbeit hat Wert.“ Wiederholung insistiert, das wird hier deutlich, und stellt außer Zweifel, dass Junkers Architektur wieder und wieder auf der gleichen Stelle tritt; es ist eine Baukunst voll Treue und Hingabe, eine die, letztendlich, das Unersetzliche mit etwas zu füllen sucht und sich dadurch gerechtfertigt weiß. Junkers Vorgehensweise offenbart aber auch, dass seiner Ornamentierung Verschiedenheit innewohnt, denn jede Wiederholung bringt einen Unterschied hervor und deren Anhäufung konstruiert Kombinationen und Strukturmuster von Beziehungen, die einem tief verwurzelten Bedürfnis nach Stetigkeit und Sicherheit nachkommen. Trotzdem, oder vielleicht deswegen, ist das Junkerhaus ein Manifest des Unwiederholbaren. Regelrecht fühlbar ist der räumliche Widerhall dieser Wiederholungen, der den Besucher vorwärts treibt, hinauf zu einem kleinen Dachzimmer, dem einzigen Raum, in dem Junker wohl wirklich lebte. In dem Plan, den Junker zur Baugenehmigung vorlegen musste, ist die Treppe als einziges Element „freihändig, d.h. ohne Lineal, eingezeichnet“.5 Ihre ungewöhnliche Kurve, „deren Aufgang durch ein teilweise schräg geführtes Vestibül vorbereitet wird“, hält nicht Schritt mit der ansonsten symmetrischen Anlage des Hauses.6 Was wie Unterholz aussieht und die Treppe birgt, ist ein dicht genageltes Lattenwerk aus Ästen, Zweigen und Stöckchen, das sich „zu einer Nach-Innen-Wendung ... in sich selbst“ bewegt, während die Stufen verengend zum Belvedere hochsteigen.7 Dort, wo die Kurve kleine Nischen hinterlässt, sind Regale integriert in einen Raum, dem es ansonsten gelingt, die Grenze zwischen Wand und Decke aufzulösen, und der so ein käfigartiges Gehäuse entstehen lässt, das zunehmend bedrohlich und undurchdringlich wirkt, selbst wenn es


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durchflutet ist mit Licht vom Belvedere. Im allgemeinen scheint Junker die Vertikale der Horizontalen vorzuziehen, und wir wissen, wenn uns eine Treppe vor die Wahl stellt, dass „hoch“ uns in den privaten, abgeschlossenen Wohnraum führt. Als wolle er das Hinaufsteigen zelebrieren, hängt ein enormer hölzerner Kronleuchter durch eine Deckenöffnung in den Flur des ersten Stocks. Als Tischler und Holzschnitzer reichte Junkers Arbeitsfeld vom Besenstil zum Schmetterlingskasten. Das Ausmaß seines Künstlertums wird offenbar im Junkerhaus, in dem er ohne Stilbruch die ganze Bandbreite vom Kruden bis zum Filigranen meistert. Angeblich hat Junker nie in seinem herrschaftlichen Bett im ersten Stock geschlafen. Es ist, wie fast alle anderen Möbel, massiv und dauerhaft, für ein sesshaftes Leben wie gemacht. Sperrige Schränke und Truhen beinhalten die Last des Unbeweglichen und konstatieren, wie es um die Dinge steht. Die archaische Natur des Holzes, das Material, mit dem Junker so vertraut war, erfüllt genau seinen Zweck. „Fieberhaft arbeitete er Tag und Nacht an seiner Hobelbank, schleppte aus dem Walde auf einem kleinen Handwagen knorrige Äste, Baumstümpfe, ja ganze Baumstämme nach Hause“,8 kommentierte ein Zeitgenosse, während ein anderer sich erinnert, dass im Junkerhaus „[a]lle Möbel...Tummelplatz für Messer und Meissel“ waren.9 Die Nägel, die Junker benutzte, um die Ornamentierung auf die Oberfläche zu hämmern, sind, wie bündige Satzzeichen, Teil seiner architektonischen Syntax geworden. Es stimmt schon, dass ihr Gebrauch schnell und handlich ist, aber Nägel hinterlassen auch Zeichen subtiler Gewalt, die das erotische Wesen der Stelen mit ihren knolligen Rundungen und in sich verschlungenen menschlichen Figuren noch verstärken. Das Verlangen hier ist geradezu rührend in seiner Primitivität und naiven Aufrichtigkeit und kann sich nur befreien an weiterer Buckelarbeit am Innenraum. Abgegrenzt und inwendig wie es ist, erfährt man das Junkerhaus nicht als ein Haus des Willkommens, sondern als eines des radikalen und unwiderruflichen Abschieds in eine versteinerte Welt, in der sich Trennung und Abbruch in plastischem Werk ausdrückt, das um etwas jenseits von Beständigkeit ringt und es zu greifen sucht. Die enorme Zahl von Griffen, die oft von Verzierungen nicht zu unterscheiden sind, lädt dazu ein, nach jedem Knauf zu fassen, um den man seine Faust schließen kann. Es ist jedes Mal eine kleine Überraschung, wenn das Holz rau wie Rinde aussieht, sich aber weich anfühlt und Schubladen sich geschmeidig

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Flur im Obergeschoss mit Leuchter

Decke und Himmelbett im Schlafzimmer 8 Kreyenberg, Gerhard: Das Junkerhaus zu Lemgo i.L. Ein Beitrag zur Bildnerei der Schizophrenen, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, Bd. 114, 1928, S. 154. 9 Meier, Karl: Ein gespenstisches Haus. Das Junkerhaus in Lemgo – eine Bauschöpfung ohne Vergleich, in: Westfalen im Bild, 9. Jg., 1935, H. 10, S. 12.


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herausziehen lassen. Die Menge von Haken und Regalen deutet darauf hin, dass allem sein rechter Platz zugewiesen war. Um sich zu entlasten, sind Borde an Wänden, unter Tischplatten, in Sitz- und Liegemöbeln und neben Türen angebracht. Vielleicht entsprechen die in Ecken gefügten kastenförmigen Fächer Junkers Ästhetik besonders, halb offen, halb geschlossen, aber nie vernachlässigt. Womit er sie alle hätte füllen können, bleibt ein Rätsel. Fraglos ist nur, dass die Regale selbst Teil des ausufernden Geflechtes der Stabornamentik werden, immer dem Bersten nah, knapp am Zersprengen vorbei. Junker bewältigt das Gerüst mit unerbittlichem Segmentieren und Zentrieren, während gleichzeitig „Lunetten“, die hellen Wand- und Deckengemälde, die Winkel der Rechtecke mit ihren Bögen und einem Stil, der an Pointillismus erinnert, abschwächen. In diese Bildfelder malte Junker stereotype Männer, Frauen und Kinder, gruppiert als Familie, Mutter mit Kind oder Liebhaber, die sich umarmen, zusammen sitzen, tanzen, Musikinstrumente spielen oder aus Kelchen trinken. Doch anstatt ihre Gesichter zu studieren, fallen dem Betrachter die disproportional langen Gliedmaßen auf, besonders die gestikulierenden Arme, die Distanz zu überbrücken suchen. Formelhaft erkennbar ist eigentlich nur der im Zentrum stehende dunkelhaarige und bärtige Mann. p S.71 Wie es zu einem Künstler, der dem Historismus zugerechnet wird, gehört, ist Junkers Werk konservativ, rückblickend, der Vergangenheit zutiefst verhaftet. Die Starre des festgenagelten Lattenwerks zeigt das Ende von Beweglichkeit an und schreibt die Ausgeschlossenheit von Veränderung fest. Sich der Gegenwart entziehend, insistiert Junker auf einen Ort, der weder weiterführt noch die Vergangenheit passieren lässt. Wenn man auf der Stelle tritt, arbeitet sich Wiederholung aus der Erinnerung heraus, eine Erinnerung, die sich durch Anhäufung wach zu erhalten sucht. Wenn das Junkerhaus ein Andenken bewahrt, das einer verlorenen Zeit angehört, dann bedeutet die Körperlichkeit des Hauses, dass Erinnerung nicht aufgegeben ist, dass Haus und Andenken unwiderruflich miteinander verflochten sind. Vielleicht war es nur eine potentielle Erinnerung, ein „so hätte es sein können“, mit den Bildern und Möbeln, die eine Familiengeschichte erzählen und die meisten Häuser zieren. Dann wäre das Junkerhaus, sozusagen, auf den Konjunktiv gebaut. Doch egal, was wir über Junker wissen, fühlen wir, dass das Haus nicht nur eine behütete Erinnerung, sondern viel mehr, nämlich ein unantastbares Geheimnis verwahrt, dessen Macht herrührt von einer Gratwanderung, die an ihren eigenen Grenzen Detail einer Stele im Flur


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feilt und die Notwendigkeit und die Totalität des sich Preisgebens einfordert. Die Legenden, die Junker umranken, sind Poesie und verdienen es weiterzuleben. Nicht zuletzt werden sie gespeist von Tatsachen. Junker hinterließ ein Haus, zusammen mit hunderten von Gemälden, Aquarellen, Zeichnungen, Skizzen, Gouachen, Skulpturen, Modellen und Möbeln, aber keine persönlichen Dokumente, mit der Ausnahme von zwei Briefen, der letzte nur als Fragment erhalten, an einen früheren Schulfreund in Lemgo: Der erste sprach von seiner Liebe und den Zukunftsaussichten in Hamburg, der zweite kündigte seinen Umzug nach München an. Die zwei Geheimfächer, die Junker im Treppenhaus versteckte, sind heute leer, so wie es sein sollte. Ohne weiteren Kommentar erklärt Junkers Werk einfach: „Mich hat es einmal gegeben.“ Niemandem sonst könnte so ein Haus gehören.

Bildfeld im Vestibül. Dargestellt sind zwei junge Männer. Der eine schaut zu dem anderen auf, der andere blickt auf ihn und den Betrachter herab. Das Bildfeld ist über der Tür zum Atelier angebracht.

Bildfeld im Treppenaufgang. Dargestellt ist ein tanzendes Paar: links ein bärtiger Mann, rechts eine Frau, die den Betrachter anschaut. Das Bild gehört zum Themenkomplex der Paardarstellungen.


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Fragment einer Gouache, undatiert

Entwurf eines Deckengem채ldes, undatiert (Sammlung Prinzhorn)

Hartmut Kraft


Welchen Sinn macht es, bei Karl Junker nach einer psychiatrischen Diagnose zu fragen?

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Collage, undatiert (Sammlung Kraft)


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Leben und Werk von Karl Junker (1850–1912) werden unterschiedlich bewertet. Während die einen in ihm zwar einen Sonderling, nichts desto trotz aber psychisch gesunden Künstler von überregionaler Bedeutung sehen,1 halten die anderen ihn für einen herausragenden Repräsentanten im Umfeld der „Bildnerei der Geisteskranken“ (Prinzhorn),2 der „Art brut“ (Dubuffet),3 der Outsider (Cardinal),4 der Weltenwandler (Weinhart und Hollein)5 oder wie immer sonst man dieses Gebiet der „Grenzgänger zwischen Kunst und Psychiatrie“ (Kraft)6 bezeichnen mag. Da die Faktenlage weder abgesichert noch zweifelsfrei ist, können Aussagen nicht frei von Spekulationen bleiben. Trotzdem will ich im Folgenden versuchen, zur psychischen Verfassung des Künstlers Aussagen zu treffen und deren Bedeutung sowohl für die Ausgestaltung seiner Kunst als auch für deren Rezeption herauszuarbeiten.7 Das künstlerische Werk

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Katerndahl, Jörg: Karl Junkers Werk als Quelle psychiatrischer Betrachtung nach dem Tode, in: Fritsch, Regina/Scheffler, Jürgen (Hg.): Karl Junker und das Junkerhaus, Bielefeld 2000 (= Schriften des Städtischen Museums Lemgo, Bd. 4), S. 93–108. Prinzhorn, Hans: Bildnerei der Geisteskranken. Ein Beitrag zur Psychologie und Psychopathologie der Gestaltung, Heidelberg 1922. Dubuffet, Jean: L´art brut préféré aux arts culturels, Paris 1949. Cardinal, Roger: Outsider Art, London 1972. Weinhart, Martina/Hollein, Max (Hg.): Weltenwandler, Ostfildern 2010. Kraft, Hartmut: Grenzgänger zwischen Kunst und Psychiatrie, Köln 2005 (Erstauflage 1986). Behrends, Kurt: Skulpturale Architektur eines schizophrenen Künstlers, Basel 1967 (= Psychopathologie des bildnerischen Ausdrucks, H. 12). Salber, Wilhelm: Drehfiguren. Karl Junker, Maler, Architekt, Bildhauer, Lemgo 1978. Gorsen, Peter: Karl Junker, 1850–1912. Das Haus in Lemgo, in: Brugger, Ingried/Gorsen, Peter/ Schröder, Klaus Albrecht (Hg.): Kunst & Wahn, Wien/Köln 1997, S. 282–289. Kraft, Hartmut, wie Anm. 6. – Ders.: Karl Junker war schizophren. Ja und? In: Weinhart, Martina/Hollein, Max (Hg.), wie Anm. 5, S. 115–125.

Das Haus, an welchem Karl Junker über 20 Jahre lebte und arbeitete, ist heute ein Museum seiner selbst und für die Öffentlichkeit zugänglich. Es befindet sich in der Hamelner Straße 36 in Lemgo. Es handelt sich um ein zweistöckiges Fachwerkhaus, das bereits von außen dadurch auffällt, dass alle Balken des Fachwerks sowie auch die Türen und Fenster mit Höckern und Buckeln benagelt sind, so dass zutreffend von einem „Knorpelstil“ gesprochen werden kann. Der Betrachter empfindet eine beunruhigende Fülle, eine Überladenheit. Dieses Gefühl steigert sich beim Betreten des Hauses, da man sich nun allseitig von den mehr oder weniger bemalten Schnitzereien umgeben sieht, ja geradezu erdrückt fühlen kann wie in einer Grotte oder labyrinthartigen Höhle. Kein Platz an Decken oder Wänden ist ungenutzt, oft sind zusätzlich geschnitzte und bemalte Latten den Wänden vorgelagert oder bilden spinnennetzartige Muster. Alles ist überreich ornamental und figural verziert. Dies gilt auch für das Mobiliar, das so zu einem integralen Bestandteil des Hauses wird. Löst man einige der geschnitzten reliefierten Bretter oder Bilder aus dem Zusammenhang, so wird die künstlerische Qualität an diesen Einzelstücken eher offenkundig, als es in der drangvollen Enge des Hauses zu ahnen ist. Gleiches gilt für die faszinierenden Architekturmodelle. Erst bei längerer Betrachtung schälen sich einige wiederkehrende Themen heraus, zum Beispiel die Darstellung eines Throns p S. 88 und die mehr oder


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weniger erotischen Frauendarstellungen einschließlich des Mutter-Kind-Motivs. Junkers Stil als Maler weist auf den ersten Blick Ähnlichkeiten mit dem Pointillismus eines Seurat oder Signac auf. Im Gegensatz zu der Klarheit und Frische, die die Bilder dieser Künstler vermitteln, wirken seine Arbeiten dunkler und abgeschlossener. Dies ist zum Teil auf einen oft reliefartigen Farbauftrag zurückzuführen, der die Figuren und Konturen weich und unscharf, manchmal „wie auf Watte gepackt“ erscheinen lässt. Die Strenge der Komposition mit Betonung der Vertikalen und die häufige Verwendung einer Klappsymmetrie vermitteln eine Übersichtlichkeit, die oft aber auch wie ein starres Bildgerüst wirkt. Dies wird durch die meist massiven, reich geschnitzten Rahmen, die manches Bild geradezu zu erdrücken scheinen, noch unterstützt.

Gemälde, Öl auf Holz, o. J. (Sammlung Kraft)

Das heute bekannte Werk von Karl Junker umfasst neben der Durchgestaltung des Wohnhauses 193 Bilder und knapp 800 Skizzen, Handzeichnungen und Fragmente.8 Formal fällt in seinen Arbeiten die Integration von Architektur, Holzskulptur und Malerei auf, Aspekte eines „Gesamtkunstwerkes“, wie sie beim Merzbau von Kurt Schwitters oder beim „Palais idéal“ des französischen Briefträgers Cheval p S. 81 ebenfalls zu erkennen sind. Durchaus diskutieren lässt sich auch der Gesichtspunkt eines Künstlerhauses als standesgemäßer Künstlerresidenz.9 Vor allem in München entstanden zwischen 1830 und 8 Salber, Wilhelm, wie Anm. 7, S. 30. 9 Bergmann, Eckart: Das Junkerhaus als Künstlerhaus und Gesamtkunstwerk in: Fritsch, Regina/Scheffler, Jürgen (Hg.), wie Anm. 1, S. 127–149


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1914 allein 40 derartige Künstlervillen – man denke nur an das heute noch bekannte Lenbachhaus oder die Stuckvilla – , davon allein 12 während Junkers Aufenthalt in dieser Stadt! Diese Häuser dienten der (Re-)Präsentation der eigenen Kunst und Antiquitätensammlungen, daneben auch der Zur-Schaustellung der eigenen Werke, die einen Käufer finden sollten. Bei aller Zurückgezogenheit zeigte sich auch Junker stets aufgeschlossen gegenüber Besuchern, die seine Bilder sehen wollten. Im Nachruf der Lippischen Landeszeitung, der wenige Tage nach dem Tod des Künstlers erschien, heißt es: „Mit ihm ist ein Mann verschieden, der in völliger Zurückgezogenheit lebte und nur seinen Ideen nachging. Als Junggeselle bewohnte er sein Haus, welches er vor etwa 20 Jahren erbaut und mit Schnitzereien und selbstgemalten Bildern ausstattete, ganz allein. Er verließ seine Wohnung nur zur Mittagszeit, um sein Mittagessen in einem Gasthause in der Stadt einzunehmen. Wenn Fremde kamen, seine Gemälde zu besichtigen, so übernahm er selbst die Führung“.10 Neben dem Aspekt des Künstlerhauses lassen sich Beziehungen zum Jugendstil, besonders zur Architektur eines Antonio Gaudí aufzeigen.11 Der Gesamteindruck des Junkerhauses entspricht aber nicht der Eleganz, Leichtigkeit und auch Verspieltheit, die den Jugendstil kennzeichnet. Ein Betrachter, der diese Arbeiten auf sich wirken lässt, kann zunächst nur beeindruckt sein von der enormen künstlerischen Leistung Junkers. Dann aber bekommt er auch eine Ahnung von dem immer enger, immer bedrückender werdenden Lebensgefühl, das diesen Mann dazu trieb, sich sein Haus wie eine Fluchtburg, eine mit nichts zu vergleichende höchst individuelle, schützende Wohnhülle – wie einen Uterus – zu gestalten. Darin sollte man in erster Linie aber nicht ein Krankheitssymptom sehen, sondern vor allem den Aspekt des Selbstschutzes erkennen – also eine Fähigkeit! Eine Lebensgeschichte – ohne Krankenakte

10 Zitiert nach Fritsch, Regina: Das Junkerhaus in Lemgo, Detmold 2004 (= Lippische Kulturlandschaften, H. 1), S. 13 11 Huppelsberg, Joachim: Karl Junker, Architekt, Holzschnitzer, Maler 1850–1912, Lemgo 1983. 12 Enke, Bernd: Biographische Anmerkungen zur Künstlerpersönlichkeit: Karl Junker (1850–1912), in: Fritsch, Regina/Scheffler, Jürgen (Hg.), wie Anm. 1, S. 13–20.

Karl Junker wurde am 30. August 1850 als Sohn eines Schmiedemeisters in Lemgo geboren. Nach dem frühen Tod der Eltern an Tuberkulose – die Mutter verstarb 1853, der Vater 1857 – wuchs er im Hause des Großvaters auf.12 Er besuchte das Gymnasium bis zum „Einjährigen“ und machte anschließend eine Lehre als Schreiner. Als er seine Lehrzeit beendet hatte, ging er 1869 auf Wanderschaft nach Hamburg und Berlin. 1871 hielt


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Entwurf für ein Deckengemälde, kolorierte Federzeichnung, 1874 (Sammlung Kraft)

er sich in München auf, wo er möglicherweise einen einjährigen Militärdienst ableistete. Anschließend schrieb er sich in die Kunstgewerbeschule in München ein, um Architekt zu werden. Durch den Tod des Großvaters gelangte er mit 25 Jahren in den Besitz eines nicht unbeträchtlichen Vermögens und vertauschte daraufhin im Jahre 1875 die Kunstgewerbeschule mit der Kunstakademie. Mit 27 Jahren errang er den „Rompreis“ der Akademie, der ihm eine Reise nach Italien ermöglichte. Neuere Nachforschungen wecken jedoch Zweifel am Gewinn dieses Kunstpreises.13 Es könnte sein, dass Junker nach seiner Rückkehr nach Lemgo seinen Lebensweg und seine künstlerischen Erfolge ausgeschmückt und so selbst zur Legendenbildung um seine Person beigetragen hat. Immerhin aber ist belegt, dass er sich in Mailand, Verona, Venedig und auch Rom aufgehalten hat. Als gut 30-jähriger kehrt Junker zwischen 1881/1883 in seine Heimatstadt Lemgo zurück. Nach einem Bauantrag vom 27. Oktober 1889 begann er an der Hamelner Straße sein Haus zu bauen, an dessen äußerer und innerer Ausgestaltung er jahrzehntelang arbeitete. Junker lebte allein in diesem großen Haus. Der Psychiater Gerhard Kreyenberg schrieb dazu: „Stets trug er sich mit dem Gedanken, in dieses Haus eine Gattin einzuführen; aber wie schon in München eine tiefe Herzensneigung nicht erfüllt wurde, was wohl schon dort auf seinen Seelenzustand nachteilig einwirkte, so erlebte er auch in seiner Heimatstadt eine Enttäuschung nach der anderen. Wenn er auch meinte, dass seine Herkunft die angesehenen Bürgertöchter von einer

13 Ebd., S. 17.

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14 Kreyenberg, Gerhard: Das Junkerhaus zu Lemgo i. L. Ein Beitrag zur Bildnerei der Schizophrenen, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, Bd. 114, 1928, S. 152–172. 15 Enke, Bernd, wie Anm. 12. 16 Katerndahl, Jörg, wie Anm. 1.– Vgl. auch ders.: „Bildnerei von Schizophrenen“. Zur Problematik der Beziehungsetzung von Psyche und Kunst im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, Hildesheim/Zürich/New York 2005 (= Studien zur Kunstgeschichte, Bd. 167), S. 141–155. 17 Zitiert nach Enke, Bernd, wie Anm. 12, S. 19.

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Verheiratung mit ihm abhielt, so war es wohl sein absonderliches Wesen, das verhinderte, dass eine Frau ihm in sein eigenartiges Reich folgte. … Sicher und verbürgt ist aber noch folgendes: Er glaubte, den Namen Junker mit vollem Recht zu führen. Oft hat er geäußert, dass er von vornehmer Abstammung sei und dass er nicht umsonst den Namen Junker trage. Die Leute in der Stadt erblickten ihn nur, wenn es dunkelte, zu welcher Zeit er seine notwendigen Gänge besorgte. Aber je mehr Ablehnung er erfuhr, desto mehr steigerte sich seine Energie und sein Selbstbewusstsein ging ins Maßlose. Meier berichtet, Junker habe sich einem Jugendfreund gegenüber geäußert: ‚Ich werde einen neuen Stil erfinden; man wird mich vielleicht nicht gleich verstehen; es wird mir ergehen wie Richard Wagner mit seiner Musik. Aber später, nach 50, vielleicht erst nach 100 Jahren wird man erkennen, was ich war’“.14 Eine Krankenakte mit Anamnese, Symptombeschreibung, Diagnose und Verlaufsbeschreibung einer Erkrankung existiert nicht. Neben einer Analyse der Kunstwerke haben wir nicht mehr in der Hand als einige verstreute Ausstellungsrezensionen, Zeitungsberichte, die posthumen Mitteilungen des Psychiaters Kreyenberg sowie Angaben aus Interviews mit älteren Bürgern der Stadt Lemgo.15 Eine kritische Übersicht, vor allem hinsichtlich einer psychiatrischen Diagnose, findet sich bei Katerndahl (2000).16 Sofern wir die posthumen Berichte über Karl Junker als glaubwürdig einstufen, so können wir von einer Wahnsymptomatik sprechen („…die geheimsten Pläne des Papstes…“) verbunden mit Größenphantasien, möglicherweise sogar einem Größenwahn (Thronthema). Hinweise auf akustische Halluzinationen finden sich nur insofern, als berichtet wird, Karl Junker habe zum Teil laut mit sich selber (seinen halluzinierten Stimmen?) gesprochen.17 Die berichteten Verhaltensweisen (wortkarg, zurückgezogen lebend) sind zwar unspezifisch, würden sich aber in das Gesamtbild einer chronischen schizophrenen Erkrankung mit Wahnsymptomatik und akustischen Halluzinationen einfügen. Karl Junker verstarb am 25. Januar 1912 im Alter von 61 Jahren an einer Lungenentzündung. Kontroversen Die Frage nach der psychischen Verfassung des Künstlers wird – wie so häufig – kontrovers diskutiert. Was aber ist überhaupt eine schizophrene Erkrankung, wie sie für Karl Junker diskutiert


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wird? Lässt sie sich belegen? Und vor allem: Welchen Einfluss hat sie gegebenenfalls auf seine künstlerische Arbeit und deren Rezeption? Die Schizophrenie ist eine Erkrankung der Gesamtpersönlichkeit. Für einen mehr oder weniger langen Zeitraum hat der Kranke nicht nur schizophrene Symptome, er ist schizophren. Damit fällt in den allermeisten Fällen die kritische Distanz des Erkrankten zu seinem Kranksein fort. Die „fehlende Einsicht“ ist mit 97 % das häufigste Krankheitssymptom einer schizophrenen Erkrankung.18 Nach den heute vielfach gebräuchlichen diagnostischen Kriterien des „diagnostischen und statistischen Manuals psychischer Störungen DSM-IV-TR“19 gelten folgende Symptome als charakteristisch für eine Schizophrenie: — Wahn (z.B. Größenwahn, Verfolgungswahn, Versündigungswahn im Sinne von Überzeugungen, die durch sachliche und logische Argumente nicht korrigiert werden können) — Halluzinationen (vor allem akustische Halluzinationen, so genanntes „Stimmenhören“) — desorganisierte Sprechweise (z. B. Zerfahrenheit) — grob desorganisiertes oder katatones Verhalten (motorische Unbeweglichkeit) — negative Symptome (wie z. B. ein flacher Affekt oder Willensschwäche, Meidung sozialer Kontakte). Auf den Zusammenbruch des Ichs als der steuernden Instanz der Persönlichkeit folgen Kompensationsversuche, aus denen erst die auffälligen „verrückten“ Symptome entstehen. Es könnte von einer „Restitution in die falsche Richtung“ gesprochen werden. Bei den als „Ich-Mythisierung“ bezeichneten Kompensationsversuchen zum Beispiel erfolgt eine Identifikation mit einer mythischen Figur, wodurch sich der Kranke gleichsam an den eigenen Haaren aus der Katastrophe zu ziehen trachtet. Dies wird bei Adolf Wölfli in seiner Benennung als „Sankt Adolf II.“ ebenso deutlich wie bei Friedrich SchröderSonnenstern, wenn er sich als „dreifachen Weltmeister aller Künste“ bezeichnet. Auf die wahnhaften Überzeugungen von Karl Junker wurde bereits hingewiesen. Die Erkrankung kann bereits im Kindes- und Jugendalter beginnen, die meisten Patienten erkranken jedoch erstmalig in ihrem 3. Lebensjahrzehnt. Ersterkrankungen im höheren Lebensalter („Spätschizophrenien“) kommen vor. Der Langzeitverlauf der schizophrenen Erkrankungen ist sehr unterschiedlich:

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18 Häfner, Heinz: Das Rätsel Schizophrenie. Eine Krankheit wird entschlüsselt, München 2005. 19 Sass, Henning/Wittchen, Hans U./ Zaudig, Michael/Houben, Isabel (Hg): Diagnostische Kriterien DSM-IV-TR, Göttingen/Bern 2003.


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Vollkommene Heilungen gibt es – was sehr lange Zeit unbekannt war! – in ca. 22 % aller Krankheitsfälle! Hier gelingt eine Wiederherstellung des Ichs, der Persönlichkeit in Richtung der zuvor bestehenden, ursprünglichen Funktionen. Wenn also im Lebenslauf eines Künstlers eine schizophrene Episode festgestellt wird, so sagt dies noch überhaupt nichts darüber, ob sich in seinem künstlerischen Werk irgendwelche Spuren der Erkrankung finden lassen! Diese Tatsache gilt es festzuhalten! Eine Reduzierung der psychischen Energie ist bei ca. 43 % der schizophrenen Erkrankungen zu beobachten. Es kommt zu einer Reduzierung der psychischen Energie, der Spannkraft, Ausdauer etc., ohne dass diese Spätformen der Erkrankung noch als schizophren zu erkennen sind. Diese ehemaligen Patienten sind zum größten Teil auch sozial gut rehabilitiert. Sollte eine bildnerische Produktion bestanden haben, so ist entsprechend dem Verlauf der Erkrankung mit einem Potentialverlust auch hinsichtlich der bildnerischen Arbeit zu rechnen. Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass das kreative Subsystem im Ich die Erkrankung weitgehend unbeschadet übersteht. Eine chronische Verlaufsform findet sich lediglich bei ca. 35 %, also bei einem guten Drittel aller schizophrenen Erkrankten. Sie sind von einem wirklich ungünstigen Verlauf zum Beispiel im Sinne einer chronischen Psychose betroffen. Diese ungünstigen Verlaufsformen scheinen ganz wesentlich von sozialen und sozioökonomischen Bedingungen abzuhängen. Aber selbst für jahrzehntelange Verläufe der Erkrankung sind weitgehende Heilungen bekannt! Das bekannteste Beispiel dürfte der Mathematiker und Nobelpreisträger John Forbes Nash sein, der 1994 zusammen mit Reinhard Selten den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften für gemeinsame Leistungen auf dem Gebiet der Spieltheorie erhielt. Seine Lebensgeschichte wurde 2001 verfilmt unter dem Titel „A beautiful Mind“. Der Film gibt einen Einblick in die Erlebenswelt eines schizophren Erkrankten. Gibt es nun Hinweise in der Lebensgeschichte und in den Bildern und Objekten von Karl Junker, die auf eine schizophrene Erkrankung verweisen? Soweit wir bislang wissen, befand sich Karl Junker in keiner ambulanten oder stationären psychiatrischen Behandlung, die seinerzeit sowieso vollkommen unzureichend gewesen wäre, da weder eine medikamentöse noch psychotherapeutische Behandlung existierte. Die „Behandlung“ bestand in einer Absonderung der Erkrankten und in verschiedenen Arten von „Ruhigstellungen“, die aus heutiger Sicht manchmal an Foltermethoden denken lassen. 20 Dies heißt

20 Kraft, Hartmut, wie Anm. 6, S. 1–16.


Welchen Sinn macht es, bei Karl Junker nach einer psychiatrischen Diagnose zu fragen?

zugleich aber auch, dass eine psychiatrische Beschreibung und Diagnose von Karl Junker, die zu seinen Lebzeiten von ihm als einem Patienten erstellt wurde, uns nicht vorliegt. Die bereits gegebene Beschreibung der Lebensgeschichte ist hier aber zu ergänzen durch die Angaben, die Junker gegenüber einem Oberarzt der psychiatrischen Anstalt Bethel machte, der ihn besucht haben soll. Diese ebenfalls wieder von Kreyenberg mitgeteilten Informationen werden von Katerndahl angezweifelt, ohne dass über ihren Wahrheitsgehalt hier nun entschieden werden kann. 21 Lässt die Lebensgeschichte mit dem Rückzug aus sozialen Beziehungen und der Wahrnehmung als „Sonderling“ an sich schon an eine schleichende schizophrene Erkrankung denken, so wird diese Annahme durch weitere Angaben über Karl Junker gestützt. Es stellte sich heraus, dass Junker ein vollkommenes Wahnsystem hatte. Er soll, den Berichten nach, der wahnhaften Überzeugung gewesen sein, die feinsten Fäden der Politik in der Hand zu haben, glaubte als Einziger zu wissen, was Bismarck vorhabe und welche die geheimsten Pläne des Papstes und des Kaisers seien.22 Er selbst maß sich dabei in der Politik wohl eine zentrale Rolle zu, was zwar nicht durch seine Aussage belegt ist, wohl aber in seinem umfangreichen Werk deutlich wird. So hat er sich im Empfangszimmer seines Hauses einen Thron gebaut und sich auf einer Vielzahl von Bildern immer wieder auf dem Thron sitzend dargestellt. p S. 88 Auch sein künstlerischer Anspruch, einen neuen Stil zu finden, ein verkanntes Genie zu sein, hat die Dimension der Großartigkeit. Dies lässt sich aus psychotherapeutischer Sicht verstehen als eine „libidinöse Besetzungsverschiebung“: Der Erkrankte zieht sich von den Mitmenschen zurück, deren Nähe er ebenso ersehnt wie er sie fürchtet, da er sich – durch die Erkrankung bedingt – nicht genügend abgrenzen kann: Was sein eigener Wunsch und Wille ist, wird in Gegenwart einer Bezugsperson unsicher, die Grenzen zwischen dem Selbst und dem anderen verschwimmen. Dies wird als bedrohlich, als ängstigend erlebt und führt zu einem Rückzug auf die eigene Person, die gegebenenfalls dann – als Selbstschutz – überhöht wird. Die genannten Größenphantasien können die Folge sein. 23 Größenphantasien einerseits und sozialer Rückzug samt Wahrnehmung als Sonderling andererseits bedingen sich dann zunehmend gegenseitig. Daneben muss die Gründung einer eigenen Familie für Karl Junker offensichtlich ein inniger Wunsch gewesen sein. Es hat etwas Rührendes, all seine diesbezüglichen Vorbereitungen

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21 Kreyenberg, Gerhard, wie Anm. 14, S. 170. Katerndahl, Jörg, wie Anm. 1, S. 101. 22 Kreyenberg, ebd. 23 Schwarz, Frank/ Maier, Christian (Hg.): Psychotherapie der Psychosen, Stuttgart 2001. Maier, Christian: Konflikt und Ich-Störung – zur Ichpsychologischen Objektbeziehungstheorie der Psychosen, in: ebd., S. 2–9.


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auch heute sehen zu können. Es fehlen weder das Ehebett, Schränke und Truhen, Küchengeräte noch Kinderbettchen oder sogar ein Nachtstuhl für das Kind! Die Sehnsucht nach Frau und Kind durchzieht ebenso wie das Thronthema das gesamte Schaffen – während er im sozialen Leben einsam und allein war, sich zurückzog. Dies schließt aber nicht aus, dass Karl Junker häufiger Besucher empfing und diesen sein Haus und seine Kunstwerke zeigte. Diese kurzfristigen Kontakte und die dadurch vermittelte Wertschätzung überfordern die labilen Selbstgrenzen nicht, sondern können ganz im Gegenteil stabilisierend wirken, indem sie die Größenphantasien stützen. Es gibt jedoch keineswegs nur die ausführlich zitierte psychiatrische Beschreibung durch Kreyenberg. Eine zeitnahe Einschätzung von Karl Junker als vermutlich schizophren erkranktem Künstler ergibt sich auch durch die Sammlung Prinzhorn in Heidelberg. Unter der „Fallnummer 475“ nahm Hans Prinzhorn mehrere Werke von Karl Junker in seine berühmte Sammlung der „Bildnerei der Geisteskranken“ auf.24 Es handelt sich um 16 Malereien auf verschieden großen und unterschiedlichen Malgründen. Hinzu kommen drei Fotografien, die auf der Rückseite den Stempel der Galerie Garvens, Hannover, tragen. Im Inventar der Sammlung Prinzhorn wird Karl Junker als „kein Patient“ geführt – was natürlich zutrifft, da Karl Junker – unserem heutigen Wissensstand nach – nie psychiatrisch behandelt wurde. Die Aufnahme in die Sammlung spricht aber deutlich für die entsprechende Einschätzung durch Hans Prinzhorn. Zudem existiert ein Briefwechsel zwischen Karl Wilmanns und Wilhelm Alter, der von Sabine Hohnholz, einer Mitarbeiterin der Sammlung Prinzhorn, in einer Krankenakte des Patienten Hermann Behle, die sich im Landesarchiv Detmold befindet, gefunden wurde. p S. 11 Wilmanns war Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg und als Vorgesetzter des Assistenzarztes Hans Prinzhorn zugleich Anreger der später so genannten „Sammlung Prinzhorn“. Wilmanns schreibt in einem Brief vom Dezember 1920, dass er bei Junker eine Dementia praecox (alte Bezeichnung für Schizophrenie) vermute. Wilhelm Alter, ärztlicher Direktor der Lemgoer Anstalt Lindenhaus, bestätigt in seinem Antwortbrief vom 21.12.1920 die vermutete Diagnose: „Er war ein schizophrener Sonderling, der völlig menschenscheu für sich gehaust und sich lediglich seinen verschrobenen Schnitzereien und Zeichnungen gewidmet hat.“ Alle diese Angaben ermöglichen die gut begründete Hypothese, dass Karl Junker an einer chronischen Verlaufsform einer 24 Persönliche Mitteilung von Dr. Thomas Röske, dem Leiter der Sammlung Prinzhorn, vom 18. Januar 2011. Vgl. auch Katerndahl, Jörg, wie Anm. 1.


Welchen Sinn macht es, bei Karl Junker nach einer psychiatrischen Diagnose zu fragen?

schizophrenen Erkrankung litt. Die Erkrankung trat vermutlich relativ spät auf (eher im vierten als im dritten Lebensjahrzehnt) und war nicht so stark ausgeprägt, als dass sie ihm nicht ein künstlerisches Arbeiten und eine Bewältigung seines Alltags – wenn auch in weitgehender Zurückgezogenheit – erlaubt hätte. Die fundierte handwerkliche und künstlerische Ausbildung sowie vor allem auch die ökonomische Unabhängigkeit Junkers dürfen als wesentliche stabilisierende Faktoren gesehen werden. 25 Weitere Hinweise auf die Erkrankung finden sich in der Stilentwicklung, worauf noch einzugehen sein wird. Die Tatsache, dass Junker sich mittels Skizzen sowohl um ein intensives Naturstudium als auch um die Lösung von Kompositionsproblemen bemühte, verbietet nun jedoch eine einfache psychiatrisch-etikettierende Einordnung als „rein schizophrener Sonderling“. Skizzen werden von kreativ tätigen psychiatrischen Patienten nur selten ausgeführt, da primär nicht die Hinwendung an die Außenwelt, sondern die Gestaltung einer inneren Welt intendiert ist. Junker jedoch suchte, experimentierte, verwarf, probierte neu – anhand der Skizzen können wir auch heute noch den intensiv-kreativ künstlerischen Gestaltungsprozess nachvollziehen. Auf der anderen Seite steht ein „Horror vacui“: die Gestaltung auch noch der letzten Fläche im Haus und auf den Bildern, zum Teil mit doch recht stereotypen, sich wiederholenden Formelementen. Wenn einem Menschen die innere Stabilität, die Selbstgewissheit und die normalen mitmenschlichen Beziehungen fragwürdig geworden sind, liegt es da nicht nahe, sich eine ganz eigene Welt zu bauen, sich einzuspinnen in ein eigenes Gebäude, um Schutz und Halt zu suchen? Hierin lassen sich Selbstheilungskräfte erkennen, die zum Schutz des eigenen labilen seelischen Gleichgewichts eingesetzt werden. Der Aspekt des Künstlerhauses und die nachzuweisenden verschiedenen künstlerischen Einflüsse stehen hierzu keineswegs im Gegensatz. Es geht lediglich um die besondere, einmalige Form, die Junker aus all diesen Konzepten und Ideen gestaltet hat. Dass es dabei äußerer Ressourcen (das Erbe des Großvaters) und innerer Ressourcen (Ausbildung als Schreiner, Architekt und Maler) bedarf, liegt auf der Hand. Eine Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis führt vor allem im akuten Stadium zu einem Formzerfall, bei chronischen Verläufen ist das Gegenteil möglich, wenn sich die gesunden, gerade auch die kreativen Fähigkeiten eines Erkrankten den krankheitsbedingten Beeinträchtigungen entgegenstellen.

25 Vgl. Häfner, Heinz, wie Anm. 18.

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Stilentwicklung Neben diesen Mitteilungen zur Lebens- und Krankheitsgeschichte gibt es aber auch in der künstlerischen Entwicklung selbst Hinweise auf eine akute schizophrene Erkrankung, die erstmalig 2010 von mir publiziert wurden. 26 Zum einen existiert ein Frühwerk des Künstlers mit Akt- und Architekturzeichnungen und Bildern, wie es für Kunststudenten im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts typisch gewesen ist. In der Sammlung des Junkerhauses existieren mehrere Belege hierzu. Als ein Beispiel für diese Zeit möge auf die fein ausgeführte Gouache hingewiesen sein, die zum Beispiel als Entwurf für ein Deckengemälde gedient haben mag.p S. 35 Ungewöhnlicherweise im Gesamtwerk von Karl Junker ist dieses Aquarell signiert und auf das Jahr 1874 datiert, ein Jahr also vor Beginn seiner Studienzeit an der Akademie der Bildenden Künste in München. In seiner Formensprache und Ausführung darf es als ein Werk dieser Zeit gelten. Hinweise auf eine Erkrankung enthält es sicherlich nicht. Ganz anders verhält es sich mit einer Collage. p S. 31 Wie die weitaus meisten Arbeiten von Junker ist es weder datiert noch signiert. Im Museum in Lemgo haben sich ein gutes Dutzend dieser höchst auffälligen Collagen erhalten. Eine Auswahl wird erstmalig in diesem Band publiziert. p S. 43,44 Sie sind zusammengesetzt aus vermutlich eigenen Zeichnungen, die der Künstler in unterschiedlichen Formen ausgeschnitten und danach auf ein Blatt aufgeklebt hat. Zu erkennen sind Ornamente, Darstellungen von Kindern sowie vor allem mehrere Fabelwesen (zum Beispiel Sphinx, Löwe mit Flügeln, Löwe mit Gehörn), wie sie uns aus der Kunstgeschichte bekannt sind. Die Darstellungen zeugen von der künstlerischen Ausbildung Junkers. In Anbetracht der Tatsache, dass Collagen – von wenigen Vorläufern abgesehen – in der Kunstgeschichte erst im Jahr 1909 bei den Kubisten auftauchen, muss diese kleine Werkgruppe uns auffallen. Diese Collagen zeigen keine Gesamtkomposition, sie wirken eher wie eine Mustersammlung, bei welcher Formelemente nebeneinander aufgereiht sind. Hierfür sind sie nun aber zu ungeordnet – und vor allem: Einige der Papierstücke sind mit der Zeichnungsseite auf das Papier aufgeklebt worden! Das widerspricht nun vollkommen dem Aspekt einer „Mustersammlung“. Anders ausgedrückt: Eine irgendwie geartete Systematik ist nicht zu erkennen. Ebenso wenig lässt sich

26 Kraft, Hartmut: Karl Junker war schizophren, wie Anm. 7.


Welchen Sinn macht es, bei Karl Junker nach einer psychiatrischen Diagnose zu fragen?

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eine übergeordnete Gestaltungsabsicht im Sinne der von den Kubisten oder später auch von Kurt Schwitters verwendeten Collagetechnik feststellen. In meiner Sicht der Bilder handelt es sich mit größter Wahrscheinlichkeit um Arbeiten aus einer akuten Episode einer schizophrenen Erkrankung. Karl Junker gestaltet hier einige Blätter in einer für uns inhaltlich und formal künstlerisch nicht nachvollziehbaren Weise. Es scheint mir gerechtfertigt, hier vorübergehend vom Zerfall zu sprechen, von dem hilflosen Versuch, mit den Zeichnungen einer frühen, gesunden Zeit vor der Erkrankung etwas Neues zu gestalten. Dies gelingt und gelingt gleichzeitig nicht. Es gelingt insofern, als er vermutlich lange Zeit vor der allgemeinen Verwendung der Collage dieses Stilprinzip für sich entdeckt – es gelingt gleichzeitig aber auch nicht, weil er – krankheitsbedingt – das Material nicht wirklich gestalten kann. Aus diesem Blickwinkel wären diese Collagen der Zeit einer akuten schizophrenen Erkrankung zuzuordnen. Möglicherweise sind sie Ende der 70er Jahre oder in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts entstanden, eine exakte Datierung muss offen bleiben. In Lemgo entwickelte Karl Junker nach seiner Rückkehr 1881/1883 seinen uns bekannten Stil, der im Zusammenhang mit den Aussagen über ihn als eine Mischung aus Krankheitseinflüssen und gesunden, geübten künstlerischen und handwerklichen Fähigkeiten gesehen werden kann. p S. 33

Collage, undatiert


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Das Interesse des Betrachters Warum aber ist es überhaupt von Interesse zu wissen, ob ein Künstler schizophren oder sonst wie psychiatrisch erkrankt ist?27 Bezogen auf Karl Junker lassen sich mehrere Antworten hierzu geben: 1. Bestimmte formale Aspekte seines Werkes können am ehesten von der Seite seiner Erkrankung verstanden werden. Dies gilt vor allem für die höchst ungewöhnliche Gruppe seiner Collagen. Darüber hinaus ist auf das Stilelement des „Horror vacui“ hinzuweisen, auf seine „Angst vor der Leere“ und das dadurch ausgelöste bedrückende Gefühl, das viele Betrachter beim Betreten des Hauses (im Sinne einer „Gegenübertragung“) beschleicht: Wer – so können wir uns selber fragen – möchte in solch‘ ein Haus einziehen, das vom Fußboden bis zur Decke und in jedem Winkel von einer einzelnen Person gestaltet ist? Gibt es hier überhaupt Platz für einen zweiten Menschen, gar eine Familie? Diese Frage ist am ehesten zu verneinen und lässt uns nachempfinden, warum allein schon aus diesem Grunde keine junge Frau dem Künstler als Ehefrau in sein Reich gefolgt ist. Schließlich und endlich lässt sich auch die mangelnde Stilentwicklung nach Ausbruch der Erkrankung, das Festhalten an einem einmal gefundenen Stil, in diesem Sinne verstehen. Das Beibehalten eines einmal gefundenen Stils ist eine Absicherung; stilistische Experimente, das Erkunden von künstlerischem Neuland, würden eine zu große Verunsicherung bedeuten. Trotz der Vielzahl der Hinweise auf eine Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis müssen wir uns klar sein, dass es keine „Beweise“ für eine Erkrankung gibt. Collage, undatiert


Welchen Sinn macht es, bei Karl Junker nach einer psychiatrischen Diagnose zu fragen?

2. Im Unterschied zu berühmten schizophren erkrankten Künstlern wie zum Beispiel Adolf Wölfli (1864–1930) oder Aloise Corbaz (1886–1964) besaß Karl Junker eine fundierte handwerkliche und künstlerische Ausbildung – und er verfügte über ein ererbtes Vermögen! Daraus erklären sich seine künstlerische Reflexion von zeittypischen Stilen wie des Symbolismus oder des Jugendstils sowie überhaupt seine Möglichkeit, ein eigenes Künstlerhaus zu gestalten. Sein ungewöhnliches künstlerisches Gesamtwerk ist folglich am ehesten zu verstehen als eine Mischung von Krankheitseinflüssen mit gesunden und geübten künstlerischen und handwerklichen Fähigkeiten bei wirtschaftlicher und somit auch sozialer Absicherung. 3. Ein Konzept für ein eigenes Künstlerhaus würde Mitarbeiter und Hilfskräfte wahrscheinlich machen. Hierzu wäre Karl Junker wirtschaftlich auch durchaus in der Lage gewesen. Ein in seine eigene Welt versponnener Künstler ist jedoch kaum fähig, als Arbeitgeber und Planer für andere Menschen aufzutreten. Er will und muss – weitgehend zumindest – alleine arbeiten. Hieraus nun ergeben sich formale Eigenheiten, sozusagen eine „durchgehende Handschrift“ für die Gestaltung des Hauses bis in das kleinste Detail. 4. Der Aspekt der schizophrenen Erkrankung eröffnet uns ein Verständnis für die Tatsache, dass Karl Junker keine Schüler, keine Nachahmer hatte. Die Werke der schizophren Erkrankten bildeten „Bilder eigener Welten“, es sind „Ein-PersonenKulturen“. 28 Dementsprechend wurde Karl Junker zusammen mit Adolf Wölfli, Aloise Corbaz u.a. in den beiden großen Übersichtsausstellungen „Kunst und Wahn“ im Kunstforum Wien und in der Ausstellung „Weltenwandler“ in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt gezeigt. 29 5. Im Umkehrschluss macht eine sorgsame Beachtung der schizophrenen Erkrankung des Künstlers auch Sinn, um die Krankheit zu entdämonisieren! Jenseits einer akuten Erkrankungsphase, die im Falle Junkers m. E. durch die Collagen eindrucksvoll belegt wird, besteht kein Widerspruch zwischen einer schizophrenen Erkrankung und bedeutender künstlerischer Arbeit. Trotz der, gegen die und mit der Erkrankung hat Karl Junker ein beeindruckendes Oeuvre hinterlassen, ein eindrucksvolles Lebenswerk, das 100 Jahre nach seinem Tod immer größere Beachtung findet. Karl Junker war schizophren. Ja und?

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27 Ebd. sowie Hartmut Kraft, wie Anm. 6, und Kraft, Hartmut: Dyaden zu dritt: Der (analytisch-) kunstpsychologische Ansatz, in: Kraft, Hartmut (Hg.): Psychoanalyse, Kunst und Kreativität. Die Entwicklung der analytischen Kunstpsychologie seit Freud, Berlin 2008, S. 3–11. 28 Kraft, Hartmut, wie Anm. 6 und 7. 29 Vgl. Brugger, Ingried/Gorsen, Peter/ Schröder, Klaus Albrecht (Hg.), wie Anm. 7, und Weinhart, Martina/Hollein, Max (Hg.), wie Anm. 5.


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Individuelles aus Holz Karl Junkers Mรถbel und Raumausstattungen

Mรถbelentwurf, kolorierte Zeichnung, 1874

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Bauplan, unteres und oberes Geschoss, 1889

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Zitiert nach Scheffler, Jürgen: Lemgo und das Junkerhaus: Heimatbewegung, Denkmalpflege, Kommunalpolitik und Tourismus, in: Fritsch, Regina/ Scheffler, Jürgen (Hg.): Karl Junker und das Junkerhaus, Bielefeld 2000 (= Schriften des Städtischen Museums Lemgo, Bd. 4), S. 109–126, hier. S. 111. 2 Ebd., S. 112.

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Traditionell besaßen das Tischlerhandwerk und die Möbelindustrie für die Region Lippe eine große Bedeutung. Um 1900 zählte sie zu einem der wichtigsten Möbelproduktionszentren Deutschlands. Hinzu kam, dass über Jahrhunderte hinweg die lippischen Grafen und späteren Fürsten einen großen Bedarf an aus- und inländischer Tischlerarbeit hatten. Offensichtlich vollkommen losgelöst von den beschriebenen Standortfaktoren entstanden in dem Jahrzehnt vor und nach 1900 in der Kleinstadt Lemgo höchst bemerkenswerte Möbelstücke und Raumausstattungen, die ihres gleichen suchen. Der Architekt und Maler Karl Junker (1850–1912) legte im Oktober 1889 dem Magistrat der Stadt Lemgo den Bauantrag für sein Haus „am Hamelnschen Wege“ vor. In dem von Junker eingereichten Baugesuch wurde zwischen Wohn- und Arbeitsbereich unterschieden. Im März 1891 vollendete der Lemgoer Zimmermeister Heinrich Schirneker den Rohbau. Der Keller umfasst zwei, das Erdgeschoss sieben, das Obergeschoss sechs und das Dach drei Räume. Im Erdgeschoss befinden sich – Junkers Benennung folgend – „Vestibül, Atelier, Arbeitsraum, Lagerraum, Küche und Abort“. Im Obergeschoss gehen vom Flur „Wohnzimmer, Salon, Fremdenzimmer, Kinder- und Elternschlafzimmer“ ab. Im Dachgeschoss sind drei Kammern mit Fenstern zu den Giebelseiten hin untergebracht. Zentral befindet sich der Aufgang zum Belvedere. Bereits 1895 bestand nach der Angabe aus einem Reiseführer die Möglichkeit, das Haus zu besichtigen, „welches dem Kunsttischler Junker gehört und in seiner Art jedenfalls ganz alleinstehend ist“.1 Auf der Rückseite einer Ansichtskarte von ca. 1900 wird die Beschreibung der wandfesten Ausstattung und des Mobiliars gegeben: „Dieses, vom Besitzer Junker selbst erbaute Haus ist mit geschnitzten u. bemalten Holztäfelchen bekleidet. Es gehörte eine unendliche Ausdauer u. Arbeitskraft dazu, dieses Gebäude, dessen Inneres dem Äußeren entspricht, auszuführen. Die Möbel sind ebenfalls alle von dem Besitzer in gleicher Weise hergestellt und mit den wunderlichsten geschnitzten Figuren verziert.“2 Die Flächen fast aller Räume (Decke, Wände und Boden), das wandfeste und bewegliche Inventar sind künstlerisch von Junker gestaltet. Mit Ausnahme des Kinderzimmers besitzen alle Räume mindestens zwei Fenster, das Atelier und der Salon sogar jeweils vier Fenster. Der Flur im Obergeschoss erhält Tageslicht durch die zentrale Laterne. Der künstlichen Beleuchtung dient ein im Flur aufgehängter, heute noch erhal-


Individuelles aus Holz

Karl Junkers Möbel und Raumausstattungen

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tener Deckenleuchter für Kerzen. Durch das Haus ziehen zwei Kamine, an die der Küchenherd und zahlreiche Öfen angeschlossen sind. Die Raumwände sind mit unverleimt auf Stoß gefügten Nadelholzbrettern verkleidet. Kreuzfriese gliedern die Türblätter in jeweils vier gleich große Flächen. Ähnliche Friessysteme und Leisten gliedern die Wände. Im oberen Wanddrittel von Atelier, Vestibül, Treppe und Obergeschoss-Räumen sind polychrome, figürliche Bildfelder eingelassen, deren Inhalt teilweise aufgeklärt ist.3 In seinem Baugesuch vom Oktober 1889 geht Junker ansatzweise auf die geplante Raumgestaltung ein: „Die Wände und Decken der Haupträume des Hauses beabsichtige ich durch Täfel und Schnitzwerk mit teilweiser Malerei zu bekleiden“.4 Möbelentwürfe aus der Lehr- und Studienzeit um 1870 Mit Hilfe der Rechnungsbücher für die Tischlerei W. Stapperfenne in Lemgo und die Tischlerei W. Hauer in Hamburg konnte nachgewiesen werden, dass Karl Junker sowohl während seiner Lehr- als auch während seiner Gesellenzeit vorwiegend mit Schreiner- und nicht mit Zimmerarbeiten beschäftigt war.5 Für eine intensive Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Möbelkunst und Architektur spricht auch der Umstand, dass nach seinem Tod im Haus „peinlich saubere und korrekte Aufnahmen oder auch eigene Entwürfe von Prunkschränken, öffentlichen Gebäuden und Zierbrunnen, alles in der damals üblichen öden Renaissance-Imitation“ entdeckt wurden.6 Der früheste erhaltene, signierte und datierte Möbelentwurf von Junkers Hand stammt aus der Zeit, als er in Hamburg auf Wanderschaft war. 1870 entstand das Blatt mit der Beschriftung „Herrenschreibtisch gothisch“, dessen ursprünglich leere Rückseite Junker später mit einem weiteren Entwurf versah (J 80-90, J 80-93). Es ist davon auszugehen, dass das Möbelstück in enger Anlehnung an zeitgenössische Vorlagenwerke oder in der Hamburger Werkstatt bereits vorhandene Entwürfe entstand. Auf der anderen Seite zeigt das Blatt eine wenig inspirierte Komposition, aus der durchaus die entwerferische Unerfahrenheit des jungen Tischlers sprechen könnte. Typologisch handelt es sich bei dem Möbel um einen Schreibtisch mit Aufsatz. Das von seinem Volumen her barock-klassizistisch anmutende Möbel weist renaissancezeitliche und neugotische

„Herrenschreibtisch gothisch“, Aufsatz, Zeichnung, 1870

3 Vgl. Fritsch, Regina (mit einem Beitrag von Götz J. Pfeiffer): Das Junkerhaus in Lemgo, Detmold 2004 (= Lippische Kulturlandschaften, Heft 1), S. 6–9. 4 Zitiert nach Güntzel, Jochen Georg: Der Architekturmaler Karl Junker und der Zimmermeister Heinrich Schirnecker: Ihre Anteile an Bauplan und Modell des Junkerhauses, in: Fritsch, Regina/Scheffler, Jürgen (Hg.), wie Anm. 1, S. 29. 5 Ebd., Anm. 18. 6 Meier-Lemgo, Karl: Das Junkerhaus und sein Schöpfer, Lemgo 1929, S. 11.


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Junkers Eintrag in das Matrikelbuch der Münchener Kunstakademie, 1875

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Elemente auf. Ungewöhnlich ist der tryptichonartig anmutende Aufsatz, der zusammen mit den Spitzbogenformen dem Schreibtisch eine gewisse sakrale Weihe verleiht. Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte eine Rezeption von Renaissance- und Barockformen ein. In den deutschsprachigen Ländern war die Kaiserstadt Wien das erste Zentrum der Neurenaissance. In der Kaiserstadt Berlin entstanden ab 1870 Gebäude aus Elementen der italienischen und französischen Renaissance des 16. und 17. Jahrhunderts, aber auch solche mit Formen von deutschen Patrizierhäusern derselben Zeit. Die verstärkte Hinwendung zur Neurenaissance in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war vor allem politisch-gesellschaftlich motiviert. Als Junker in den 1870er Jahren nach München ging, um zu studieren, kam er in ein bedeutendes Kunstzentrum. Hier entwickelte sich um den Bildhauer und Architekten Lorenz Gedon (1844–1883) eine wichtige Strömung der Neurenaissance. Bedeutung erlangte Gedon auch als Festdekorateur. Mit der Errichtung des Palais Schack in München zwischen 1872 bis 1874 gelang ihm der Durchbruch als Architekt. Es war der erste in Neurenaissanceformen errichtete Privatbau in der Residenzstadt. Für Raumentwürfe verwendete er architektonisch massige, raumgreifende Formen mit Wand- und Deckenvertäfelungen aus dunklem Holz, Wandbespannungen aus geprägtem Leder und griff auf schwere Samtportieren zurück. Messingund Zinngefäße blitzten in den tief verhängten Räumen, die in ein gleichmäßiges Dunkel getaucht waren. Dominierend waren die Farbkombinationen Schwarz-Braun, Schwarz-Rot und Schwarz-Grün. Karl Junker besuchte in den 1870er Jahren in München die Kunstgewerbeschule. Aus dieser Phase stammt wohl ein Entwurf mit zwei Sitzmöbeln, einem Armlehnsessel und einem Stuhl. Volutenförmig eingerollte, kannelierte Vorder- und Hinterstützen mit lebhaft geschwungenen Zwischenstücken tragen die mit flacher Polsterung ausgestattete und mit Ziernägeln dekorierte Zarge. Die Rücken sind breiter als hoch und im unteren Teil gepolstert. Kleine, figürlich gestaltete Knäufe bekrönen die beiden kräftigen Rückenlehnenpfosten. Dazwischen ist ein geschwungenes und reich verziertes Zwischenbrett eingespannt. Weibliche Fantasiewesen, die auf niedrigen Sockeln stehen, tragen als Stützen die leicht geschwungenen und seitlich beschnitzten Armlehnen. Insgesamt betrachtet handelt es sich hierbei um wenig eigenständige Entwürfe, die seinerzeit


Individuelles aus Holz

Karl Junkers Möbel und Raumausstattungen

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hochmoderne Neurenaissanceformen zeigen. Die Plastizität der einzelnen Elemente wirkt durchaus barock, was aber keinen Widerspruch darstellte. Gerade diese Stillage propagierte Lorenz Gedon in seinen Entwürfen, und sie scheinen auch das Schaffen in der Kunstgewerbeschule beeinflusst zu haben. Ein 1874 entstandener signierter Entwurf – wohl ebenfalls im Rahmen der Kunstgewerbeschule entstanden – zeigt einen Armlehnstuhl links, einen großen Aufsatzschreibtisch in der Mitte und ein ähnliches, jedoch kleineres Möbel rechts.p S. 46,47 Der große Schreibtisch ist zweigeschossig. Das untere Geschoss ist dreiachsig: Zwei Kästen auf hohem Sockel fassen die zentrale Fußnische ein und tragen eine hohe Zarge, in die wohl drei Schubladen eingelassen sind. Der Aufsatz wird mittig markiert durch eine überhöhte leicht vortretende Ädikula mit Rundbogennische, in der eine Büste steht. Jeweils links und rechts schließen sich leicht zurückspringende, wahrscheinlich mit Schubladen ausgestattete Schrankteile an. Den oberen Abschluss des Aufsatzes bilden kuppelartige Abschlüsse, Zierzapfen und in der Mittelachse eine antikisierende, rundtempelartige Miniaturarchitektur. Die Grundgliederung des Möbels folgt den statischen Gesetzen der Architektur: Auf hohem ungegliedertem Sockel ruhen vier aufgedoppelte Pilaster, die das Untergeschoss gliedern. Sockel und Gesims verbinden sich mit den vertikalen Strukturen zu einer ausgeprägten Horizontal-Vertikal-Verriegelung, die mit zahlreichen renaissancezeitlichen Schmuckelementen verziert ist. Hierzu

Möbelentwurf, kolorierte Zeichnung, undatiert


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gehören Diamantierungen und Zahnschnittfries ebenso wie Beschlagwerkelemente. Der kleinere Schreibtisch bedient sich vergleichbarer architektonischer und dekorativer Elemente. Der den beiden Schreibtischen zugeordnete Stuhl erscheint in seiner Form zwiespältig. Die Grundform mit starren Elementen und vor allem die Stützen erinnern an antike Throne. Die Dekorelemente jedoch sind ganz und gar renaissancezeitlich. So ist die Rückenlehne als eine große, leicht gewölbte Beschlagwerkspange interpretiert. Von wesentlicher Bedeutung für die Gesamtwirkung des Entwurfsblattes ist die Dekoration der Wand, vor der die Möbel gestellt sind. Die Fläche ist durch rote, blaue und gelbe horizontale und vertikale Elemente gegliedert, die aus kleinen Säulen, Ädikulen, Gitterstrukturen und Tuchgehängen gebildet werden. Hinter den Möbeln ist eine lambrisartige Zone zu erkennen und über ihnen verläuft eine massiv wirkende, gebälkartige Struktur, die von vier luftigen senkrechten Strukturen geschnitten wird. Karl Junker verwendet für die Wandgestaltung direkte Anleihen aus der Antike und zwar aus der Malerei des vierten pompejanischen Stiles. In ihm werden die Errungenschaften aller vier Stile ineinander vereint. In die horizontal und vertikal getrennten Wände werden Schmuckbänder, freischwebende Medaillons und Bildfelder eingearbeitet. Die Architekturelemente gewinnen wieder an Volumen, werden deutlich plastischer dargestellt. Luxuriös und reich gestaltete Ornamente mit Licht-Schattenwirkung verleihen eine insgesamt reichere und lebhaftere Wirkung. Deutlich erkennbar ist die rahmende Wirkung der Malereien, die jedem Möbel seinen speziellen Platz zuweisen und somit keinen Tausch der Positionen zulässt. Interessanterweise lässt sich ein bemerkenswertes Wechselspiel zwischen dem Einzelmöbel und der jeweiligen Rahmung nachweisen. So fügt sich zum Beispiel die Rundtempelarchitektur des Schreibtischaufsatzes präzise in die Ädikula der Malerei darüber ein. Ähnliches gilt auch für die zahlreichen Zierzapfen als oberem Möbelabschluss, die in der Malerei Entsprechungen finden. Somit findet die oben beschriebene Horizontal-Vertikal-Verriegelung in der Gestaltung einzelner Möbeloberflächen ihre Fortsetzung in der rahmenden Malerei mit dem Ergebnis einer netzartigen Struktur auf Wand und Möbel. Das Möbel bedingt die Ausdehnung der Malerei und die Malerei scheint die Dimensionen der Möbel zu begrenzen. Ein gegenseitiges Wechselspiel also.


Individuelles aus Holz

Karl Junkers Möbel und Raumausstattungen

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Architektur und Ornamentik in Junkers frühen Entwurfs- und Auftragsarbeiten Im Jahr 1883 erhielt Karl Junker von den Magistraten der Städte im Fürstentum Lippe den Auftrag, anlässlich der Silberhochzeit des Fürstenpaares eine Gratulationsadresse zu entwerfen. Offensichtlich hatte der Lemgoer Bürgermeister August König Junker für den Auftrag empfohlen und lobte auch entsprechend dessen Entwurf. Königs Detmolder Kollege Theodor Petri war mit dem Entwurf nicht einverstanden, da für ihn „die Adresse durch den Maler Junker in jämmerlicher Liederlichkeit ausgeführt“ war.7 Dennoch wurde das Werk am 9. November, dem Jubiläumstag, dem fürstlichen Hofmarschallamt übergeben, woraufhin sich das Fürstenpaar einige Tage später herzlich „für die so sinnig erdachte und schön ausgeführte Adresse“ bedankte.8 Sowohl die von Junker gemalten Ansichten der lippischen Städte und der fürstlichen Schlösser als auch die begleitenden und erläuternden Texte sind in eine dreidimensional angelegte Scheinarchitektur eingebunden. Fünf Achsen breit, sechs Geschosse hoch und anscheinend nur wenig tief, ruht der fast doppelt so hohe wie breite Komplex auf insgesamt sechs zierlichen Füßen, die ihn leicht vom Boden abheben. Die Kombination aus hochrechteckigem Korpus und den unarchitektonischen, leicht gebogenen Füßen weckt eher Erinnerungen an ein Kasten- bzw. Schrankmöbel. Während die mittlere und die beiden äußeren Achsen risalitartig vorgezogen sind, überzieht nahezu die gesamte Fassade eine homogene Struktur aus eng miteinander verwobenen horizontalen und vertikalen Gliederungselementen. Von Geschoss zu Geschoss abwechselnd sind Karyatiden bzw. Atlanten und Kandelaberstützen als tragende Elemente eingesetzt. Nach oben werden die seitlichen Achsen durch Dreiecksgiebelverdachungen abgeschlossen, die einen überhöhten mittleren Segmentbogengiebel einfassen. Seitlich eingefasst werden die Giebel durch Postamente, auf denen allegorische Figuren stehen bzw. ruhen und die durch dekorativ gestaltete Tafeln mit Obeliskenbekrönung erklärt werden. Die von Junker angelegte Architektur schließt nach oben glatt ab und wird nach hinten durch einen kolossalen, brettartigen, in Segmentform angelegten Giebel mit seitlichen Ädikulen überragt. Bildlich gesehen handelt es sich um die nach oben verlängerte Rückwand. Galerieartig und ein wenig niedriger umfasst der Aufsatz auch die beiden Schmalseiten der Schein-

Entwurf der Gratulationsadresse der lippischen Städte zur silbernen Hochzeit des Fürstenpaares am 9. November 1883, Mischtechnik auf Zeichenkarton (Sammlung Prinzhorn)

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Brief vom 10.11.1883, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen OstwestfalenLippe (LAV NRW OWL), D 106 Nr. 25, zitiert nach Katerndahl, Jörg: Karl Junkers Werk als Quelle psychiatrischer Begutachtung nach dem Tode, in: Fritsch, Regina/Scheffler, Jürgen (Hg.), wie Anm. 1, S. 95. 8 Brief vom 13.11.1883, LAV NRW OWL, D 106 Nr. 25, zitiert nach Katerndahl, Jörg, ebd., S. 95.


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Thomas Dann

Entwurf für eine Wanddekoration mit Ansicht der Stadt Lemgo, Mischtechnik auf Zeichenkarton (Sammlung Prinzhorn)

architektur und leitet zu den frontal aufgestellten Figuren und Begleittafeln über. Somit wirkt der obere allseitig herumgeführte Abschluss wie das Attikageschoss antiker oder auch davon inspirierter klassizistischer Architekturen. In der Sammlung Prinzhorn befindet sich ein undatiertes, farbig gehaltenes Entwurfsblatt von Karl Junker, das eine Wanddekoration mit Stadtansicht von Lemgo darstellt. Der Betrachter befindet sich in einem saalartigen Raum und blickt auf eine breit lagernde Wandfläche mit je einer doppelflügeligen Tür an den Seiten. Dazwischen erstrecken sich vier arkadenartige Fensteröffnungen, die nach unten durch eine durchlaufende Brüstungszone mit zahlreichen querrechteckigen Füllungsfeldern abgeschlossen werden. Über den Türen sind supraportenanaloge dreipassförmige Durchblicke angelegt. Die Bogenstellungen erinnern an das Venetianische Fenster, das auch als Palladiomotiv oder Serliana bezeichnet wird. Hierbei handelt es sich um eine mit Rundbogen überwölbte (Fenster-)Öffnung, die auf beiden Seiten von schmalen Rechtecköffnungen flankiert ist. Die Assoziation in Junkers Entwurf erklärt sich aus der konstruktiv bedingten Verbreiterung des Bogenkämpfers zu einem angedeuteten Gebälk, das durch Kandelaberstützen mit anthropomorphen Elementen zusätzlich getragen wird. Auch den Bogenpfeilern sind Kandelaberelemente vorgeblendet. Eingespannt zwischen den Gebälkabschnitten befinden sich antikisierende Inschriftentafeln, die sich in geringfügig kleinerer Dimension auch über den Türen finden. Oberhalb der Bogenkämpfer stehen bis an das Raumgebälk reichende Figuren, die mit ihren Händen ein den ganzen Wandaufriss horizontal durchziehendes Seil halten. Die Bogenpfeiler ruhen auf verbreiterten Sockeln, die das antike Motiv der „tabula ansata“, der aufgehängten Tafel, zeigen. Sowohl die Füllungen der beiden Türen als auch jene der Brüstung zeigen Kandelaberformen, die mit Gehängen kombiniert sind.


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Karl Junkers Möbel und Raumausstattungen

Der Blick des Betrachters fällt aus dem erhöht liegenden, imaginären Raum auf einen Vordergrund mit vielfältiger Figurenstaffage, so links einen Maler an der Staffelei stehend (Junker selbst?) und schließlich in der Ferne auf eine zu Junkers Zeit so nicht mehr existierende, also historische Ansicht seiner Heimatstadt Lemgo. Auffallend ist die Hervorhebung eines die Stadt nahezu allseitig umfließenden Gewässers, was zu keiner Zeit den natürlichen Gegebenheiten entsprach. 1883 schuf Karl Junker einen Titelblattentwurf für das „Lemgoer Gemeindeblatt“, einer wöchentlich erscheinenden Zeitschrift der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde. Zeitgleich entstanden mit der Gratulationsadresse der lippischen Städte an das Fürstenpaar, ist es eine der frühesten nachweisbaren künstlerischen Äußerungen Junkers überhaupt. Das fast doppelt so breite wie hohe Blatt vermittelt auf den Betrachter den Eindruck einer durch vielfältige Formen aufgebauten dunklen Gitterstruktur, die zahlreiche hell gehaltene Durchblicke auf Stadtansichten und Landschaften ermöglicht. Im Detail ist das Gitter streng symmetrisch und tektonisch aufgebaut. Vier annähernd die gesamte Höhe einnehmende Kandelaber tragen die Konstruktion, die durch zahlreiche horizontal ausgerichtete Schrifttafeln mit Erklärungen zur Zeitschrift selbst und runde Durchblicke bestimmt wird. Während die Ausblicke auf die Kirchen St. Nicolai und St. Marien rundgerahmt sind, bestimmen im obersten und untersten Register peltaförmige Einfassungen das Bild. Die metallene Struktur des Gitters wird durch die alle Rahmen dominierende Beschlagwerkornamentik mit deutlich erkennbaren Nietenköpfen verstärkt. Zahlreiche weitere Ornamentmotive aus dem Repertoire von Spätklassizismus und Neurenaissance lassen sich entdecken: Dreiecksgiebel mit Akroterien in Beschlagwerkdesign, Masken, die ihre Herkunft aus manieristischem Ornamententwurf nicht verleugnen können, und die klassische Tabula-ansata-Form. Hermenartige, weibliche Halbfiguren sind in die beiden äußeren Kandelaber eingespannt und halten – Allegorien gleich – Attribute für Glauben (Kreuz) und Wissenschaft bzw. Belesenheit (Buch) in ihren Händen. Zusammenfassend gesehen lassen sich an dem Titelblattentwurf kompendiumartig eine Vielzahl aus dem Historismus schöpfender Motive erkennen, die Junker bis ca. 1885/90 in mehr oder weniger unveränderter Form – wohl zeitgenössische Vorlagen rezipierend – umsetzt, um sie dann später – bei eingeschränktem Motivrepertoire und bis zur beinahen Unkenntlichkeit verändert – zu abstrahieren.

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Lemgoer Gemeindeblatt Nr. 1 vom 6. Januar 1884


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Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich Karl Junker während der Wanderjahre und der Münchner Zeit intensiv mit dem zeitgenössischen Historismus und insbesondere mit der Neurenaissance auseinander setzte. Zurückgekehrt nach Lemgo Anfang der 1880er Jahre entstanden grafische Auftragsarbeiten, die sich eng am Historismus und der klassischen Antike orientieren. Wandaufriss mit Mobiliar – eine Analyse am Beispiel eines Wohnzimmers

Wohnzimmer mit Tisch, Stühlen und Sofa

9 Horbas, Claudia: Möbel der Renaissance im Weserraum, Marburg 1994 (= Materialien zur Kunst- und Kulturgeschichte in Nord- und Westdeutschland, Bd. 15), Kat.-Nr. 12. 10 Dass die Kommode sehr wahrscheinlich ursprünglich auf dem Sockel stand, belegt eine historische Fotografie des Raumes von 1928, vgl. Fritsch, Regina: Truhe, Schrank und Bett. Zur Funktionalität und künstlerischen Gestaltung der Möbel von Karl Junker, in: Fritsch, Regina/Scheffler, Jürgen (Hg.), wie Anm. 1, S. 49–60, Abb. 16.

Der Aufriss der äußeren Längswand im Wohnzimmer soll hier beispielhaft untersucht werden, um Aussagen über Junkers Gestaltungsprinzipien treffen zu können. Das mittig gesetzte Fenster teilt die Wandfläche in zwei gleich große Abschnitte, die förmlich zur symmetrischen Gestaltung einladen. Karl Junker überträgt die für die beiden Wandflächen bestimmte Vertäfelungsstruktur nur modifiziert auf die Fensterachse selbst. Sie erhält somit eine Sonderbehandlung: Ein mit Mittel- und Eckakroterien besetzter Dreiecksgiebel betont als Würdezeichen die Fensterachse besonders. Der Wandaufriss mittels hölzerner Vertäfelung ist gekennzeichnet durch eine enge Verbindung zwischen horizontalen und vertikalen Stableisten im Sinne einer Horizontal-Vertikal-Verriegelung. Zuunterst findet sich eine der klassischen Vertäfelungskunst entsprechende lambrisartige Sockelzone, die nach oben und unten durch niedrige Friese abschließt. Nach oben schließt die Wand ein ebenfalls in seinen Dimensionen an klassische Architektur erinnernder Fries ab und bildet zugleich die Zäsur zur Decke hin. Die beiden gleich großen Wandflächen werden durch je vier vertikale, durch Holzleisten markierte Achsen gegliedert. Den Rhythmus durchbricht je ein querlagerndes, peltaförmig gerahmtes, helles Malereifeld, das seinerseits in eine rechteckige Rahmung eingebunden ist und sich somit der kleinteiligen, auf rechten Winkeln aufbauenden Wandgliederung unterwirft. Schließlich fasst Karl Junker in der unteren, konkaven Wölbung der Pelta zwei Wandachsen zusammen und bekrönt sie mit einem Dreiecksgiebel, dessen jeweils drei Akroterien, seltsam von einem Schatten gerahmt, in das Gemälde einschneiden. Bereits in seinem Titelblattentwurf für das „Lemgoer Gemeindeblatt“ griff Karl Junker auf eine sehr ähnliche Lösung zurück. p S. 55 Renaissancezeitliche Verwahrmöbel des norddeutschen Raumes und hier besonders aus dem Weserraum zeigen eine


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bemerkenswerte Nähe sowohl zu einigen Schränken, aber auch Wandvertäfelungen Junkers. Besonders auffällig ist in dieser Hinsicht ein Möbel aus Schloss Hämelschenburg, dessen Front mit zahlreichen Blendarkaden, Diamantierungen und Dekorelementen aus Dreieick- und Rundstableisten versehen ist.9 Das Dekorationsmotiv der Blendarkade bzw. Ädikula ist letztlich durch süddeutsche Fassadenschränke inspiriert. Die renaissancezeitliche rasterartige Anordnung von Architektur- und Stableistenelementen findet sich vor allem in Junkers Wandvertäfelungen in abstrahierter Form wieder. Der Künstler bediente sich einer strengen Symmetrie, der er konsequent alle Wände unterwarf. Entsprechend fügten sich auch die Gemälde in die vorgegebene Ordnung. Die tafelförmigen, zumeist hochrechteckigen, aber auch quadratischen Paneelelemente ergeben in ihrer Gesamtwirkung eine rhythmisierte Wandstruktur, die durchaus Ähnlichkeit mit Raumentwürfen der Neurenaissance aufweist. Vor die beschriebene, spiegelsymmetrisch gestaltete Wand mit zentraler Fensterachse stellte Junker zwei Kastenmöbel: rechts einen Schreibschrank und links eine Kommode mit Aufsatz, die auf einem ungewöhnlichen Sockel steht.10 Schreibschrank und Kommode stammen möglicherweise aus einer frühen Ausstattungsphase, die Kommode möglicherweise wegen ihrer prägnanten Neurenaissance-Motivik noch aus den 1880er Jahren. Als sich Junker entschied, das Wohnzimmer zu möblieren, musste er für die Längswand und deren symmetrischer Gestaltung auch zwei in ihren Dimensionen gleichwertige Möbel auswählen. Da die Kommode diesem Wunsch ganz und gar nicht entsprach, stellte er sie auf einen Sockel, der seinen Gestaltungsvorstellungen in den 1890er Jahre entsprach und schuf damit eine Pendantsituation, ein vielfach angestrebtes Ausstattungsideal im höfischen und bürgerlichen Wohnen des 18. und 19. Jahrhunderts. Die formale Entsprechung beider Möbel wird durch die architektonischen Aufsätze unterstrichen. Während sich der rechte Aufsatz fast vollständig bis in die Gegenwart erhalten hat, lässt sich die vergleichbare Dimension des linken Pendants nur über eine Fotografie von 1928 erschließen. Der Architekturaufsatz des Schreibschrankes erinnert in seiner Gesamtwirkung an barocke oder klassizistische Platzanlagen. Ein zentrales, auf annähernd rundem Grundriss angelegtes viergeschossiges Gebäude mit zurückspringenden Etagen bildet die Mitte. An drei Seiten angelegte Arkaden mit Eckpavil-

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Blick in das Wohnzimmer mit Kommode, 1928

Schreibschrank im Wohnzimmer


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Entwurfszeichnungen zum Thema „Orpheus in der Unterwelt“

11 Vgl. Irmscher, Günter: Kleine Kunstgeschichte des europäischen Ornamentes seit der frühen Neuzeit (14001900), Darmstadt 1984, S. 58 ff. 12 Vgl. hierzu Pfeiffer, Götz J.: Orpheus in der Unterwelt bei Karl Junker (1850–1912). Der Künstler und seine Werke zwischen Fatum und Fama, in: Rosenland. Zeitschrift für lippische Geschichte, Nr. 2, 2005, S. 19–37. (www.rosenland-lippe.de).

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lons und bekrönenden Figuren werden nach vorne durch einen Triumphbogen akzentuiert. Typologisch ist der Triumphbogen ein von den Römern geschaffener Typ des Ehrenmonumentes für verdiente Feldherrn und Bürger, später für den römischen Kaiser. Er besitzt als allseitig frei über einer Straße stehendes Tor ein oder drei Öffnungen und darüber eine Attika, die als Basis für die Ehrenstatue bzw. -statuen diente. Karl Junker hat sich als Vorbild für sein Modell konkret den Konstantinsbogen in Rom ausgewählt und ihn recht präzise kopiert. Das römische Vorbild entstand zwischen 312 und 315 zu Ehren Kaiser Konstantins und ist somit zugleich der jüngste und größte unter den Bögen im Forum Romanum. Charakteristisch sind die drei Tordurchgänge, die jeweils paarweise positionierten Medaillons und die Reliefs in der Attika. Junker hat all diese Merkmale präzise übernommen und sie um wichtige Würdeformen erweitert, so den Dreiecksgiebel über dem mittleren Durchgang. Auch die Quadriga ist eine Zugabe Junkers, denn jene des Konstantinsbogens soll im Zusammenhang mit dem Westgoteneinfall im Jahre 410 oder dem Überfall durch die Vandalen 455 abhanden gekommen sein. Der Künstler hatte hier also kein historisches Vorbild. Den Konstantinsbogen als Momumenttyp wird Junker während seiner Grand Tour im Winter 1877/78 gesehen haben. Er hielt sich nachweislich einige Zeit in der Nähe von Rom auf und erkundete wohl eingehend die ewige Stadt. Zudem hatte Junker sicherlich während seiner Münchner Zeit das 1852 fertiggestellte Siegestor am Ende der Ludwigstraße gesehen. Auch für dieses Tor diente der Konstantinsbogen in Rom als Vorbild – jedoch hielt es der Architekt Friedrich von Gärtner nicht so genau mit den Details. Als Bekrönung setzte er ein Löwengespann, das die Bavaria antreibt. Für Karl Junker mag eher die Quadriga vom Berliner Brandenburger Tor oder jene auf dem Braunschweiger Schloss vorbildlich gewirkt haben, obwohl er vieles vergröberte und den Tieren einen dicken Querbaum vorlegte. Woher die Inspiration auch gekommen sein mag, der Konstantinsbogen ist im vorliegenden Fall als Exemplum für würdevolle, heroische Architektur zu sehen. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich Junkers Wandvertäfelungen mit ihrer strikten Gliederung an renaissancezeitlichen Vorbildern bzw. an deren Umsetzung durch die Neurenaissance orientieren. Für das Wohnzimmer lässt sich in der Möblierung eine Pendantsituation nachweisen, die durch ihre höchst ungewöhnlichen Architekturaufsätze, die partiell historische Architekturen rezipieren, imponiert.


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Junkers Ornamentik Karl Junker verwendete vielfältige Ornamentik in seinen zeichnerischen Entwürfen, aber auch in den Wandgestaltungen und Möbeln. Vor allem die Zeichnungen der 1870er und 1880er Jahre weisen einen reichen Schatz an Motiven des Historismus auf, die im Folgenden näher vorgestellt werden soll. Häufig anzutreffen ist das Kandelabermotiv.11 Seit der Antike dient das Motiv der Gliederung vertikaler Friese, auch in Gestalt von Pflanzenstabkandelabern und in Kombination mit phantasievollen Details: Maskarons und Figuren. Karl Junker verwendete vielfach das Kandelabermotiv, sowohl in der Malerei als auch für Schnitzwerk. Markant sind in diesem Zusammenhang die gemalten Rahmen zu Entwurfszeichnungen über das Thema „Orpheus in der Unterwelt“ (J 80-525, J 80-527).12 p S. 58 Junker behandelt die horizontalen und vertikalen Rahmenschenkel gestalterisch unterschiedlich. In einem tektonischen Sinn sind der obere und untere Schenkel architravartig mit dekorativer Ornamentik wie Masken und den sich schneidenden Segmentbögen dekoriert. Den vertikalen Schenkeln ist eine dienende Aufgabe zugewiesen, vermittelt durch die Kandelabermotive, die in eine kastenartige Konstruktion eingebunden sind und dadurch losgelöst von grafischen Vorlagen eine plastische Qualität erhalten. Junker setzt seine Kandelaber vor allem aus baluster- und scheibenförmigen Elementen zusammen, die er mit karyatidenartigen Figuren und Köpfen schmückt. Durch das Einfügen in die kastenförmige Konstruktion mit insgesamt wohl fünf Unterteilungen wird das Kandelabermotiv deutlich verfremdet und partiell sogar aufgelöst. Götz Pfeiffer nimmt für die Zeichnungen mit „Orpheus in der Unterwelt“ ein Entstehungsdatum zwischen 1880 und 1885 an, was er auch mit der historistischen Rahmenornamentik begründet, und sieht Parallelen in der Gestaltung zu der Gratulationsadresse von 1883. p S. 58 In geschnitzter Form findet sich das Kandelabermotiv wiederholt an den Möbeln, die mit figürlichen und ornamentalen Schnitzereien auf Front und Seiten versehen sind. Beispielhaft soll hier der im Salon stehende, eintürige Schrank mit Kreuzigungsdarstellung vorgestellt werden. Die zentrale Kreuzigungsdarstellung auf der Türfront wird links und rechts von die Schrankhöhe einnehmenden Kandelabern eingefasst, deren Aufbau den oben behandelten, nur im Entwurf erhaltenen, gemalten Bildrahmen entspricht. Vor allem scheibenförmige Elemente, Figuren und Büsten bestimmen das Bild, während auf die kastenförmige EinSchrank im Salon mit Kreuzigungsdarstellung


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fassung hier verzichtet wurde. Zu den Möbelseiten hin schließt sich links und rechts ein weiteres vertikal orientiertes Dekorband an, das wohl als abstrahierter Kandelaber angesprochen werden kann: Sich kaum voneinander unterscheidende knotige Strukturen und der vollständige Verzicht auf figürliche Darstellungen lassen an eine Abstraktion denken. Das Akroterion ist ein in der antiken Tempelarchitektur sowie bei Grabstelen vorkommendes Element zur Bekrönung des Giebelfirstes und der Verzierung der auslaufenden Dachschrägen. Karl Junker verwendete für die Fassade des Hauses, der Möbel und vor allem für Wandgestaltungen sehr schlichte Akroterien, die aus glatten, nur wenig beschnitzten Leisten gefügt sind. Das Beschlagwerk ist ein renaissancezeitliches, schwachplastisches, band- und leistenartiges Ornament, das in symmetrischer Anordnung aufgenietete, metallene Beschläge imitiert. In seinem Entwurf für das „Lemgoer Gemeindeblatt“ verwendete Junker das Beschlagwerk als gitterartiges Element, das imaginäre Durchblicke ermöglicht. p S. 55 In späteren Jahren, gemeint ist vor allem die eigentliche Erbauungszeit des Hauses, spielt das Beschlagwerk keine Rolle mehr als Ornament. Rollwerk ist die Bezeichnung für eine manieristische Zierform mit eingerollten und verschlungenen, plastisch wirkenden Bandformen. Auf Rollwerkornamentik griff Junker im Zusammenhang mit der Gestaltung von Rahmen zurück, die im Zuge einer späteren Umnutzung Bestandteil von Halb- oder Wandschränken wurden. Die Pelta ist der auf antikisch-griechischen Darstellungen von Amazonen getragene Schild, der halbmondförmig ausgeschnitten ist. Bereits im Entwurf für das „Lemgoer Gemeindeblatt“ findet sich das Motiv, um später während des Innenausbaus als Rahmung für imaginäre Ausblicke auf allegorische Motive zu einem dekorativen Wandelement zu werden. p S. 55 Die rechteckige aus der Antike stammende tabula ansata, eine angeheftete Inschriftentafel, ist erkennbar an den dreieckigen, mittig an den beiden Schmalseiten ansetzenden Ausbuchtungen (Ohren). Das Motiv findet sich bei Karl Junker zum einen im Entwurf zum „Lemgoer Gemeindeblatt“, aber auch im Sockelbereich an der Standuhr im Junkerhaus wieder. Die Diamantierung ist ein plastischer, aus pyramidenförmigen Erhebungen bestehender Dekor. Im zeichnerischen und plastischen Werk Junkers findet sich die Diamantierung als klassisches Stilelement der Neurenaissance wiederholt. Zu Beginn Standuhr im Salon


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noch streng pyramidenförmig angelegt, erfährt sie mit den Jahren eine Abwandlung hin zum Knorpeligen und Knolligen. Masken tauchen in der Architektur von Gotik, Renaissance und Barock als Bauschmuck auf. In Junkers Werk finden sie sich vor allem in den frühen Arbeiten der 1880er Jahre. Menschliche Figuren mit tragender Funktion in der Architektur nennt man Karyatiden oder Atlanten. Seit der Antike ist das Motiv beliebt. Karl Junker verwendete es zahlreich in der „Gratulationsadresse“ von 1883, wo er von Geschoss zu Geschoss abwechselnd Baluster oder menschliche Figuren als Stützen einsetzt. p S. 53 Ädikula war ursprünglich ein einer Tempelfront ähnlich sehender Wandaufbau, in dem sich eine Statue befand. Später wurde jede Stützengliederung mit Giebel und Nische Ädikula genannt. Von den Entwürfen der 1880er Jahre bis in die Zeit des Hausbaus hinein griff Karl Junker auf die Architekturform zurück, wobei auch hier eine deutliche Reduktion der Formensprache zu erkennen ist. Wiederholt findet sich das Motiv als Gliederung von Wandflächen im Junkerhaus und am vertikoartigen Halbschrank des Salons. p S. 57 Sofa, Standuhr, Hängeschrank: Möbeltypen im Werk von Karl Junker In diesem Abschnitt sollen Möbeltypen aus Karl Junkers Werk vorgestellt werden, die sich auf traditionelle Möbelformen des 19. Jahrhunderts zurückführen lassen. Sitzmöbel Das Sofa im Wohnzimmer ist charakterisiert durch die zu Schubladenkästen umgebauten Armlehnen und den Spiegelaufsatz. Magazinsofas, das heißt Sofas mit integrierten Schubladen in der Zarge oder aufklappbaren Armlehnen mit eingefügten Fächern, lassen sich gelegentlich für die Biedermeierzeit nachweisen, sind also damit keine Erfindung Junkers. Sofas im Neurenaissancestil kennen diese Verwahrfunktion nicht. Erst der Neoklassizismus der Jahre um 1900 ließ Formen und Dekore der Biedermeierzeit wieder aufleben und mit ihnen auch das Magazinsofa. An den Biedermeierstil erinnert auch der leicht bogenförmig geschwungene Abschluss der Sofarückenlehne. Im Gegensatz dazu zeigen Kanapees der Neurenaissance stets eine gerade hoch gezogene obere Rückenlehne mit Aufsatz, der zusätzlich mit einem Spiegel ausgestattet sein

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konnte, wie es Junkers Möbel wiederum belegt. Besonders der mit einem Giebel, Akroterien und Zapfen bekrönte Aufsatz findet sich in Vorlageblättern der 1880er Jahre.13 Im Salon steht ein Sofa, das frühhistoristische Formen der Jahre um 1850 aufgreift, so die stark geschwungene Rückenlehne mit den charakteristischen überhöhten Ohren und den s-förmig geschwungenen Armlehnen. Beides sind Motive aus dem Neurokoko der Jahrhundertmitte. Allein der gitterartige Überbau erinnert entfernt an die Sofaaufsätze der Neurenaissance.

Sofa im Salon

Kastenmöbel Der Schreibschrank oder auch Sekretär genannt, der in Karl Junkers Wohnzimmer steht, entspricht in seinem dreiteiligen Aufbau – bestehend aus dem Kommodenteil zuunterst, dem Schreibfach in der Mitte und einem oberen Aufsatz – ganz und gar dem in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts beliebten Schreibmöbeltyp. p S. 57 In der zweiten Jahrhunderthälfte machte der für reine Schreibarbeiten wesentlich praktischere Schreibtisch mit oder ohne Aufsatz dem Sekretär ernstzunehmende Konkurrenz. Dennoch hielt sich der Möbeltypus in geringem Umfang bis in das 20. Jahrhundert hinein und wurde im Rahmen des Neoklassizismus in den Jahren zwischen 1910 und 1930 erneut modern. Der eintürige Kleiderschrank konnte sowohl zur Unterbringung von Bekleidung (Gästezimmer im Junkerhaus), aber auch von Porzellan und Tischdecken dienen (Salon im Junkerhaus). p S. 59 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist der zweitürige Kleiderschrank dominierend. Die Standuhr mit schlankem, vollständig geschlossenem Gehäuse besteht aus dem Gehäuse für das Geh- und Schlagwerk und dem Unterkasten, der zwei Geschosse umfasst: ein oftmals breiteres Unterteil und ein schmaleres Oberteil mit einer Tür. Unter- und Oberteil können aber auch die gleiche Breite haben. Bei Junkers Standuhr handelt es sich um einen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbreiteten Uhrentyp. p S. 60

Kommode im Wohnzimmer 13 Vgl. Himmelheber, Georg: Deutsche Möbelvorlagen 1800–1900, München 1988, Nr. 2175. 14 Vgl. ebd., Nr. 463, 468, 492, 512. 15 Vgl. ebd., Nr. 948, 957, 960, 966, 968.

Die im Wohnzimmer stehende Kommode mit drei Schubladen und Aufsatz täuscht durch ihre Frontgliederung einen zweitürigen Halbschrank vor. Allein der Aufsatz passt weder zu einer Kommode noch zu einem Halbschrank. Junker stellte die Kommode wohl zu einem späteren Zeitpunkt auf einen nachträglich angefertigten Sockel, wodurch das Möbel durch seine


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nun gewonnene Höhe im Sinne einer symmetrischen Wandgestaltung zu einem Pendant für den rechts davon stehenden Schreibschrank wurde. Durch das „Aufstocken“ der Kommode wurde sie optisch gestreckt und näherte sich formal dem um 1880 sehr beliebten zweitürigen Vertiko mit Aufsatz an. Kleine Hängeschränkchen finden sich in Neurenaissanceausstattungen wiederholt, so z. B. im Herrenzimmer zur Unterbringung von Rauchartikeln. p S. 65 Ihre Fronten sind gemeinhin von einer Ädikula gerahmt, wie sie sich auch bei Karl Junker findet. Ein Schränkchen (Salon) besitzt eine Rollwerkrahmung, die ursprünglich wohl einmal als Bilderrahmen gedient haben mag und später durch Umbauung zu einem Schränkchen erweitert wurde. Im einem der Dachgeschossräume befindet sich ein eintüriger Halbschrank, dessen Front – ähnlich den Wandkästchen des Obergeschosses – durch eine historistische Rahmung mit Beschlagwerkformen und Diamantierungen bestimmt wird. Offensichtlich benutzte Junker zu einem späteren Zeitpunkt den Rahmen für einen Schrankneubau. Die quadratische Form der Möbelfront ist offensichtlich der niedrigen Raumhöhe geschuldet, die für einen hochrechteckigen Schrank ungeeignet wäre. Das in der Küche des Erdgeschosses stehende zweigeschossige Büffet mit trapezförmigem Grundriss und zurückspringendem Aufsatz entspricht einem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr beliebten Möbeltyp, in dem sowohl Geschirr als auch Vorräte untergebracht werden konnten.14 Sowohl im Schlafzimmer als auch im Fremdenzimmer befindet sich eine Wasch- bzw. Frisierkommode mit Spiegelaufsatz. Beide Möbel entsprechen sich mit ihrem unteren Schrank- und Schubladeteil und dem von einem Dreiecksgiebel bekrönten Aufsatz direkt und orientieren sich dabei an zeitgenössischen Vorbildern aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.15 Diese Möbel hatten jedoch zumeist mehrere Schubladen oder zwei Türen. Junkers Waschkommoden fallen wegen der kleineren Raumdimensionen merklich schlanker und daher auch eintürig aus. Auffallend ist in Karl Junkers Möbelwerk die Truhe mit einer liegenden Christusfigur auf dem Deckel. Den Kern des Möbels bildet mit großer Wahrscheinlichkeit eine ältere Koffertruhe. Dieser Truhentyp besteht aus einem schreinermäßig verzinkten konischen Kasten mit mehr oder weniger stark gewölbtem Deckel, der durch eine umlaufende Zarge versteift wird. Als

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Sofa im Wohnzimmer

Zweigeschossiges Büffet in der Küche

Truhe mit liegender Christusfigur


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Material für den Kasten wurde durchweg Eichenholz verwendet. Hinzu kamen teilweise sehr dekorative Eisenbeschläge. Die Koffertruhe wurde – wie ihr Name schon andeutet – vor allem als Reisekoffer verwendet. Die konische Form der Truhe entspricht dem ebenfalls konisch geformten Aufbau des Leiterwagens, auf dem sie transportiert werden konnten. Koffertruhen wurden bis in das 19. Jahrhundert hinein angefertigt, so dass Karl Junker dieser Möbeltyp sehr wohl bekannt gewesen sein musste. Junker hat die wohl ältere Koffertruhe mit reicher Ornamentik aus Nadelholz beleimt und benagelt und so zu einer Verunklärung der ursprünglichen Möbelform geführt.

Himmelbett mit Wand und Decke im Schlafzimmer

16 Vgl. Dröge, Kurt: Das ländliche Bett. Zur Geschichte des Schlafmöbels in Westfalen, Detmold 1999 (= Schriften des Westfälischen Freilichtmuseums Detmold – Landesmuseum für Volkskunde, Bd. 18), S. 119 ff. 17 Vgl. Anm. 13, Nr. 3302. 18 Zur kunsttechnologischen Untersuchung bisher erschienen: Pietsch, Annik: Karl Junker: ein Moderner in der Tradition – Ergebnisse einer kunsttechnologischen Untersuchung, in: Fritsch, Regina/Scheffler, Jürgen (Hg.), wie Anm. 1, S. 77 – 91. Hilfreich für die Darstellung war: Vollendorf, Dieter/Vollendorf, Gunda: Aufmaßbericht – Möbel im Junkerhaus, maschinenschriftl. Manuskript, Detmold 1992.

Schlafmöbel Das Ehebett im Schlafzimmer ist vom Typ her ein Baldachinbett mit geschlossenem Himmel und somit eine Übergangsform zum Himmelbett. Vier Stützen tragen den mit Kassetten eingelegten Betthimmel. Grundsätzlich erscheint der Betttyp für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts erst einmal antiquiert. Schaut man sich jedoch die überlieferten Baldachinbetten aus dem ländlichen Ostwestfalen an, so fällt auf, dass sie erstaunlicherweise bis gegen 1850 angefertigt wurden.16 Die hier beschriebenen ländlichen Betten hatten eine durchschnittliche Breite von 1,4 m, was der über Jahrhunderte gepflegten Tradition entsprach. Karl Junker baute sein Ehebett aus zwei je einen Meter breiten Einzelbetten zusammen und passte sich damit dem modernen Schlafkomfort an. Über dem Kopf- und Fußende ragt ein bis an den Betthimmel reichendes Gitterwerk empor, das die Rastergliederung der Bettfronten in der Vertikalen fortführt. Es erscheint möglich, dass Karl Junker für das Bett im Elternschlafzimmer auf Vorlagen der Neurenaissance zurückgriff, die um 1880 erschienen und vereinzelt Himmelbetten darstellen.17 Diese frei auf historischen Bettmodellen der Spätrenaissance und des Frühbarock aufbauenden Formen sind kombiniert mit textilen Elementen wie Stoffdraperien und Fransen. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass ein großer Teil von Karl Junkers Möbeln auf traditionellen Modellen des 19. Jahrhunderts aufbaut.


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Karl Junker als Schreiner: Herstellungstechnik ausgewählter Möbel Ziel dieses Abschnittes ist es, Aussagen über die charakteristische schreinertechnische Realisierung einzelner Möbelstücke von Karl Junker zu treffen.18 An einem Schreibtisch lässt sich die Herstellungstechnik beispielhaft erläutern, die vielfach zum Einsatz kam. Hinterwand, Seitenteile, Zargenbretter und Rückwandstreben bestehen aus Massivholzbrettern und sind mit den Stollen durch Nägel verbunden. An diese Primärkonstruktion sind verschiedene Streben angefügt, welche die Konstruktion aussteifen. Es handelt sich um Lattenhölzer mit kleinem Querschnitt. Vor allem die Primärkonstruktion wurde mit reicher Ornamentik versehen, die mit Hilfe von Stechbeitel und Hohleisen entstand und aufgenagelt ist. Aufschlussreich ist die Konstruktion von Wandschränkchen, wie sie sich in Wohnzimmer und Salon befinden. p S. 4/5 Eine Kastenkonstruktion mit Massivholzbrettern bildet den Korpus. Die Eckverbindungen sind verzinkt. Die massive Rückwand besteht aus Brettern, die genagelt und geleimt sind. Dreiecksklötze sind als Verstärkung zu den Seiten eingeleimt. Ein bastionsförmiger Eichenholzrahmen bildet die Tür, deren Ecken durch Schlitz und Zapfen verbunden sind. Auf den beschriebenen Grundrahmen ist ein zweiter, kleinerer Eichenholzrahmen aufgesetzt, dessen Füllung außen mit applizierten Ornamenten und innen mit einem kleinen Gemälde versehen ist. Der Türrahmen trägt über einer Grundstruktur aus verschiedenartigen Diamantierungen reichen Schmuck, der an Grotesken erinnert. So sind an einem Schränkchen im Wohnzimmer ein bärtiges Gesicht mit Eselsohren und weit ausschwingenden Hörnern ebenso zu erkennen wie ochsenartige Körper. An einem weiteren Wandschränkchen desselben Raumes lassen sich kandelaberartige Strukturen entdecken, in die Ädikula-, Giebel- und Groteskenmotive eingearbeitet sind. Hochinteressant ist Karl Junkers Interpretation der an Nagelköpfe und Rollwerkkörper erinnernden umlaufenden Dekorbänder am Rahmenrand bei der Seitenansicht als patronenhülsenförmige, rahmenstarke Gebilde. Die auffallend unterschiedliche Gestaltung von Kasten und Rahmen sprechen für eine zeitlich versetzte Entstehung der wandfesten Schränkchen. Nahe liegend ist die Erklärung, dass der historisierend im Sinne der Neurenaissance aus Eichenholz gefertigte Rahmen älter ist und möglicherweise während einer Wandschrank (Kreismuseum Genthin)


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Werkstatt mit Schrank und Staffelei

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Primärnutzung als Bilderrahmen diente. In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass das heute in das Schrankinnere ausgerichtete Bild ursprünglich wahrscheinlich für eine Ansicht von außen bestimmt war. Praktisch alle verwendeten Dekorelemente der Rahmen sind neurenaissancezeitlich-gegenständlich. Der Korpus und die Füllung sind sehr wahrscheinlich jünger und mit den charakteristischen – wohl späteren – knochen- und knorpelförmigen Strukturen besetzt, wie sie sich an einer Vielzahl von Möbeln und Wandvertäfelungen befinden. Vor allem die an dem Schreibtisch auszumachende Bauweise Karl Junkers galt seit jeher unter Kunsttischlern als abwegig. Eine abwertend gemeinte Redewendung besagt: „Das Möbel wurde mit kaltem Leim und heißen Nägeln gebaut“.19 Grundsätzlich besaß die Verarbeitungsweise aber auch Vorteile: Man war flexibel in der Materialwahl, die einzelnen Elemente brauchten nicht präzise zu passen, es konnte Zeit gespart werden, die Lösungen waren kostengünstig, stabil und zugleich sehr individuell. Die Verwendung von Streben macht die Möbelstücke außerordentlich stabil. Karl Junker berücksichtigte durchaus die Form der zur Verfügung stehenden Holzrohware. Runde Hölzer – wie Äste oder Stämme – wurden zu Stollen, Bretter zu Rückenteilen für Stühle oder Rückwandteile. Auf der anderen Seite schnitzte er auch aus Holz mit quadratischem Querschnitt knorpelförmige Elemente. Öfen in Karl Junkers Räumen Karl Junker ließ in alle Wohnräume der ersten Etage und in das Atelier im Erdgeschoss repräsentative Öfen aus Gusseisen als Heizkörper einbauen. Die aufwändigen Öfen entsprachen dem modernsten Stand der Technik, in dem sie die Hitze der Rauchgase auf einem möglichst langen Weg für Heizzwecke auszunutzen suchten. Es handelt sich hierbei grundsätzlich um das Prinzip des Zirkulierofens. Im Gegensatz zu dem funktionalschlicht gehaltenen Ofen der Werkstatt, dessen äußere Wände ungeschmückt sind, zeigen die übrigen Öfen einen streng architektonisch angelegten Aufbau, der mit kleinteiligen, dekorativen Elementen verziert ist. Zumeist ist ein zweigeschossiger Aufbau erkennbar: Im unteren Geschoss ist der eigentliche Feuerkasten untergebracht und darüber erhebt sich ein rechteckiger oder auch zylinderförmiger Aufsatz. Den Abschluss bilden architektonische Zierformen wie Giebel mit Akroterien. Die kleinteilige

Ofen im Salon

19 Zitiert nach Vollendorf, ebd., S. 1.


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Karl Junkers Möbel und Raumausstattungen

Ornamentik besteht vor allem aus axialsymmetrischen Rankenbändern, Diamantierungen, Schuppen- und Zahnschnittfriesen sowie Roll- und Beschlagwerkelementen. Sowohl der Aufbau als auch das Dekor der Öfen verraten einen charakteristischen Neurenaissancestil des letzten Viertels im 19. Jahrhundert. Im Gegensatz zu dem von einem Lemgoer Handwerker individuell angefertigten, sehr schlichten Herd im Küchenraum des Erdgeschosses dürfte es sich bei den beschriebenen Öfen um konfektionierte Heizkörper einer bedeutenden Gießerei des deutschen Reiches handeln. Wahrscheinlich wählte sie Karl Junker nach einem Angebotskatalog einer heute unbekannten Firma aus. Bemerkenswert ist der Umstand, dass Junker außergewöhnlich dekorative, weil reich geschmückte, den Zeitstil Neurenaissance repräsentierende und somit im Raum dominierend wirkende Öfen als Teil der Ausstattung wählte. Es wäre sicherlich möglich gewesen, analog dem Küchenherd und Werkstattofen, schlicht gehaltene Stücke auszuwählen oder sie nach eigenen Entwürfen anfertigen zu lassen. Hierbei hätte die Möglichkeit bestanden, eigene Stil- und Formvorstellungen einfließen zu lassen. Finanzielle Gründe dürften für die getroffene Entscheidung nicht ausschlaggebend gewesen sein. So können wir davon ausgehen, dass Junker ganz bewusst die Historismus-Öfen auswählte und sie gezielt in seine Raumkunstwerke einfügte. Denn Unzulänglichkeiten bzw. Kompromisse in der Ausstattung wollte Junker nicht hinnehmen, wie die nachträgliche, farbige Bemalung der an sich einfarbig dunklen gusseisernen Heizkörper belegt. Im Folgenden soll näher untersucht werden, wie es Junker gelang, eine Verbindung zwischen der wandfesten Raumdekoration und den Heizkörpern herzustellen. Aus feuertechnischen Gründen erhielt der Wandabschnitt hinter allen Öfen einen Verputz, den Junker zugleich als Maluntergrund nutzte. Farblich ähnlich den in die Wand- und Deckenvertäfelung eingefügten Gemälden, setzte er auf hellgelben, -grünen oder -blauen Grund mittelblaue und rostrote Ornamentik, die sich zum Beispiel in Atelier und Wohnzimmer in eine rahmende Gliederung einfügt. Betrachtet man diese Struktur genauer, so fällt die Ähnlichkeit mit zweibahnigen, rund schließenden Fenster- oder Türöffnungen mit mittigem Oberlicht auf. Zugleich suchte Junker die Gliederung der links und rechts angrenzenden Wandvertäfelung vereinfacht auf die verputzte Wandzone zu übertragen. Er füllte die Rahmung unter anderem mit stilisierten Kandelabern, aber auch mit Rankenbändern, wie er sie allzu zahlreich auf den

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Herdnische in der Küche

Ofen im Atelier


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Ofen im Schlafzimmer

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Ofenplatten vorfand. Somit mutierten die Ofendekorationen zum vielfältig genutzten Musterbuch. Besonders augenfällig ist die Motivübernahme an dem im Wohnzimmer stehenden Ofen mit vertikal und horizontal ausgerichteten Ornamentbändern. Karl Junker interpretierte sie jedoch auf seine Art: zum einen farbig angelegt und zum anderen stark vereinfacht und insgesamt expressiv aufgeladen. Im Kinderzimmer der ersten Etage findet sich das Rankenband des zylinderförmigen Ofenaufsatzes an der Putzwand dahinter deutlich vergrößert und vergröbert. Junker nutzte die Putzwand hinter den Öfen als geeignetes Medium, um ästhetisch-gestalterisch zwischen den konfektionierten Neurenaissance-Öfen und der stets höchst individuellen Raumwand daneben zu vermitteln. Einzelne Putzmalereien haben ähnlich den wand- und deckenfesten Tafelbildern zudem eine raumerweiternde Wirkung im Sinne von angedeuteten (Fenster-)Ausblicken. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Karl Junker offensichtlich bewusst im Neurenaissancestil dekorierte gusseiserne Öfen in seinen Räumen aufstellen ließ und sie farblich seinen Vorstellungen entsprechend anpasste. Einige der Putzmalereien greifen Motive der Ofenverzierung auf und schaffen so eine Verbindung zu den streng gehaltenen Paneelen der Vertäfelung. Junkers Raumkunstwerke im Spiegel zeitgenössischer Ausstattungsratgeber Waren es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem Zeitschriften wie das „Journal des Luxus und der Moden“, die einem interessierten Publikum modische Strömungen der Innenraumgestaltung nahe brachten, so erschienen in der zweiten Jahrhunderthälfte Ausstattungsratgeber in Buchform. Kompendiumartig wird zu allem, was mit Ausstattung zu tun hat, Stellung genommen. Die Verfasser sind zumeist Vertreter und engagierte Vorreiter der Neurenaissance, wie Jakob von Falke und Georg Hirth. Angesprochen werden sollte vor allem das Großbürgertum. So galt es durchaus, dem hinter vorgehaltener Hand als „stillos“ bezeichneten „neureichen“ Besitzbürgertum Stil beizubringen. Die reich illustrierten Bände stellen vielfach die Verbindung zu historischen Stilen – vor allem der Renaissance – her und bieten in erzieherischer Absicht deren Übertragung auf die aktuelle Einrichtungssituation an.


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Karl Junkers Möbel und Raumausstattungen

Jacob von Falkes 1871 erstmals erschienenes Werk „Die Kunst im Hause. Geschichtliche und kritisch-ästhetische Studien über die Decoration und Ausstattung der Wohnung“ und Georg Hirths 1880 vorgelegter Band „Das deutsche Zimmer der Renaissance. Anregungen zu häuslicher Kunstpflege“ avancierten alsbald zu Standardwerken für Einrichtungsfragen und stilvolles Ambiente. Privatpersonen, Dekorateure, Ausstattungshäuser, aber auch die Kunstindustrie orientierten sich an den Ausstattungsvorschlägen. Einige der Ausstattungsanleitungen aus beiden Wohnratgebern sollen mit Karl Junkers Raumkunstwerken verglichen werden, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. Die Differenzierung des Historismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat eine Zuordnung von Stimmungs-, Gefühls- und Charaktereigenschaften zu einzelnen Stilen wie Neugotik, Neurenaissance und Neurokoko zur Folge. In der zweiten Jahrhunderthälfte wurden im besten Falle in einer Wohnung mehrere, in unterschiedlichen Stilen ausgestattete Räume miteinander kombiniert. Auf die unterschiedlichen Charaktereigenschaften der Raumtypen einer bürgerlichen Wohnung geht auch von Falke ein, jedoch löst er sich von Stilbegriffen und versucht funktionsund stimmungsgerechte Lösungen zu finden. So schreibt er, dass Speisezimmer, Salon, Schlaf- und Herrenzimmer in Bezug auf ihre Bestimmung künstlerisch differenziert zu gestalten sind. 20 Falke nimmt vor allem zur Ausstattung des Salons Stellung. Entsprechend seiner Funktion als wichtigstem Repräsentationsraum der Wohnung sollte auch die Ausstattung entsprechend üppig und reich gewählt werden. 21 Dass Falkes Ausstattungsvorschläge auf Wohnungen großbürgerlicher oder adliger Besitzer zugeschnitten sind, lässt sich vor allem an seinen Empfehlungen zum Salon ausmachen. Der Salon als Bühne gesellschaftlicher Auftritte sollte nach Falke üppig dekoriert sein. Farbige Wände, Decken mit dekorativer Kunst, Seide als textiles Element und zahlreiche Kunstgegenstände aller Art (Figuren, Büsten, Prachtbände etc.) empfiehlt er. 22 Karl Junkers Salon unterschied sich allein schon, wie die übrigen Räume auch, in der Größe von den Raumlösungen, die von Falke propagierte. Seine Raumzuschnitte entsprachen kleinbürgerlichem Wohnraum, so wie sie in Häusern von kleinen Kaufleuten oder Handwerkern im Fürstentum Lippe zu finden waren.

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Salon

20 Falke, Jacob von: Die Kunst im Hause, Wien 1871, S. 296. 21 Ebd., S. 300. 22 Ebd.


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Fragmente der Bodenbemalung

23 Hirth, Georg: Das deutsche Zimmer der Renaissance. Anregungen zu häuslicher Kunstpflege, München 1880, S. 148. 24 Vgl. Anm. 20, S. 214. 25 Vgl. Anm. 23, S. 148. 26 Vgl. Anm. 20, S. 219.

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Jacob von Falke nimmt bei der Besprechung der Fußbodengestaltung in erster Linie auf Parkett Bezug, weil es in großbürgerlichen Wohnungen den verbreitetsten Bodenbelag darstellte. Andere Materialien, wie Estrich, Fliesen oder Steinmosaik, erscheinen ihm für repräsentative Wohnräume nicht geeignet. Junker verwendete für seine Räume wesentlich preiswertere Dielenböden und bemalte sie nach dem Verlegen mit geometrischen und stark stilisierten, floralen Motiven. Georg Hirth lehnt diese Form der Fußbodendekoration allein schon wegen der schlechten Haltbarkeit grundsätzlich ab. 23 Hirth sollte mit seiner Meinung Recht behalten, wie es der heutige Zustand der bemalten Böden im Junkerhaus belegt. Grundsätzlich entstanden auf den ersten Blick Assoziationen zu farbig intarsierten Dielen- oder Parkettböden der Barockzeit, was sich aber bei genauerer Betrachtung schnell als Irrtum herausstellt. Falke fordert für die Fußböden eine ruhige und farbige Komposition. 24 Karl Junkers Böden entsprechen in ihrer farblichen Gestaltung durchaus Wand und Decke und ordnen sich damit dem Gesamtraumkunstwerk unter, so wie Falke es fordert. Georg Hirth spricht sich für eine anspruchsvolle zentralisierte Ornamentierung des Fußbodens nur dann aus, wenn die Mitte „nicht durch Möbel etc. verstellt wird“. 25 Junkers Fußbodenbemalung nahm keine Rücksicht auf den Standort von Möbeln im Raum. Karl Junkers in die Wände eingefügte Gemälde ordnen sich der tektonisch konzipierten und symmetrisch organisierten Wandgestaltung unter. Das Mobiliar erhielt festgelegte Plätze zugewiesen und erhielt dadurch eine den Bildern entsprechende Bedeutung als Teil der Wand. Falke favorisiert in seinem Ausstattungsratgeber wegen der gemütlichen Stimmung mit Holz verkleidete Wände. Zudem sieht er darin einen geeigneten Hintergrund zur Aufstellung von Mobiliar. 26 Falke empfiehlt jedoch die Vertäfelung ausschließlich für Speisezimmer, Herrenzimmer und für Trinkstuben. Für die beiden zuletzt genannten „männlichen“, weil eher dem Hausherren zugeordneten Raumtypen erscheint die rustikale Holzverkleidung offensichtlich besonders gut geeignet, während im Speisezimmer angebrachte Paneele im Gegensatz zu Tapeten den Essensduft nicht annehmen. Hinzugefügt werden muss aber auch der Hinweis, dass vom Boden bis zur Decke vertäfelte Räume eher die Ausnahme waren, vielmehr halbhohe Verkleidungen mit Tapetenflächen oder Malereien dar-


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über das Ausstattungsbild bestimmten. Karl Junker griff mit den Vertäfelungen auf ein um 1880 durchaus gängiges Medium der Wandgestaltung zurück. Die von ihm praktizierte farbliche Fassung der Holzflächen war dagegen unüblich. Grundsätzlich war jedoch eine intensive farbliche Gestaltung nach Falke erwünscht. Um die Wandfläche selbstständiger und geschlossener wirken zu lassen, empfiehlt Falke unabhängig von den verwendeten Materialien eine Trennung von Fußboden und Decke durch Sockel und Bordüre. Hierdurch kommt eine Tektonik in den Wandaufbau, wie sie Junker regelmäßig umgesetzt hat. Sowohl Falke als auch Hirth sprechen sich bei holzgetäfelten Räumen auch für eine hölzerne Decke aus, entweder mit offenliegenden Balken oder mit Kassetten. Sie vollendet trotz ihrer möglicherweise dunklen Farbe den „Eindruck der Behaglichkeit, eines ernsten und soliden Geschmacks“. 27 Besonders die Kassettendecke mit ihrer gekreuzten Lage ist zur Aufnahme „farbigen und erhabenen Ornamentes, zu Rosetten, Sternen oder anderer Verzierung geeignet“. 28 Jacob von Falke erinnert an die reichen griechischen Kassettendecken und an die kostbaren Beispiele aus der Renaissance. Der hiermit hergestellte Bezug zur Antike mag auch Junker bei seiner Entscheidung hinsichtlich der Decken beeinflusst haben. Schließlich nehmen auch einige seiner Deckengemälde Themen der antiken Mythologie auf. Hirth behandelt eingehend die Bedeutung von Deckengemälden, einem wichtigen Thema in Junkers Raumausstattungen. Er favorisiert Darstellungen ohne komplizierten Hintergrund wie „fliegende und spielende Genien in gleichmäßig blauem Himmel“. Überlebensgroße Vollfiguren lehnt der Autor dagegen ab. 29 Junkers flächiger Malstil kommt Hirths Empfehlungen zu Deckengemälden sehr entgegen. Georg Hirth formuliert die Ansprüche an ein an der Wand aufgehängtes Tafelbild wie folgt: „Das Bild muss vielmehr der intellektuellen und sinnlichen Gesamtstimmung des Raumes entsprechen, der ‚Temperaturunterschied’ zwischen dem Bilde und der ganzen Dekoration darf kein zu großer sein.“30 Karl Junkers fest in die Wände eingefügte Bilder ordnen sich genau wie die Malereien der Decke ganz offensichtlich stets einem – teilweise noch nicht entschlüsselten – „Raumthema“ unter und besitzen damit keine rein dekorative Funktion. Weiß abgesetzte Türen einschließlich ihrer Rahmen lehnt Falke in seinem Ratgeber ab.31 Karl Junker verwendete höl-

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Wand und Decke im Atelier. Auf den Bildfeldern der Wand sind ein bärtiger Mann (links) und eine junge Frau (rechts) dargestellt. Beide sitzen auf einem Thron. Auch das Deckenbild zeigt einen bärtigen Mann auf dem Thron.

27 Ebd., S. 249. 28 Ebd. 29 Vgl. Anm. 23, S. 159. 30 Ebd., S. 175. 31 Vgl. Anm. 20, S. 266.


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zerne Türen, die in ihrer Farbigkeit an die Wand- und Deckengestaltung angepasst sind. Jacob von Falke beklagt die unbefriedigenden Formen und Farben der seinerzeit verfügbaren Öfen und spricht sich daher für Kamine als Heizkörper aus. Ihr Entwurf entstammt eher der Architekten- oder Bildhauerhand als dem kunstgewerblichen Schaffen. Junker wählte für sein Haus gusseiserne schwarze Öfen, die Hirth wegen ihrer farblichen Eintönigkeit ablehnt.32 p S. 66/67 Das farblich ästhetische Problem löste Junker durch nachträgliche Bemalung. Die Heizkörper ordneten sich dann in ihrer ästhetischen Wirkung dem Raumkunstwerk unter. Zusammengefasst ist festzuhalten, dass Karl Junker den großbürgerlichen Anspruch der Ausstattungsratgeber im kleinbürgerlichen Rahmen seines Wohnhauses umsetzte. Die oftmals von heutigen Besuchern als dunkel und höhlenartig beschriebene Raumstimmung entsprach durchaus Wohnvorstellungen der Zeit um 1900. Durch dunkel gehaltene Wände, Böden und Decken und durch entsprechende dunkle Vorhänge und Portieren wurde bewusst eine Atmosphäre herbeigeführt, die den Menschen den Eindruck vermitteln sollte, sie tauchten in den Schoß der Geschichte ein. Junkers Stil im Raumkunstwerk: Zusammenfassung und Schluss Aus Karl Junkers frühen Jahren – Lehrzeit und den Wanderjahren – sind kaum Arbeiten zu Mobiliar, geschweige denn ausgeführte Objekte, erhalten. Die nachweisbaren Blätter zeigen brave und wohl wenig eigenständige Entwürfe, die in einem konsequenten Historismus der Zeit – Neurenaissance und Neugotik – angefertigt sind. In dem wohl in München entstandenen Entwurfsblatt im Neurenaissancestil stehen die Schreibmöbel und der Sessel vor einer tapetenartig wirkenden, pompejanisch inspirierten Wand. Wand und Mobiliar verschmelzen zu einer dekorativen Einheit, kein Fleck des Blattes bleibt ungestaltet. Horror vacui pur! Ähnlich sieht es in Karl Junkers Haus aus: Wände und Mobiliar verschmelzen oftmals, und das Ornament beherrscht jede Fläche. Die frühen eigenständigen Entwürfe sind auf Stilelemente der Neurenaissance festgeschrieben mit straffer horizontaler und vertikaler Gliederung. Die Grußadresse von 1883 ist ein zentrales Blatt für das Verständnis von Karl Junkers stilistischer Entwicklung, denn hier findet sich noch Neurenaissance Wand und Tisch in der Küche 32 Vgl. Anm. 23, S. 172.


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in Reinform, jedoch setzt eine Vergröberung der Detailform an. Die präzise Eigenform wird aufgegeben zugunsten von wesentlichen Aspekten. Die Gesamtwirkung ist wichtiger als das Detail. Das Allgemeine wurde auf das Wesentliche abstrahiert. In dieser Entwicklungslinie ist auch das wohl früh zu datierende, noch historistisch-detailgetreu bestimmte Mobiliar im Junkerhaus, so die Frontrahmen der Wandkästchen im Wohnzimmer und Salon und das vertikoartige Verwahrmöbel (ohne späteren Sockel) im Wohnzimmer, zu sehen. Die Möbel zeigen Neurenaissancedekor, so wie ihn Junker in Lemgo, Hamburg und München kennengelernt und in zeitgenössischen Vorlagewerken wiederholt gesehen haben wird. Sie stammen wohl noch aus den mittleren bis späten 1880er Jahren, also aus der Zeit vor dem Bau des Hauses. Eine etwas spätere Stilstufe stellen Möbel wie der Sekretär im Wohnzimmer und Schrank und Standuhr im Salon dar. Die Schärfe des Details wird zurückgenommen. Die Reduktion auf Wesentliches setzt ein, das dekorative Ornament, dessen ursprünglicher Formzusammenhang kaum noch zu erkennen ist, setzt sich durch. Kandelaber werden zu Ornamentbänden, Diamantierungen zu knorpeligen Gebilden. Die Möbelfronten wirken mit Ornament überladen, weil auf den ersten Blick kaum noch Gegenständliches auszumachen ist. Dennoch ist bei genauer Betrachtung und Vergleich mit früheren gegenständlicheren Dekoren die architektonische Struktur geblieben. Vor allem an norddeutschen Möbeln der Renaissance finden sich breite überladene szenische Darstellungen. Die Nutzung der renaissancezeitlichen Möbelflächen als Bildträger findet sich in Süddeutschland kaum. Ab der Mitte des 16. Jahrhunderts tauchten in Westfalen und dem Rheinland, aber auch in Schleswig-Holstein und Bremen Relief- und Figurenschmuck auf. Vor allem die Kölner Schränke des 17. Jahrhunderts entsprechen in ihrer Üppigkeit den Stücken von der küstennahen Region. Die Nähe der Dekoration zu einigen Möbeln Karl Junkers ist bemerkenswert. Die letzte Entwicklungsstufe beginnt wohl mit dem Innenausbau des Hauses ab 1891. Reines Leisten- und Knorpelwerk und stark stilisierte Ädikulaformen bestimmen fortan das Bild. An der Raumwand entstehen dadurch streng rasterartige Gliederungen. Hier zeigt sich Stilisierung als abstrahierende Reduktion einer detaillierten Form hin zu einem einfachen Muster mit hohem Wiedererkennungswert und einfacher Reproduzierbarkeit. Die hölzerne Wandverkleidung mutiert zur reinen Ornamenttapete. Dennoch, ein genauer Vergleich mit früheren

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Tür im Kinderzimmer

Wand in der Werkstatt


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Durchgang vom Fremdenzimmer zum Kinderzimmer

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Schreinerarbeiten Karl Junkers lohnt sich auch hier wieder: Der Wandaufbau ist immer noch streng geschichtet. Ädikulen finden sich stark vereinfacht ebenso wie Junkers Interpretationen von neurenaissancezeitlichen Diamantierungen und Leisten. Karl Junker erhielt während seiner Ausbildungszeit wichtige künstlerische Impulse durch den damals hochmodernen Historismus. Vor allem seine Münchner Jahre brachten ihn in Kontakt mit dem von Lorenz Gedon ganz entscheidend propagierten Neurenaissancestil. Die aus dieser Zeit erhaltenen Möbelentwürfe Karl Junkers orientieren sich eng an den zeitgenössischen Vorlagen. Die nach seiner Rückkehr nach Lemgo in den frühen 1880er Jahren entstandenen grafischen und malerischen Werke verarbeiten einerseits den zeitüblichen Historismus, lassen aber auch bereits charakteristische Merkmale von Junkers späterem Stil erkennen, so die vollständige Durchgestaltung aller Flächen und die Vergröberung der Detailformen. Die in seinem Haus konsequent durchgeführte Wandgestaltung mit Sockel, einer Hauptfläche und Fries ist inspiriert durch renaissancezeitliche Vorbilder. Die verwendete Ornamentik greift auf Formen der Antike und der Renaissance zurück. Karl Junker „erfand“ vergleichsweise wenige neue Möbeltypen. Zumeist griff er auf bewährte Modelle des 19. Jahrhunderts zurück und variierte sie. Junkers künstlerische Methode lautet: Stilisierung als abstrahierende Reduktion einer detaillierten Vorlage – hier Neurenaissanceformen – hin zu einem einfachen Muster – hier Latten- und Knorpelwerk – mit hohem Wiedererkennungswert. Den großbürgerlichen Anspruch zeitgenössischer Ausstattungsratgeber setzte Junker im kleinbürgerlichen Rahmen um. Ist Karl Junkers Haus und seine Ausstattung das Ergebnis einer unerfüllten Liebe, wie lange Zeit behauptet wurde? Hat Karl Junker wirklich hiermit die Wohnstätte für eine herbeigesehnte Familie schaffen wollen? Wahrscheinlicher ist die Erklärung, die in dem ungewöhnlichen Gebäude mit seinen überaus bemerkenswerten Räumen und dem Mobiliar ein Künstlerhaus und Gesamtkunstwerk sehen will. Zugleich könnte man in dem Bau auch ein Musterhaus entdecken wollen, dessen Ausstattung beispielhaft schöneres und besseres Wohnen aufzeigen möchte. Demnach mutieren die Möbel gleichsam zu Prototypen für eine Kunstreform. Jedoch, Junkers Wirken ist keine Außenwirkung und Nachhaltigkeit beschieden gewesen – auch wenn er, zwar hastig, vereinzelte interessierte Besucher für zwanzig


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Pfennige durch sein Haus führte. Bedingt durch das zurückgezogene Leben Junkers blieben seine Reformansätze gleichsam verkapselt und drangen nicht nach außen. Seine Vision in Holz – eine Einheit von Kunst und Leben – erreichte die Menschen nicht.

Deckengemälde im Wohnzimmer mit Szenen zum Thema „Offenbarung des Johannes“


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Blick auf das Junkerhaus von der Hamelner StraĂ&#x;e aus


Das Junkerhaus als Meisterwerk der Outsider Architektur

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Vestib端l mit T端r zum Lagerraum (Flur)


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Decken- und Wandkonstruktionen im Vestibül

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Siehe Conrads, Ulrich/Sperlich, Hans G.: Phantastische Architektur, Stuttgart 1960. Schuyt, Michael/Elffers, Joost/Collins, George R.: Fantastic Architecture: Personal and Eccentric Visions, New York/London 1980. Spiller, Neil: Visionary Architecture, London 2006.

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Das Junkerhaus in Lemgo gilt als einmaliges und immer noch rätselhaftes Phänomen. Karl Junker hat fast keine Erklärungen über sein Schaffen hinterlassen, weder über sein Haus noch über sein malerisches und plastisches Werk. Sicher handelt es sich hier um einen schöpferischen Geist, der ein außerordentlich intimes Verhältnis zu seiner Kreativität hegte. Es scheint angebracht, sein Bauwerk als die Leistung eines selbstversonnenen Individuums zu verstehen, dessen Träume und Ideen in einem Meisterstück der autodidaktischen Baukunst bzw. Bildnerei realisiert wurden. Es ist zwar legitim zu fragen, inwieweit Junkers Vorstellungen von seiner Umgebung und dem Zeitgeist geprägt wurden. Man kann wohl eine formelle „Familienähnlichkeit“ spüren, wenn man die stattlichen Fassaden der Fachwerkhäuser im Lemgoer Stadtzentrum ansieht, die aus dem sechzehnten Jahrhundert stammen und eine bürgerliche Version des adligen Weserrenaissance-Stils aufweisen. Einige Kommentatoren behaupten, Junker sei ein gut informierter Teilnehmer an der Kultur seiner Epoche gewesen und habe sich der JugendstilBewegung sowie dem Expressionismus angenähert. Sicher können solche Beziehungen aufschlussreich sein: Man muss schliesslich zugeben, dass auch das Werk eines ganz originellen Künstlers Spuren zeitgenössischer Einflüsse aufweisen kann. Mein Argument ist aber, dass es sinnvoller ist, Junkers Werk als ein außergewöhnliches Beispiel der autodidaktischen Kunst zu betrachten, als in ihm einen regionalen Konformisten oder einen bewussten Anhänger der frühen deutschen Avantgarde identifizieren zu wollen. Um dieses Argument weiter aufzubauen, dürfte es nicht allzu kontrovers sein, das Junkerhaus zuerst in die verallgemeinernde Kategorie der fantastischen oder visionären Architektur einzuordnen, wie sie z. B. von Ulrich Conrads und Hans Sperlich in ihrem Buch „Phantastische Architektur“ (1960) und später von Michael Schuyt, Joost Elffers und George R. Collins in ihrem klassischen Kompendium „Fantastic Architecture“ (1980) vorgestellt wurde. Oder wie sie von Neil Spiller in seiner Studie „Visionary Architecture“ (2006) über exzentrisches Architekturdesign im zwanzigsten Jahrhundert definiert wurde.1 Abgesehen vom Extrem der chimärischen Bauten, die gar nicht realisiert wurden und auch nicht realisierbar waren – man denke an die utopischen Skizzen des französischen Klassikers Étienne-Louis Boullée oder des deutschen Expressionisten Hermann Finsterlin – kann man auf eine ganze Menge


Das Junkerhaus als Meisterstück der Outsider Architektur

einzigartiger Bauwerke und exzentrischer Strukturen hinweisen, die vom anerkannten Hauptstil ihres Zeitalters abweichen und viel Fantastisches und sogar Unheimliches in sich haben. Als Beispiele solcher kuriosen Bauformen sind zu nennen: das Castel Béranger von Hector Guimard in Paris, die bizarren späten Wohnhäuser des amerikanischen Architekten Frederick C. Sauer, die äusserst eigenartigen Etagenhäuser des Katalanen Antoni Gaudí und die hochromantischen Schlösser des bayerischen Königs Ludwigs des Zweiten. Wohlbekannt sind auch die sogenannten „follies“, die im achtzehnten Jahrhundert in England als Modephänomen auftauchten. Der Autor der ersten erfolgreichen „Gothic Novel“, Horace Walpole (1717–1797), hat in Twickenham bei London ein originelles Wohnhaus namens „Strawberry Hill“ bauen lassen, das als Museum für seine exotischen Sammlungen diente und heute als Meisterstück der Neugotik gilt. Im zwanzigsten Jahrhundert hat der reiche englische Exzentriker Edward James (1907–1984) einen surrealistischen Palast, „Las Pozas“, im mexikanischen Dschungel bauen lassen. Dieses äusserst kapriziöse Bauwerk ist ein vollkommen unpraktisches Traumgebäude mit Gartenlauben, Kolonnen, stilisierten Türmen und waghalsigen Spiraltreppen, die in den leeren Himmel hinaufklettern. Obwohl das Junkerhaus in die etwas spielerische Kategorie der fantastischen Architektur gut hineinpasst, ist es dennoch der Zweck dieses Artikels, dieses Werk als Beispiel einer engeren und schärfer umrissenen Gattungskategorie zu betrachten, nämlich die der „Outsider Architektur“. Diese Kunstform wurde schon vor einigen Jahrzehnten identifiziert und studiert. Sie gilt heute als eine wichtige Variante der Kunst der Outsider („Outsider Art“ oder „Art Brut“) und bietet neue Parallelen und Perspektiven für unsere Diskussion. Das Konzept der „Outsider Art“ beruht auf der Hypothese, dass faszinierende und oft erstaunliche Kunstwerke existieren, die in der konventionellen Kunstgeschichte keinen Platz finden und deshalb von der etablierten Kultur getrennt bleiben bzw. ignoriert werden. Der französische Maler Jean Dubuffet hat ab 1945 eine grosse Sammlung solcher Werke zusammengestellt und später ein Museum unter dem Namen „Collection de l’Art brut“ gegründet. 2 Unter den vielen Art-Brut-Meistern, deren Werke er eifrig gesammelt hatte, kann man autodidaktische Zeichner, Maler und Bildhauer erwähnen wie Adolf Wölfli, Aloïse Corbaz, Guillaume Pujolle, Madge Gill und Auguste Forestier. Manche dieser Künstler litten an einer Geisteskrankheit und

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Eingang

2 Die Sammlung von Dubuffet wurde 1976 in Lausanne, Schweiz, als Museum offiziell gegründet. In Frankreich wurde im Jahr 2010 eine wichtige Abteilung des Museums für moderne Kunst der Stadt Lille der Art Brut gewidmet. Eine deutschsprachige Einleitung zur Outsider Art ist: Presler, Gerd: L’Art Brut. Kunst zwischen Genialität und Wahnsinn, Köln 1981. Siehe auch Peiry, Lucienne: Art Brut. Jean Dubuffet und die Kunst der Aussenseiter, Paris 2008.


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3 Vgl. Prinzhorn, Hans: Bildnerei der Geisteskranken. Ein Beitrag zur Psychologie und Psychopathologie der Gestaltung (1922), Berlin/Heidelberg/New York 1968. 4 Siehe Lassus, Bernard: Jardins imaginaires: Les Habitants-Paysagistes, Paris 1977. 5 Siehe Curto, Mario del: Kunst ist etwas Anderes. Fotografien von Mario del Curto, Berlin 2007. Einen Überblick der älteren Outsider-Bauten gibt der Photograph Gilles Ehrmann in seinem Klassiker: Les Inspirés et leurs demeures, Paris 1962. 6 Über die « Outsider Architektur » gibt es eine reiche Bibliographie. Siehe: Allamel, Frédéric (Hg.): Outsider Architectures. Laboratories of the Imaginary, in: The Southern Quarterly, XXXIX, Nr. 1–2, Herbst–Winter 2000– 2001. Beardsley, John: Gardens of Revelation. Environments by Visionary Artists, New York/London/Paris 1995. Cardinal, Roger: Outsider Art, London/New York 1972. Jakovsky, Anatole: Dämonen und Wunder. Eine Darstellung der naiven Plastik, Köln 1963. Umberger, Leslie et al.: Sublime Spaces and Visionary Worlds. Built Environments of Vernacular Artists, New Haven 2007.

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wurden oft als schizophren diagnosiert, oder sie hatten als Spiritisten ein außergewöhnliches Verhältnis zu ihrer Umwelt. Andere waren als soziale „Außenseiter“ zu bezeichnen, insofern als ihr Lebensstil von der Allgemeinheit oft spektakulär abwich. Dubuffet entwickelte strenge Kriterien für diese spezielle „Gesellschaft“, u. a. wie folgt: Der Außenseiter-Künstler („artiste brut“) soll keinen Kunstunterricht gehabt haben, soll nie mit Galerien oder Museen verkehren, soll überhaupt nicht an „Kunst“ denken. Er darf sich keinem aufgezwungenen Maßstab unterwerfen und keine Aufträge entgegennehmen. Im Gegenteil, er muss spontan, vollkommen selbstständig und mit bescheidenem Material arbeiten. Am besten, laut Dubuffet, bleibt dieser Schöpfer mehr oder weniger weltfremd und arbeitet völlig allein, sogar im Geheimen. Kurz gesagt, der „artiste brut“ muss als Autodidakt für jeglichen Einfluss unempfänglich bleiben, um sich selbst möglichst hemmungslos ausdrücken zu können. Diese strengen Bedingungen betrachtete Dubuffet als Voraussetzung expressiver Originalität und geistigen Reichtums. Die Werke in Dubuffets bahnbrechender Sammlung sind hauptsächlich Zeichnungen, Gemälde und Schnitzarbeiten, also ungefähr das, was der Psychiater und Kunstkenner Hans Prinzhorn in den zwanziger Jahren als „Bildnerei“ bezeichnet hat.3 Aber jenseits dieser Bildnerei gibt es Phänomene des individuellen kreativen Drangs, die sich in Form von dreidimensionalen Bauwerken, Installationen oder „Environments“ ausdrücken. Es gibt viele synonyme Bezeichnungen für diesen Bautyp: Man spricht von „Self-Taught Environments“, „Visionary Folk Art Environments“‚ „Art Brut Installations“, „Outsider Sites“, „Visionären Gesamtkunstwerken“, „Grassroots Architecture“ oder sogar „Anarchitektur“. Der französische Architekt Bernard Lassus sprach von „habitants-paysagistes“, also von OutsiderArchitekten, deren Konstruktionen zugleich als Wohnstätten und Kunstinstallationen funktionieren.4 Der Photograph Mario del Curto hat viele authentische Outsider von heute in ihren Verstecken aufgesucht und dokumentiert.5 Die Wortschöpfung „Outsider Architektur“ benutze ich hier nur als brauchbare Formel, um auf jene autodidaktischen Werke hinzuweisen, die über die einfache Skulptur hinausragen, um eine dezidiert architektonische Struktur aufzuzeigen. Vor allem ist zu betonen, dass diese Werke – im Gegensatz zu den fantastischen Bauten von Ludwig II, Gaudí, Walpole, James u. a. – von einzeln und eigenhändig arbeitenden Individuen errichtet wurden.6


Das Junkerhaus als Meisterstück der Outsider Architektur

Es folgt ein Überblick über ein paar kennzeichnende Beispiele dieser „Outsider Architektur“, die interessante Parallelen aufwerfen. Ferdinand Cheval (1836–1924) war Schöpfer des „Palais idéal“ (Idealer Palast) zu Hauterives (Frankreich), ein unheimliches Ensemble aus Stein, Metall und Zement, das an Grotten der Klassik wie auch an ostasiatische Tempelarchitektur erinnert. Im Laufe von fast drei Jahrzehnten arbeitete der frühere Briefträger eigenhändig an diesem Bauwerk, das im Garten hinter seinem Wohnhaus immer größer wurde und in dem es von merkwürdigen Zementfiguren wimmelte. In Nischen verborgen stehen kleine Miniaturen – eine Burg aus dem Mittelalter, ein HinduTempel, ein Schweizer Chalet, das Weiße Haus zu Washington. Diese Bauten kannte Cheval sicher nur aus populären Zeitschriften. Der emsige Bastler hat sogar seinen Werkzeugen gehuldigt, indem er Nischen für seine treu-zuverlässigen Spachtel und seine Schubkarren reservierte. Kleine Gedenktafeln, in die Zementwände eingeritzt, verkünden stolz, dass Cheval Tausende von Arbeitsstunden diesem Bau gewidmet hat, und fordern seinen Besucher heraus, etwas Ähnliches zu versuchen. Als „idealer Palast“ wurde diese moderne „folly“ schon in den zwanziger Jahren von den Surrealisten als ein Meisterwerk der fantastischen Architektur anerkannt. Heute scheint die „Outsider Architektur“ die geeignetere Kategorie, insofern sie das autodidaktische Element betont. In einem verlorenen Wald in Süd-Finnland – d. h. in einer Lage, wo es an Raum und Material nicht fehlt – bastelte der alleinlebende Freigeist Elis Sinistö (1912–2004) aus vor Ort bezogenem Holz eine Reihe von wackligen Hütten, spielerischen Kapellen und halb unterirdischen Zellen. In diesem autonomen Refugium führte er ein asketisches Leben mit rituellem Waschen, Akrobatie und Tanzen und erklärte sich zu einem von Yoga inspirierten Mystiker. Ein entlegenes und einsames Reservat wurde zum exzentrischen Schauplatz für die ungehemmte Expressivität des Einzelgängers. Der religiöse Ekstatiker Eddie Owens Martin (1908–1986) hat sich selbst zum Saint EOM umbenannt und eine eigene Religion gegründet. Als Wahrsager und Priester hat er den Garten um sein Elternhaus im leeren Flachland von Marion County (Georgia, USA) übernommen, um das außerordentliche „Land von Pasaquan“ zu erschaffen und zu beherrschen. Die Mauern, die diesen Bereich umgrenzen, sind aus Backstein und Beton und enthalten Mosaikmuster sowie Mandalas und andere Symbole

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Ferdinand Cheval, Palais idéal, Ostfassade, Hauterives/Frankreich, 1971

Elis Sinistö, Hütte, Finnland


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Richard Greaves, Kapelle, Québec/Kanada

Roger Cardinal

fernöstlicher Glaubenssysteme. In dieser heiligen „Siedlung“ stehen Pagoden, Tempel, Pavillons und Gebetsstätten mit phallischen Totems und grell bemalten Figuren. Richard Greaves (geb. 1950) ist heute als Bauherr einer Serie von Gebäuden bekannt, die er in einem Waldgebiet im Süden vom Québec (Kanada) im Geheimen gestaltet hat. Sein Werk umfasst mindestens vier große Häuser und eine ganze Anzahl kleinerer Hütten, Kapellen oder Reliquienstätten. Greaves benutzt lokale Materialien: Seine Konstrukte sind vorwiegend aus Holz, entweder frischem Geäst und Stämmen von neu gefällten Tannenbäumen oder altem Gebälk, aus zusammengefallenen Scheunen gerettet. Dazu kommt noch allerlei Abfall und Schrott, wie Autobestandteile, Kühlschränke, Geschirr, Spielzeuge, zerrissene Bücher, Bruchstücke von Möbeln und Fragmente von Müll aller Art. Seine wackeligen Strukturen sind mit Nägeln und langen Schnüren aus der Landwirtschaft versehen, die alles im prekären Gleichgewicht halten. Überall in diesem Wald tauchen groteske Figuren und totemartige Skulpturen aus dem hohen, feuchten Gras auf, aus allerlei Metall und Holz gebastelt. Diese Konstruktionen werden von Greaves allein errichtet (obwohl er Hilfe annimmt, wenn er mit besonders schweren Balken arbeiten muss). Die Herausforderung vis-à-vis der offiziellen Architektur ist klar: Während ein qualifizierter Baumeister die Regeln der materiellen Welt akzeptieren und dem Ideal einer streng durchdachten und soliden Konstruktion treu bleiben muss, spielt Greaves humorvoll mit den tückischen Gewalten der Natur und wird auch zum Komplizen des Wetters. Alles bei ihm ist asymmetrisch, grob gesägt oder nachlässig geschnitten. Alle seine Bauten stehen schief, als wären sie von vornherein als Ruinen konzipiert. Von Zeit zu Zeit hört man, dass einer der Bauten tatsächlich bei Sturmwetter zusammengestürzt ist, aber Greaves scheint Zerfall zufrieden hinzunehmen. Hier erkennt man den Outsider, der vor dem äussersten Extrem nicht zurückscheut: Hier ist „Anarchitektur“, die an Chaos grenzt. In der kleinen Stadt Eureka in Kalifornien arbeitete der bescheidene italienische Immigrant und ehemalige Tischler Romano Gabriel (1888–1977) viele Jahre lang im Garten vor seinem Haus. Das Resultat war ein erstaunliches Environment, zusammengebastelt aus den Stückchen von hölzernen Obstkisten, die mit Nägeln fixiert und bemalt wurden. Es entstanden bunte Blumen, Tiere, kindliche Figuren und Windmühlen. Die dichte Ausschmückung dieser Formen wirkte wie ein künstlicher Dschungel, der Gabriels Bungalow vollkommen verbarg.


Das Junkerhaus als Meisterstück der Outsider Architektur

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Da man in diesem Zusammenhang eher selten auf eine Frau als Schöpfer stösst, ist das Werk der Kea Tawana (geb. ca. 1935) besonders bemerkenswert. Diese trotzige und mutige Frau hat in den 1980er Jahren in einem heruntergekommenen Quartier von Newark (New Jersey, USA) eigenhändig ein grosses Schiff errichtet. Die Struktur wurde mit Balken aus abbruchreifen Häusern und anderem losen Holzmaterial zusammengehämmert und mit Glas und Flaschen ausgestaltet. Tawana taufte ihre Kreation „Arche“. Das Schiff stand verankert auf einem leerstehenden Grundstück, zur Bewunderung der Nachbarschaft. Natürlich war es zum Segeln nicht tauglich und wäre eher als Kunstwerk zu klassifizieren, obwohl die Bastlerin sicher nie an Kunst gedacht hat. Wie vorauszusehen war, war die Situation den Behörden ein Dorn im Auge. Es wurde festgestellt, das Bauwerk sei illegal und dazu noch gefährlich, und trotz langem Protest musste Tawana ihr Meisterstück schlussendlich selber abreissen. Der Fall Tawana zeigt wie schwer es sein kann, für eine alleinstehende Person ein ambitiöses Unternehmen dieser Art gegen die Umwelt zu verteidigen. „Outsider Architektur“ ist wohl von Natur aus prekär. Sie blüht zwischen Gestaltung und Zerfall und kommt manchmal zu nichts.7 Die weltberühmten „Watts Towers“ stehen im Vorort von Watts bei Los Angeles (Kalifornien, USA). Sie sind das erstaunliche Werk eines alleinstehenden Immigranten aus Sizilien, Simon Rodia (1875–1965), der, so wird erzählt, im Laufe von 33 Jahren an seiner kleinen Liegenschaft gearbeitet hat. Das schmale Areal, von Mauern umgeben, macht den Eindruck einer Festung oder, wenn man die drei skelettartigen Türme als Masten betrachtet, eines Schiffes. Das ganze Environment ist mit einem bunten Mosaik von Schalen, Flaschen, Dosen und zerbrochem Geschirr überdeckt. Die Türme wurden aus Metall und Zement zusammengebastelt. Der findige Rodia brauchte dazu kein Baugerüst, denn er wusste, wie Metallstangen in Kreise gebogen und mit Beton stabilisiert werden konnten, und kletterte so stufenweise auf diesen Kreisen immer höher. Der höchste Turm ist 30 Meter hoch. Wie bei Kea Tewana sahen es die städtischen Behörden als schwierig an, dieses Unternehmen zu genehmigen. Rodias elegante Strukturen wurden einem Test unterzogen, wobei es sich zum Glück herausstellte, dass die Türme absolut stabil waren. Der amerikanische Einsiedler Clarence Schmidt (1898– 1978) hatte in verschiedenen selbstgebauten Hütten in der Region der Catskill Mountains im nördlichen New York State 7

Siehe Cardinal, Roger: The Vulnerability of Outsider Architecture, in: The Southern Quarterly, XXXIX, Nr. 1–2, Herbst–Winter 2000–2001, S. 169–186.


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Clarence Schmidt, House of Mirrors, Catskill Mountains/USA, 1960er Jahre

8 Es gibt natürlich viele andere Beispiele. Das Buch: Fantasy Worlds (Köln u.a. 1999, mit deutschem Text) von Deidi von Schaewen und John Maizels gibt mit vielen farbigen Abbildungen Auskunft über 142 weltweite Outsider-Environments, sogar aus Afrika und Asien. Roger Manley und Mark Sloan haben in ihrem Buch: Self-Made Worlds. Visionary Folk Art Environments (New York 1997) eine Liste von 465 Stätten zusammengestellt, die meisten in Nordamerika.

Roger Cardinal

gelebt, bevor er eines Tages begann, an einer größeren Konstruktion zu arbeiten. Es entstand „The House of Mirrors“ (Das Haus der Spiegel), eine siebenstöckige Struktur, die an einem Abhang des Ohayo Mountain geradezu hingeklebt schien. Obwohl Schmidt als Gipser und Maurer ausgebildet war, kam dieses eigenartige Haus ohne Plan zustande. Es war ein langsam wachsendes Konglomerat aus Holz, Metall, Stein, Glas, Gips, Teer und Anstrichfarbe, alles entweder zu geringem Preis angekauft oder als Recycling-Material von der nächsten Sägemühle oder dem Müllplatz zusammengehamstert. Schmidt wohnte in diesem Haus und arbeitete jahrelang daran. Grottenartige Zimmer, labyrinthische Kulissen und Balkone wurden mit elektrischem Gerät beleuchtet. Glas und alte Spiegel machten das Ganze zu einem märchenhaften Paradies, vor allem bei Schnee. Aus dem Dach ragten zickzackförmige Plastikformen hervor, und um das Gebäude herum kam noch ein Skulpturengarten mit Erinnerungsstätten zustande, die inmitten von lebenden Pflanzen und Bäumen standen und zur Verschmelzung von Kunst und Natur beitrugen. Schmidt verstand sein Werk als symbolische Utopie und hängte ein Spruchbanner auf mit dem egalitären Motto „My Mirrored Hope – One for All and All for One“ (Meine gespiegelte Hoffnung – Einer für Alle und Alle für Einen). Tragisch war das Ende dieses Projekts, denn eines Nachts brannte das Bauwerk völlig ab. Man vermutet, dass der Brand von feindseligen Nachbarn gelegt worden ist. Soweit ein kurzer Überblick über die „Outsider Architektur“.8 Es ist freilich der Fall, dass diese Kategorie nicht absolut eindeutig und wasserdicht ist und dass im Einzelfall gegen dieses oder jenes Kriterium verstossen wird. Zum Beispiel haben Saint EOM und Greaves von Zeit zu Zeit mit Assistenten gearbeitet; Gabriel, Cheval und Rodia haben eher Skulptur-Installationen als Gebäude hergestellt, während Tawana sogar ein Schiff gebaut hat (das überhaupt nicht wasserdicht war!). Und nicht alle Outsider-Bauten sind bewohnbar. Alle diese Außenseiter waren jedoch Autodidakten, obwohl mancher irgend eine Lehre gemacht hatte. Outsider sind manchmal religiös, manchmal gar nicht: Alle aber neigen zu einer eigentümlichen metaphysischen Weltanschauung. Es scheint mir, dass diese seelischen oder technischen Varianten nicht massgebend sind und dass diese so verschiedenen und höchst kapriziösen Konstrukte doch letzten Endes als architektonische Leistungen zu klassifizieren sind. Vor allem glaube ich, dass die Kategorie „Outsider Architektur“ kohärent und erfassbar ist, insofern sie einen langen, intensiven


Das Junkerhaus als Meisterstück der Outsider Architektur

Schaffensdrang identifiziert, der von den üblichen Baukonventionen dramatisch abweicht und stilistisch das Individuelle und Eigenartige hervorhebt. In diesem Zusammenhang kann man das Paradoxon zulassen: Die kreativen Leistungen sind im allgemeinen außergewöhnlich phantasiereich und in großem Maße originell, wenn auch die Arbeitsmethoden oft Ähnlichkeiten aufweisen. Hier müssen wir aber streng vermeiden, von einer Schule oder einer Gruppe zu sprechen (wie es in der Kunstgeschichte üblich ist), denn diese Outsider haben einander nie gekannt und haben ausnahmslos völlig unabhängig gearbeitet. Wenn ich das Junkerhaus zu dieser Kategorie zähle, so will das nicht heissen, Junker sei ein reiner Nachahmer und sein Werk sei stereotyp. Wenn man sein Haus im Zusammenhang mit der „Outsider Architektur“ betrachtet, verliert es keineswegs an Originalität und Vitalität. Im Gegenteil, die Kategorie ist flexibel und auch etwas fantasievoll und spornt dazu an, die Sondermerkmale des Lemgoer Werkes aufmerksamer zu bewerten. Wir können das Junkerhaus als das Ergebnis einer langsamen Entwicklung, oder besser: einer langsamen Verwandlung ansehen, denn es kam zuerst als ein normales bürgerliches Familienwohnhaus zustande, d. h. sein Entstehen hatte eigentlich nichts mit Antikonformismus zu tun. Das Unternehmen fand auch sehr spät in Karl Junkers Leben statt, denn er hatte nur ungefähr zwanzig Jahre, um sein Meisterwerk zu vollenden, während Cheval, Saint EOM, Rodia und Schmidt annähernd dreissig Jahre lang tätig waren. Der Lemgoer Maler und Tischler hat, wie wir wissen, von seinem Großvater eine Summe geerbt, die ihm ermöglichte, ein Haus bauen zu lassen. Junker hat einen Entwurfsplan unterbreitet, um das Baugesuch zu unterstützen. Ein solch geplantes Vorgehen ist wohl eine Ausnahme bei den Outsidern, aber wir können es als eine vernünftige Vorsichtsmaßnahme ansehen, denn – im Gegensatz zu den Verhältnissen bei Sinistö, Schmidt oder Greaves – stand Junkers Gelände nicht weit vom Zentrum einer ordentlichen bürgerlichen Stadt. Heute können wir nur noch spekulieren, ob Junkers handgefertigtes Holzmodell vor oder nach dem Bauantrag entstanden ist.9 Allerdings steht fest, dass dieses Modell die unruhige Form der Außenflächen betont und von der späteren Innengestaltung fast nichts verrät.10 Es war der Lemgoer Zimmermeister Heinrich Schirneker, der auf Junkers Antrag ein konventionelles Fachwerkhaus baute. Auf einer kleinen Anhöhe an der damals kaum bebau-

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Bauplan, 1889

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Siehe Güntzel, Jochen Georg: Der Architekturmaler Karl Junker und der Zimmermeister Heinrich Schirneker, in: Fritsch, Regina/Scheffler, Jürgen (Hg.): Karl Junker und das Junkerhaus. Kunst und Architektur in Lippe um 1900, Bielefeld 2000, S. 22 ff. Weil Improvisieren und Basteln typische Merkmale des Schaffens in der Outsider Architektur sind, findet man selten einen Plan oder ein Modell als Vorstufe der kreativen Leistung. Ferdinand Cheval sei erwähnt, der seinen „Idealen Palast“ nach einem Traum gezeichnet hat. Es ist schon wahr, dass Junker auch einige Federzeichnungen versucht hat, in denen die Vorstellung des Hauses als eine Art Renaissancepalast zu entdecken ist. 10 Ebd., S. 25. Güntzel ist der Meinung, dass der Bauplan des Hauses von anderer Hand (dem Bau- und Zimmermeister Schirneker, d.H.) entworfen wurde und dass Junkers Anspruch, Architekt des Hauses zu sein, keine Basis hatte. Es ist ziemlich sicher, dass der junge Junker drei Jahre lang als Tischlergeselle tätig gewesen war. Siehe ebd., S. 31.


Roger Cardinal

ten Hamelner Straße wurde der Rohbau im März 1891 fertig gestellt. Es war der Moment, in dem Junker, völlig sich selbst überlassen, seinem kreativen Impuls folgen konnte. Von nun an machte er alles eigenhändig und sorgte zuerst für alles, was zu einem Wohnhaus gehört. Er zog ins Haus ein, etablierte Schlafzimmer, Küche und Werkstatt und fing an, die Außenwände zu verzieren. Es kam eine regelrechte Holzverkleidung der Fassaden zustande, indem Junker mit großer Geduld und Genauigkeit kleine Holzleisten mit Hammer und Nägeln an der ursprünglichen Backsteinstruktur befestigte. Es entstand ein dekoratives Muster, das den eigentlichen Kubus verkleidete und mit bunten weichen Farben völlig umhüllte. Diese Außenhülle ist meisterhaft und imponiert vor allem wegen ihrer Symmetrie. Ob man darin eine Andeutung an die Weserrenaissance sehen will oder einfach ein originelles abstraktes Design, sei dem individuellen Betrachter überlassen. Für mich ist die elegante und ausschlaggebende Regelmässigkeit dieser Verzierung wichtig, weil man dahinter auch etwas Mesmerisches und obsessiv Dämonisches spüren kann. Draussen vor dem Haus wurden in den ersten Jahren einige kleinere Vorbauten oder Gartenhäuser errichtet, welche bezeugen, dass Junker an ein einheitliches Ensemble gedacht hat, eine Art Enklave mit mehreren Komponenten, wie bei Greaves, Sinistö oder Saint EOM. Es ist auch zu bemerken, dass Junker eine Hecke mit drei hölzernen Toren um das Areal errichtet hat, dem Vorbild einer Festung oder einer Kultstätte folgend. Bei Nacht muss diese „Zitadelle“ ziemlich unheimlich ausgesehen haben. Bei Junker gibt es keinen Anflug des Niedlichen: Sein Bauwerk mahnt eher an das gotische „House of Usher“ von Edgar Allan Poe. Es ist nicht erstaunlich, dass die Lemgoer Kinder das Gebäude als schreckenerregendes Geister- oder Hexenhaus angesehen haben. Obwohl die auffallende äußere Hülle des Hauses schon genügte, um das Junkerhaus als ästhetisches Kuriosum zu definieren, setzte sich das weitere Schaffen im verhüllten Innern noch viel fremdartiger fort. Innenwände, Zimmer, Treppen, Türen und Fenster waren jetzt der Ansatzpunkt weiterer fantastischer – man möchte fast sagen: fanatischer – Ornamentierungen. Junker brachte die sonderlichsten Gestaltungen zustande, immer mit Mühe und Sorgfalt, aber diesmal in Bezug auf ein viel lockereres stilistisches Prinzip. Man kann hier von wilderen Formeinheiten sprechen, denn mit kleinen angenagelten Holzstücken montierte er verschachtelte, käfigartige Gitterwerke, oben: Junkerhaus mit Zaun, um 1900

Mitte: Dekoration der Fassade

unten: Wandverkleidung im Flur des Erdgeschosses


Das Junkerhaus als Meisterstück der Outsider Architektur

die als Treppe-, Wand- und Deckengestaltung fixiert wurden. Hier brauchte er übriggebliebene Holzfragmente von der Sägemühle, aber auch Rohmaterial wie Wurzeln und Äste, die kaum bearbeitet wurden, es sei denn, er schälte hier und dort das neue Holz. Alle Werkkomponenten wurden ziemlich grob mit Nägeln zusammengehämmert. Ich glaube nicht, dass Junker so etwas Technisches wie eine Zapfenverbindung versucht hat.11 Etliche Variationen im Innenraum – oft ohne genaue Symmetrie, im Gegensatz zum geometrisch streng geordneten Äusseren des Hauses – kommen vor, wie zum Beispiel eine dekorative Spirale bei der Leiter im Dachgeschoss, die zu einem kleinen Belvedere führt, wo der Besucher allein sitzen kann, um einen Ausblick über die ganze Gegend zu geniessen. Das Interieur besteht aus Räumen, die zu einem durchschnittlichen Familienhaus gehören: Da gibt es einen Keller, ein Atelier, eine Küche, ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer und sogar ein Kinderzimmer (was zu verschiedenen Gerüchten geführt hat).12 Wir wissen, dass Junker zwei Jahrzehnte lang im Hause wohnte, so dass es schon als funktionelle Wohnstätte gelten musste. Allerdings vermutet man, dass der „habitantpaysagiste“ eigentlich nur kleine Ecken richtig benutzt und richtig bewohnt hat; so dass das Ganze eher dazu angetan war, als eine Art Modelldemonstration oder als bewusstes Gesamtkunstwerk zu wirken. Man darf nicht vergessen, dass das Haus auch als Privatgalerie diente, in der Gemälde mit wuchtigen und etwas grotesken hölzernen Rahmen ausgestellt wurden. Die Innenwände und Decken des Hauses enthielten auch bemalte, allegorische Medaillons. Bemalt wurden auch die Bodenflächen.13 Die Möbel waren so exzentrisch und – meiner Meinung nach – so bewusst ungelenk gebildet, dass sie zu einer normalen Funktion kaum taugten. Von Schlitz und Zapfen keine Spur. Wenn man bedenkt, dass Junker eine Lehre als Tischler absolviert hatte, dann stellen seine knorpelige Artefakte etwas dar, das als eine entschiedene Geste des Nonkonformismus zu deuten ist. Von klassischer Gewandtheit oder Schlichtheit kann hier keine Rede sein. Massive Kleiderschränke, eine grobe Truhe, ein schweres Doppelbett und eine große Standuhr wirken wie barocke Ansammlungen, die an einen geheimen Kultus erinnern. Kleinere Stücke wie Holzuhren oder Statuetten stehen in Nischen oder auf Tischen.14 Im Atelier hat Junker einen monumentalen Holzthron voll deftiger Schnitzerei aufgestellt, auf dem es sich schwerlich bequem sitzen lässt. Der Thron

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Vestibül

11 Man könnte in diesem Zuhammenhang den Avantgarde-Künstler Kurt Schwitters erwähnen – einen Hannoveraner –, der in den 1930er Jahren in seine gebastelten Assemblagen oder „Merzbilder“ oft kleine Holzstücke eingebaut hat. Er soll sich einem Kollegen einmal präsentiert haben mit dem Motto: “Ich bin Maler. Ich nagele meine Bilder”. Vgl. Cardinal, Roger/ Webster, Gwendolen: Kurt Schwitters. Ostfildern 2011. 12 Dass Junker nie geheiratet hat und wohl kinderlos blieb, hat zu verschiedenen psychologischen Thesen geführt, die wir hier nicht aufnehmen. 13 Junkers Malerei umfasst verschiedene Formate: figürliche Wandmalerei (Fresken mit mythologischen und christlichen Szenen), dekorative Ornamente auf Decke und Wand und Gemälde mit holperigen Holzrahmen. Thematisch zeigen die letzten Junkers Vorliebe für imaginäre romantische Burgen und Zitadellen. 14 Vgl. Fritsch, Regina: Truhe, Schrank und Bett. Zur Funktionalität und künstlerischen Gestaltung der Möbel von Karl Junker, in: Fritsch, Regina/ Scheffler, Jürgen (Hg.), wie Anm. 9, S. 49–59.


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Thron im Atelier

15 Vgl. Bergmann, Eckart: Das Junkerhaus als Künstlerhaus und Gesamtkunstwerk, in: ebd., S. 127–149 sowie Rudhof, Bettina: Bauen wie im Traum – das Junkerhaus in Lemgo, in: Bauen wie im Traum. Building as in a Dream, Brakel/Detmold 2010 (= Wege zur Architektur, Bd 7), S. 48–69. 16 Joachim Huppelsberg spürt eine gewisse Affinität zwischen Junker und Antoni Gaudí, dem katalanischen Jugendstil-Architekten. Siehe Huppelsberg, Joachim: Karl Junker. Architekt. Holzschnitzer. Maler. 18501912, Lemgo 1983, S. 14. 17 Der Katalog nennt berühmte Künstler der Avantgarde, wie Chagall, Delaunay, Gauguin, Kandinsky, Klee, Marc und Munch. Der Merzkünstler Schwitters war auch dabei (siehe Anm. 11). 18 Ferdinand Cheval wollte in einer Gruft unter dem indischen Tempel, der zur Ostfassade des „Palais idéal“ gehört, begraben werden. Er erhielt dazu aber keine Erlaubnis und hat seine letzte Ruhestätte auf dem Friedhof von Hauterives selbst entworfen. Dies ist ein erstaunliches Mausoleum voll schlängelnder Formen. 19 Kunst als Therapie oder als Selbstfindung gilt als weithin anerkanntes Thema in der Theorie der Kunsttherapie. Siehe u.a. Navratil, Leo: Schizophrenie und Kunst, München 1965.

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flößt geradezu Angst ein und wirkt wie der Sitz eines unbarmherzigen Kaisers. Junkers Möbel sind wohl eher als expressive Skulpturen zu verstehen, was auch die Idee unterstützt, dass das ganze Haus als Kunstwerk oder Kunstinstallation konzipiert war.15 Karl Junker verließ sich völlig auf sich selbst und erfüllte zugleich die Rollen des Architekten, Baumeisters und Bauarbeiters. Ausschlaggebend ist, dass er seiner Bastel-Methode so treu geblieben ist, dass man bei jedem Objekt sofort die ihm eigene „Signatur“ erkennen kann. Man hat ja versucht, Junkers Stil mit seiner frühen akademischen Bildung in Einklang zu bringen. Man hat von Pilastern, Balustern, Kapitellen, Architraven usw. gesprochen, als wäre das Junkerhaus eine bewusste Anthologie der Details der italienischen Renaissance oder der Weserrenaissance. Man hat auch die Relevanz des zeitgenössischen Jugendstils16 sowie des Expressionismus abgewägt. Ja, man darf nicht vergessen, dass Junker im Jahr 1920 an der ersten Ausstellung der Galerie von Garvens zu Hannover unter mehreren großen Namen der Avantgarde teilgenommen hat.17 (Zwar ging es dabei um Malerei und nicht um Skulptur.) Aber trotz allem kann man Junker kaum als einen in die Tradition eingegliederten Architekten sehen. Seine Arbeitsmethoden verweisen auf eine offenkundige Kluft: Man kann ihn schwer als einen loyalen Erben eines Neorenaissance-Ideals betrachten, wenn man sich ihn beim Klopfen mit grobem Hammer und Nägeln vorstellt. Offensichtlich gehört er zu einer anderen Gilde. Der Vergleich mit Outsidern wie Greaves, Gabriel und Schmidt ist frappant, weil sie auf genau dieselbe Weise gearbeitet haben. Hier spielt eine ästhetische Vorliebe für das „Handgemachte“ sicher eine Rolle, wie bei vielen selbständigen Outsidern, die kein Interesse an makellosen, maschinenpolierten Konstrukten haben. Dass man die Spuren der Hand des Schöpfers hier sehen und begutachten kann, trägt dazu bei, das höchst Persönliche an dem Unternehmen hervorzuheben. Es handelt sich hier ja um etwas höchst Privates, wohl auch Intimes, das mit unpersönlichem Glanz nichts gemein hat. Ich sehe sogar in Junkers rohen Gitter- oder Käfigarbeiten eine gewollte, fast anarchistische, symbolische Rebellion, die mit der Ichbezogenheit des Outsidertums genau übereinstimmt. Wie jetzt klar ist, ist der authentische Outsider ein Individualist, gerade darin, dass er oder sie für sich selbst arbeitet, fast nie Hilfe annimmt und, ganz auf sich selbst bezogen,


Das Junkerhaus als Meisterstück der Outsider Architektur

unentwegt dem Pfad der Improvisation und der ungehemmten Inspiration folgt. Es wäre schwer, die oben genannten Bauten miteinander zu verwechseln, denn alle sind hoch individuell und unabhängig von Vorbildern, wobei sie oft fatal gegen die offiziellen Regeln stossen, wie es bei Simon Rodia und Kea Tawana der Fall war. Und doch, wenn auch von einem bewussten gemeinsamen Stil nicht zu sprechen ist, so kann man trotzdem auf eine allgemeine Affinität hinweisen. Manchmal führen die praktischen Schwierigkeiten des selbständigen Bauens zu vergleichbaren Lösungen. Das Prinzip des planlosen Bastelns hat zur Folge, dass der Autor oft zu einfachen, leicht verfügbaren Materialien und Werkzeugen greift. Die Mosaikformen, die bei Rodia und Saint EOM vorkommen, kann man bei vielen Outsidern finden. Andere Vergleiche sind auch aufschlussreich, vor allem hinsichtlich der psychologischen Einstellung des Einzelgängers und seinem ungeheuren Arbeitsappetit. Sicher war das Junkerhaus der Nexus mehrerer kreativer Projekte und die Verkörperung einer vielfältigen Inspiration. Das Bauwerk als Ganzes wäre deshalb als ein symbolisches Selbstporträt zu verstehen, denn es blieb in jeder Hinsicht in Einklang mit Junkers Leben und wurde gewissermaßen zu seinem Testament. Das trifft auch auf eine große Anzahl von anderen Outsidern zu, wo die Person aufs engste mit dem materiellen Ergebnis eines langen Strebens verbunden bleibt.18 Hier könnte man auch vom Schaffensprozess als Therapie oder einem Weg zur Selbstfindung sprechen.19 Das selbstgemachte Haus wird zum idealen Denkmal seines Schöpfers. In Karl Junker sehen wir die Verkörperung des vollkommen autonomen Schöpfers, der fast eremitisch und wohl etwas akribisch von der Welt Distanz nimmt, um bis zum Tod inmitten seiner Gestaltung zu leben und zu schaffen.20 Allein und im Stillen hat er sich jahrelang seiner eigenartigen Leistung gewidmet, mit einer hartnäckigen Konzentration, die fast psychotisch erscheint. 21 Ich glaube, dass dieser kompulsive Schaffensdrang, der als Ausdruck einer seltsamen Persönlichkeit Form annimmt, dafür verantwortlich ist, dass das Junkerhaus noch heute auf den Besucher gleichzeitig faszinierend und unheimlich wirkt. Das Gebäude ist die unverblümte Lebensaussage eines unreduzierbaren Individuums. Haus und Mensch finden sich in derselben unverkennbaren und mysteriösen Identität.

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Stube mit Bett im Dachgeschoß

20 Es gehört zum extremen Mythos des Outsiders, dass er weltfremd bleibt und sein Werk womöglich versteckt und verheimlicht. Wenn auch ein Richard Greaves Besucher schlecht erträgt, so gibt es auch gegenläufige Tendenzen: Ferdinand Cheval, Saint EOM und Clarence Schmidt hatten immer Freude, wenn jemand sich für ihr Werk interessierte. Auch Junker soll, wenigstens in den ersten Jahren seiner Lemgoer Zeit, Besucher gern empfangen zu haben. 21 Die psychiatrische Auffassung des „Falls” Karl Junker wurde in den folgenden Schriften vorgelegt: Kreyenberg, Gerhard: Das Junkerhaus zu Lemgo i. L. Ein Beitrag zur Bildnerei der Schizophrenen, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, Bd. 114, 1928, S. 152–172. Behrends, Kurt: Sculptural Architecture of a Schizophrenic Artist, in: Unusual Materials in the Artistic Work of Schizophrenics, Basel 1967. MacGregor, John: Karl Junker: Das Unheimliche als Haus, in: Fritsch, Regina/Scheffler, Jürgen (Hg.), wie Anm. 9, S. 193–224. Es gibt jedoch keinen Beweis dafür, dass Junker – als er noch lebte – je von einem Psychiater untersucht wurde.


Ines Katenhusen

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Katalog „Erste Ausstellung“ der Galerie von Garvens, Oktober 1920


Herbert von Garvens (1883–1953) 93 Ein „Kampfgenosse“ der künstlerischen Moderne in Hannover

Brief von Herbert von Garvens an Reinhard Junker, Schötmar, 7. Januar 1914, mit Bitte um ein Treffen im Junkerhaus

Herbert von Garvens, Galerist und Sammler, um 1920


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Kurt Schwitters an Carola Welcker und Sigfried Giedion, 15.1.1930, gta-Archiv der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, SigfriedGiedion-Archiv, 43-K-1930-01-15. 2 Ebd. 3 Vgl. Kurt Brauweiler: Kurt Schwitters, Hannoverscher Kurier, 8.12.1921, sowie die Erwiderung Schwitters’ am 13.12.1921, in: Gedenkalbum Galerie von Garvens (Schwitters Archiv Hannover, im Folgenden: SAH 93/1). 4 Schreiben Herbert von Garvens’ an Kurt Schwitters, 14.2.1946 (SAH, Nr. 553). 5 [Anon.]: Hannover. Galerie von Garvens, in: Der Cicerone, H. 20, 1920, S. 16.

Ines Katenhusen

60 Millionen Deutsche gebe es, schrieb Kurt Schwitters im Januar 1931 an Sigfried Giedion, und nicht einer sei unter ihnen, der seiner Kunst „ein solches Verständnis gepaart mit gleicher Liebe und gleicher Initiative“ entgegenbringe wie der Schweizer Kunst- und Architekturhistoriker.1„Wozu dienen nun die ganzen 60 Millionen“, fragte Schwitters in typischer Selbst-Ironie, um Zeiten heraufzubeschwören, in denen er es leichter gehabt hatte: „Es gab mal einen Garvens“, erinnerte er sich, mittlerweile aber sei der Sammler nicht mehr so reich wie noch zehn Jahre zuvor und deshalb als Förderer wohl auch nicht mehr aktiv. Andere, die nun, Anfang der 1930er Jahre, mit ähnlicher Loyalität junge Kunst unterstützten wie Garvens einst, wusste Schwitters nicht zu nennen; Margarine sei eben „kein vollwertiger Ersatz für Butter“. 2 Tatsächlich war ein Jahrzehnt zuvor beileibe nicht alles „in Butter“ gewesen und nicht alles Gold, was in der jungen Weimarer Republik glänzte, wie Schwitters, der sich u.a. seinerzeit als Schöpfer von „Irrenkunst“ hatte beschimpfen lassen müssen,3 sehr wohl wusste. Doch seine Wertschätzung für Herbert von Garvens und dessen Einsatz für die künstlerische Moderne war nachhaltig und nicht von ungefähr: Ganz wesentlich hat der Sammler und Förderer auf seiner ganz unverwechselbaren Lebenssuche nach eigenem Ausdruck und Wahrhaftigkeit während der frühen 1920er Jahre dazu beigetragen, nicht nur in Hannover einer neuen, anderen Kunst ein Forum und eine Zukunft zu verschaffen, für die Kurt Schwitters und mit ihm viele andere standen. In Hannover, dem Ort seines langjährigen Schaffens, hingegen fühlte sich Herbert von Garvens schon Anfang der 1930er Jahre nicht mehr zu Haus. 1932 verließ er seine Heimatstadt schließlich, um nicht mehr zurückzukehren. An Kurt Schwitters schrieb er nach dem Zweiten Weltkrieg, er habe „nie ‚Heimweh’ nach Hannover oder Deutschland gehabt“.4 Tatsächlich haben weite Teile der städtischen Öffentlichkeit der niedersächsischen Metropole einiges getan, um dem Kunstfreund, der so anders war, als man sich den Spross einer angesehenen Industriellenfamilie wohl vorstellen mochte, sein Leben hier nicht nur angenehm zu machen. Das begann gleich zu Beginn seines Wirkens als Galerist, schon mit der Eröffnung der ersten Ausstellung im Spätherbst 1920. Zwar begrüßte die berichtende Presse den „auserlesenen Geschmack“ des „intimen Kunstsalons“,5 um jedoch sogleich die „Künstlerlaune“ des Sammlers zu kritisieren, die auch manches Abwegige, ja Minderwertige berücksichtige und dies zugleich mit Spitzenwerken zeige. Was etwa den


Herbert von Garvens (1883–1953)

Ein „Kampfgenosse“ der künstlerischen Moderne in Hannover

Maler und Schnitzer Karl Junker betreffe, einen, so wörtlich, „Outsider“, der „zeitlebens nichts als ein krasser Dilettant gewesen“ sei, so repräsentierten dessen in der Eröffnungsausstellung gezeigte Werke „Entgleisungen“, die „abzulehnen“ seien.6 Urteile wie dieses zum Werk des 1912 gestorbenen Lemgoers Junker, der nach dem Malereistudium in München und der zweijährigen Studienreise nach Italien in seine Heimat zurückgekehrt war, waren nicht selten; es dürfte nur wenige Eingeweihte im Deutschen Kaiserreich gegeben haben, die den Lipper überhaupt als Künstler wahrnahmen.7 Titulierungen wie jene vom „Outsider“, vom „Dilettanten“ und „Sonderling“ überwogen, andere kategorisierten ihn lange Zeit als Geisteskranken, der sich, weitgehend abgeschlossen von der Umwelt, in jahrzehntelangem, unermüdlichem Schaffen mit seinem Haus in der Hamelner Straße sein eigenes Reich geschaffen habe. Erst mehr als sechs Jahrzehnte nach Junkers Tod, Ende der 1970er Jahre, wurde die posthume Diagnose einer schizophrenen Erkrankung in Frage gestellt, erfuhren die Kunst und Architektur Karl Junkers und gelangte das Junkerhaus zu Anerkennung. Heute beschäftigt sein in Umfang wie Fundierung und Ausprägung faszinierendes Werk Restauratoren, Psychiater und Architekturhistoriker, Psychologen, Denkmalpfleger wie Kunsttheoretiker. Symposien, Vorträge und Restaurierungsprojekte sollten indes nicht vergessen lassen, dass vor einem knappen Jahrhundert, zu seinen Lebzeiten, Junkers mentale Gesundheit, seine künstlerische Begabung wie seine kunsthistorische Bedeutung weithin angezweifelt wurden. Zwei Kontakte Karl Junkers zu Galeristen seiner Zeit sind überliefert. Zu Anerkennung und Wertschätzung konnte keiner von ihnen dem Künstler zu seinen Lebzeiten verhelfen. Es war erst die nach seinem Tod von Herbert von Garvens initiierte, mehr als 50 seiner Werke umfassende Gedächtnisschau in der Berliner Neuen Secession, die für einiges mehr an Aufmerksamkeit, freilich auch für Kritik und Unverständnis, unter den Besucherinnen und Besuchern sorgen sollte.8 Herbert von Garvens’ Bindung an die Kunst Karl Junkers aber blieb lebenslang: Als der Sammler vier Jahrzehnte später, im September 1953, auf der dänischen Insel Bornholm starb, fanden sich fünf Arbeiten Junkers in seinem Haus, Aquarelle und eine Bronze,9 die ihn länger als die Hälfte seines Lebens begleitet, Umzüge innerhalb Deutschlands und dann, Ende der 1920er Jahre, die Übersiedelung nach Bornholm mitgemacht hatten. Und mehr noch: Zwei

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6 Ebd. 7 Vgl. dazu etwa Fritsch, Regina/ Scheffler, Jürgen (Hg.): Karl Junker und das Junkerhaus. Kunst und Architektur in Lippe um 1900, Bielefeld 2000 (v.a. den Beitrag von Jörg Katerndahl: Karl Junkers Werk als Quelle psychiatrischer Begutachtung nach dem Tode, S. 92–108). Huppelsberg, Joachim: Karl Junker. Architekt, Holzschnitzer, Maler 1850–1912, Lemgo 1983. Pfeiffer, Götz J.: Orpheus in der Unterwelt bei Karl Junker (1850–1912). Der Künstler und seine Werke zwischen Fatum und Fama, in: Rosenland. Zeitschrift für Lippische Geschichte, Nr. 2, Oktober 2005, S. 19–37. Schumann, Klaus Peter: Karl Junker. Ein Lemgoer Künstler zwischen Impressionismus, Jugendstil und Expressionismus, in: Johanek, Peter/Stöwer, Herbert (Hg.): 800 Jahre Lemgo. Aspekte der Stadtgeschichte. Lemgo 1980 (= Beiträge zur Geschichte der Stadt Lemgo, Bd. 2), S. 509–537. Gorsen, Peter: Karl Junker, 1850–1912. Das Haus in Lemgo, in: Brugger, Ingried/Gorsen, Peter/Schröder, Klaus Albrecht (Hg.): Kunst & Wahn, Wien/Köln 1997, S. 282–289. 8 Vgl. Ausstellungskatalog Neue Secession. Sechste Ausstellung, Berlin 1913. S. dazu auch die Informationen unter http://www.lemgo.net/256. html, 18.10.2010. 9 Vgl. Auszüge des Versteigerungskataloges des Auktionshauses Arne Bruun Rasmussen 66/1955, abgedruckt in: Vester, Katrin: Herbert von GarvensGarvensburg. Sammler und Galerist im Hannover der frühen Zwanziger Jahre, unveröff. Magisterarbeit, Kunstgeschichtliches Seminar, Universität Hamburg 1989, Bd. 2, S. 130f.


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10 Nachlass Heinz Vahlbruch, Stadtarchiv Hannover, im Folgenden: StAH, gelbe Mappe: „Vermerk: Diesen Fragebogen ließ ich von Herrn Hanns Krenz, Kunsthändler, Berlin, ca. 1955 beantworten“. 11 Zitiert nach: http://www.nrw-stiftung. de/projekte/projekt.php?id=53, 18.10.2010. 12 Niebelschütz, Ernst von: Sammlung Herbert von Garvens. Ausstellung im Kunstverein, Magdeburger Zeitung, 9.3.1921. 13 [Anon.]: Hannover. Galerie von Garvens, in: Der Cicerone. H. 20, 1920, S. 16.

Ines Katenhusen

Jahre nach Garvens’ Tod, 1955, antwortete einer seiner engsten Freunde auf die Frage nach unveröffentlichten Projekten des Sammlers und Galeristen: „Es war ein Buch über den Maler Karl Junker, Lemgo (Hexenhaus), geplant, das im Manuskript vorlag und wohl jetzt im Besitz der Erben ist.“10 Wenngleich unbekannt ist, ob dieses Manuskript heute noch existiert und, wenn ja, wo es sich befindet, so ist doch überliefert, dass der Sammler sich mit Junkers Werk schriftlich auseinandergesetzt hat. Anlässlich des Katalogvorworts zur erwähnten Gedächtnisausstellung 1913 schrieb Garvens über seine tiefe Bindung an das künstlerische Schaffen des Verstorbenen. Dort hieß es: „So ist uns Dein innerer Reichtum geblieben in Deinen Werken, aus denen sich Deine Seele offenbart, diese Seele, der der Sprung vom Erhabenen zum Grotesken ein Nichts war, diese Seele, die die Bäume wachsen fühlte und der alles zum Ausdruck des Herauswachsens wurde, die sich in den Irrgängen phantastischer Paläste zurechtfand.“ Und Garvens schrieb zum Schluss über Junker: „Du warst indischer Tempel in deutscher Landschaft.“11 Der „Sprung vom Erhabenen zum Grotesken“, die Seele, „der alles zum Ausdruck des Herauswachsens wurde“, die „Irrgänge phantastischer Paläste“ – in diesen Worten aus dem Jahr 1913 spiegelt sich das Interesse Herbert von Garvens’ an einer Kunst, die nicht länger das Abbildhafte, Detailgetreue, sondern das Assoziative, Expressive, Hintergründige, Groteske, auch durchaus im landläufigen Sinne Abwegige, das gesteigert Individuelle in den Vordergrund stellt. Später wird ein Kenner des Garvens’schen Kunstgeschmacks diesen als Affinität zu einer Kunst beschreiben, „deren Bestreben es ist, statt bloßer Augeneindrücke das innere Erlebnis, die aus mystischen Quellen elementar hervorbrechende Vision zu formulieren“.12 Hier zeigt sich ein Grundprinzip der Garvens’schen Sammlung, wenn nicht der Schlüssel zum Verständnis von Herbert von Garvens’ Kunstinteresse überhaupt: Taktisch oder modisch motivierte Kunstan- bzw. -verkäufe sind jenseits seines Verständnisses, das wissen alle, die die Sammlung kennen, jenes Unternehmen, das „in erster Linie von idealen und erst danach von merkantilen Gesichtspunkten bestimmt“ ist,13 wie es ein Zeitgenosse formuliert. Vorrangig Materielles hat in dieser Welt der Kunstpflege, im Schutzraum dessen, was Herbert von Garvens interessant und sammelwürdig erscheint, keinen Platz, es geht ihm im Gegenteil darum, in allem ein Streben nach Entmaterialisierung, nach Vergeistigung und Sublimierung zu sehen.


Herbert von Garvens (1883–1953)

Ein „Kampfgenosse“ der künstlerischen Moderne in Hannover

Früh entwickelt Herbert von Garvens diesen ausschließlich individuell motivierten Sinn für eine Kunst, der er sich dann auch unbeirrbar fördernd in den Dienst stellt. Dieser Sohn, drittes Kind einer begüterten hannoverschen Industriellenfamilie, wird, das merken ihm Nahestehende bald, weder Geschäftsmann noch Jurist werden. Den Eltern gehört eine Fabrik für Pumpen und Waagen,14 die investitionsfreundlichen Gründerjahre schaffen die Grundlage für materiellen und gesellschaftlichen Aufstieg. Als der im September 1883 geborene Herbert von Garvens sieben Jahre alt ist, zieht die Familie in eine herrschaftliche Villa im Osten der Stadt um, an jenen Ort, an dem er bis zu seiner Übersiedelung nach Dänemark wohnen und wo 1920 auch die Galerie von Garvens eröffnet werden wird. Inzwischen führt man, seitdem der Vater von Kaiser Wilhelm II. ausgezeichnet und 1909 dann zum Baron geadelt wurde, den Adelstitel „Garvens-Garvensburg“ und verbringt einen Teil des Jahres in dem Familienschloss, der gründerzeitlichen „Garvensburg“ bei Fritzlar. Der Versuch, den Sohn nach dem Abitur in London und den USA zum Kaufmann ausbilden zu lassen, muss scheitern. Die ausgedehnte Rückreise aus Amerika über Japan, Korea, China, Indonesien und Indien bringt den Fünfundzwanzigjährigen 1908 in engen Kontakt mit den Kulturen und künstlerischen Ausdrucksformen Ostasiens, an denen er seinen Sinn für Gestaltung und Design weiter ausbildet und zu denen er eine tiefe emotionale Bindung entwickelt. Mehrfach wird er in den kommenden Jahrzehnten an diese Orte zurückkehren, nach kostbaren Stoffen, Masken, Musikinstrumenten, Gefäßen, Porzellan, Tuschzeichnungen und anderen Kunstgegenständen suchen und Kisten über Kisten nach Haus transportieren lassen.15 Nach Hannover zurückgekehrt, überzeugt Herbert von Garvens die Familie von seiner Vorstellung einer Lebensplanung, die darin besteht, den einem Mann seines Standes obliegenden gesellschaftlichen Verpflichtungen nachzukommen, die mit dem elterlichen Betrieb zusammenhängenden geschäftlichen Obliegenheiten aber zu ignorieren. Knapp zehn Jahre lang, bis er, im letzten Jahr des Ersten Weltkrieges eingezogen, in französische Kriegsgefangenschaft gerät,16 widmet er sich seiner ganz individuellen Ausbildung zum Kunstkenner und -sammler. Er reist umher, besucht Galerien und Museen, Antiquariate und Kunstmärkte. Im Austausch mit anderen Sammlern und mit Künstlern, mit Händlern und Galeristen schult er seinen Kunstgeschmack, gewinnt Vertrauen in seine Entscheidungen. Von

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14 Vgl. die entsprechenden Einträge in: Böttcher, Dirk/ Mlynek, Klaus/ Röhrbein, Klaus R./Thielen, Hugo: Hannoversches Biographisches Lexikon. Von den Anfängen bis in die Gegenwart, Hannover 2002, S. 125f. 15 Vester, Katrin, wie Anm. 9, Bd. 1, S. 4f. Vgl. auch Vester, Katrin: Herbert von Garvens-Garvensburg: Sammler, Galerist und Förderer der modernen Kunst in Hannover, in: Junge, Henrike (Hg.): Avantgarde und Publikum. Zur Rezeption avantgardistischer Kunst in Deutschland 1905–1933, Köln/Weimar/Wien 1992, S. 93–102, S. 93f. 16 Vgl. die Sammlung der Gedichte und Holz- und Linolschnitte, die während dieser Zeit entstanden: Garvens, Herbert von u.a.: Die Sonnenuhr, Fort Barraux 1916–1919 (SAH, 93/2).


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17 Garvens, Herbert von: James Ensor. Maler, Radierer, Komponist. Ein Hinweis mit dem vollständigen Katalog seines radierten Werkes als Anhang, Hannover 1913, Vorwort. 18 Ebd., S. 17. 19 Ebd. 20 Zitiert nach: Vester, Katrin, wie Anm. 15, S. 95. 21 Abgebildet in: Vester, Katrin, wie Anm. 9, Bd. 2, S. 22, Abb. 28. 22 Vgl. ebd., Bd. 1, S. 16, Fußnote 67.

Ines Katenhusen

nun an wird er das, was sich für ihn als bedeutsam erwiesen hat, fördern und zu erwerben suchen – notfalls gegen Widerstände, energisch und unbeirrbar. 1910 entdeckt er in einem Antwerpener Antiquariat zwei Arbeiten des bis dahin weithin unbekannten belgischen Malers James Ensor. Sofort beschließt der knapp 30-jährige, den Schöpfer morbider Visionen, die Alltägliches ins Bedrohliche, Spukhafte verfremden, zu besuchen. Auf einen Schlag erwirbt er von ihm über einhundertzwanzig Arbeiten. Das Werk James Ensors wird ein Zentrum seines künstlerischen Interesses bleiben, immer wieder wird er Arbeiten aus seinem Besitz selbst, in deutschen oder internationalen Ausstellungen, zeigen. „Durchdrungen von dem großen Künstlertum“ Ensors,17 veröffentlicht er 1912 ein Buch über ihn, das in seiner Schilderung des „schüchternen, stolzen“18 Malers, der sich des Unverständnisses und Spotts des „Spießers“19 ausgesetzt sieht, wohl ebenso viel über den Künstler wie über den Autor aussagt. Selbstbewusstsein und Kunstsinn lassen Herbert von Garvens in kurzer Zeit über Hannover hinaus zum anerkannten Sammler solcher Kunst werden, die sich in diesen ersten zwei Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts vielerorts erst noch behaupten muss. Er habe eine „Kollektion Macke“ vorrätig, wirbt Anfang 1914 der Leiter der Galerie „Der Sturm“, Herwarth Walden, „ferner zwei Picassos, einen van Gogh, zwei Rousseaus“ und „neue Aquarelle von Kokoschka“. 20 Nicht nur kauft Garvens eine Reihe von Werken dieser Künstler, sondern er sucht zugleich auch den Kontakt zu diesen Vertretern der heute so genannten klassischen Moderne, Künstlern also, die vielfach in seinem Alter sind. Von dem drei Jahre jüngeren Oskar Kokoschka beispielsweise erwirbt er in diesen Jahren mehr als zehn Arbeiten und lässt 1916 gar seine Ehefrau Eugenie von ihm portraitieren. 21 Gespräche mit dem wenig älteren Architekten Bernhard Hoetger bringen Garvens um 1910 in Berührung mit dem Werk der Malerin Paula Modersohn-Becker, die drei Jahre zuvor in Worpswede gestorben war. Garvens reist dorthin, sucht Künstlerkollegen wie Otto Modersohn, Heinrich Vogeler und Clara Rilke-Westhoff auf, befragt sie nach Werken der Malerin und findet nebenbei soviel Gefallen an dem Ort, dass er seiner Frau dort ein Haus kauft. 22 Binnen weniger Jahre erwirbt er 22 Gemälde Paula Modersohn-Beckers und schafft damit eine der größten und bedeutsamsten Sammlungen ihrer Kunst im Deutschen Reich.


Herbert von Garvens (1883–1953)

Ein „Kampfgenosse“ der künstlerischen Moderne in Hannover

In seiner Heimatstadt Hannover ist Herbert von Garvens in diesen zwei ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts keinesfalls der einzige, der Interesse an dem künstlerischen Werk der Worpswederin hat. Mit den Industriellen und Mäzenen Fritz Beindorff und Hermann Bahlsen konkurriert Garvens auf lokaler Ebene, was Ankäufe von Arbeiten Paula Modersohn-Beckers betrifft. Doch auch die Stadt Hannover verfügt über einen bemerkenswerten Bestand an Gemälden Paula ModersohnBeckers. Insbesondere Stadtdirektor Heinrich Tramm schätzt ihre Kunst und erwirbt eine große Anzahl von Arbeiten für die im städtischen Kestner-Museum und im Provinzial-Museum gezeigte städtische Kunstsammlung Hannovers.23 Dass Heinrich Tramm, der mit Abstand einflussreichste Kommunalpolitiker und während seiner langen Amtszeit von 1891 bis 1918 und noch über seine Stadtdirektorentätigkeit hinaus bis zu seinem Tod 1932 wichtigste städtische Kunstpolitiker, ein Anhänger der Kunst Paula Modersohn-Beckers war, ist zunächst einmal bemerkenswert und bedarf der Erläuterung. Schließlich galt dieser Mann bei seinen Zeitgenossen als alles andere als ein Freund der künstlerischen Moderne, wohl aber als ein Mann von außerordentlichem Machtinstinkt und Geltungsanspruch. In seiner Person verband sich die Kunstbegeisterung des bürgerlichen Privatmannes mit einem hohen Maß an Selbstbewusstsein, Rücksichtslosigkeit und patriarchalischer Fürsorge des Kommunalpolitikers für das kulturelle Leben seiner Heimatstadt. Er spreche sich die Fähigkeit durchaus zu, „Kunstwerke, welche für unsere Sammlungen passen, ebenso gut zu beurteilen wie Sie“, 24 ließ er einen Museumsdirektor etwa im Dezember 1917 wissen, und tatsächlich geschah über Jahrzehnte hinweg wenig im offiziellen Kunstleben der Stadt, das er nicht dominiert und beschlossen hatte. Dabei standen positive und negative Einflüsse Tramms auf das kommunale Kunstleben dicht beieinander, Inspirierendes fand sich neben Hemmendem, Beförderndes neben Erstickendem. Tramm ermöglichte Karrieren im Kunstleben seiner Heimatstadt und konnte sie zugleich zerstören, und zwar in einer unverwechselbaren Verquickung aus Privatem und Dienstlichen. Denn der Stadtdirektor war nicht nur qua Amt oberster Kunstschützer seiner Stadt, sondern auch „begeisterter Laie“25 und „Amateur aus Herzensneigung“. 26 1913 besaß der 60-Jährige über 240 Kunstwerke, 27 zwanzig Jahre später, nach seinem Tod, stellte sich heraus, dass an den Wänden der siebzehn Zimmer seiner Dienstvilla über siebzig Gemälde

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23 Vgl. Katenhusen, Ines: Kunst und Politik. Hannovers Auseinandersetzungen mit der Moderne in der Weimarer Republik, Hannover 1998, S. 191f. 24 Schreiben Heinrich Tramms an Albert Brinckmann, Direktor des KestnerMuseums, 22.12.1917, StAH HR.19, 291. 25 Biermann, Georg: Galerie Tramm, Typoskript, 4.12.1913, SAH, nicht verzeichneter Nachlass Christof Spengemanns. 26 Ebd. 27 Ebd.


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28 So Heinrich Tramm in der Sitzung der Finanzkommission und der Museumskommission am 13.9.1919, StAH, Verschiedene Kommissionen, Bd. 21. 29 So Heinrich Tramm in der Sitzung der Museumskommission am 9.2.1929, StAH, Verschiedene Kommissionen, Bd. 21. 30 Katenhusen, Ines, wie Anm. 23, S. 195.

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gehangen hatten. Sich mit Künstlern zu umgeben, Mitglied von Kunstorganisationen zu sein, ja deren Vorständen gleichsam auf Lebenszeit anzugehören, war Ehrensache für ihn. Er ließ sich beeinflussen von Freunden und Beratern – von tatsächlichen Kennern und solchen, die sich einbildeten, es zu sein oder die die Gunst des Stadtdirektors zu nutzen trachteten. Neben vielem anderen fanden sich so auch sieben bedeutende Werke Paula Modersohn-Beckers in seinem Besitz. Stärker noch war Max Liebermann vertreten, den Tramm 1906 aus Anlass seines fünfundzwanzigjährigen Dienstjubiläums mit der Anfertigung seines Portraits betraut hatte und dem er dann bis zu seinem Tod freundschaftlich verbunden blieb. Liebermann und Paula Modersohn-Becker markierten für Heinrich Tramm den zeitlichen Endpunkt seines künstlerischen Interesses, beide nahm er zeitlebens als „Kunstrevolutionäre“ wahr, auch als Paula Modersohn-Becker lange anerkannt und Max Liebermann, nunmehr etablierter Maler, längst vieles kritisierte, was nachimpressionistisches Kunstschaffen hervorbrachte. Heinrich Tramms Desinteresse, ja seine Abneigung gegenüber aller Kunst, die zeitlich auf den Aufbruch in die klassische Moderne der Wende zum 20. Jahrhundert folgte, prägte nicht nur sein privates Kunstinteresse, sondern sie dominierte über vier Jahrzehnte auch die kommunale Kunstpolitik. Im Zentrum dieser Kunstpolitik lag der Ausbau der städtischen Galerie, insbesondere die Erweiterung des kommunalen Kunstbesitzes um Werke von zeitgenössischen deutschen, auch hannoverschen und niedersächsischen Künstlerinnen und Künstlern. Dass es bei letztgenanntem Projekt mitnichten um die Förderung progressiver, gar avantgardistischer Kunst gehen sollte, sondern um handwerklich solide, traditionell gefertigte, oft abbildtreue Kunst, stand für Heinrich Tramm außer Frage. Regelmäßig drohte er, seine wertvollen privaten Leihgaben aus dem städtischen Museum zurückzuziehen, wenn er die Befürchtung hegte, dass der städtischen Galerie „moderne, expressionistische Gemälde angehängt werden sollen“. 28 Unmissverständlich forderte er, dass in einer von ihm verantworteten kommunalen Kunstsammlung „nur die toten und vereinzelte lebende Künstler“29 vertreten sein sollten. Bis 1919 waren knapp 1,5 Mio. M für Ankäufe von Kunstwerken zum Ausbau der städtischen Galerie, dieses Trammschen kommunalpolitischen „Lieblingskindes“, ausgegeben.30 In einer Zeit, in der Bereitschaft und Potenzial zum Erwerb von Kunst konstitutiv für das Ansehen einer deutschen Großstadt war,


Herbert von Garvens (1883–1953)

Ein „Kampfgenosse“ der künstlerischen Moderne in Hannover

arbeitete Tramm eifrig auf eine würdige, d.h. umfangreiche und in seinen Augen auch durchaus qualitätvolle Repräsentanz seiner Stadt hin. Dies brachte mit sich, dass er bei der Mittelbeschaffung durchaus unkonventionelle Wege beschritt. Denn selbst er konnte die städtischen Finanzen nicht in dem Maß auf die Kunstpolitik konzentrieren, wie dies zur Realisierung seiner Ansprüche nötig und gewünscht gewesen wäre. Dafür standen, nicht zuletzt in Anbetracht des rasanten Wachstums der Stadt, zu viele andere Aufgaben an: Als Tramm sein Amt antrat, Anfang der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts, hatte Hannover rund 163.000 Einwohner, drei Jahrzehnte später, als Tramm es, bedingt durch den Systemwechsel vom Kaiserreich zur Weimarer Demokratie, verließ, zählte die Stadt mit ca. 411.000 weit mehr als das Doppelte. Die Quellen für den Kunstankauf mussten also auch außerhalb der städtischen Finanzen sprudeln, und es lag für Tramm nahe, sich Gelder von jenen lokalen Industriellen zu holen, die er, selbst Angehöriger aus gutem hannoverschen Hause, teilweise seit seiner Kindheit kannte.31 Wenig bittstellerisch trat der Stadtdirektor ihnen gegenüber mit seinem Ansinnen auf, eine respektable Kunstsammlung für ihre Stadt zusammenzutragen. Wo immer möglich erbat er sich Geldspenden. Geschenke in Form von seitens der Mäzene angekauften Kunstwerken waren weit weniger gern gesehen. Auf diese Weise konnte Tramm nach Belieben selbst darüber verfügen, was angekauft wurde und was nicht. Und mehr noch: Die jahrzehntelang praktizierte Verquickung von öffentlichen und privaten Mitteln, von persönlicher Neigung und politischem Kalkül produzierte ein Durcheinander in der städtischen Kunstankaufspolitik, in dem letztlich nur einer den Durchblick behielt: Stadtdirektor Heinrich Tramm. Freilich zeigte sich in dieser imposant zur Schau gestellten Machtfülle auch, warum Tramm mitnichten nur ein großer Freund, sondern zugleich ein großer Feind in städtischen Kunstangelegenheiten war. Das Klima, das Kontrolldrang und Renommiergehabe produzierten, ließ zugleich Klüngelwesen und künstlerische Mittelmäßigkeit gedeihen und trug dazu bei, dass ein im Ganzen über Jahrzehnte hinweg in der Zusammensetzung weitgehend unverändert bleibender Kreis von Künstlern, Kunstsachverständigen und Kunstlaien die offizielle Kunstpolitik der Stadt beeinflusste und prägte.32 Die eine Folge dieser Entwicklung also war, dass die städtische Galerie zwar in quantitativer Hinsicht gewünscht imposant ausfiel, dafür aber

31 Ebd., S. 192ff 32 Ebd., S. 237ff.

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33 So im Gutachten Gustav Paulis, vorgelegt anlässlich der Sitzung der Finanzkommission und der Museumskommission am 6.9.1919, StAH, Verschiedene Kommissionen, Bd. 21. 34 Vgl. Katenhusen, Ines, wie Anm. 23, S. 234ff. 35 Goldschmidt, Werner: Kunststadt Hannover, in: Das Tagebuch, 6.6.1931, S. 17. 36 Kaiser, Hans: Gemeinschaft, in: Das Hohe Ufer, 1. Jg., H. 1, Januar 1919, S. 19f. 37 Katenhusen , Ines, wie Anm. 23, S. 246f.

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weit weniger qualitätvoll. Als der Leiter der Hamburger Kunsthalle Gustav Pauli 1919 nach dem Ende der „Ära Tramm“ zu einem Gutachten über Hannovers Kunstankaufspolitik gebeten wurde, fand er deutliche Worte über die hier zu Tage tretende ungesunde Übereiltheit und mangelnde Professionalität. Von „minderwertig“ war die Rede, „wertlos“, „stark überschätzt“ und „ganz unbrauchbar“.33 Die andere Konsequenz des Diktats des selbsternannten Kunstexperten Heinrich Tramm war, dass das offizielle Hannover bewusst und absichtsvoll die Verbindung zur zeitgenössischen Kunst des frühen 20. Jahrhunderts kappte, dass expressionistische, konstruktivistische und dadaistische Kunst bis in die 1920er Jahre hinein in den städtischen Museen nicht zu sehen war.34 In einer Zeit, in der die deutsche Kunstszene, vielfach beeinflusst von internationalen Tendenzen, in eine Fülle bisher nicht gekannter Strömungen aufbrach, verharrte das offizielle Hannover in von Heinrich Tramm verordneter Stagnation. Andernorts war diese Tendenz bekannt. Von einer „vergreisten“ Kunstszene war da die Rede,35 die „rettungslos an Alterserscheinungen“ leide.36 Nun gab es viele in der Stadt, die auf derartige Urteile nicht viel gaben, denen gefiel, was sie in den Museen und Ausstellungen sahen, die sich mit der städtischen Kunstpolitik auf die eine oder andere Weise arrangiert hatten oder die sich schlichtweg für Kunst gar nicht genügend interessierten, als dass sie an den bestehenden Verhältnissen zu rütteln bereit gewesen wären. Es gab jedoch auch andere, und je länger Heinrich Tramm dominierte und dirigierte, desto mehr wuchs deren Ungeduld. Die exponiertesten und einflussreichsten unter diesen Kritikern waren Bekannte Heinrich Tramms, jene, die seinen Kunstkurs anfänglich materiell und ideell mit gesteuert hatten, weil sie seinen Wunsch nach einer Belebung im städtischen Kunstleben teilten, die sich dann jedoch, als ihnen dieser Kurs in gefährliche Fahrwasser zu geraten schien, abgewendet hatten.37 Einer von ihnen ist Herbert von Garvens. Drei Jahrzehnte jünger als Heinrich Tramm, kennt er, Angehöriger einer der wohlhabenden und angesehenen Familien der Stadt, den Stadtdirektor über das gemeinsame Interesse an der Kunst gut. Garvens ist durchaus bereit, den Verpflichtungen, die ihm sein gesellschaftlicher Stand auferlegt, nachzukommen und den Ausbau der städtischen Galerie zu fördern, jedoch nicht mit Geldspenden, die Tramm nach eigenem Belieben verwenden kann. Stattdessen schenkt er der Stadt über die Jahre eine Reihe wertvoller Gemälde, darunter zwei der bedeutendsten


Herbert von Garvens (1883–1953)

Ein „Kampfgenosse“ der künstlerischen Moderne in Hannover

Arbeiten Paula Modersohn-Beckers.38 Die zweite Stiftung wird im Oktober 1917 von einem Schreiben begleitet, in dem Herbert von Garvens den Grund für sein Tun benennt: Bewogen zu seinem Schritt habe ihn die „Anerkennung der überaus großen und vielseitigen Anregungen, die alle Kunstfreunde von Hannover und auch darüber hinaus in den Veranstaltungen der Kestner-Gesellschaft finden, sowie aus Dank für die Verdienste, die sie sich um das Kunstleben unserer Stadt erwirbt“.39 Stadtdirektor Heinrich Tramm wird diese Begründung alles andere als gefreut haben. Schließlich brachte Herbert von Garvens hier seine Wertschätzung für eine Kunstvereinigung zum Ausdruck, die sich ein Jahr zuvor, im Herbst 1916, aufgemacht hatte, frischen Wind in jene Stagnation zu bringen, die letztlich er zu verantworten hatte. Zu lange, so hieß es im Vorwort der zweiten Ausstellung der Kestner-Gesellschaft, habe Hannover „die Augen dem Neuen“ verschlossen, zu lange „alles misstrauisch von sich“ gewiesen, „was die ausgetretene, bequeme Landstraße des Gewohnten und Überlieferten verließ“. Diese „behagliche Mittelwärme“ gelte es nun durch „die Ekstasen der jungen Generation“ zu befeuern, ihre „Versuche und Wagnisse“ seien zu fördern, wenn sich auch nicht jedes Experiment als sinnvoll erweisen werde.40 Zehn Ausstellungen der Kestner-Gesellschaft brachten im ersten Jahr des Bestehens das Publikum in Kontakt mit neuen, bisher weithin unbekannten Kunstrichtungen und Künstlern – und die Kunstwelt außerhalb der Stadt und bald auch außerhalb des Reiches merkte auf: Es tat sich endlich etwas in Hannovers Kunstwelt. Neben Kunstausstellungen veranstaltete man Lesungen mit Thomas Mann, Theodor Däubler und Franz Werfel, Konzerte mit alter und zeitgenössischer Musik, Modenschauen und experimentielle Theateraufführungen. Wassily Kandinsky, Theo van Doesburg, Piet Mondrian, El Lissitzky und viele andere in Deutschland, aber auch international tätige Künstlerinnen und Künstler holte die Kestner-Gesellschaft in die Stadt. Es kann nicht das Honorar gewesen sein, das den Ausschlag für die Entscheidung gab, hier auszustellen, vorzutragen, zu musizieren. Vielfach wurde noch nicht einmal ein Hotelzimmer gezahlt, sondern die Gäste wurden in den Häusern von Vereinsmitgliedern untergebracht.41 Eben das aber, die Atmosphäre, die dieses enge Zusammengehen von Förderern und Künstlern mit sich brachte, befördert von dem Willen zum Aufbruch aus dem künstlerischen Stillstand, geeint in dem Bewusstsein, inmitten der Wirren des

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38 Schreiben Albert Brinckmanns, Kestner-Museum, an den Magistrat, 21.1.1914, StAH, X.C.2.25, Bd. II: Kestner-Museum. 1913 stiftete Herbert von Garvens Paula ModersohnBeckers Stilleben mit blauweißem Porzellan (Schreiner, Ludwig/Timm, Regina: Die Gemälde des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts in der Niedersächsischen Landesgalerie Hannover, Textband, Hannover 1990, S. 254). 39 Schreiben Herbert und Eugenie von Garvens’ an den Magistrat, 27.9.1917, StAH, X.C.2.25, Bd. II: KestnerMuseum. 40 Küppers, Paul Erich: Vorwort zur zweiten Sonderausstellung, in: KestnerGesellschaft e.V. (Hg.): 2. Ausstellung. Karl Caspar. Maria Caspar-Filser, 8.11.–10.12.1916. 41 Vgl. Katenhusen, Ines, wie Anm. 23, S. 251.


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42 Steinitz, Kate: Die Kestner-Gesellschaft in den zwanziger Jahren, in: Schmied, Wieland (Hg.): Wegbereiter zur modernen Kunst. 50 Jahre Kestner-Gesellschaft, Hannover 1966, S. 27–51, S. 31. 43 Ebd., S. 237. 44 Vgl. Katenhusen , Ines, wie Anm. 23 S. 264ff. 45 Schreiben des künstlerischen Leiters Justus Bier an Adolf Behne, 21.12.1931, Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv, im Folgenden NLA/ HStAH, Dep. 100.A.51. 46 Zerull, Ludwig: 1916: Die KestnerGesellschaft als Provokation für den Kunstverein. Einige Dokumente zu den zwanziger Jahren, in: Kunstverein Hannover (Hg.): Bürger und Bilder, Hannover 1982, S. 94–100, S. 96. 47 Schmied, Wieland (Hg.), wie Anm. 42, S. 228.

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Ersten Weltkrieges einen Ort zu haben, der alles andere als unpolitisch war, wo man sich aber doch, unbeschwert von wirtschaftlicher Not und politischer Drangsal, mit seinesgleichen austauschen konnte – dies alles zusammen scheint das Erfolgskonzept der Kestner-Gesellschaft ausgemacht zu haben. Eine Teilnehmerin an erregten Diskussionen über die Stellung der Kunst in der Gesellschaft, aber auch an unprätentiösen, ausgelassenen Künstlerfesten beschrieb diese Atmosphäre so: „Man sammelte sich vor Veranstaltungen und nach Veranstaltungen. Man ging in gehobener Stimmung zu Vorträgen und kehrte in gehobener Stimmung zurück“.42 Die Kestner-Gesellschaft, Kunstvereinigung im Ersten Weltkrieg, Experiment inmitten einer fest gefügten städtischen Kunstszene, hatte rasch Erfolg; schon im ersten Vereinsjahr konnte man 6.000 Besucherinnen und Besucher in den Galerieräumen in Zentrumsnähe begrüßen.43 All das wäre nicht möglich gewesen ohne den Einsatz jener zahlenmäßig schmalen, aber doch materiell und hinsichtlich ihres gesellschaftlichen Einflusses überaus potenten Gruppe von Förderern der Kestner-Gesellschaft.44 Wenig mehr als zehn Männer waren es, als Fabrikanten und Industrielle, Bankiers und Kaufleute, Universitätsprofessoren und Rechtsanwälte allesamt großbürgerliche, gebildete Honoratioren der Stadt, deren finanzielle Unterstützung das Öl war, „das die Maschine treibt“,45 und deren gesellschaftliche Anerkennung ihr ermöglichte, ihren Platz in Hannovers Kunstszene zu behaupten und als rein private Vereinigung ihre Unabhängigkeit vom offiziellen Kunstbetrieb zu wahren. In den Wohnungen und Villen dieser Förderer diskutierte und feierte man, sie streckten vor und glichen aus, sorgten im ersten Vereinsjahr anlässlich der Verkaufsausstellungen für Erwerbungen im Wert von 50.000 M46 und damit für hohe Provisionen (zum Vergleich: der Monatslohn eines ungelernten Arbeiters lag zu dieser Zeit bei etwa 80 M), und nicht zuletzt waren es die Leihgaben aus ihren Sammlungen, die oft überhaupt erst einen Gutteil der Ausstellungsexponate ausmachten. Dies war auch der Fall anlässlich der Paula ModersohnBecker-Ausstellung der Kestner-Gesellschaft im September 1917. Knapp 140 Werke werden auf der bisher umfangreichsten Werkschau dieser Künstlerin gezeigt.47 Ein beträchtlicher Teil davon stammt aus hannoverschem Privatbesitz, von den Industriellen Fritz Beindorff und Hermann Bahlsen etwa und auch von Stadtdirektor Heinrich Tramm, dessen grundsätzliches Misstrauen dem modernen jungen Kunstverein gegenüber


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Ein „Kampfgenosse“ der künstlerischen Moderne in Hannover

dem Wunsch gewichen ist, seinen privaten Kunstbesitz in seiner Heimatstadt zu zeigen.48 Jedes sechste Werk Paula Modersohn-Beckers aber, das während dieser vier Wochen im Herbst 1917 gezeigt wird, gehört dem Industriellensohn Herbert von Garvens,49 der nun mit seiner inzwischen stattlichen Sammlung erstmals an eine breitere Öffentlichkeit tritt. Freunden und Eingeweihten indes ist sein Kunstbesitz längst ein Begriff. Fast auf den Tag genau ein Jahr zuvor hat er die Kestner-Gesellschaft mit begründet, er ist eines von vier Mitgliedern ihres Vorstandes50 und hat seinen gesellschaftlichen Einfluss mehr als einmal für sie geltend gemacht, wovon u.a. der zitierte Brief an Heinrich Tramm kündet, der Herbert von Garvens’ Schenkung von Paula Modersohn-Beckers „Stillende Mutter“ an die Stadt Hannover begleitet.51 Die Ausstellung selbst sehen und sich damit ein Bild von der Wirkung seiner Bilder auf die Besucherinnen und Besucher machen, kann Herbert von Garvens nicht. Er ist eingezogen worden und gerät etwa zur gleichen Zeit, im Herbst 1917, in Kriegsgefangenschaft. Die nächsten zwei Jahre verbringt er in einem südfranzösischen Lager, seiner Freiheit beraubt, doch als Reserveoffizier Arbeit und Schikane weitgehend enthoben.52 In dem Lübecker Bibliothekar Hanns Krenz lernt er seinen engsten Vertrauten im Aufbau der späteren Galerie von Garvens kennen.53 Beide finden Zeit und Gelegenheit, Ausstellungen, Lesungen, Musikabende und Vorträge zu organisieren. Gemeinsam mit kunstinteressierten Kameraden entsteht „Die Sonnenuhr“,54 ein aufwendig gestaltetes, handgedrucktes literarisches Heft mit Holzschnitten und Gedichten Herbert von Garvens’, sichtbares Zeichen dafür, dass auch die Kriegsgefangenschaft seinen Willen zu künstlerischem Ausdruck, zu Schönheit und Individualität nicht brechen kann. Als von Garvens Anfang 1920 nach Hannover zurückkehrt – nachdem sich die Wirren im Übergang von Wilhelminischem Kaiserreich zur Weimarer Demokratie in der Stadt, ohnehin keiner revolutionären Hochburg, weitgehend gelegt haben –, ist der Boden für die Kunst, die er fördert, hier bereitet. Nicht nur hat die Kestner-Gesellschaft mit Ausstellungen u.a. von Emil Nolde, Erich Heckel, Paul Klee und Lyonel Feininger eine Verdoppelung ihrer Mitglieder erreicht und kontinuierlich Interesse an moderner, avantgardistischer Kunst geweckt.55 In der Zwischenzeit hat auch ihr künstlerischer Leiter in einer überregional erscheinenden Kunstzeitschrift auf die Sammlung von Garvens aufmerksam gemacht. Herbert von Garvens, so

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48 Vgl. Katenhusen, Ines, wie Anm. 23, S. 244. 49 Vgl. Kunstverein Hannover (Hg.): Die Zwanziger Jahre in Hannover, Hannover 1962, S. 13. 50 Schmied, Wieland (Hg.), wie Anm. 42, S. 235. 51 Vgl. Schreiner, Ludwig/Timm, Regina, wie Anm. 38, S. 491. 52 Vgl. Vester, Katrin, wie Anm. 9, Bd. 1, S. 19f. 53 Ebd., S. 20. 54 Vgl. Anm. 16. 55 Schmied, Wieland (Hg.), wie Anm. 42, S. 237.


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56 Küppers, Paul Erich: Die Sammlung Garvens, zitiert nach: Kunstverein (Hg.), wie Anm. 49, S. 65–67, S. 65. 57 Schreiben Herbert von Garvens’ an Hanns Krenz, 30.03.1920, Kopie im Nachlass Heinz Vahlbruchs, StAH. 58 Küppers, Paul Erich, wie Anm. 56,. 59 Vester, Katrin, wie Anm. 9, Bd. 1, S. 22f. 60 Kunstverein (Hg.), wie Anm. 49, S. 62. 61 Garvens, Herbert von, Vorwort zum Katalog der 1. Ausstellung der Galerie von Garvens (James Ensor. Paula Modersohn-Becker, Alt-Tibetanisches Kunstgewerbe), Oktober 1920, in: Galerie von Garvens: Zwei Jahre Galerie von Garvens. Gedenkalbum, SAH 93/1. 62 Ebd. 63 Vgl. den Abdruck der Kataloge nebst Informationen zu den einzelnen Veranstaltungen in: Vester, Katrin, wie Anm. 9, Bd. 2, S. 66–100.

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heißt es hier, sei „unbeirrt durch das Geschrei des Marktes“, ein Mann, „der das Gebot der Zeit verstanden hat“, dem „im Kampf um die neue Kunst“ eine wichtige Rolle zukomme.56 Solchermaßen an eine bisher noch eher ungewohnte Öffentlichkeit gelangt, reagiert Garvens umgehend. An Hanns Krenz schreibt er, der Zustand, in dem sich seine Sammlungen augenblicklich befänden, dürfe „unmöglich fortdauern“,57 weshalb er den Freund bitte, den Gesamtbestand der Werke von, zu diesem Zeitpunkt, u.a. Courbet, Rousseau, Chagall, Marc, Delaunay, Beardsley, Macke, Rohlfs, Kubin, Kokoschka, Klee, Grosz, Nolde, Jawlensky, Archipenko und Kandinsky58 zu katalogisieren. Auf dieser Basis reift dann im Sommer 1920 die Absicht, eine eigene Galerie, in enger Absprache mit den Freunden von der Kestner-Gesellschaft, aber nicht exklusiv für sie,59 zu eröffnen. Bevor es dazu kommen kann, werden in der elterlichen Villa, dem künftigen Ausstellungsort, Stuckverzierungen abgeschlagen.60 Nichts soll von dem Arrangement der Kunstwerke ablenken, alles hat so zu sein, wie es Herbert von Garvens für sein neues Projekt wünscht. Anfang Oktober 1920 wird die erste Ausstellung eröffnet, und sie kann nicht deutlicher die bisherigen Schwerpunkte seiner Kunstliebhaberschaft beleuchten: James Ensor, Paula Modersohn-Becker, Alt-Tibetanisches Kunstgewerbe, diese drei Bereiche komponiert er zusammen zu einer beeindruckenden Schau. Mehr noch: Herbert von Garvens’ Katalogvorwort betont den programmatischen Individualismus noch: „Nicht irgend eine Richtung soll gefördert werden, sondern Kunst überhaupt, Kunst aller Zeiten und Völker. Hierbei soll der persönliche Geschmack des Sammlers gewahrt bleiben.“61 Und weiter, zum Zweck des neuen Unternehmens: „Der Sammler wird, um nicht der Einseitigkeit des Nur-Sammelns zu verfallen, zum Händler, die Kunstwerke strömen intensiveres Leben aus, sie leben und spiegeln sich in den Augen vieler, sie wandern.“62 Damit, so kann hinzugefügt werden, bleibt das Zentrum in diesem Beziehungsgeflecht zwischen Kunst, Publikum und Sammler immer der Initiator der Ausstellung, Herbert von Garvens. Seine Perspektive wird erweitert dadurch, dass die „Augen vieler“ seine Kunst sehen, er ist es, der entscheidet, wann er sich von manchem trennt, um Raum für Neues zu schaffen. Sechsundzwanzig Ausstellungen veranstaltet Herbert von Garvens in den kommenden drei Jahren der Existenz seiner Galerie im Erdgeschoss seiner Villa.63 Sie alle sind konsequent


Herbert von Garvens (1883–1953)

Ein „Kampfgenosse“ der künstlerischen Moderne in Hannover

von der Persönlichkeit des Galeristen geprägt, allein aus seiner Auswahl leitet sich ihr Programm ab. Herbert von Garvens stilisiert seinen Salon zu einem Refugium für Genießer mit außerordentlichen Ansprüchen.64 Es gibt keine kahlen Wände, auf denen Bild neben Bild hängt. Immer wird eine Einheit des Raumes mit den präsentierten Arbeiten beabsichtigt, werden Teppiche, Möbel, Gebrauchsgegenstände und Blumengebinde komponiert, immer kreieren Herbert von Garvens und sein Freund Hanns Krenz eine stilvolle Atmosphäre von Privatheit und Intimität. Im Frühjahr 1921 kombinieren sie russische Ikonen und Volkskunst Russlands mit Arbeiten von Kandinsky und Chagall, wenige Monate später Emil Noldes China- und Südsee-Reisebilder mit exotischer Plastik und Kakteen. Alexander Archipenko wird hier im September 1921 die erste Einzelausstellung in Deutschland bereitet.65 Garvens, der von Zeitgenossen als „elitärer Aristokrat“66 wahrgenommen wird und der im eigenen Galerieverlag Ausstellungskataloge zum Preis von Monatsgehältern von Arbeitern fertigen lässt, ja eine Lithographienserie zum Preis von noch nicht inflationsbedingten 3.000 M anbietet,67 stellt Arbeiten von George Grosz aus, der im Katalogvorwort das „niederträchtige System“ des Oben und des Unten in der Gesellschaft geißelt.68 Auch dies verdeutlicht: Klammer des Garvens’schen Unterfangens sind der Galerist und seine Vorstellungen von „wahrhaftem Kunstschaffen im Gegensatz zur Mode“, aber auch im Gegensatz „zum Geschmack des Publikums“.69 Dazu gehört immer auch das Abseitige, Groteske und Spukhafte. Die durchaus ernst gemeinte Frage des hannoverschen Maskenschnitzers Wilhelm Groß, warum sich der Herr Baron mit dem Seelenleben anderer umgebe,70 ist bezeichnend. Groß gilt unter seinen Zeitgenossen als schizophren; seine Kunst, so Alexander Dorner, der Leiter der Kunstabteilung des hannoverschen Provinzialmuseums, gegenüber Regierungsvizepräsident Ernst von Harnack, sei „nahe der Irrenkunst“. Harnack seinerseits wundert sich wenig, dass Garvens sich des alternden Mannes annimmt, interessiere den Sammler „doch wahrscheinlich der sexualpathologische Einschlag der Sachen“.71 Tatsächlich ist Herbert von Garvens einer der ersten deutschen Sammler, die die Kunst von Geisteskranken nicht nur unter künstlerischen Gesichtspunkten ankaufen, sondern die auch der kunstwissenschaftliche Aspekt dieser Arbeiten interessiert: Im Februar 1921 berichtet im Rahmen der Vortragsreihe, die einige der Ausstellungen begleitet, der Heidelberger Psychiater Hans Prinzhorn in

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64 Ebd., Bd. 1, S. 27f. 65 Vgl. Alexander Archipenko. Retrospektive Ausstellung. Zeichnungen, Aquarelle, Bildhauerwerke, Sculpto/ Peinture, Potsdam 1921. 66 Vester, Katrin, wie Anm. 9, S. 11. 67 Ebd., S. 26. 68 Grosz, George: Vorwort zum Katalog der 15. Ausstellung der Galerie von Garvens (April 1922). 69 So Herbert von Garvens in: Zwei Jahre Galerie von Garvens, in: Gedenkalbum (SAH 93/1). 70 Vgl. Steinitz, Kate, wie Anm. 42, S. 44. 71 Regierungsvizepräsident Ernst von Harnack an Alexander Dorner, 21.7.1926, NLA/ HStAH Hann. 152 Acc. 2006/013, Nr. 55.


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72 Vgl. Vester, Katrin, wie Anm. 9, Bd. 1, S. 39f. 73 Schreiben vom 27.11.1948, in: Yale University Archives, Beinecke Rare Book and Manuscript Library. Katherine S. Dreier Papers/Société Anonyme (Y Cal MSS 101), Box 5, Folder 162. Und Kurt Schwitters’ Freundin, die Künstlerin Käthe (Kate) Steinitz, erinnerte sich im März 1942 gegenüber dem US-amerikanischen Kunsthistoriker Frederick Hartt so: “There was the Gallery of Herbert von Garvens, who introduced the most advanced arts in his gallery, staged Dada-Nights and all sorts of activities in his beautiful house.” Kate Steinitz an Frederick Hartt, 3.3.1942, Yale University, New Haven, Beinecke Rare Book and Manuscript Library. Katherine S. Dreier Papers/Société Anonyme (Y Cal MSS 101), Box 41, Folder 1211. 74 Habicht, V.C.: VII. Ausstellung der Galerie von Garvens, Hannoverscher Kurier, 9.5.1921. 75 Buesche, Albert: Galerie von Garvens. Provinzialmuseum, Niederdeutsche Zeitung, 15.11.1923. 76 Brinko: Kleines Feuilleton. Kunstrundschau. Ausstellung Galerie von Garvens, Volkswille, 17.11.1923. 77 Dorner, Alexander: Zwei Jahre Galerie von Garvens, in: Kunstchronik, Nr. 7, 1922, S. 5. 78 Halle, Fannina W.: Eine Ausstellung russischer Kunst. Galerie Herbert von Garvens, Hannover, in: Das Kunstblatt, Mai 1921, S. 12. 79 [Anonym.]: Midia Pines, Hannoverscher Kurier, 26.04.1921 80 Habicht, V.C.: Kubin-Ausstellung in der Galerie von Garvens, Hannoverscher Kurier, 02.11.1921. 81 G.B.: Russische Kunst, in: Der Cicerone, H. 6, 1921, S. 14. 82 Halle, Fannina W.: Eine Ausstellung russischer Kunst. Galerie Herbert von Garvens, Hannover, in: Das Kunstblatt, Mai 1921, S. 12. 83 Wedekind, Fritz: Das Kunstleben der Stadt Hannover, Kölnische Zeitung, 18.01.1924. 84. Ebd. 85 Habicht, V.C.: Kubin-Ausstellung in der Galerie von Garvens, Hannoverscher Kurier, 2.11.1921

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der Galerie von seinen Forschungen mit der Kunst Geisteskranker, die er mit Werken so genannter primitiver Kulturen, aber auch mit der avantgardistischen Kunst seiner Zeit in Beziehung setzt.72 Es gibt manche in Hannover und darüber hinaus, die Herbert von Garvens’ Pionierrolle in diesem Bereich anerkennen. So blickt der Maler Carl Buchheister im November 1948 gegenüber der US-amerikanischen Sammlerin Katherine Dreier zurück auf seine Jahre in Hannover und „die ausstellungen und vorträge der kestner-gesellschaft und der galerie von garvens in den ersten jahren nach dem ersten weltkriege“, die ihm „die wichtigen eindrücke [vermittelten], die mich zur gegenstandslosen gestaltung führten.“73 Ein Teil der berichtenden Presse würdigt Herbert von Garvens’ Einsatz, es wird betont, dass, gerade weil der Galerist gar nicht erst versuche, einen „Querschnitt“74 durch die Kunst zu geben und konsequent, ja rücksichtslos individualistisch handle, seine Sammlung „reiner das Gesicht der Zeit trage, als es den Museen mit ihrer Vollständigkeitsverpflichtung möglich ist“.75 Freilich kommen auch die Freunde der Galerie nicht umhin anzuerkennen, dass sich viele Hannoveranerinnen und Hannoveraner schwer tun mit diesem exklusiven Kunstsalon. Dass nur wenige Arbeiter anzutreffen seien, wie die sozialdemokratische Tageszeitung moniert,76 wird Garvens dabei weniger stören als die Tatsache, dass auch viele aus der Klientel der KestnerGesellschaft immer seltener den Weg in die Galerie finden. Zwar ist das Verhältnis zwischen beiden Einrichtungen ungetrübt, als „Kampfgenossen“, nicht als „Konkurrenten“77 versteht man sich, weshalb auch alle Veranstaltungen im Vorfeld abgesprochen und, wenn möglich, gemeinsam organisiert werden. Doch täuscht das nicht darüber hinweg, dass das lokale Interesse an der „stilvoll-stillen Galerie“78 „beschämend“79 ist, dass der Boden Hannovers „steinig“80 für sie bleibt. Wären ihre Ausstellungen in Berlin zu sehen, so wären sie „das Tagesgespräch in der Reichshauptstadt“,81 heißt es bedauernd, auch München und Wien könnten sich freuen,82 hätten sie eine solche Galerie, einen solchen Streiter für die Kunst. So aber resümiert eine Zeitung im Januar 1924, schon rückblickend, lakonisch, da das Programm der Galerie von Garvens „noch etwas radikaler als das der Kestner-Gesellschaft“ gewesen sei,83 habe sich das Publikum hier „noch ablehnender“ verhalten, weshalb die Galerie von Garvens „draußen im Reich“ bekannter gewesen sei als in der eigenen Stadt. „Gleichgültig-


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Ein „Kampfgenosse“ der künstlerischen Moderne in Hannover

keit“84 und „Phlegmatismus“85 hätten Herbert von Garvens vor Augen geführt, dass sein elitäres, betont individualistisches, bisweilen sicher auch als bizarr wahrgenommenes Kunstkonzept in Hannover nicht aufgegangen ist. Im Spätherbst 1923 schließt die Galerie von Garvens, eilig werden einige Kunstwerke versteigert.86 Hannover wird „um ein wertvolles Zentrum geistigen Lebens ärmer“87, und Herbert von Garvens sieht sich außerhalb der Stadt nach neuen Betätigungsfeldern um. Dass er Hannover auch verlassen will, weil sein Name hier im Zusammenhang mit dem Prozess um den Massenmörder Fritz Haarmann ins Gerede gekommen ist, sei hier nur am Rande erwähnt. Haarmann hatte zu Protokoll gegeben, Garvens habe ihn beauftragt, vierzig junge Männer zu töten, um sich Mitwissern seiner sexuellen Orientierung zu entledigen. Herbert von Garvens’ Homosexualität ist, trotz seiner Ehe, weithin bekannt, dem, der den Sammler kennt, muss klar sein, dass Haarmanns infame Behauptung aus blanker Bösartigkeit und Geltungssucht entstanden ist.88 Dennoch halten sich, wenig verwunderlich, bis zu Garvens’ Tod Gerüchte, immer wieder aufs Neue kolportiert.89 Wichtiger als dieses Gerede ist dem Galeristen ein Treffen am Rande des Bauhausfestes in Weimar im Sommer 1923.90 Hier entsteht der Plan, seine und zwei andere bedeutende deutsche Privatsammlungen der Stadt Köln als Stiftung anzubieten, die daraus ein Museum moderner deutscher Kunst mit angegliedertem Kulturzentrum und Experimentierbühne für Theater und Film entstehen lassen soll.91 Dies ist ein ehrgeiziger Plan, der, noch dazu in schweren Inflationszeiten, allen Beteiligten Fingerspitzengefühl in den Verhandlungen abnötigt. Herbert von Garvens aber prescht vor. Kurzerhand überstellt er fast hundert seiner Gemälde an das Wallraf-Richartz-Museum und fordert, entgegen Warnungen, seine Bedingungen an die Stadt Köln nicht zu hoch anzusetzen, als Gegengabe für seine auf einen Wert von 200.000 RM geschätzte Sammlung entweder die Auszahlung dieser Summe in Form einer lebenslangen Rente oder die „Überlassung einer herrschaftlichen 5-Zimmer-Wohnung mit Zubehör auf Lebenszeit“ sowie „geeigneter Räume in bester Lage zum Betrieb einer großzügigen Kunsthandlung“.92 Weder auf das eine noch das andere lässt sich Kölns Oberbürgermeister Konrad Adenauer ein, die Garvens’sche Sammlung ist ihm und mit ihm vielen in der Kölner Stadtverwaltung zu modern.93 Im Juli 1924 zerschlagen sich die Pläne.

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86 [Anon.]: Die Galerie von Garvens schließt, Hannoverscher Anzeiger, 21.12.1923. Ein Drittel des Reingewinns wurde diesem Artikel zufolge für notleidende Künstler verwendet. 87 Ebd. 88 Vgl. Lessing, Theodor: Schlusswort über Haarmann und Grans. ‚Ein Justizmord ist begangen’. Ein dunkler Punkt, Prager Tageblatt, 21.1.1926, zitiert nach Marwedel, Rainer: Theodor Lessing 1872–1933. Eine Biographie, Darmstadt 1987, S. 227. 89 Vgl. z.B. den Brief Harald Isensteins an Hanns Krenz vom 9.3.1958, in dem Isenstein von einem Artikel George Grosz’ berichtete, der in einer dänischen Zeitung erschienen sei und sich mit Herbert von Garvens’ Homosexualität und dem Verschwinden junger Männer im Hannover der 1920er Jahre auseinandersetzte. Vgl. auch Vahlbruchs Entwurf eines Antwortschreibens an die Redaktion der Politiken, 29.3.1958, Nachlass Heinz Vahlbruch, StAH. 90 Nachlass Heinz Vahlbruch, StAH, gelbe Mappe: „Vermerk: Diesen Fragebogen ließ ich von Herrn Hanns Krenz, Kunsthändler, Berlin, ca. 1955 beantworten“. 91 Ebd. 92 Zit. nach: Vester, Katrin, wie Anm. 9, Bd. 1, S. 67. 93 Nachlass Heinz Vahlbruch, StAH, gelbe Mappe: „Vermerk: Diesen Fragebogen ließ ich von Herrn Hanns Krenz, Kunsthändler, Berlin, ca. 1955 beantworten“.


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94 Schreiben Alexander Dorners an das Landesdirektorium, 16.6.1925, NLA/ HStAH 152 Acc. 2006/013, Nr. 50. 95 Protokoll der Sitzung des Ausschusses der Museumskommission, 4.9.1925, Registratur Niedersächsischen Landesmuseum, im Folgenden: NLMH Reg. Akte II.2.2. Gemälde neuer Meister 1925–1932, 1. Reichsverband, 2. Galerie Hannoverscher Künstler, 3. Protokolle Museumskommission. 96 Vester, Katrin, wie Anm. 9, Bd. 1, S. 72. 97 Katenhusen, Ines, wie Anm. 23, S. 258f. 98 Vester, Katrin, wie Anm. 9, Bd. 1, S. 71. 99 Schmied, Wieland (Hg.), wie Anm. 42, S. 261 und 277. 100 Ebd. 101 Schreiben Hanns Krenz’ an Hans Hopp, Königsberg, 27.03.1927, NLA/ HStAH, Dep. 100, Nr. 32.

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Noch einmal, ein letztes Mal, melden sich jetzt in Hannover Stimmen zu Wort, die die bedeutende Sammlung des gebürtigen Hannoveraners Herbert von Garvens in der Stadt halten wollen. Diesmal ist es Alexander Dorner vom hannoverschen Provinzialmuseum, der die Werke zunächst einmal aus Köln wieder in Garvens’ alte Heimat zurückbringen lässt. Wenn es ihm wegen anderer Verpflichtungen seines Hauses auch nicht gelingt, die vorgesetzte Behörde zu einem vollständigen oder auch nur zu einem Teilankauf der Sammlung zu bewegen,94 so erreicht er nach langen Verhandlungen mit Herbert von Garvens im Sommer 1925 doch, dass dieser Teile seiner Sammlung als Leihgabe vorläufig im Provinzialmuseum, dem heutigen Niedersächsischen Landesmuseum, belässt, wo diese also fortan, so Dorner, „eine äußerst wertvolle Bereicherung bedeuten“.95 Garvens willigt offenbar auch deshalb ein, weil er, zumal nach dem Misserfolg in Köln, eine weitere große Reise plant. Anfang 1927, zwei Jahrzehnte nach seiner ersten Reise dorthin, ist er wieder für ein Jahr auf Java, Hawaii und in Korea.96 Während seiner Abwesenheit wird ein Teil seiner Geschäftspost von dem alten Freund Hanns Krenz bearbeitet, der nach der Schließung der Galerie von Garvens in das Amt des künstlerischen Leiters der Kestner-Gesellschaft gewechselt war.97 Krenz verkauft einiges an Graphik und Mappenwerken aus Garvens’schem Besitz98 und bereitet zwei Versteigerungen von insgesamt vierundzwanzig Werken Herbert von Garvens’ in der Kestner-Gesellschaft vor.99 Zwei Wochen vor Weihnachten 1926 findet die erste Auktion statt, zum Ankauf stehen Arbeiten von Baumeister, Beckmann, Dix, Grosz, Kandinsky, Klee, Kokoschka, Kubin, Léger und Nolde. Zwei Monate später folgt die zweite mit Werken von, u.a., Chagall, Heckel, ModersohnBecker, Pechstein und Schmidt-Rottluff. Die Preise, laut Auskunft des Veranstalters bereits „niedrigste Limits des Verkäufers“, 100 bewegen sich zwischen 5 RM für eine Radierung von Otto Dix und 2.000 RM für ein Ölgemälde von Paula Modersohn-Becker. Zum Vergleich: Zu diesem Zeitpunkt verdient ein hannoverscher Facharbeiter 65 Pfg. in der Stunde und rund 140 RM im Monat, ein Pfund Roggenbrot kostet 15 Pfennig, und für eine Wohnung mit Wohnküche und einem weiteren Zimmer und Abort (kein Bad) zahlt man, im Altbau, 30 bis 50 RM und im Neubau 380 bis 450 RM im Monat. Keine der beiden Versteigerungen bringt Herbert von Garvens den gewünschten Erlös, ja er erwägt sogar, weitere Auktionen in anderen deutschen Städten folgen zu lassen,101 was


Herbert von Garvens (1883–1953)

Ein „Kampfgenosse“ der künstlerischen Moderne in Hannover

wegen der Reise allerdings unterbleibt. Bald nach der Rückkehr aus Asien erfolgt der Wegzug aus Hannover. Mehr als vierzig Jahre hat er hier verbracht, nun aber verlässt er die Stadt, um nach Bornholm zu übersiedeln, wo er sich ein prächtiges Anwesen am Meer kauft.102 Am letzten Tag des Jahres 1931 tritt er, seit ihrer Gründung fünfzehn Jahre zuvor Vorstands- und Beiratsmitglied, ohne weitere Erklärung aus der Kestner-Gesellschaft aus.103 Seit der Ostasienreise hat der Sammler versucht, seine Leihgaben aus dem Provinzialmuseum abzuziehen. Von seinem Gegenüber dort, dem Abteilungsdirektor Alexander Dorner, ist bekannt, dass er erfindungsreich versucht, Bilder, die er für seine Sammlung für passend hält, so leicht nicht wieder herzugeben, selbst wenn er sie nicht ankaufen kann.104 Herbert von Garvens aber braucht Geld und muss sich deshalb auf Dorner einlassen. Und so entspannt sich ein zähes Ringen um den Sammlungsteil im Museum. Da wird von Dorner angekauft und die Bezahlung für später angekündigt, es werden einzelne Werke auf den Leihlisten „vergessen“,105 es wird behauptet, andere Werke seien schon gar nicht mehr im Hause, Krenz habe sie mitgenommen. Und Garvens recherchiert und mahnt, stellt richtig, wartet und wartet – letztlich vergebens.106 Im Ganzen ziehen sich die Verhandlungen bis Mitte der 1930er Jahre und sind nicht abgeschlossen, als im Sommer 1937 im Zuge der Vorbereitungen für die Münchner Ausstellung „Entartete Kunst“ auch das Niedersächsische Landesmuseum heimgesucht wird.107 Hier finden die nationalsozialistischen Beschlagnahmekommissionen vieles, was die vermeintliche Entartung der vorangegangenen Weimarer Republik repräsentiert. Das hat mit der Sammelpolitik des an moderner, avantgardistischer Kunst sehr interessierten Alexander von Dorner zu tun,108 es hat aber auch mit dem Sammler Herbert von Garvens und dessen jahrzehntelangem Einsatz für diese Kunst zu tun. Neben den Werken, die Dorner bei ihm in den Jahren angekauft hat oder angekauft zu haben scheint – ganz klar ist dies wegen der Aktenführung des Museumsleiters nie –, finden sich unter den verschleppten Bildern auch mindestens zwei, die in den Beschlagnahmelisten als „Fremder Besitz, Eigentum von Garvens“ gekennzeichnet sind:109 Marc Chagalls „Der Geiger im Schnee“ von 1912 und Alexej von Jawlenskys „Rote Lippen“ von 1909, beide 1921 in seiner Galerie ausgestellt.110 Im März 1941 – Herbert von Garvens’ deutsches Eigentum und Vermögen sind mittlerweile beschlagnahmt, Bornholm ist von deutschen Truppen besetzt, die ihn zunächst jedoch

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102 Vester, Katrin, wie Anm. 9, Bd. 1, S. 72. 103 Schreiben Herbert von Garvens’ an die Kestner-Gesellschaft, 30.12.1931, NLA/HStAH Dep. 100, Nr. 50. 104 Vgl. Katenhusen, Ines: ‚… nicht der übliche Typus des Museumsdirektors’. Alexander Dorner und die Gemäldegalerie des Landesmuseums in der Zwischenkriegszeit, in: Steinkamp, Maike/Haug, Ute (Hg.): Werke und Werte. Über das Handeln und Sammeln von Kunst im Nationalsozialismus, Berlin 2010, S. 173–190. 105 Ebd. 106 Vgl. exemplarisch das Schreiben Herbert von Garvens’ an Alexander Dorner, Provinzialmuseum, vom 09.09.1929, in dem es um Leihgaben von Chagall und Archipenko geht, NLA/HStAH 152 Acc. 2006/013, Nr. 53. 107 Vgl. Kunstverein Hannover (Hg.): Liste der konfiszierten Werke und unveröffentlichten Dokumente; Dokumentation im Rahmen der Ausstellung „Verboten, verfolgt. Kunstdiktatur im Dritten Reich“, Hannover 1983. 108 Vgl. Katenhusen, Ines, wie Anm. 104. 109 Beschlagnahmelisten, Fremder Besitz, Leihgaben, in: NLMH Reg., Akte I.3.2.a. Museums-Reform. „Entartete Kunst“. Buch über „entartete Kunst“. Beschlagnahme 1937. 110 Vgl. Vester, Katrin, wie Anm. 9, Bd. 2, S. 20, Abb. 23.


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111 Ebd., Bd. 1, S. 74. 112 Schreiben Ferdinand Stuttmanns an Dr. jur. Oberloskamp, Herbert von Garvens’ Rechtsvertreter, 27.3.1941, NLMH Reg., Akte I.3.2.a. MuseumsReform. „Entartete Kunst“. Buch über „entartete Kunst“. Beschlagnahme 1937. 113 Vgl. das Schreiben Herbert von Garvens’, Bornholm, an Kurt Schwitters, 14.2.1946, abgedruckt in: Vester, Katrin, wie Anm. 9, Bd. 2, S. 135–137. 114 Ebd., S. 74f. 115 Ebd. 116 Schreiben Herbert von Garvens’, Bornholm, an die Direktion des Landesmuseums Hannover, 17.10.1946, NLMH Reg., Akte I.3.2.a. MuseumsReform. „Entartete Kunst“. Buch über „entartete Kunst“. Beschlagnahme 1937. 117 Schreiben Ferdinand Stuttmanns, Niedersächsisches Landesmuseum, an das Landgericht Hannover, Wiedergutmachungskammer, 3.3.1961, NLMH Reg., Akte I.3.2.a. MuseumsReform. „Entartete Kunst“. Buch über „entartete Kunst“. Beschlagnahme 1937. 118 Ebd. 119 Vester, Katrin, wie Anm. 9, Bd. 1, S. 76. 120 Kopie des Nachrufs Hanns Krenz’ auf Herbert von Garvens, 19.8.1953, StAH, Nachlass Heinz Vahlbruch. 121 Ebd. 122 Vgl. die umfangreichen Auktionslisten, in: Vester, Katrin, wie Anm. 9, Bd. 2, S. 122–133. 123 Vgl. ebd., Bd. 1, S. 76f.

Ines Katenhusen

nicht behelligen111 – fragt der Sammler über einen Anwalt nach dem Verbleib dieser beiden Leihgaben. Zugleich bittet er um Herausgabe der beiden Gemälde Paula Modersohn-Beckers, die er, wie erwähnt, knapp dreißig Jahre zuvor der Stadt Hannover geschenkt hat. Die Antwort aus dem Museum ist unmissverständlich: Über den Verbleib der beschlagnahmten Werke könne man keine Angaben machen, und die beiden Bilder ModersohnBeckers seien „in diesen langen Jahren so fest mit dem hannoverschen Museumsbesitz verwachsen, … dass an eine Rückgabe aus irgendwelchen Gründen nicht gedacht werden kann. Heil Hitler!“112 Gut fünf Jahre später, im Herbst 1946, hat sich die wirtschaftliche Lage für den Sammler noch weiter verschärft. 1943 aus Bornholm ausgewiesen, hat er die restliche Kriegszeit bei einem Freund in der Nähe von Kopenhagen verbracht.113 Zwar ist sein Haus unversehrt geblieben, auch die vielen Kunstwerke haben den Krieg überstanden, doch muss er unter widrigen Verhältnissen viele Ausgebombte und Obdachlose aufnehmen. 114 An eine Fortsetzung seiner sammlerischen Tätigkeit – seit seiner Übersiedelung nach Bornholm hat er in aller Privatheit begonnen, junge skandinavische Künstler zu fördern115 – ist vorerst nicht zu denken. Wieder bittet er das Landesmuseum in Hannover um Auskunft, „was mit meinen wertvollen Bildern geschehen ist“,116 wieder erhält er die Antwort, man könne ihm nicht helfen.117 Jetzt wie später wird – fälschlicherweise, doch nie in Frage gestellt – argumentiert, man habe Garvens’ Aufenthaltsort nicht gekannt und ihn deshalb nicht rechtzeitig vor den Beschlagnahmeaktionen warnen können,118 seinen Besitz aus dem Museum zu retten – eine übliche Vorgehensweise in frühen Restitutionsverfahren und heute ein potenziell interessanter Sachverhalt für Nachfahren der Familie von Garvens. Herbert von Garvens stirbt am 9. August 1953, kurz vor Vollendung seines 70. Lebensjahres, auf Bornholm. Deutschland hat er, der inzwischen die dänische Staatsangehörigkeit angenommen hat, seit dem Wegzug aus Hannover nicht mehr gesehen.119 Die Freundschaft zu Hanns Krenz ist geblieben, und der berichtet auch in Garvens’ Heimatstadt von dem Tod des Galeristen, der, wenn er auch in den letzten drei Lebensjahrzehnten immer wieder einzelne Werke in Ausstellungen gegeben, so doch nie mehr seine Sammlung in Gänze der Öffentlichkeit gezeigt hat, der sein Leben in Bornholm hat umstellen müssen und sich gleichwohl, so Krenz, weiter mit den „großen und kleinen Schönheiten dieser Welt“120 umgeben hat.121


Herbert von Garvens (1883–1953)

Ein „Kampfgenosse“ der künstlerischen Moderne in Hannover

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Ein Testament hinterlässt der Sammler nicht. Seine Sammlung wird auseinander gerissen, knapp 600 Einrichtungsgegenstände, kunsthandwerkliche Exponate, Glas- und Porzellanarbeiten und, nicht zuletzt, Kunstwerke listen die Auktionshäuser in Deutschland und Dänemark.122 Vieles davon findet sich heute noch in Privatbesitz. Aber auch eine Reihe von Museen in Europa und Nordamerika hütet das Erbe dieses bedeutenden Sammlers und Galeristen des frühen 20. Jahrhunderts123 – vielfach freilich, ohne dies zu wissen. Ausstellungsraum und Lesezimmer der Galerie von Garvens, Hannover, um 1920

Bei diesem Beitrag handelt es sich um das überarbeitete Manuskript eines Vortrags, der am 15.12.2005 im Museum Junkerhaus in Lemgo gehalten wurde. – Die Verfasserin dankt folgenden Einrichtungen für Forschungsstipendien und Reisebeihilfen: Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung, John Nicholas Brown Center for American Studies/Brown University, Providence, R. I., Institute for Contemporary German Studies, Washington, D.C./DAAD, FulbrightKommission, Deutsches Historisches Institut, Washington, D. C., sowie Terra Foundation for American Art, Chicago/ John F. Kennedy-Institut für Nordamerikastudien, Berlin. Der Artikel wurde gefördert mit Forschungsmitteln des Landes Niedersachsen.


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Arbeitskreis Karl Junker Alle Rechte vorbehalten ISSN 1615-2603 ISBN 978-3-89534-912-6 Verlag für Regionalgeschichte www.regionalgeschichte.de

Abbildungsnachweis: Mario del Curto S. 81 unten, 82

Gestaltung, Satz, Reproduktionen, Bildbearbeitung: Gerhard Milting, Detmold

Dr. Ines Katenhusen, Hannover S. 91 unten, 111

Druck und Verarbeitung: K2-Druck, Detmold

Dr. Hartmut Kraft, Köln S. 31, 33, 35

Satz mit InDesign CS5.5

Kirchengemeinde St. Nicolai, Lemgo S. 55

verwendete Schriften: Benton Sans Regular und Medium

Landesarchiv Nordrhein-Westfalen Ostwestfalen-Lippe S. 11 Gerhard Milting, Detmold S. 4/5, 8, 9, 17–19, 22–29, 30 oben, 43, 44, 46–47, 48, 56, 57 unten, 59–78, 86–89, US 2, US 3, US 4 Maurice Olsen S. 81 oben Prinzhorn-Sammlung Universität Heidelberg S. 30 unten, 53, 54 Karl Schölpert, Lemgo S. 16, 21 unten Beryl Sokoloff S. 84 Städtisches Museum Lemgo US 1, S. 6, 10, 14, 15, 21 oben, 49, 51, 57 oben, 58, 86, 90, 91 oben Stadtarchiv Lemgo S. 13

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier nach ISO 9706 Umschlag Invercote G Inhalt Daco Stern Printed in Germany



ISSN 1615-2603 ISBN 978-3-89534-912-6


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