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Wege zur Architek tur

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Wege durch das Land – Literatur- und Musikfest in Ostwestfalen-Lippe


Orte und Sprache der Architektur Ein Höhepunkt des Literatur- und Musikfestes „Wege durch das Land“ ist die Rede zur Architektur, die immer mit besonderer Spannung erwartet wird. Internationale Architekten kommen nach Ostwestfalen, um in eindrucksvollen historischen Bauwerken einen Aspekt ihres Entwerfens, die Philosophie ihrer Architektur oder die Ethik ihres Schaffens zu erläutern. Unter das Literatur- und Konzertpublikum mischen sich dann Designer und Architekten, die aus dem gesamten deutschsprachigen Raum anreisen, und sorgen für eine oftmals elektrisierend aufgeladene Aufmerksamkeit. Das Wasserschloss Wendlinghausen mit seiner schlichten Noblesse bildete den Rahmen für den diesjährigen Vortrag der Kunsthistorikerin Bettina Rudhof und auch die erste, von Peter Zumthor gehaltene Rede zur Architektur im Jahre 2003; das reich ornamentierte Weserrenaissanceschloss Hämelschenburg war der Resonanzboden für Moshe Safdies Gedächtnisarchitekturen; Gut Böckel mit seinen Barocktürmen, dem Gründerzeitherrenhaus und den beeindruckenden Backsteinwirtschaftsgebäuden schuf eine kreative Atmosphäre für die Vorstellung des „RaumOrtLabors“ auf der Insel Hombroich; das Ensemble aus Bade- und Logierhäusern vom Ende des 18. Jahrhunderts, dazu der Gräfliche Park Driburg mit dem künstlerischen „Piet Oudolf Garten“ bildete einen Kontrast zu der von SANAA vertretenen minimalistischen Architektur; in der barocken Schlossanlage von Corvey mit dem karolingischen Westwerk sprach Mario Botta über Architektur als menschlichen Schutzraum; Kloster Dalheim mit seinem gotischen Kern und der barocken Ausschmückung wurde gleichsam zum Beispiel für „Lateness“ – Spätwerk –, über das dort Peter Eisenman nachdachte; Bob Wilson faszinierte die Zuhörer mit der These, dass erst die architektonische Struktur den Raum für Kreativität schafft. So wie das literarisch-musikalische Programm das Alte mit dem Neuen verbindet, wodurch sich der Blick sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die Gegenwart verändert und verfeinert, so wird mit der Rede zur Architektur ein Gespräch über die Zeiten und Räume hinweg fortgesetzt und neu aufgenommen. Die Menschen halten sich gerne an historischen Kulturstätten auf, denn sie spüren die Ausgewogenheit der Proportionen, die Verwurzelung des Bauwerkes in der umgebenden Landschaft, die handwerkliche Kunst im Gebrauch der Baumaterialien. Wie bildend das Visuelle ist, hat Goethe in den „Zahmen Xenien“ zum Ausdruck gebracht: „Dummes aber, vors Auge gestellt, / Hat ein magisches Recht; / Weil es die Sinne gefesselt hält, / Bleibt der Geist ein Knecht.“ Das Literatur- und Musikfest „Wege durch das Land“ reflektiert in vielfältiger Weise den Zusammenhang von Ort und Landschaft und Literatur. Es ist das einzige Festival, das ein Raumerlebnis thematisiert und ausdrücklich die Architektur zu Worte kommen lässt. Brigitte Labs-Ehlert


Architectural locations and language The architecture lecture, invariably awaited with a particular degree of excitement, constitutes a high point in our “Ways through the Land” festival of literature and music. International architects come to impressive period buildings in eastern Westphalia in order to explain some aspect of their production, the philosophy behind their architecture or the ethics underpinning their work. Designers and architects from all over the German-speaking world then mingle with literary audiences and concert-goers, often becoming an electrically charged focus of attention. The water-enclosed palace at Wendlinghausen, a place imbued with unfussy graciousness, provided the backdrop to this year’s lecture by art historian Bettina Rudhof, as it had done for the first in the series delivered by Peter Zumthor in 2003. Thereafter, the opulently ornamental Weser Renaissance palace at Hämelschenburg was the sounding board for Moshe Safdie’s memorial architectures; the Böckel Estate with its Baroque towers, Wilhelmenian manor and imposing brick-built working quarters yielded a creative atmosphere for the presentation of the “SpaceLab” on Hombroich island; late 18th-century spa facilities and a ducal park containing the artistic Piet Oudolf garden formed a contrast to the minimalist architecture advocated in Bad Driburg by SANAA; in the Baroque palace ensemble of Corvey with its Carolingian westwork, Mario Botta spoke of architecture as a protective space for humanity; Dalheim Monastery with its Gothic nucleus and Baroque embellishments seemingly came to embody the “lateness” upon which Peter Eisenman deliberated there; Bob Wilson fascinated his audience with the thesis that room for creativity is predicated on the very existence of architectural structures. Just as the literary/musical programme unites old and new and in the process alters and refines perceptions of both the past and the present, so the annual architecture lecture pursues and returns to a conversation that transcends times and spaces. People like frequenting ancient cultural sites because they sense a balance of proportions, appreciate how the structure is rooted in the landscape around, cherish the artistic crafting of materials. It was Goethe who, in “Tame Xenia”, articulated the formative dimension of the visual: “Paraded before the eye, though, // Is stupidity a wondrous opinion; // Captivating the senses so, // It leaves the intellect a minion”. The “Ways through the Land” festival of literature and music multifariously reflects the correlation between location, landscape and literature. It is the only festival that thematises spatial experience and expressly gives architecture the floor. Brigitte Labs-Ehlert


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Ein Beitrag zur Geschichte der Künstlerhäuser von Bettina Rudhof

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A contribution to the history of artists’ houses by Bettina Rudhof


Über die Person des Lemgoer Malers und Gesamtkunstwerkbauers Karl Junker ist nicht allzu viel bekannt. Das wenige, das sich herausfinden ließ, wurde von dem Psychologen Bernd Enke, vor allem aber von den Historikern Regina Fritsch und Jürgen Scheffler zusammengetragen. Der Kunsthistoriker Götz J. Pfeiffer befasste sich mit den Zeichnungen und Gemälden, während sein Kollege Thomas Dann sich mit den Junker’schen Möbelentwürfen auseinandersetzte. Auf der Grundlage dieser Vorarbeit und eigener Untersuchungen, die mich u. a. in die Sammlung Prinzhorn nach Heidelberg und in das Archiv der Akademie der Bildenden Künste nach München führten, unternehme ich im Folgenden den Versuch einer systematischen kunst- und architekturhistorischen Einordnung seines Lebenswerks, des skurril-schönen Junkerhauses im ostwestfälischen Lemgo. Für die freundliche Unterstützung meiner Arbeit danke ich dem Leiter des Museums Junkerhaus Lemgo, Jürgen Scheffler, und dem Leiter der Sammlung Prinzhorn, Dr. Thomas Röske; mein besonderer Dank gilt Jürgen Werner Braun, der gemeinsam mit dem Fotografen Gerhard Milting meine Neugier auf das imaginative Potenzial dieses Künstlers und seines singulären Werks weckte. Individualität und Innerlichkeit Von meiner Heimat und meiner Familie kann ich nur wenig sagen. Schlechte Behandlung und der Lauf der Zeit haben mich sowohl der einen wie der anderen entfremdet. Mein ererbter Reichtum ermöglichte mir ungewöhnlich ausgedehnte Studien … Edgar Allan Poe, 1833

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Vieles im Leben des im August 1850 geborenen Karl Junker vollzog sich zu früh. Seine Eltern starben beide an Tuberkulose, als er noch ein Kleinkind war. Er wuchs beim Großvater auf, machte eine Tischlerlehre und ging, wie man damals sagte, „auf die Walz“; gelangte so nach Berlin und nach Hamburg. Nach einer unglücklichen Liebschaft verließ er die Hansestadt, um in München Kunst zu studieren. Er begann sein Studium an der Kunstgewerbeschule und setzte es später an der Akademie der Bildenden Künste fort, wo er von 1875 bis 1877 Malerei belegte und der Malklasse von Wilhelm von Lindenschmit angehörte. Als sein Großvater starb, hinterließ er Karl ein großes Vermögen. Der damals 25-jährige Student musste sich nicht länger um sein Auskommen sorgen. Dennoch verbarg er seine Herkunft aus einer Handwerkerfamilie, trug sich in das Matrikelbuch der Hochschule als Sohn eines Doktors der Philologie ein: Die Wunschmaschine hatte ihre Arbeit bereits aufgenommen. Nicht nur diesmal wird sein Ringen um Anerkennung in bürgerlichen Kreisen handlungsleitend, denn anders als in heutigen Verhältnissen spielte die Herkunft im Kunst- und Gesellschaftsleben der Zeit eine sehr große Rolle. So verwundert es nicht, dass Karl Junker zu Kreisen wie der vom „Malerfürsten“ Franz von Lenbach 1873 gegründeten Münchner Künstlergesellschaft Allotria, einer wichtigen Institution der Kontaktpflege zwischen Künstlern und gut gestellten Beamten, Offizieren, Advokaten und Bankiers, keinen Zugang fand: In die Allotria konnte man nicht einfach eintreten – man musste in sie eingeführt werden.

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Little is known about the person of Karl Junker, the Lemgo-based painter and architect of a visionary environment, or gesamtkunstwerk. The few details gleaned to date have been compiled by the psychologist Bernd Enke, and notably by the historians Regina Fritsch and Jürgen Scheffler. The art historian Götz J. Pfeiffer studied Junker’s drawings and paintings, while his colleague Thomas Dann dealt with the artist’s furniture designs. Starting from this exploratory work and based on my own research, which lead me amongst others to the Prinzhorn collection in Heidelberg and to the archives of the Academy of Fine Arts in Munich, I will attempt hereafter, from the point of view of art and architectural history, a systematic presentation of Junker’s main oeuvre – the both bizarre and beautiful Junkerhaus (or Junker’s house) at Lemgo, a town situated in the eastern part of Westphalia. For kindly supporting my work, I’d like to thank Jürgen Scheffler, director of the Junkerhaus Museum in Lemgo, and Dr. Thomas Röske, director of the Prinzhorn collection in Heidelberg; I’m especially grateful to Jürgen Werner Braun, who together with photographer Gerhard Milting aroused my curiosity for this artist’s imaginative potential and unique oeuvre. Individuality and inwardness Much in the life of Karl Junker, born August 1850, took place too early. His parents both died of tuberculosis when he was a young child. Karl grew up with his grandfather, did an apprenticeship as a cabinetmaker, and then started travelling as a journeyman, finally reaching first Berlin and then Hamburg. After experiencing an unhappy love affair, he left the Hanseatic city and went to Munich where he intended to study fine arts. He began his studies at the School of Arts and Crafts and later, from 1875 to 1877, continued at the Academy of Fine Arts, where he specialized in painting, attending the painting class of Wilhelm von Lindenschmit. When his grandfather died, he bequeathed his sizeable fortune to Karl. The student, then aged 25, no longer had to worry about his livelihood. Nevertheless Junker, being born into a family of craftspeople, concealed his background and enrolled at the Academy pretending to be the son of a doctor of philosophy: the desiring-machine had been set in motion. Junker’s struggle for being recognized in bourgeois middle class milieus would not only in this case, but also in others determine his actions, for at that time, unlike today, family background played an important role in both the fine arts and society. Therefore, it is not surprising that Karl Junker did not gain access to circles like the Allotria artists’ society in Munich. Established in 1873 by the city’s “painter prince” Franz von Lenbach, the artists’ society was one of the important institutions for cultivating encounters between artists, high officials and high-ranking officers, lawyers and bankers. Moreover it was impossible to simply sign up as a member of the Allotria – one had to be introduced in order to be granted membership.

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Of my country and of my family I have little to say. Ill usage and length of years have driven me from the one, and estranged me from the other. Hereditary wealth afforded me an education of no common order … Edgar Allan Poe, 1833

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Die Münchener Jahre – künstlerische Einflüsse In den 1870er Jahren bewegte sich die Ausbildung an der Münchener Akademie zwischen monumentalen Historienbildern und der Genremalerei.1) Die Malereilehre fand im Atelier statt und nicht etwa en plein air. Man schulte sich in der Münchener Pinakothek an den alten Meistern, an Dürer und Leonardo, an Tiepolo und Tizian. Naturalistische Darstellungen von gewöhnlichen Lebensumständen galten als nicht akademiewürdig. Erst recht kamen Darstellungen von Armut und harter Plackerei, wie sie die französischen Realisten Gustave Courbet und Jean-François Millet ins Bild setzten, für die Ausbildung nicht in Betracht. Auch die Malerei der Romantik, wie sie Moritz von Schwind in den 1850er Jahren an der Akademie noch gefördert hatte, wurde von den Lehrenden nun zugunsten der Rückbesinnung auf abendländisch-literarische Themen zurückgedrängt. Schwind hatte den Studierenden Werke von William Blake, Eugène Delacroix oder William Turner empfohlen. Das sollte nicht mehr allzu lange so bleiben, denn die Maler von Barbizon machten bald auch in Deutschland Schule und der Symbolismus der 1880er Jahre brachte die Romantik durch die Hintertür zurück. Doch für den jungen Karl Junker und seine Studienkollegen war das noch Zukunftsmusik. Akademie-Künstler wie etwa Wilhelm Leibl, der sich für die französischen Realisten der Schule von Barbizon begeisterte, galten in der Professorenschaft als subversiv, denn seine Gemälde aus dem ländlichen Raum Oberbayerns haben nichts von Idylle oder genrehafter Erzählfreude, sondern sind durch ungeschönte Darstellungen geprägt.2) Das war für die Meister der Kunsthochschule harter Tobak, galt ihnen die Naturauffassung dieser Malerei doch generell als „unästhetisch“.3) Ihr Direktor Karl Theodor von Piloty war selbst Maler und fertigte große Historienbilder an. Als leidenschaftlicher Leh-

Junkers Eintrag in das Matrikelbuch der Münchener Kunstakademie

Atelier von Hans Makart, Wien um 1875

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The years in Munich – artistic influences During the 1870s, education at the Academy of Fine Arts in Munich moved mainly between monumental history paintings on the one hand, and genre scenes on the other.1) Painting classes took place in the studio, with absolutely no instruction outside, en plein air. Students went to the collection of the Pinakothek to study the works of the old masters, such as Dürer and Leonardo Da Vinci, Tiepolo and Titian. Any naturalistic depiction of ordinary living conditions was considered as not being worthy of the Academy. All the more, this was true for the representations of poverty and drudgery. The scenes, for instance, portrayed by the French painters of the Realist movement, Gustave Courbet und Jean-François Millet, were out of the question in the realm of academic education. Even Romantic painting – still supported at the Academy in the 1850s by Moritz von Schwind, who had recommended studying the works of William Blake, Eugène Delacroix, or William Turner to his students – was now discouraged by the professors, who instead were fostering the return to occidental literary subjects. However, these trends were soon to end, with the painters of the Barbizon school finding followers in Germany and with symbolism bringing back romanticism through the back door. For the young Karl Junker and his fellow students, however, all this was still up in the air. Artists like Wilhelm Leibl, who was enthusiastic about the French realists of the Barbizon school, were considered by the professors at the Academy to be subversive. In their view, Leibl’s paintings of scenes from the upper Bavarian countryside had nothing in common with narrative pleasure as in idyllic or genre painting, but instead were characterised by unembellished portrayals.2) For the masters at the Academy of Fine Arts this was a bitter pill to swallow, as the idea of nature as represented in these kinds of paintings was generally considered “non-aesthetic” by them.3) The director of the Munich Academy, Karl Theodor von Piloty, a painter himself, executed large historical paintings. Piloty was passionate as a professor and popular with his students: in class, he fostered representations of atmospheric intérieurs, landscapes and vedutas (or cityscapes) in magnificent colours. The works of his painting class show portrayals of specific milieus, paintings, in which individuals are shown in their completely private home and family lives. However, art journals circulated amongst students, like the weekly Fliegende Blätter (Loose Sheets), to which renowned artists contributed, amongst others Karl Spitzweg and Wilhelm Busch who provided their caricatures. The young painters were eager to learn and studied periodicals like Kunst für alle (Art For All) or Zeitschrift für Bildende Kunst (Fine Arts’ Magazine) that presented the first photographs from the great exhibitions of the world fairs, as well as from the galleries and art exhibitions of England and France. Numerous illustrations and etchings accompanied the reports and essays. In 1874, the Salon de Paris showed for the first time Claude Monet’s and Alfred Sisley’s impressionist paintings, which broadened even more the gap between the young generation of painters and the dominant academic view. On the pages of the journal Die Deutsche Kunst (The German Art), socalled “Deutsche Orientmaler” (i.e. orientalist painters) displayed panoramas of a strange world: exotic motifs, Arabs posing in typical costume under palm

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Junker’s name in the official register of the Academy of Fine Arts in Munich.

Hans Makart’s atelier in Vienna, about 1875.

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Wir können annehmen, dass Karl Junker während seines Romaufenthalts dieses von Federico Zuccari errichtete Haus nicht zuletzt wegen seiner öffentlich zugänglichen Kunstsammlung besichtigte.

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rer, beliebt bei den Schülern, ging es ihm im Unterricht um die Wiedergabe stimmungsvoller Interieurs, Landschaften und Stadtveduten in effektvollen Farben. So zeigen die Arbeiten seiner Malklasse Darstellungen spezifischer Milieus, Bilder, auf denen Individuen in ihrer ganz privaten Häuslichkeit wiedergegeben sind. Indessen kursierten in studentischen Kreisen Zeitschriften wie die Fliegenden Blätter, für die u. a. Karl Spitzweg und Wilhelm Busch Karikaturen lieferten. Wissbegierig studierten die jungen Maler Zeitschriften wie Kunst für alle oder die Zeitschrift für Bildende Kunst, wo ihnen auch die ersten Fotografien der Weltausstellungen und aus den Galerien und Salons in England und Frankreich präsentiert wurden. Zahlreiche Illustrationen und Radierungen bebilderten die Berichte und Erläuterungen. 1874 zeigte der Pariser Salon erstmals impressionistische Gemälde von Claude Monet und Alfred Sisley, die den Bruch der jungen Malergeneration mit der akademischen Lehrmeinung weiter verstärkten. In der Zeitschrift Die Deutsche Kunst präsentierten die „deutschen Orientmaler“ Panoramen aus einer fremden Welt: Exotische Motive von Arabern, die im typischen Kostüm, mit Kamelen unter Palmen posierten, oder Darstellungen von Pyramiden und SphinxStatuen, im unwirklich gleißenden Licht der Wüste, waren nicht nur für die jungen Kunststudenten eine Verheißung. Mit großer Bewunderung sprachen sie von Hans Makart, dem großspurigen Wiener Historienmaler, der sich in seiner Heimatstadt eine Art Wunderkammer in Renaissancepalastkulisse angemietet hatte, die er mit Möbeln, Teppichen, Antiquitäten und Waffen üppig einrichtete.4) Gobelins und Lüster schmückten dort die Wände, einem Bühnenbild gleich waren zwischen Pfauenfedern und Palmen Kopien berühmter Gemälde ausgestellt. Man erzählte sich von den legendären Atelierfesten, die ab 1873 dort regelmäßig stattfanden und zu denen zahlreiche prominente Gäste kamen, darunter Maler, Bildhauer und Literaten. Die jungen Künstler rezitierten Gedichte von Edgar Allan Poe5) und verschlangen die Romane von Jules Verne6), die zu Bestsellern wurden. In Künstlerkreisen galt fortan die Einrichtung exotischer Interieurs als letzter Schrei. Makarts öffentlich zugängliches Atelier wurde zu einer Fremdenverkehrsattraktion. Der Exotismus der Zeit erlaubte Gedankenreisen in phantastische, dem Alltag entrückte Welten. In den folgenden Jahren breitet sich das Flair der Bohème in der gesamten Kunstszene aus. Junker verlässt die damalige Kunstmetropole München zu früh, denn nur vierzehn Jahre nach seinem Weggang gründet der Akademie-Professor Paul Höcker zusammen mit jungen Künstlern wie Peter Behrens (1868–1940) und Hermann Obrist (1872–1942) die Münchener Secession. Secession, das bedeutet Trennung, Trennung von der konservativen Akademie. Indem die Akademie unter der Leitung von Ludwig von Löfftz in den folgenden Jahren gezielt Mitglieder der Secession berief, richtete sie ihre Lehre neu aus, erlebte in der Prinzregentenzeit (1886–1912) eine zweite Glanzzeit und wurde in den 1890er Jahren zu einer Gründungsstätte des Jugendstils. Mit Studenten wie Josef Albers, Giorgio de Chirico, Wassily Kandinsky, Paul Klee, Alfred Kubin, Franz Marc, Otto Mueller, Bruno Paul, Hans Purrmann, Christian Schad, Max Slevogt oder Albert Weisgerber wird die Akademie der Bildenden Künste in München zu einem Magneten für die Generation, die der Moderne entscheidende Anregungen liefern sollte.7)

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trees, accompanied by camels, as well as depictions of pyramids and statues of sphinxes in the glaring bright sunlight of the desert. All of this aroused intense interest among young art students. Admiringly they spoke of Hans Makart, the pompous Viennese history painter, who had rented in his home town a kind of cabinet of curiosities inside what looked like a Renaissance palace, which he decorated opulently with furniture, carpets, antiques, and arms.4) Gobelins and lustres adorned the walls of this studio, and copies of famous paintings were displayed between peacock feathers and palm trees, thus resembling a stage setting. Stories circulated that after 1873, Makart’s atelier became the scene of legendary festivities, which took place there periodically and attracted numerous well-known guests, painters, sculptors, and literati. The young artists recited the poetry of Edgar Allan Poe and devoured the novels of Jules Verne, which at that time were becoming best-sellers.5)/6) Furthermore, decorating exotic intérieurs was considered to be all the vogue amongst artists. Makart’s atelier, open to the public, became a tourist attraction. The exoticism of the time allowed imaginary tours to fantastic worlds remote from the daily life. During the following years, the atmosphere of the bohème spread over the entire arts scene. However, Junker left Munich too early, which was a major fine arts centre at the time; only fourteen years after his departure, Paul Höcker, himself a professor at the Academy, established the Munich Secession together with young artists like Peter Behrens (1868–1940) and Hermann Obrist (1872–1942). Secession signified separation – specifically, separation from the conservative Academy. Particularly through its appointment of members of the Secession during the following years, the Academy, headed by Ludwig von Löfftz, reoriented its teaching; during the so-called Prinzregentenzeit (i.e. the regency of Prince Luitpold, 1886–1912), the Academy experienced a second golden age, turning into a cradle of the development of Jugendstil in the 1890s. With students like Josef Albers, Giorgio de Chirico, Wassily Kandinsky, Paul Klee, Alfred Kubin, Franz Marc, Otto Mueller, Bruno Paul, Hans Purrmann, Christian Schad, Max Slevogt or Albert Weisgerber, the Academy of Fine Arts in Munich became a magnet for the generation of artists that would fundamentally inspire modernity.7)

As an example one could name Federico Zuccari, who obliged his guests to enter the garden of his palace in Rome, built in 1595, through a mascherone, the wide opened mouth of a demon. We can assume Karl Junker visited Palazzo Zuccari during his stay in Rome, not least because of its collection of art, which was open to the public.

Travelling to Italy and returning Karl Junker’s sketchbooks at the museum in Lemgo show the artist’s quick perceptive faculty; proportion studies show the young painter’s compositional talent. Yet, for figure drawings as well as for his portraiture, his talent lacked and his drawing style remained stiff. Junker’s best sketches show architectural motifs, apparently feeling on safe ground with this subject matter. After only two years, he left the Academy of Fine Arts. Even in those days, this period of time was too short to finish one’s studies. Junker left for Italy, visited Milan and Brescia, saw some famous villas and palazzi by Andrea Palladio in Verona and Vicenza, then went to Venice and Florence, finally arriving in Rome. Seen from a present-day perspective, Junker did a standard tourist’s sightseeing programme: visiting the Doge’s Palace in Venice, the

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Italienreise und Rückkehr Das Skizzenbuch enthält Zeichnungen, die Karl Junker auf seiner Italienreise in den Jahren 1887/88 angefertigt hat.

Das Modell des Junkerhauses ist ungewöhnlich, da im 19. Jahrhundert Planungsmodelle für Wohnbauten unüblich waren. Es entspricht in etwa dem Maßstab 1:20. Die einzelnen Ebenen sind abnehmbar. Während die Gestaltung der Fassaden sehr genau ausgearbeitet wurde, ist im Inneren nur die grobe Aufteilung der Räume zu sehen.

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Karl Junkers Skizzenbücher im Lemgoer Museum zeugen von seiner schnellen Auffassungsgabe, Proportionsstudien zeigen die kompositorische Begabung des jungen Malers. Zum figürlichen Zeichnen und der Porträtmalerei reichte seine Begabung jedoch nicht aus, sein Zeichenduktus blieb ungelenk. Die besten Darstellungen zeigen architektonische Motive, hier fühlte er sich auf sicherem Terrain. Er verließ die Akademie nach nur zwei Jahren: Eine Ausbildung schloss man auch damals in solch kurzer Zeit nicht ab. Dann machte er sich auf nach Italien, besuchte Mailand und Brescia, besichtigte einige berühmte Villen und Paläste von Andrea Palladio in Verona und Vicenza, bereiste Venedig und Florenz und gelangte schließlich nach Rom. Aus heutiger Sicht absolvierte er in Italien ein touristisches Pflichtprogramm, besuchte in Venedig den Dogenpalast, in Florenz die Uffizien, in der Hauptstadt das Pantheon, den Petersdom und die Vatikanischen Museen. Sein Skizzenbuch legt Zeugnis ab, wie tief ihn die Kunstwerke der Renaissance beeindruckten. Er reiste weiter in Richtung Süden, wo er die freigelegten antiken Stätten in Paestum und in Pompeji erkundete. Nach einem längeren Aufenthalt in der nahe Rom gelegenen Künstlerkolonie Olevano Romano, in der vor ihm einige berühmte deutsche Maler der Romantik gelebt und gearbeitet hatten, kehrte er zwar ohne akademischen Abschluss, doch als reiseerfahrener und gebildeter Künstler Anfang der 1880er Jahre nach Lemgo zurück.8) Wahrscheinlich kam er am Bielefelder Bahnhof an, um sich von dort auf den Weg in die Stadt seiner Kindheit und frühen Jugend zu machen, die damals etwa 6.000 Einwohner zählte.9) Doch auch in der Kleinstadt Lemgo findet er nicht das lang ersehnte Zuhause, niemand empfängt den etwa 30-jährigen Fremdling.10) Dennoch beginnt er 1889 mit dem Bau eines Wohnhauses an der Hamelner Straße, zu dem er den Behörden zuvor ein genaues Modell vorgestellt hatte. Die Beamten werden sich sicherlich gewundert haben, dass der alleinstehende Mann ihnen ein Wohnhaus mit großer Küche, Salon, Kinder- und Elternschlafzimmer und einem Fremdenzimmer zur Genehmigung vorlegte, aber sie lassen ihn gewähren, zeigen sich beeindruckt von den ebenso detailgenauen wie kunstvollen Darstellungen. Zusammen mit dem Zimmermann Heinrich Schirneker beginnt Junker kurz darauf mit dem Rohbau. Sie mauern den bauplastisch gestalteten Sockel aus Ziegeln und Bruchsteinen, anschließend errichten sie das zweigeschossige Fachwerk, das wiederum mit Ziegelsteinen ausgefacht wird. Ein Kreuzdach mit einem achsensymmetrisch platzierten Belvedere bekrönte das kubische Haus, das nach nur zwei Jahren zum Einzug bereit ist.11) Seine vier Fassaden sind reich ornamentiert, überzogen mit einem kleinteiligen Netz aus geschnitztem und bemaltem Stabwerk, das zu vibrieren scheint. Indessen offenbart, was von weitem wie ein flirrendes Gespinst wirkt, bei genauer Betrachtung eine symmetrische Ordnung, die auf ehrwürdige Vorbilder verweist: Die regelmäßig gegliederte Bauplastik lässt Pfeilerpilaster mit ionischen Kapitellen erkennen, Gesimse und Friese mit Astragalschnitt und Eierstabornamenten unterteilen die gleichmäßig proportionierten Wandflächen.

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The sketch book contains drawings that Karl Junker made during a trip to Italy in 1887/88.

Uffizi Gallery in Florence as well as the Pantheon, St. Peter’s Basilica and the Vatican Museums in the Italian capital. His sketchbook bears witness to the impression left on the artist by Renaissance works of art. Junker continued his tour, heading south, to explore the excavated ancient sites of Paestum and Pompeii. In 1880, after a prolonged stay in Olevano, an artists’ colony near Rome, where some famous German painters of the Romantic Movement had lived and worked before, Junker returned to Lemgo. Although lacking an academic degree, he was an educated artist and experienced through his travels.8) He likely arrived at the station in Bielefeld to continue to Lemgo, where he had spent his childhood and early youth – a town of about 6,000 residents at that time.9) Yet even in the small town of Lemgo, Junker didn’t find the home he had been longing for, with no one welcoming the 30-year-old stranger into the community.10) In 1889, his luck turned. He started building a house on Hamelner Straße, after having presented an exact model of the building to the authorities. The local officials were likely surprised by the fact, that a single man had produced a building plan for approval for a home with a large kitchen, a salon, parents’ and children’s bedrooms and a guest room; nevertheless, the authorities let him do as he pleased and appeared to be impressed by both the detailed and artful representation. Shortly after, Junker commenced the shell construction, together with the carpenter Heinrich Schirneker. The two men laid the stonewall foundation, sculpturally executed in brick and quarry-stone, on which they erected the twostorey timber-framed structure, finally infilling the spaces with brick. A crossroof with a belvedere, placed in axial symmetry, tops the cubic building.11) Only two years later, it was ready to be moved into. The four façades of the house show rich ornamental work: they are covered with a filigreed netting of

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The model of the Junker House is unusual in that it was not common practice to produce planning models for residential buildings in the 19th century. It is to a scale of about 1 in 20. The individual levels can be removed. Whereas the facade styling is shown in elaborate detail, there is only a rough indication of the spatial layout inside.

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Das Red House in Bexley/Kent entstand als Gesamtplanung von Architektur und Ausstattung, in der Morris’ Vorstellung eines umfassenden KünstlerHandwerker-Begriffs umgesetzt wurde. Im Bild: Red House und hölzerner Stuhl, den William Morris 1860 für das Esszimmer des Hauses entworfen und gebaut hatte.

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Giebel bekrönen die Fenster. Hölzernes Maßwerk mit Bogenornamenten und Wasserspeiern betont die Ecken der schlicht gegliederten Dachüberstände. Haben wir es mit einem Tempel zu tun? Wohl eher mit einem Künstlerhaus, das dem Alltag der provinziellen Kleinstadt einen ganz anderen, verheißungsvollen Ort entgegenstellt. Die Einheit von Kunst und Leben: das Künstlerhaus des Karl Junker Folgen wir also der These, dass Junkers Wohnhaus, das er während vieler Jahre in das beschriebene Gesamtkunstwerk verwandelte, in einer Tradition steht, deren Anfänge auf die italienischen Künstlerhäuser der Renaissance zurückgehen. Solche Häuser mit angegliederten Ateliers und Skulpturengärten schufen im 15. Jahrhundert Künstler wie Andrea Mantegna und Giulio Romano in Mantua, kurz darauf Raffael in Rom. Sie errichteten sich Stadtpaläste, die denjenigen des Adels in nichts nachstanden, ja sie durch ihre avancierte Gestaltung noch übertrafen.12) Indem sie dabei auch ihre Privilegien als Hofkünstler zu nutzen wussten, brachten sie die gestiegene soziale Bedeutung der Künstler zum Ausdruck und postulierten ihre prinzipielle Gleichheit mit den Adeligen. Die Geschichte solcher Künstlerhäuser setzt sich kontinuierlich bis ins 19. Jahrhundert fort, letzte Beispiele sind die prächtigen Palais der Münchner Malerfürsten Franz von Stuck und, etwas früher und hier schon erwähnt, Franz von Lenbach. Im 19. Jahrhundert ereignet sich dann aber ein Bruch, in dessen Folge auch das Künstlerhaus zu etwas ganz anderem wird: zum Künstlerhaus der Moderne. Karl Junker und sein Lemgoer Haus können wir an den Anfang dieser Entwicklung stellen. Allerdings kam er auch hier, wie jetzt zu zeigen sein wird, in gewisser Weise zu früh: in diesem Fall zu früh für das expressionistische Künstlerhaus, auf das sein Haus in Lemgo gleichwohl schon verweist. Dabei waren die frühen modernen Künstlerhäuser sehr unterschiedlich – was nicht verwundern kann, folgt man der berühmten Notiz des Schriftstellers Charles Péguy. Péguy vermerkt 1913, dass die Welt sich seit Christi Geburt weniger verändert habe als in den letzten dreißig Jahren. Hellsichtig erkennt er, dass sich zwischen 1850 und 1930 eines der größten kulturellen Experimente der Weltgeschichte ereignet – wir nennen es die „Moderne“.13) Einen Anfang setzten Künstler wie William Morris und John Ruskin. Sie wandten sich ausdrücklich gegen die rasant um sich greifende industrielle Massenproduktion, die ihnen alles sinnfällige Tun in motorische Bewegungen zu zerstückeln schien. Ihr setzten sie im Rahmen der so genannten Arts-and-Crafts-Bewegung eine Erneuerung der Künste auf der Basis des Handwerks entgegen. Ihre Wohnhäuser und Ateliers, wie etwa Morris’ 1860 fertiggestelltes Red House, spiegeln dabei nicht nur den symbolischweltanschaulichen Horizont ihres Bewohners, sondern drücken zugleich den Aufbruch in eine ästhetisierende „Lebensreform“ aus. Sie hielt am Projekt des Gesamtkunstwerks fest und beschwor mit ihren floral fließenden Formen den Zusammenhang mit Natur und Landschaft, aus dem man doch gerade unwiederbringlich herausgetreten war.

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carved and painted wooden tracery, which appears as though it’s vibrating. However, upon closer observation of the ornamentation, which looks like a whirring woven surface from a distance, a symmetric order is revealed that refers to venerable examples. The sculptured artwork shows, orderly structured, pilaster columns with ionic capitals; mouldings and friezes, with astragals and egg-and-dart ornaments, subdivide the well-proportioned surface of the walls. Gables top the windows. Wooden tracery with arched ornaments and gargoyles emphasize the corners of the simply structured eaves. What encompassed characteristics similar to a temple was in fact an artist’s house; within the context of everyday life in a small town, it was offering something completely different – a promising place.

The Red House in Bexleyheath, Kent, was planned and created as an overall project of architecture, furniture, and design, putting into practice Morris’s comprehensive notion of arts and crafts. Red House and wooden chair, designed and crafted by William Morris for the dining room of the house in 1860.

The unity of art and life: Karl Junker’s artist’s house Hence, we will follow the hypothesis that Junker’s home, which he transformed over many years into the gesamtkunstwerk described above, is part of a tradition, the beginnings of which reach back to the artists’ houses of Renaissance Italy. In the 15th century such houses were created by artists like Andrea Mantegna and Giulio Romano in Mantua or, a few years later, by Raphael in Rome. The Renaissance artists built themselves town palaces that didn’t rank behind those of the aristocracy, instead surpassing them with their advanced artwork.12) By taking advantage of their privileges as court painters, the artists expressed their increased social relevance, postulating their fundamental equality with the nobility. The history of artists’ houses continued steadily until the 19th century; late examples are namely the magnificent palaces of the “painter princes”, Franz von Stuck and, somewhat earlier, as already mentioned, Franz von Lenbach in Munich. Yet in the 19th century, a rupture occurred, with the artist’s house becoming something quite different – namely, the artist’s house of the modern age. Karl Junker and his house in Lemgo could be placed at the beginning of this development. In a way, again, he or rather his artistic arrival in this genre came too early, as will be explained hereinafter. In this case, it was too early to fall under the category of the expressionist artist’s house; nonetheless, his house in Lemgo points to that. At the same time, the early modern artists’ houses showed considerable variety – a fact in no way surprising in light of the poet Charles Péguy’s famous note, who wrote in 1913, that the world has changed less since the time of Jesus Christ than in the last thirty years. Standing in the midst of those changes, Péguy anticipated ingeniously that one of the greatest cultural experiments of world history should take place between 1850 and 1930 – what we call “Modernism”.13) A first beginning is marked by artists like William Morris and John Ruskin who explicitly opposed the rampant industrial mass production, which to them appeared to be hacking any meaningful action into mere mechanic sequences. Within the framework of the so-called Arts and Crafts Movement, they countered such tendencies with the prospect of a revival of the arts

Building as in a dream: the Junkerhaus in Lemgo

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In Deutschland wurde diese Entwicklung spätestens mit der Gründung der Münchener Secession 1892 und in der kurz darauf publizierten Zeitschrift Jugend deutlich. Dort zeigten junge Künstler wie Peter Behrens, Fritz Erler und Ludwig Dill erstmals dynamisch fließende Raumplastiken, deren vegetabile Ornamentik sich über Böden, Geländer, Wände und Decken ausbreitete. Ihren Schöpfern galten diese Interieurs als Demonstrationsobjekte, um durch die Ästhetisierung aller Lebensbereiche den Einklang von künstlerisch gestaltetem Raum und Leben zu präsentieren und so die Einheit aller Kunstgattungen zu behaupten. Der Jugendstil begnügte sich deshalb auch nicht mehr damit, bloß ein Kunststil zu sein, sondern zielte auf die durchgängige Formung des gesamten Lebens. Wir dürfen annehmen, dass Karl Junker, der zeitgleich am Bau seines Hauses in Lemgo arbeitete, diese Neuerungen mit gesteigertem Interesse verfolgte. Durch kurze Ausflüge und Reisen, vor allem aber durch regelmäßige Besuche in der gut sortierten Bibliothek von Detmold, der heutigen Lippischen Landesbibliothek, hielt er sich wohl auf dem Laufenden. Das Junkerhaus unter der Lupe

Der Vergleich der alles überformenden, scheinbar wuchernden Netzgebilde im Junkerhaus mit einem bizarr gewachsenen Gestrüpp liegt nahe und dennoch ist der Unterschied zwischen Natur und Artefakt bedeutsam: Bei genauer Betrachtung lässt sich erkennen, dass die einzelnen Felder Stück für Stück symmetrisch geformt sind. Sie fügen sich zu konstruktivtektonischen Strukturen, bilden Wände, Korbbögen, Giebel oder Kassettendecken aus; so lässt sich an jeder Stelle die ordnende Hand des Künstlers erkennen.14) .

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Bei genauer Betrachtung des Lemgoer Bauwerks erkennen wir einige durchgängig widerstreitende Elemente, die es erlauben, Karl Junker und sein Werk in den Zusammenhang von Lebensreform, Arts-and-Crafts-Bewegung und Jugendstil zu stellen: Wer den baulichen Aufbau und die Disposition der Räume näher in den Blick nimmt, bemerkt zunächst das Schema eines traditionellen Wohnhauses mit schmalem Flur, der die Küche, das Wohnzimmer und den Salon verbindet. Einige Elemente wie das kubische Volumen, die wechselansichtig gleichen Fassaden, aber auch die schön proportionierten Räume und ihre gut organisierte Ausrichtung nach den Himmelsrichtungen verweisen auf die architektonischen Kenntnisse seines Erbauers, die er ganz offensichtlich von den italienischen Renaissancevillen mit in den Norden brachte. Nicht zuletzt wegen der Lage auf einer Anhöhe vermittelt das frei stehende Gebäude Noblesse. Doch das Junkerhaus ist kein Zweckbau. Schon in der Eingangszone stimmt eine roh hölzerne Netzstruktur auf das primär ästhetisch motivierte Interieur ein. Wenige Schritte weiter umfängt die wulstige Bauplastik beinahe sämtliche Decken und Wände des Hauses. Gefertigt aus geschnitzten Leisten, Stöcken und Ästen fügt sie sich zu Korridoren, verzwirbelt zu Treppen, bildet Nischen, Säulen und Baldachine aus und setzt schließlich einzelne Möbel frei. Das verzahnte „Gesamtschnitzwerk“ in Lemgo ist durchsetzt von einer Unzahl allegorischer Plastiken, von Reliefs, Totems und Gemälden. Wir erkennen Giebel, Gesimse, Pilaster und ionische Kapitelle. Dazwischen leuchten figürlich bemalte Lunetten in hellen Ölfarben wie Fenster hervor. Indessen scheint das bewusst grob geschnitzte Baumaterial der bisweilen raumgreifenden Strukturen so gar nicht zu den antikisierenden Ornamenten zu passen. Die historischen Vorbilder sind deutlich herausgearbeitet, aber die Rohheit des Werkstoffs wirkt als Antithese zu dem Formgefüge, in das er gefasst ist. Kurzum, die der Natur entlehnte Wirkung des Gewachsenen widersetzt sich der symmetrisch ordnenden und gereihten Gestalt.

Bauen wie im Traum – das Junkerhaus in Lemgo


based on craftsmanship. Their homes and ateliers – like for example Morris’s Red House, finished in 1860 – not only reflect the representational and ideological horizon of their occupants but also express the emergence of a kind of aestheticised “life reform”. Such a reform adhered to the project of visionary environments or gesamtkunstwerks, and with its flowing floral forms it alluded to the correlation of nature and landscape, even though one had just stepped out of it irretrievably. In Germany, such trends had manifested themselves at least since the establishment of the Munich Secession in 1892. Only a few years later, the art magazine Jugend was created. Young artists like Peter Behrens, Fritz Erler and Ludwig Dill showed their dynamically flowing sculptural art – its organic, plant-inspired ornamentation spreading out over floors, handrails, walls, and ceilings. To their creators, by aestheticising all spheres of life, these intérieurs were mere objects to demonstrate the harmony of an artistically moulded space and life, and hence to affirm the unity of the arts. Therefore, Jugendstil didn’t content itself with being just another art style, but instead aimed at a consistent shaping of life as a whole. Presumably Karl Junker, at that time building his house in Lemgo, watched such changes with increased interest. Maybe by going for short trips and journeys, but above all by visiting the well-assorted library in Detmold – today the Lippische Landesbibliothek (the state library of the Lippe district) – Junker kept up with developments. Junker’s house in detail Reviewing the building in Lemgo, we can recognise consistently antagonistic elements that justify placing Karl Junker and his oeuvre in the context of life reform, Arts and Crafts Movement and Jugendstil. Looking closer at the architectonic structure and the situation of the rooms, one will first notice the scheme of a traditional dwelling house, with a narrow corridor that connects the kitchen, the living room, and the salon. Some elements, like the cubic volume, the oppositely uniform façades, but also the well-proportioned rooms and their orientation towards the cardinal directions show the architectural knowledge of the constructor; quite obviously, Junker had brought this knowledge to the north from the Renaissance villas he had seen in Italy. And finally, being situated on a hill, the detached building shows a certain noblesse. Nevertheless, the Junkerhaus is not a functional building. Unwrought wooden netting in the foyer already prepares us for the intérieur, which is mainly aesthetically motivated. Some steps further, the exuberant sculptural art covers almost all ceilings and walls of the house. Made of carved wooden strips, sticks and branches, the netting intertwines to form corridors, twirls into stairs, and forms niches, pillars, and baldachins, and even mutates into items of furniture. The intermeshed gesamtkunstwerk of carved wood in Lemgo shows a myriad of allegoric sculptures, reliefs, totems and paintings. We can recognize pediments, cornices, pilaster columns and ionic capitals. Between all this, lunettes – bright-coloured and figuratively painted in oil – shine out like windows.

Building as in a dream: the Junkerhaus in Lemgo

Obviously, the all-encompassing, seemingly sprawling netting inside Junker’s house closely resembles freakishly rampant undergrowth, nevertheless the difference between nature and artefact is significant: close inspection reveals that the single parts are modelled symmetrically, they unite to form constructive-tectonic structures: they put up walls, basket-handle arches, gables, and coffered ceilings. Hence, the ordering touch of the artist is recognizable everywhere.14)

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Die vitruvianische Urhütte. Aus MarcAntoine Laugiers Essai sur l’architecture, 2. Aufl., Paris 1755. „Die senkrechten Stämme nahmen die Säulen vorweg, die waagerechten das Gebälk, die schräg aufgesetzten den Dreiecksgiebel.“

Weidenruten. In: James Hall, Essay on the origin and principles of Gothic architecture, London 1797

Die Singularität des Junkerhauses liegt gerade hier, in der Diskrepanz von würdevoller Bauplastik und rohem Baumaterial, und setzt den Kunsthistoriker auf eine Spur: Im ersten Jahrhundert v. Chr. hatte der römische Schriftsteller Vitruv alle Künste und ihre „Mutter“, die Architektur, aus der Urhütte, also aus der Natur zu begründen gesucht.15) Diese Idee fasste der Jesuit Marc-Antoine Laugier im Jahr 1755 in eine berühmt gewordene Darstellung. Darin führte er die Baukunst auf eine als Zimmermannstempel bezeichnete Hütte zurück, die aus den zusammengebundenen Ästen ungefällter Bäume entstand: eine Deutung, auf die sich die Romantik bezog. Ihren Vertretern zeigte sich hier die Hinwendung zum vorgeblich einfachen, weil naturverbundenen Leben in ihrer konstruktiv klaren, gleichwohl „natürlichsten“ Form.

Eugène-Emmanuel Viollet-le-Duc: Das erste Bauwerk, 1875

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However, the deliberately roughly carved construction material of the sometimes space-consuming structures seemingly doesn’t juxtapose well with the classical style of the ornaments. The historical models are clearly worked out, but the unwrought materials appear as an antithesis to the formed structure that contains them. In short, the organically grown, borrowed from nature effect opposes the symmetrically arranged and straight-lined form. The singularity of Junker’s house exactly points to this discrepancy of sublime sculptural architecture and unwrought building materials; for an art historian, this alludes to another tradition. In the first century BC, the ancient Roman writer Vitruvius sought to trace back all arts along with their “origin”, that is architecture, to the so-called primitive hut – hence to nature.15) In 1755, the Jesuit priest Abbé Marc-Antoine Laugier affirmed this idea in a famous essay, equally tracing back architecture to a hut – also called the carpenter’s temple – that is constructed by tying together the tops of non-cut trees standing like columns in a square, an interpretation Romanticism would later refer to. For this movement, the aim of an allegedly simple life in close touch with nature had to be shown in constructively clear, but nonetheless “natural” forms. In the years after the publication of Laugier’s essay, his programmatic interpretation of the ancient text was the point of departure for further frameworks that conceptually related architectural form to its origin in nature. In 1797, the Scottish geologist Sir James Hall published his essay on Gothic architecture, where it is stated that “all the forms and details […] are derivable from trunks, rods, and branches of trees”.16) In the 19th century, the Arts and Crafts Movement and namely the above-mentioned artists Morris and Ruskin followed the Vitruvian idea, seeking for earthiness in architecture. Their designs referred to the simple, “honest” carpenter’s constructions as found in the temples of the Ancient World – a metaphor turned to stone. For such questions, they corresponded with the French architect Eugène Viollet-le-Duc who, similar to Hall, derived the origin of the Gothic style from a “first hut” that “arose” from trees standing in a circle. Presumably Junker knew Abbé Laugier‘s famous illustration from his years at the Academy of Fine Arts in Munich; moreover, he may have heard of the contemporary debate about Arts and Crafts there, or of this movement’s reference to the creative potential of nature.17) But not only the ancient writer Vitruvius traced back all architecture to a natural origin; drawing a direct comparison between Junker’s oeuvre and the works of two of his contemporaries, Ferdinand Cheval’s Palais Idéal and Antoni Gaudí’s Church of Colònia Güell, promises further findings.

The Vitruvian primitive hut. Frontispiece of Marc-Antoine Laugier, Essai sur l‘architecture, 2nd ed., Paris 1755. – “The pieces of wood set upright have given us the idea of the column, the pieces placed horizontally on top of them the idea of the entablature, the inclining pieces forming the roof the idea of the pediment. This is what all masters of art have recognised”15)

James Hall: origin of wimpergs and crockets in living willow rods. Cf. James Hall, Essay on the Origin, History and Principles of Gothic Architecture, London 1797.

Ubiquitous metamorphosis – Karl Junker and elective affinities In 1912, the year Karl Junker died, the French postman Ferdinand Cheval wrote: “I built in my dreams a magical palace that went beyond the scope of imagination, with grottos, towers, gardens, castles, museums, and sculptures… It has been a long way from the dreams to reality, for I had never tou-

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Eugène-Emmanuel Viollet-le-Duc, illustration of the first hut, 1875

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Ausgehend von Laugiers programmatischer Deutung der antiken Schrift entstanden in den darauf folgenden Jahren weitere Darstellungen, für die der Bezug von architektonischer Form auf ihren Ursprung in der Natur entwurfsleitend war. 1797 veröffentlichte der Mineraloge Sir James Hall seine Theorie über die Baukunst der Gotik, „der eine Architektur der Stämme, Äste und Zweige zugrunde liegen müsse“.16) Auf ihrer Suche nach der Urtümlichkeit der Architektur folgten im 19. Jahrhundert vor allem die schon erwähnten Arts-and-Crafts-Künstler Morris und Ruskin dem vitruvianischen Modell. Ihre Entwürfe orientierten sich an der einfachen, „ehrlichen“ Zimmermannskonstruktion, wie sie sich in den antiken Tempeln, ihrem beeindruckendsten Vorbild, als eine Stein gewordene Metapher wiederfand. Darüber korrespondierten sie mit dem französischen Architekten Viollet-le-Duc, der ähnlich wie Hall die Entstehung der Gotik aus einem „ersten Bau“ ableitete, der aus kreisförmig gepflanzten Bäumen „erwachsen“ sei. Wir können davon ausgehen, dass Junker die berühmte Zeichnung des Abbé Laugier von seiner Ausbildung an der Münchner Akademie kannte und dort auch von der zeitgenössischen Diskussion um Arts and Crafts und deren Ringen um das schöpferische Potenzial der Natur erfuhr.17) Neben dem Verweis auf den antiken Autor Vitruv und seine Ursprungsbehauptung verspricht ein direkter Vergleich des Junker’schen Werks mit den Arbeiten zweier Zeitgenossen weiterführende Erkenntnisse: mit Ferdinand Chevals Palais idéal und der Kapelle Güell von Antoni Gaudí.

Temple de la Nature, auch Palais idéal genannt, erbaut von Ferdinand Cheval zwischen 1879 und 1912 in Hauterives

Verwandlung allerorten – Karl Junker und Wahlverwandte 1912, im Todesjahr Karl Junkers, notiert der französische Briefträger Ferdinand Cheval: „Ich erbaute im Geist einen Märchenpalast, der jegliche Einbildungskraft übertraf, mit Grotten, Türmen, Gärten, Burgen, Museen und Skulpturen … Vom Traum zur Realität war es ein langer Weg, denn nie hatte ich eine Maurerkelle oder einen Meißel angefasst, und von den Leitsätzen der Architektur wusste ich nichts.“ Cheval hatte soeben seinen Temple de la Nature fertiggestellt. Obwohl die beiden Raumkünstler Cheval und Junker nichts voneinander wussten, erlaubt uns ein historischer Rückblick, nach gemeinsamen Entwicklungslinien zu forschen. Was verbindet Cheval und Junker? Beide Raumschöpfungen mit ihrem ungehemmt aufquellenden, wuchernden Formenreichtum entstehen nahezu zeitgleich, im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert. Soeben hatte der Arzt Sigmund Freud die Öffentlichkeit durch seine Publikation Die Traumdeutung schockiert, in der er erläuterte, dass und wie sich in unseren Träumen unbewusste Erfahrungen, Empfindungen und Bedürfnisse äußern. Freud beschrieb die „Dynamik des Unbewussten“ und klärte seine Zeitgenossen auch über den Antrieb zu künstlerischer Tätigkeit auf: einen Antrieb, den gerade nicht ein von den „ungestümen Kräften der Natur“ geleiteter „Genius“ entfachte. Vielmehr bezogen die Künstler ihre Inspiration und Schaffenskraft aus der von Freud als Sublimierung bezeichneten Überführung ihrer Triebregungen in künstlerische oder intellektuelle Arbeit. Offensichtlich ist, dass gerade die Raumkunstwerke Chevals und Junkers Sublimierungen

Madurai, Kerala (Südindien): hinduistischer Minakshi-Tempel

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Temple de la nature, or Palais idéal, built by Ferdinand Cheval between 1879 and 1912 in Hauterives (Département Drôme).

ched a trowel or a chisel, and I didn’t know anything about the principles of architecture.” At that time, Cheval had just finished his Temple de la Nature. Even though the two artists of visionary environments, Cheval and Junker, didn’t know of each other, a retrospective historical view justifies our looking into common lines of development. What connected Cheval and Junker? Both architectural environments, with their bluntly swelling, sprawling variety of forms, were created almost simultaneously in the passage from the 19th to the 20th century. The Viennabased doctor Sigmund Freud had just shocked the public with his book The Interpretation of Dreams (Die Traumdeutung, 1900), where he explained how unconscious experiences, sensations and desires find their expression in our dreams. Talking of the “dynamics of the unconscious” became popular, and beyond that Freud informed his contemporaries about the motivation of creative and artistic work. This motivation, argued Freud, was not driven by the “impetuous forces of nature” directed by a “genius”, but rather by artists drawing their inspiration and creativity from sublimation – in other words from the transformation of libido into artistic and intellectual work. Obviously Cheval’s and Junker’s visionary environments are absolute sublimations; the influence of psychic energies has been analysed by the psychiatrist Gerhard Kreyenberg and more recently by the art historian John MacGregor.18) Both architectural environments, for their time more than exceptional, seem to belong to congenial dream worlds. Memories from anywhere and formal quotes from architectural history became entwined in a way, and then crystallised in flowing, metamorphic forms: as much a pagoda as a knight’s castle or a mausoleum, not Baroque, nor Hellenistic, nor Buddhist, nor Indian, and yet all coming together. When creating his Palais Idéal, Cheval used stones and shells, whereas in Junker’s house the main materials are wooden strips.19) Deeply impressed by this, the gallery owner Herbert von Garvens wrote in the

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Meenakshi Amman Temple, a Hindu temple in Madurai, Tamil Nadu, India.

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Antoni Gaudí, um 1914: Kapelle der unvollendeten Kirche von Antoni Gaudí in der Colònia Güell in Santa Coloma de Cervelló bei Barcelona

sind, sie können hinsichtlich der Wirkungsmacht psychischer Energien untersucht werden, wie dies nach dem Psychiater Gerhard Kreyenberg zuletzt der Kunsthistoriker John MacGregor gezeigt hat.18) Beide für ihre Zeit höchst ungewöhnlichen Raumkunstwerke scheinen einer wahlverwandten Traumwelt anzugehören. Erinnerungen von überall, Formzitate aus der Baugeschichte sind gewissermaßen in einen Mixer geraten und im Zustand der Metamorphose in fließenden Formen erstarrt: ebenso Pagode wie Raubritterburg und Grabmal, nicht barock, nicht hellenistisch, nicht buddhistisch, nicht indianisch und doch alles zugleich. Was Cheval beim Bau seines Palais idéal aus Steinen und Muscheln gestaltete, wird in Junkers Haus aus Holzleisten geformt.19) Davon tief beeindruckt zeigte sich auch der Galerist Herbert von Garvens, der im Nachruf auf seinen Freund Karl Junker (1912) den folgenden Hymnus schrieb: „Diese Seele, der der Sprung vom Erhabenen zum Grotesken ein Nichts war, diese Seele, die die Bäume wachsen fühlte, und der alles zum Ausdruck des Herauswachsens wurde, die sich in Irrgängen phantastischer Paläste zurechtfand. Du warst indischer Tempel in deutscher Landschaft.“ Ähnlich Hymnisches ließe sich auch über das künstlerische Werk des 1852 geborenen Architekten Antoni Gaudí sagen, der sich beim Bau des Parc Güell und der Güell-Kapelle in der Nähe von Barcelona wie beim Entwurf der Casa Battló und seines größten Werks, der unvollendeten Kirche La Sagrada Familia, von vegetativen und bionischen Formvorbildern leiten ließ. Er studierte die Gesetzmäßigkeiten von Muschelschalen und Schneckenhäusern, von Verastungen der Bäume und untersuchte den Wachstumsverlauf von Knochen. Anschließend fertigte er Modelle, in denen er die kraftführenden Linien sichtbar machte und auf diese Weise statische Vorgaben für seine raumplastischen Gebilde gewann. Deren sphärisch schwingende Volumina verkleidete der Künstler mit unzähligen farbigen Kachelstücken und Glassteinchen. Ähnlich wie bei den beiden zuvor beschriebenen Bauwerken tat Gaudí alles, um seine Architektur in riesige Plastiken zu verwandeln, die ihre ursprungsnahe Kraft aus der „unterdrückten Natur“ beziehen und deren Gesetzen folgen sollten. Erstes Resümee Halten wir fest: Am Ende des 19. Jahrhunderts löst sich der traditionelle Kanon auf, der den Künsten über Jahrhunderte hinweg ihre Rahmenbedingungen und festen Bedeutungen zugewiesen hatte. Malerei und Bildhauerei orientieren sich nicht länger an strengen Darstellungsrichtlinien und Figurenprogrammen. Auch in der Architekturlehre relativiert sich die einstmals fest gefügte Ordnung, nach der jeder Bauaufgabe ihre vorgeschriebene Ausdrucksform zukommt. Gleichwohl nahmen einige Kunstschaffende die so eröffneten Möglichkeiten als Verlust wahr: Die Welt schien ihnen „entzaubert“ zu sein. Wie ich im vorangehenden Kapitel zu erläutern versuchte, widerspiegeln auch der Lemgoer Künstler und sein Werk diese symbolische Rückwende. Dabei präsentiert Junker öffentlich die Andersartigkeit seines Wohnens, distanziert sich bewusst von der kleinstädtischen Gesellschaft. Der Nimbus des Außenseiters durchzieht die Räume, aus dem Wohnhaus wird ein Künst-

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Antoni Gaudí, c. 1914: Chapel of the unfinished church of Colònia Güell, Santa Coloma de Cervelló, near Barcelona.

hymnal obituary for his friend Karl Junker in 1912: “This spirit, rushing from the sublime to the grotesque as though it were nothing, this spirit, feeling the trees grow, and taking everything as an expression of growth, finding its way inside the labyrinths of visionary palaces. You have been an Indian temple in German landscape.” In a similar hymnal way, one could praise the oeuvre of the architect Antonio Gaudí, born in 1868. The construction of the Parc Güell and of the church of Colònia Güell, near Barcelona, as well as the design of Casa Batlló and finally his greatest work, the unfinished church of La Sagrada Família, was guided by vegetative and bionic formal patterns. Gaudí studied the regularities of conch and snail shells; he examined the growth of tree branches as well as the process of ossification (i.e. bone growth). Subsequently, he crafted models, with which he visualised lines of tension in order to obtain static guidelines for his architectural objects. Finally, the artist covered these spherically swaying volumes with myriads of broken ceramic tiles and glass mosaics. Gaudí did everything to transform his architecture into huge sculptures, quite similar to the above-described works. Such architecture is supposed to draw its imminent potentiality from “suppressed nature” and to follow the laws of the latter.

First conclusion At the end of the 19th century, the traditional aesthetic canon was dissolving; over the centuries, it had assigned a normative framework and hence significance to the fine arts. Now painting and sculpture no longer were oriented by rigorous norms of representation and figurative programmes. In architecture, too, the once firmly established system began to fade, which so far had dictated certain forms of expression for any purpose. Nevertheless, some artists experienced the newly offered opportunities as a loss: the world lost its

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Fotos aus den Berliner Ateliers von Ernst Ludwig Kirchner, 1911 bis 1915: Kunst als Medium der Selbsterfahrung, geleitet von der Sehnsucht nach „inspiriertem Schaffen, wie es von den Primitiven“ berichtet wird.

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lerhaus, durch das sein Besitzer gegen geringen Eintritt auch gern Besucher führt. Nicht mehr nur die schöpferische Arbeit des Künstlers, sondern seine gesamte Persönlichkeit treten in einen kultischen Bezugsrahmen, als sei er der Priester einer Kunstreligion, der noch einmal um die Versöhnung von Kunst und Natur ringt. Damit weist der Lemgoer „Gesamtschnitzwerker“ auf die Kunst des Expressionismus voraus, dessen ausdrucksstarke Werke die seelischen Zustände ihrer Schöpfer zu fassen suchten. Eine besondere Nähe zu Junkers Raumkunst zeigen in diesem Zusammenhang die Arbeiten von Paul Goesch, Carl Krayl und Hermann Obrist, deren Bauformen von einer ähnlich bildhaften Dynamik getragen sind. Das Künstlerhaus von Bernhard Hoetger in Worpswede mit seiner romantischen Anrufung einer „ursprünglichen Holzarchitektur“ scheint in direkter Nachfolge des Junker’schen Baus zu stehen. Im nächsten Kapitel wird dieser Zusammenhang verdeutlicht. Insbesondere mit den Innenausbauten und Möbeln, die Ernst Ludwig Kirchner ab 1911 in seinem Berliner Atelier anfertigte, führen Junkers raumfüllende Konstrukte eine „geheime Zwiesprache“. Für Kirchner und seine Freunde, die unter dem Gruppennamen „Die Brücke“ öffentlich auftreten und ihre Werke kollektiv ausstellen, wird Kunst zum Medium der Selbsterfahrung. Ein solcher Auftritt ist dem Lemgoer Künstler nicht vergönnt. Damit bestätigt sich noch einmal die These, dass sich im Leben von Karl Junker vieles zu früh vollzog: Obwohl seine Kunst die traditionelle Werkeinheit, bei der sämtliche Bestandteile sich notwendig ergänzen, nicht in Zweifel zieht, weist sie zugleich voraus auf die künstlerische Avantgarde des 20. Jahrhunderts, die mit dieser Tradition bricht, zugunsten einer neuen, heterogenen Raumkunst, die bis in die Gegenwart reicht, wie jetzt zu zeigen sein wird. Die „geheime Zwiesprache“ Junkers und Kirchners gründet darin, dass bereits für den Einzelgänger Junker gilt, was für Kirchner und die ganze expressionistische Generation kollektives Programm sein wird: Kunst als Medium der Selbsterfahrung zu erobern. Dazu passt dann, dass die Berliner Künstlervereinigung Neue Secession 1914 Arbeiten von Karl Junker zusammen mit denen expressionistischer Künstler wie Max Pechstein und Karl Schmidt-Rottluff zeigt.20)

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Photos of Ernst Ludwig Kirchner’s ateliers in Berlin, 1911–1915: Fine arts as a medium of self-awareness, directed by a longing for “inspired creativity, as it has been reported from primitive peoples”.

“magic” for them. As I have tried to explain above, Karl Junker and his oeuvre reflect such a symbolic regression as well. At the same time, the Lemgobased artist publicly showed the otherness of his home, thus deliberately distancing himself from the small-town society. The aura of a maverick pervaded through the rooms; the dwelling house became an artist’s house, with the owner willingly guiding visitors through it, charging some admission. Not only the artist’s creative work but his person as a whole becomes submerged in a “cultic” framework; once again the artist, as though being the priest of a religion of art, strives for the reconciliation of art and nature. Thus, the “holistic wood carver” from Lemgo in a way anticipated the art of Expressionism that sought to articulate in its works the psychic conditions of the artists. Notably the works of Paul Goesch, Carl Krayl and Hermann Obrist show a specific proximity to Junker’s architectural and sculptural art, insofar as their constructions exhibit similar imaginative dynamics. Apparently Bernhard Hoetger’s artist house in Worpswede, with its romanticist recourse to “primordial wooden architecture”, directly follows Junker’s construction. We will further develop this aspect below. Junker’s space-filling assemblies particularly communicate – in a kind of a “secret dialogue” – with the interior designs and furniture that from 1911 on Ernst Ludwig Kirchner crafted in his atelier in Berlin. For Kirchner and his friends, publicly appearing and collectively presenting their works under the group name “Die Brücke” (The Bridge), art became a medium of self-awareness. Such public visibility was not granted to the artist from Lemgo.20) Once more, the hypothesis is corroborated that much in the life of Karl Junker took place too early. Though on one hand his art doesn’t question the traditional aesthetic unity of the artwork, insofar as all parts necessarily complement each other; on the other, it anticipates the avant-garde art movements of the 20th century that would break with that tradition, favouring a new, heterogeneous architecture, that, as will become apparent below, is still with us today.

Building like in a dream: the Junkerhaus in Lemgo

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Vom Junkerhaus zum Steinhaus


From Junkerhaus to Steinhaus


Nervöse Unausgeglichenheit als Selbstgefühl – der Expressionimus Empfindung ist ja die Quelle der Er findung, der schöpferischen Gestaltungskraft, kurz der Form. Walter Gropius, 1919

Hoetgers Wohnhaus in Worpswede, 1921

Eingangszone und Wohndiele im Haus von Bernhard Hoetger, Worpswede 1921

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Ausgangspunkt vieler Künstler im Umfeld der Moderne war die Einsicht in das Ungenügen der Formensprache des 19. Jahrhunderts, der industrialisierten Welt des 20. Jahrhunderts konnte sie keinen adäquaten Ausdruck verleihen. 1914 zeigt die Berliner Künstlervereinigung Neue Secession Arbeiten von Karl Junker zusammen mit denen expressionistischer Künstler wie Max Pechstein und Karl Schmidt-Rottluff. Im Sommer des gleichen Jahres bricht der Erste Weltkrieg aus. Bereits einige Monate zuvor hatten die Maler zusammen mit den Freunden Ernst Ludwig Kirchner, Franz Marc und vielen anderen Intellektuellen öffentlich gegen den drohenden Krieg protestiert. Lange bevor sie praktisch von der Leinwand weg einberufen wurden, hatten sie in ihren kontrastreichen Gemälden der Kriegsangst und den Gefühlen der Zerrissenheit inmitten einer feindlichen und zusammenbrechenden Welt künstlerischen Ausdruck verliehen. Die Realität des Ersten Weltkrieges sollte härter werden, als es die malerischen Schreckensbilder ahnen ließen. Geführt mit Panzern, Flugzeugen und bis dahin nie gekannten Massenheeren wurde er zum ersten industriellen Krieg und brachte darin eine bis dahin beispiellose technische Aufrüstung und Totalisierung mit sich. Die Zahl der Toten und Verletzten bis 1918 war immens: Es starben insgesamt fast 15 Millionen Menschen, darunter sechs Millionen Zivilisten. Über 20 Millionen Menschen wurden verwundet, viele der Künstler fielen. Wir kennen einige Namen: die Maler Umberto Boccioni, Franz Marc und August Macke, den Bildhauer Henri GaudierBrzeska, den Architekten Antonio Sant’Elia, die Dichter Guillaume Apollinaire, Wilfred Owen und Isaac Rosenberg. Aber zu jedem dieser Namen muss man die ungezählter anderer Künstler hinzurechnen, die nie mehr die Chance hatten, sich zu entfalten. Wie hätte die spätere Geschichte der modernen Kunst ausgesehen, hätte es den Großen Krieg nicht gegeben? Nach seinem Ende, so schrieb der Schriftsteller Kasimir Edschmid, „schmiegten sich die Künstler an die Zerrissenheit der Zeit, um jeder Möglichkeit gerecht zu werden, jeder Forderung der Zeit zu entsprechen.“ Edschmids Formulierung galt einem Freund, dem gelernten Tischler und Bildhauer Bernhard Hoetger, der den Krieg in Worpswede überlebte und kurz danach mit dem Bau seines Künstlerhauses begann. Bei der Gründung einer künstlerischen Lebens- und Arbeitsgemeinschaft um 1889 im niedersächsischen Teufelsmoor leiteten ihn und seine Freunde neben dem Interesse für die markante Landschaft auch romantische Sehnsüchte nach einem einfachen, naturnahen Leben. Hoetgers Haus, erbaut aus unregelmäßig vermauerten Ziegeln, mit seinen vornüber geneigten Giebeln und den konkav-konvex schwingenden Fassaden zeugt von seiner Flucht vor dem „entwurzelten Stadtleben“ und einer Idyllisierung bäuerlicher Existenz. Die Innenräume stellen krummwüchsige Eichenstämme zur Schau, Balken zeigen Spuren von Beil und Stemmeisen. Die konzeptionellen wie formalen Anlehnungen dieses Bildhauerdomizils an das nur wenige Jahre zuvor fertiggestellte Junkerhaus in Lemgo sind unübersehbar und schließen auch den schon für Junker kennzeichnenden Versuch ein, einer synkretistischen Kunst- bzw. Künstlerreligion baulich Ausdruck zu verleihen.21)

Vom Junkerhaus zum Steinhaus


Nervous imbalance as a sense of self: Expressionism In modernism, many artists’ point of departure was to realise that the formal language of the 19th century had become inadequate, fundamentally unable to give expression to the industrialised world of the 20th century. In 1914, the Neue Secession, an artists’ association in Berlin, had presented works of Karl Junker, together with those of expressionist artists like Max Pechstein and Karl Schmidt-Rottluff. In the summer of the same year, the First World War began. The painters, together with their friends Ernst Ludwig Kirchner, Franz Marc and many other intellectuals, had publicly protested against the imminent war in the months before. In contrasty paintings, the artists, long before effectively being called to arms straight from their canvasses, had given expression to the fear of war and to the inner conflicts and sentiments in the midst of a hostile and collapsing world. The reality of the First World War turned out to be even grimmer than the painted visions of horror had assumed. Involving tanks, aeroplanes und mass armies of hitherto unknown dimensions, the World War became the first industrial war that not only gave rise to an unprecedented amassing of military arms but embroiled society as a whole. The number of persons killed or wounded between 1914 and 1918 was immense: approximately 15 million men and women died, among them six million civilians. More than 20 million persons were wounded, and of the artists many were killed in action. Some of the names are well-known: the painters Umberto Boccioni, Franz Marc and August Macke, the sculptor Henri Gaudier-Brzeska, the architect Antonio Sant’Elia, the poets Guillaume Apollinaire, Wilfred Owen and Isaac Rosenberg. But to each of these names, one has to add those of countless other artists who had no chance to develop their talents. What course would the subsequent history of modern art have taken without the Great War? At the end of the war, the writer Kasimir Edschmid noted: “The artists huddled against the turmoil of time in order to catch any opportunity, to meet any condition of time.” Edschmid’s words referred to a friend, Bernhard Hoetger, a fully trained carpenter and sculptor who had survived the war in Worpswede, where he started to build his artist’s house soon afterwards. Since around 1889 an artists’ colony had been established there, located in the so-called Teufelsmoor, a region of bog and moorland north of Bremen, in Lower Saxony. Hoetger’s and his friends’ interest in living and working in a community was guided not only by their affinity for the remarkable landscape but also by a certain romantic yearning for a simple life in close touch with nature. Hoetger’s house, built from unevenly laid bricks, facades curving in and out, reveals his escape from an “uprooted” urban life and his idyllisation of peasant life. The interior of the house displays crooked oak trunks; beams show traces of axe and chisel. The conceptual as well as formal borrowings of this sculptor’s home from Junker’s house in Lemgo, finished only a few years before, are obvious; moreover all that includes the attempt – already significant for Junker – to give expression to a syncretistic religion of art and the artist respectively.21) But whereas Junker, caught in the provincial, narrow-minded milieu of Lemgo, about 125 miles away, pottered around at his artist’s house completely

From Junkerhaus to Steinhaus

Sentiment is the source of invention, of creative, figurative power – in short: of form. Walter Gropius, 1919

Bernhard Hoetger’s house in Worpswede, 1921.

Entrance area and living room in Hoetger’s house, Worpswede, 1921.

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Wohnhaus Paula Modersohn-Becker, Arch. B. Hoetger

Schlafzimmer im Haus von Bernhard Hoetger, Worpswede 1921

Dass ich meinen persönlichsten Ausdruck noch nicht gefunden habe, weiß ich, dass ich maßlos ringe um den Ausdruck, weiß niemand als ich. Heinrich Vogeler, Worpswede 1897

Doch während Junker in der provinziell-kleinbürgerlichen Umgebung des 200 Kilometer entfernten Lemgo völlig allein an seinem Künstlerhaus werkelte, entstand Hoetgers Atelierhaus als Teil der Künstlerkolonie Worpswede im Umfeld von Lebensreform und Expressionismus. Wie die Künstler des Monte Verità in Ascona begründeten auch die Worpsweder Kreativen ein utopisches Laboratorium. Man lebte fern von den Unruhen der Großstadt und arbeitete gegen die Doktrinen der Akademie, in einer durch Moor, Heide, Felder, Wiesen und ein Flussdelta geprägten Landschaft. Das von der Sehnsucht nach inspiriertem Schaffen angetriebene Leben im vorgeblich Einfachen und Ursprünglichen und inmitten einer bitterarmen bäuerlichen Gemeinde war gleichwohl ein kosmopolitisches Leben. In Worpswede traf man Menschen aus anderen Orten und Ländern, von denen man etwas lernen konnte, die offen und frei miteinander sprachen. Karl Junker hätte sich hier sicherlich wohl gefühlt, und neben der Begegnung mit Hoetger hätte auch die mit Heinrich Vogeler produktiv werden können. Hier sind es vor allem die Übereinstimmungen in der ebenfalls letztlich unglücklichen Biographie, die ins Auge fallen. Vogeler wurde 1872 geboren, war gerade 22 Jahre alt, als der Vater starb. Zuvor hatte er bereits zwei seiner Geschwister verloren. Wie Junker lebte Heinrich Vogeler vom Erbe, studierte Kunst an der Akademie, unternahm Reisen u. a. nach Holland, Frankreich und nach Italien. Auch Vogeler entwickelt seine Arbeiten im Umfeld der Lebensreform. Wie bei Junker sind seine Gemälde von biblischen, mythologischen oder märchenhaften Themen bestimmt. Wie Junker baute sich auch Vogeler ein eigenes Haus, das er Barkenhoff nannte. Dabei verwandelte er eine frühere Bauernkate ab 1895 nach den Prinzipien des Jugendstils zu einem mit selbst entworfenen Möbeln, Geschirr und Tapeten ausgestatteten Künstlerdomizil um. Den Garten schmückte er mit symmetrisch angelegten Blumenbeeten und Hecken und pflanzte ein Birkenwäldchen, das dem Haus den Namen gab. Das Anwesen als Gesamtkunstwerk von Architektur, Kunst, Inneneinrichtung und Garten sollte mit Vogelers Leben verbunden werden. Wie wäre es wohl gewesen, wenn die beiden sich begegnet wären? En avant dada!

Es lebe die Utopie! In der Tat, sie ist das einzige, was übrig bleibt. Leben wir in der Utopie, entwerfen wir Pläne, spanische Schlösser, tun wir als ob und bereiten wir die Zeit vor, die in dreißig Jahren kommen wird. Hermann Obrist, Berlin 1919

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Neben Hoetgers und Junkers expressionistischer Sehnsucht nach dem Einfachen, Ursprünglichen und Natürlichen gab es nun allerdings auch andere Antworten auf die Umbrüche des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Nicht allzu weit von Worpswede entfernt, doch inhaltlich auf einem anderen Planeten arbeitete der Hannoveraner Künstler Kurt Schwitters. 1923 begann er mit dem künstlerischen Komplettumbau seines Wohnhauses, aus dem nach dreizehn Jahre langer, kontinuierlicher „Bastelei“ der MERZ-Bau hervorging. Der Name entstand aus dem Fragment einer Werbeanzeige für die Commerz- und Privatbank, die in einer seiner Collagen verwendet wurde. Hier gab es Kammern und Höhlen, neben der Nibelungenhöhle lag die Goethe-Grotte, darüber befanden sich das so genannte Mordzimmer und die Liebesgrotte, alle vollgestopft mit Bildern aus Vergangenheit und Gegenwart. Ganz unten gab es neben der Grotte der Heldenverehrung sogar einen Sexand-Crime-Keller, der volle Name des Raumkunstwerks lautete Kathedrale

Vom Junkerhaus zum Steinhaus


alone, Hoetger’s atelier house came into being as part of the artists’ colony of Worpswede, amidst an environment of life reform and expressionism. Like the artists on the Monte Verità in Ascona (Ticino, Switzerland), the creative “Worpswedeans” had founded a utopian laboratory. They lived remote from the urban unrest and worked contrary to the doctrines of the Academy, in a rural region shaped by bog, moor, heather, fields, meadows, and a river delta. Life was driven by the yearning for inspired creative work in alleged simplicity and purity, in an extremely poor peasant community; nevertheless, life there was cosmopolitan. In Worpswede, people from different places and countries met, learnt new things, spoke frankly and freely. For sure Karl Junker would have felt good there; an encounter with Hoetger, and moreover with Heinrich Vogeler, could have been productive. First of all, there are salient analogies in Junker’s and Vogeler’s – ultimately unfortunate – biographies. Vogeler had been born in 1872; when he was just 22, his father died. Earlier he had lost two of his siblings. Like Junker, Heinrich Vogeler lived by the small fortune his father had bequeathed to him; he studied fine arts at the Academy, travelled abroad, to Holland, France, and Italy. Vogeler, too, developed his works in the context of life reform. His paintings, like Junker’s, largely show biblical, mythological and magical motifs. Vogeler, too, built his own house, called Barkenhoff. For that purpose, he transformed a former cottage, following Jugendstil principles, into an artist’s home with self-designed furniture, crockery and wallpapers; he set out a garden with symmetrical flowerbeds and hedgerows, and finally planted a small birch wood, which gave the house its name. The property, planned as a gesamtkunstwerk of architecture, art, interior design, and garden, was supposed to be associated with Vogeler’s life. What would have happened, if Junker and Vogeler had met each other? En Avant Dada! There were, of course, other responses to the radical changes of the late 19th and early 20th century besides Hoetger’s or Junker’s expressionist yearning for the simple, the pure, and the natural. Not too far away from Worpswede, yet substantially on another planet, the artist Kurt Schwitters worked in Hanover. In 1923 he began the total transformation of his dwelling house into an art work; after thirteen years of continuous “bricolage”, the MERZ building resulted from these works. The name came up from the fragment of a commercial advertisement for a bank named Commerz- und Privatbank that Schwitters had used in one of his collages. In the house there were small rooms and grottos: the Nibelungenhöhle (Nibelungs’ cave) was to be found next to the Goethe-Grotte (Goethe’s grotto); upstairs, there was the so-called Mordzimmer (the room where the murder happened) and the Liebesgrotte (grotto of love); and all were overfull of pictures from past and present. Downstairs, next to the Grotte der Heldenverehrung (grotto of hero worship), there was kind of a sex-and-crime chamber: the full name of this architectural art work was Kathedrale des erotischen Elends (cathedral of erotic misery). Schwitters’s friend Hans Arp remembers: “Through his house in Hanover, he had drilled tubes from top to bottom, artificial fissures led through the storeys

From Junkerhaus to Steinhaus

The Paula BeckerModersohn-House, Bremen, 1926; architect: B. Hoetger.

Bed-room in Hoetger‘s house, Worpswede, 1921.

That I didn’t find my very personal expression as yet, I know; that I strive for this expression beyond all measure, nobody knows but me. Heinrich Vogeler, Worpswede, 1897

Long live Utopia! In fact it is the only thing that will remain. Let’s live Utopia, let’s make plans, project Spanish castles, act as if, and prepare the time that is to come in thirty years. Hermann Obrist, Berlin 1919

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des erotischen Elends. Sein Freund Hans Arp erinnert sich: „Sein Haus in Hannover war von oben bis unten mit Schächten durchbohrt, von künstlich durch die Etagen geführten Schründen (…). In intensiver jahrelanger Arbeit war es Schwitters gelungen, seine Wohnung völlig zu ‚vermerzen‘. Durch die Höhlungen, Schlünde, Abgründe und Spalten drangen die monumentalen Merz-Säulen empor, kunstvoll errichtet aus Latten, rostigen Schrott-Teilen, Spiegeln, Rädern, Familienportraits, Metallfederungen, Zeitungen, Zement, Farben, Gips und Leim, viel Leim, viel Leim.“22) Schwitters schnitt Werbegrafiken aus Zeitungen heraus und suchte auf den Müllhalden der Stadt nach interessanten Stücken für sein Bauwerk. Derweil zerriss der Künstlerfreund Arp Papier in dünne Streifen, ließ die Fetzen auf eine Unterlage fallen und klebte sie dort fest, wo sie niedergefallen waren, schuf derart „Collagen“ in völliger Übereinstimmung mit den Gesetzen des Zufalls. Zu ihnen gesellte sich der Dichter Richard Huelsenbeck. Er schrieb Gedichte aus willkürlich durcheinandergewürfelten Sätzen und Worten, die er angeblich aufs Geratewohl aus einem Sack geschüttelt hatte. Sie nannten sich „Dadaisten“, ihre Kunst „Dadaismus“. Ihr Ziel: die durchgreifende Erschütterung aller Lebensverhältnisse und aller tradierten Ordnung durch das auf den ersten Blick regellose Zusammenfügen disparater Teile zu reflektieren. Obwohl auch sie zutiefst vom Ersten Weltkrieg und seinen Folgen geprägt waren, stellten die Dadaisten andere Fragen als ihre expressionistischen Vorgänger: Wie verändern Radio, Telefon und elektrisches Licht den Alltag? Wie fühlt es sich an, in Maschinen, auf Rädern oder gar mit dem Flugzeug zu reisen, wie fühlt es sich an, wenn Farben und Formen zu flimmern beginnen? Was sieht man, wenn man von Hochhausdächern auf die moderne Großstadt hinabblickt und Dinge und Menschen aus bislang unbekannter Perspektive von oben wahrnimmt? „Simultaneität“, schreibt Huelsenbeck 1920, „ist eine Abstraktion, ein Begriff für die Gleichzeitigkeit verschiedener Geschehnisse. Sie setzt eine erhöhte Sensibilität für den zeitlichen Ablauf der Dinge voraus, sie dreht das Nacheinander des a–b–c–d in ein abcd, sie sucht das Problem des Ohrs in eines des Gesichts zu verwandeln. (…) Aus den mich gleichzeitig umgebenden Ereignissen des Alltags, der Großstadt, des Zirkus Dada, Gepolter, Schreien, Dampfsirenen, Häuserfronten und Kalbsbratengeruch erhalte ich den Impuls, der mich auf die direkte Aktion, das Werden, das große X hinweist und stößt.“23) Spätestens mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten war die Zeit solcher Experimente vorbei.24) Neben ungezählten anderen Künstlern retteten sich auch Hoetger und Schwitters durch Emigration – Ersterer allerdings erst nachdem er als „Kulturbolschewist“ aus der Nazipartei ausgeschlossen wurde, der er zunächst beigetreten war. Der MERZ-Bau wurde 1945 bei einem Bombenangriff zerstört. Das Lemgoer Junkerhaus überstand die NS-Zeit nahezu unberührt. Auf zeitgenössischen Fotografien erscheint es als eine Art nobles Gartenhaus, das den nationalsozialistischen Ideologen nicht gleich als „rassefremdes Element“ auffallen musste. Bis 1940 blieb es für Besucher geöffnet.25) In den Nachkriegsjahren bewahrten Junkers Verwandte das Haus vor möglichen Umnutzungen. Seine Aufnahme in die Liste schützenswerter Baudenkmäler beantragten sie aller-

MERZ-Bau von Kurt Schwitters in Hannover, erbaut zwischen 1923 und 1936, zerstört 1945

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[…]. After years of intensive work Schwitters succeeded in ‘merzifying’ his home completely. Through hollows, abysms, chasms, and gaps, monumental MERZ columns towered up, artfully erected from slats, rusty scrap metal, mirrors, wheels, family portraits, coil springs, newspapers, concrete, colours, plaster, and glue, much glue, very much glue.”22) Schwitters cut graphic advertisements out of newspapers and magazines; on the landfills of Hanover, he looked for interesting pieces that would become part of his work. Meanwhile the artist’s friend, Arp, tore paper to pieces, scattered the shred on a paper support, and finally pasted each scrap wherever it had happened to fall; thus Arp created “collages” arranged totally according to the laws of chance. Richard Huelsenbeck, a writer, joined the two. Allegedly he produced poetry by writing down arbitrarily jumbled sentences and words, haphazardly shaken out of a bag. The artists called themselves “Dadaists”, and referred to their art as “Dadaism”. Their objective: reflecting the radical commotion of the living conditions in their totality and the challenge to the traditional order by (at first sight) randomly assembling disparate elements. Though being deeply marked themselves by the First World War and its aftermath, the Dadaists asked questions that differed from those of their expressionist predecessors: how do radio, telephone, and electricity change everyday life? How does it feel to travel in a machine, on rails or even in an aeroplane; how does it feel, once colours and forms begin to flicker? What do you see looking from the roof of a multi-storey building onto the modern metropolis, thus experiencing things and persons from a thus far unknown perspective, from above? “Simultaneity,” Huelsenbeck wrote in 1920, “is an abstraction, a concept referring to the occurrence of different events at the same time. It presupposes a heightened sensitivity to the passage of things in time, it turns the sequence a = b = c = d into a-b-c-d, and attempts to transform the problem of the ear into a problem of the face. [...] From the everyday events surrounding me (the big city, the Dada circus, crashing, screeching, steam whistles, house fronts, the smell of roast veal), I obtain an impulse which points me, pushes me towards direct action, towards becoming, towards the big X.”23) The time for such experimenting was over by the time the Nazis seized power at the very latest.24) Like countless other artists Hoetger and Schwitters fled from Germany and went into exile – though the former emigrated not until he had been expelled from the Nazi party (which he had joined at first) as an exponent of “cultural bolshevism” in the language of Nazi propaganda. Schwitters’s MERZ building was destroyed during an air raid in 1945. The Junkerhaus in Lemgo survived the Nazi era almost unscathed. On contemporary photographs the building appears as a kind of noble summerhouse; thus it would not necessarily have attracted the attention of Nazi ideologues looking for “degenerate elements”. Junker’s house remained open for visitors until 1940.25) During the post-war era the artist’s relatives saved the house from possible conversions. However, they failed with their request to have the house listed. Though the city of Lemgo finally became owner of the property at the end of the 1950s, the local authorities showed little interest in the “peculiar local curiosity”, let

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Kurt Schwitters‘s MERZ building in Hanover, built between 1923 and 1936, destroyed in 1945.

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dings vergeblich. Obwohl es Ende der 1950er Jahre in den Besitz der Stadt Lemgo überging, regte sich bei den zuständigen Behörden kein größeres Interesse an einer kunsthistorischen Einordnung der „kuriosen lokalen Sehenswürdigkeit“. Von der Kunstwissenschaft wurde das Junkerhaus erst in den 1970er Jahren entdeckt, als der Kölner Professor Wilhelm Salber zusammen mit Studierenden vor Ort mit Forschungen begann und den Nachlass sichtete. In den Jahren 1998 bis 2004 wurde es schließlich instand gesetzt, sämtliche Einbauten und das gesamte Mobiliar wurden sorgfältig restauriert. Einstürzende Neubauten Poesie ist der Kampf gegen die Trolle in den Tiefen des Herzens und des Hirns. Poesie bedeutet über sich selbst zu Gericht zu sitzen. Henrik Ibsen, 1883

Wohnhaus von Frank Gehry in Santa Monica, Kalifornien 1977 bis 1987

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Am Ende des 20. Jahrhunderts brachen die Architekten wieder einmal zu neuen Ufern auf. Ihre Profession war neuerlich in eine Krise geraten. Der formale Purismus der Moderne war ebenso gescheitert wie die moderne Stadtplanung, deren Konzept der Trennung von Wohnen und Arbeiten all die unwirtlichen Trabantenstädte und Einkaufzentren vor der Stadt, nur über mehrspurige Straßen erreichbar, hervorgebracht hatte. Die Zerstörung der Innenstädte und der historisch gewachsenen Strukturen wurde öffentlich diskutiert. Häuser sollten in Zukunft wieder mehr sein als bloß Volumen gewordene Ergebnisse aus Funktionsanalysen und Konstruktionszeichnungen, eben mehr als weiße Kisten. Sie sollten komplex und widersprüchlich sein wie die Gesellschaft selbst, sollten über erzählende Qualitäten verfügen und formenreich Versatzstücke aus der Baugeschichte präsentieren. Die Protagonisten dieser so genannten postmodernen Architektur übernahmen in ihren Entwürfen Kompositionsprinzipien der Bildenden Kunst, deren allegorische, metaphorische und symbolische Ausdrucksqualitäten sie schätzten. So wundert es nicht, dass Vittorio M. Lampugnani, inzwischen einer der bekanntesten europäischen Architekturtheoretiker, bereits 1980 auch und gerade das Junkerhaus in die architektonische Debatte einbringt.26) Dem entspricht dann, dass auch die Tradition des modernen Künstlerhauses wieder aufgenommen wurde, zu der auch Junker und Schwitters gehören. Im Folgenden wird dies erst über den Bau des kalifornischen Architekten Frank Gehry, dann über das „Steinhaus“ des österreichischen Architekten Günther Domenig nachgezeichnet. Mit deren Beschreibung und einer vergleichenden Interpretation werde ich diesen Rundgang durch die Geschichte der Künstlerhäuser beenden. Obwohl der kalifornische Architekt Frank O. Gehry das Junkerhaus sicherlich nicht kannte, als er 1977 mit dem Umbau seines Wohnhauses in Santa Monica begann, wirkt bei diesem absichtsvollen Provisorium die gleiche Verweigerungshaltung gegenüber dem Homogenen, die schon Junker zum Einsatz des bewusst roh bearbeiteten Baumaterials bewogen hatte. Beide Künstler waren davon geleitet, den Eindruck des unmittelbar von Hand Produzierten zu vermitteln, beiden ging es um die Sichtbarmachung des künstlerischen Prozesses. Alles begann mit dem Kauf eines konventionellen amerikanischen Vorstadthauses inmitten einer typischen Siedlung der sich schier endlos in die Breite ergießenden Stadt Los Angeles. Das Haus war mit rosafarbenen Asbestplatten verkleidet, die dem ironisch gestimmten Architekten gefielen.

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alone in its scientific classification. It was not until the 1970s that art history discovered the Junkerhaus; Professor Wilhelm Salber, from the University of Cologne, together with students, started researching the house and examined the artistic estate. From 1994 to 2004 the house was finally renovated; all fittings as well as the entire furnishings have carefully been restored. Einstürzende Neubauten – Collapsing new buildings At the end of the 20th century, architects once again moved on to pastures new. Their profession experienced a crisis. The formal purism of modernism had failed, as had modern urban planning; the concept of separation of living and working that had characterised the latter had brought forth all the inhospitable commuter towns and shopping malls in the periphery of metropolitan areas that can only be reached by major roads. Thus the destruction of city centres as well as of the historically developed architectural and social composition of the cities became a subject of public debate. For the future, houses were supposed to be more than mere volume, derived from functional analysis and design drawings – in short: more than white boxes. Houses were supposed to be complex and contradictory like society itself; they should include narrative dimensions and introduce elements from architectural history in manifold forms. For their designs, the protagonists of this so-called postmodern architecture adopted fundamental principles of composition from the fine arts, since they appreciated the allegoric, metaphoric, and symbolic expressiveness of the latter. Hence it comes as no surprise that Vittorio Magnago Lampugnani, by now one of the best-known European theorists of urban design, introduced Junker’s house into the debate as early as 1980.26) Consequently, the tradition of modern artists’ houses – i.e. the tradition to which Junker’s and Schwitters’s architectural art belongs – experienced a renewed interest. Below we will trace this issue further, first by reference to the work of the Californian architect Frank O. Gehry, and finally by looking at the so-called Steinhaus (stone house) of the Austrian architect Günther Domenig. In discussing and comparatively interpreting these works, I will conclude our tour through the history of artists’ houses. Though the Californian architect Frank Gehry probably didn’t know Junker’s house when he started rebuilding and transforming his home in Santa Monica in 1977, an attitude of refusal is at work in this deliberately unfinished arrangement, a rejection of the homogeneous that already had induced Junker to use intentionally “raw” building materials. Both artists were guided by the objective of conveying the impression of genuine handicraft; both aimed at the exposure of the artistic process. All began with buying a conventional American suburb residence in a typical neighbourhood of the almost boundlessly sprawling city of Los Angeles. The single-family dwelling was clad with pink asbestos shingles, and the architect, with a portion of wry humour, liked it. However, he remembered the subversive works of the Dadaists, too. In a local Home Depot store, Gehry looked for cheap construction materials: he bought ready-mix concrete, corrugated polyester sheets, and chipboard, later he added cardboard,

From Junkerhaus to Steinhaus

To live – is to war with trolls in the vaults of the heart and mind. To write poetry – is to hold Judgement Day over oneself.“ Henrik Ibsen, 1871

Frank Gehry’s house in Santa Monica, California, 1977 to 1987

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Freilich erinnerte er sich dabei auch der subversiven Werke der Dadaisten. Im Home Depot, dem Baumarkt um die Ecke, machte er sich auf die Suche nach preiswerten Baustoffen, kaufte Fertigbeton, Wellpolyester und Spanplatten, später Pappe, Wellblech und Maschendraht. Bald schien es beunruhigten Anwohnern, als hätte ihr neuer Nachbar den Verstand verloren: hatte er doch die Fassade mehrfach durchstoßen. Es kam aber noch schlimmer. Gehry schüttete den Stolz aller amerikanischen Eigenheimbesitzer, den Front Lawn, das Abstandgrün, mit Sand zu und begann dann, ein Fenster aus den Angeln zu lösen. Noch heute ragt es aus der wellblechverkleideten Kulissenwand und droht damit, sein Glas fallen zu lassen. Daneben stürzt ein Gatter durch die Wand und das Dach des Hauses und lässt beide aufgerissen zurück. Eine verglaste Kiste aus Holzlatten verkeilt sich in die Fassade des Hauses. Vor das derart geschundene Haus hat Gehry wie eine Kulissenwand einen hölzernen Bauzaun gesetzt. Aus dem Maschendraht des alten Zaunes formte er einen Kubus, den er wie einen Hühnerkäfig zwischen das Haus und die neu hinzugefügte Außenwand klemmte. Als Treppe dienen ein paar fast beiläufig übereinander gelegte Holzbretter. Allerdings: Verlieren all diese Baumarktmaterialien in den Händen des Architekten ihren banalen Charakter und fügen sich widerspenstig in ein komplexes, skurriles Gebilde, so leugnen sie doch nicht, eigentlich zu einem typischen amerikanischen Einfamilienhaus zu gehören. Zehn Jahre lang arbeitet Gehry am Umbau, zuverlässigen Quellen zufolge nimmt er noch heute kleine Veränderungen vor, bastelt hier und da weiter und macht so offenbar, dass Bauen ein Prozess ist, in dem es nicht in erster Linie darum geht, ein Bündel korrekter Theorien und Vorschriften zu befolgen. Etwa zur gleichen Zeit, 1986, begann sein Künstlerfreund Günther Domenig in Kärnten mit dem Bau seines „Steinhauses“ in Steindorf am Ossiacher See. Domenig hat dieses Vorhaben lange Jahre verfolgt oder wurde besser gesagt lange Jahre von ihm verfolgt. Sowohl der Ort als auch der Bau selbst sind eng mit seiner Lebensgeschichte verbunden: Er ist hier geboren, das Grundstück hat ihm die Großmutter vererbt. Den mehr als vier Millionen Euro teuren Bau finanzierte er neben den Einkünften aus dem Architekturbüro vor allem durch den Verkauf zweier anderer, ebenfalls von der Großmutter ererbter Liegenschaften. Nach zweiundzwanzigjähriger Bauzeit erklärte Domenig zur feierlichen Eröffnung seines Künstlerhauses am 5. Oktober 2008, dass das Bauwerk für ihn der „Versuch ist, vielleicht wieder einen Weg zu einer Heimatarchitektur zu finden, die nicht unsere Spuren verwischt“, eine Antwort auf die „Verlogenheit einer Scheinheimatarchitektur“. Die Betreiber des an Domenigs Grundstück angrenzenden Campingplatzes waren erschüttert, beschwerten sich immer wieder bei den Behörden und erreichten dort auch immer neue Verzögerungen des Baus. Wiederholt wurde das Haus aus den Fotos einiger Reiseführer der Region Klagenfurt von pfiffigen Grafikern wegretouschiert. Doch der Architekt blieb unbeirrt, schließlich ging es ihm um nicht mehr und nicht weniger als um die „Wahrhaftigkeit der Architektur“, für die er die folgende poetische Formulierung fand: „Der Traum / Ein Steinhaus / in Steindorf / wo sich / Ausdruck und Inhalt deckt (…) Vielleicht gibt es / Ereignisse dort / die im

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corrugated metal panels, and chain-link fencing. The concerned local residents probably assumed that their new neighbour had lost his mind when he broke through the façade of the house several times. But there was even worse to come: Gehry filled up the front lawn (a part of their property that all American home owners take pride in) with sand; then he took a window off its hinges. Still today, the window pokes through the corrugated metal encapsulating the house and its glazing looks threateningly unsafe. Next to it, a fence plunges through the roof and a wall of the house, leaving both torn open. A box made of plywood and glass got stuck in the façade. In front of the maltreated building, Gehry put a kind of wooden hoarding; out of an old chain-link fence he shaped a cube (resembling a chicken cage) and jammed it between the old house and the newly constructed shell. Some planks, laid almost casually on top of each other, serve as stairs. Nevertheless: though all these materials from the DIY market lose their mundane character in the hands of the architect and become part of a complex, bizarre object, they cannot deny their affinity with a typical American family home. Gehry worked on the conversion for ten years; according to reliable sources he still continues to make changes or to tinker here and there. He thus explicitly expresses the processual character of architecture and building, which cannot be primarily defined by following a bunch of theories and regulations. At about the same time, in 1986, Gehry’s artist friend Günther Domenig began building his Steinhaus in Steindorf, at Lake Ossiach (Austria). Domenig pursued this project for years, or rather: he was haunted by it. The place as well as the building itself is closely intertwined with the architect’s biography: Domenig was born here; his grandmother bequeathed the site to him. The building – with total costs of more than four million euro – has been funded from the income of Domenig’s architecture firm, and above all from selling two other properties, likewise inherited from his grandmother. Having taken 22 years to build, Domenig stated, on the occasion of the completion and official opening of his artist’s house on 5th October 2008, that, in his eyes, this building represents “the attempt to find a way back to a native architecture that will not blur our traces”, therefore a response to the „hypocrisy of pseudo native architecture“. The operators of a camping site adjacent to Domenig’s property were livid and complained over and over again to the authorities, delaying completion of the project quite considerably. There have been repeated cases of smart-alec graphic designers air-brushing the house out of photos in travel guides for the Klagenfurt region. Nonetheless, the architect stayed undeterred, after all it was a matter of “authenticity of architecture”, no more and no less. Domenig put it poetically: “The dream / A house of stone / In Steindorf / Where / Expression and content meet / […] Perhaps there are / Events to be found / Resting / In Memory” (from Günther Domenig, Steinhaus in Steindorf, 2002). Indeed, Domenig’s Steinhaus doesn’t look “cosy”, displaying sharply outlined wall elements made of fair-faced concrete – even though its pictorial momentum is hard to resist. Strangely dissected, rugged and colourless, the building rests amidst a picturesque tourist landscape. It ascends and descends through four unevenly placed units, called “Schwebesteine” (ho-

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Gedächtnis / bleiben“ (Günther Domenig, Steinhaus in Steindorf, 2002). Und tatsächlich: „Heimelig“ wirkt es nicht, das Steinhaus, mit seinen scharf konturierten Wandscheiben aus Sichtbeton – auch wenn man sich seiner bildhaften Dynamik nicht entziehen kann. Seltsam zergliedert, ruppig und ohne Farbe liegt der Bau in der pittoresken Urlaubslandschaft. Er staffelt sich in vier ungleich platzierten, durch Treppen, Brücken und Stege erschlossenen, jeweils „Schwebestein“ (1–4) genannten Bauteilen in die Höhe, kragt sich so zugleich in die Horizontale aus. Ein großer Glaskubus neigt sich sperrig den Besuchern entgegen, ihm wurde in mehrfacher Staffelung eine durch Stahlbetonstützen und Strebepfeiler gegliederte Blendfassade vorangestellt. Wie ein Betonfinger weist der „hohe Weg“ zum See, von dort führt eine Treppe nach unten auf einen Pfad zum Ufer, wo ein gewundener Holzsteg schließlich ans Wasser führt. In südwestlicher Richtung haben helmartige Kanzeln ihre stählernen Visiere wehrhaft heruntergeklappt, gleichwohl geben sie den Bewohnern durch verglaste Schlitze Blicke auf Wald, See und Gebirgslandschaft frei. Im spiralförmigen Zentrum des Hauses gräbt sich ein gläserner Zylinder in den Boden und dringt bis zum Grundwasser vor, wo die symbolische Quelle, gleichsam sein Herz liegt: Richtungsgebend ragt von dort ein langer geschwungener Stab zum Nachbarort Feldkirchen, wo die Großmutter wohnte. Nach Domenigs Wunsch soll ihre Urne in der Mitte des Hauses beigesetzt werden. Und so verdichtet sich an dieser Stelle des Steinhauses die einzigartige Bauweise des Künstlers und erweist sich als eine radikal andere und eben dennoch ortsgebundene, weil eigens auf ihre Umgebung verweisende Architektur, deren Volumen und Formen nicht zufällig den zerklüfteten Bergen ähneln, die hinter ihm aufragen. Dies belegt auch eine programmatische Skizze, in der Domenig den ersten Entwurf des Steinhauses aus der kunstvollen Zerlegung eines traditionellen Bauernhauses in drei ungleiche Teile entwickelt. Die Zeichnung und das realisierte Steinhaus selbst machen sichtbar, dass und wie es Domenig generell um die eruptiven Kräfte der Natur und um die Erschütterung des architektonischen Artefakts durch diese Kräfte geht, darum also, sein Haus in die Natur und zugleich der Natur entgegenzustellen. Ganz anders als bei den Künstlern des Jugendstils geht es ihm aber nicht um die Darstellung des Ursprungs der Artefakte aus der Natur, sondern um beider kunstvoll ausgestaltete Konfrontation: Aus den Fugen geraten und mit seinen scharfen Kanten und zustoßenden Winkeln die Auflösung des traditionellen statischen Verhältnisses von Stützen und Lasten artikulierend, zählt Domenigs ausdrucksstarkes, aus der Gebirgslandschaft herausgebrochenes, gar herausgesprengtes Künstlerhaus zur dekonstruktivistischen Architektur und fügt sich zugleich zu einem spätexpressionistischen Meisterwerk, das den „Ausbruch der Seele“ (Theodor Däubler) in architektonische Gestalt fasst. 27) Bei allen Unterschieden im Kompositionsverfahren, im Material wie im Erscheinungsbild weist das Steinhaus in seinem auf diese Erschütterung bezogenen expressiven Pathos auch auf das Junkerhaus zurück. So könnte Junker von sich und seinem Kunstverständnis gesagt haben, was Domenig von sich, seiner Kunst, seinem Haus sagt: „Alleine sein, einsam sein, in der Architektur.“ (Günther Domenig, Film, August 2008.)

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vering stones) and numbered one to four, which are accessible over stairs, bridges, and planks. The whole building sprawls horizontally. A large glass cube dips voluminously towards visitors; a blind façade, several times staggered and structured by reinforced concrete pillars and buttresses, is placed in front of it. Like a finger made of concrete a walkway, called “Hoher Weg”, indicates the way to the lake; stairs lead down to the shore; a winding wooden footbridge finally leads to the water. To the southwest helmet-like pulpits appear; their steel visors are lowered on guard, nonetheless enabling the residents to look through paned slits over the woods, the lake and the mountains. In the centre of the building, the so-called “spiral room”, a glass cylinder, digs deep into the ground, reaching ground water. It is a symbolic fountain, the heart of the stone house, so to speak: a long curved pole points from there to the nearby town of Feldkirchen, where Domenig’s grandmother had lived. According to his plans, the urn with his grandmother’s ashes shall be entombed in the centre of the house. Domenig’s Steinhaus condenses at this point the artist’s unique method: it shows a radically different, yet at the same time intrinsically local architecture, an architecture that relates (and is related) to its environment, resembling in its volumes and forms the rugged mountains towering beyond. In an early programmatic outline, Domenig had developed a first draft of his stone house from an artful dissection of a traditional cottage, which he cut into three uneven pieces. Just as the actual Steinhaus does, this first draft shows that (and how) Domenig focuses on the eruptive forces of nature, on the shocks deriving from these forces, grasping the architectural artefact – in other words: on situating the building both amidst nature and against it. Quite unlike the artists of the Jugendstil, Domenig doesn’t aim at a representation of nature as the principal source of the artefact but seeks an artfully created confrontation of both nature and architecture: quarried (or rather blasted) from the mountainscape, out of joint, with sharp edges and acute angles, articulating the dissolution of the traditional relation of support and load, Domenig’s expressive artist’s house is a major example of deconstructivist architecture; at the same time the Steinhaus constitutes a late expressionist masterpiece, articulating the “eruption of the soul” (Theodor Däubler) in architectural form.27) Thus, despite all differences regarding the compositional process, the material, and the outward appearance, Domenig’s Steinhaus, given its “eruptive”, expressive pathos, refers back to the Junkerhaus. Karl Junker might have said the same about himself and his understanding of art as Günther Domenig, considering his art and his house, put into the words: “Being alone, being lonely, in architecture.” (Günther Domenig, documentary, August2008) The difference between the two artists, however, is reflected in their chronological relation to expressionism: whereas Karl Junker pre-dated it, Günter Domenig has returned to it. Both artist’s methods and lives prove this. Junker died in Lemgo, alone and secluded, just before the First World War, after having worked, on his own, on his artist’s house for years. About his work he left no personal testimonial, no programmatic statements; except for the work itself, little has been handed down. Nevertheless, when Junker died, the local newspaper noticed, that he had “bequeathed an attraction to the city” that had been visited and admired frequently; “hopefully”, the

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Die Zerlegung eines traditionellen Bauernhauses, Günther Domenig, 1977

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Im Unterschied beider zeigt sich dann ihre jeweilige historische Stellung zum Expressionismus: Ging Karl Junker ihm voraus, kommt Günther Domenig auf ihn zurück. Das zeigt sich schon in den verschiedenen Arbeits- und Lebensweisen der beiden Künstler. Junker stirbt kurz vor dem Ersten Weltkrieg fast völlig zurückgezogen in Lemgo, nachdem er jahrelang allein an seinem Bau gearbeitet hatte. Es gibt zu seinem Werk keine Selbstzeugnisse, keine programmatischen Äußerungen, überhaupt ist außer dem Werk selbst kaum etwas überliefert. Anlässlich seines Todes vermerkt die Lokalpresse gleichwohl, dass er „der Stadt eine Sehenswürdigkeit hinterlassen“ habe, die vielfach besucht und bewundert worden sei und „auch fernerhin hoffentlich besucht werden kann.“ (Lippische Post, 31. Januar 1912.) Domenig hingegen baut unter den Augen der internationalen Öffentlichkeit, ist stilbildender Lehrmeister und vertritt seine Haltung selbstbewusst in den Medien. Das Bundesland Kärnten bezuschusst den Bau mit 1,1 Millionen Euro, schon die feierliche Eröffnung wird zum weithin beachteten Ereignis. Und dennoch verbindet das lange Ringen der beiden Bauherren um die Fertigstellung ihrer Häuser die Künstler stärker, als es zunächst scheint. Junkers Künstlerhaus und seine anderen Arbeiten gehören zum Aufbruch der Moderne, sind dem Jugendstil und der Arts-and-Crafts-Bewegung verbunden, lassen den Expressionismus erahnen. In seinen Techniken und in seinen Materialien glaubt er weiter an das schöpferische Potenzial des Handwerks, will ihm noch einmal Ausdruck verleihen. Domenig kann in seinem Haus bereits die gesamte Bewegung der künstlerischen Avantgarde reflektieren, Bezug nicht nur auf den Expressionismus, sondern auf Konstruktivismus, Dadaismus und Futurismus, auch auf die Wiederkehr von Collage und Montage in der zeitgenössischen Architektur nehmen. Er setzt technoide Materialien ein, folgt einer Maschinenästhetik, spielt auf Cockpit und Tower an. Dennoch verbindet beide das starke Pathos, in dem sie ihr Künstlerhaus zum Lebenswerk im eminenten Sinn des Worts machen, zum gebauten Manifest einer schöpferischen Einsamkeit, deren Ort die Architektur ist.

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newspaper added, “it will be open to the public in the future, too.” (Lippische Post, 31st January 1912) Domenig’s work, by contrast, attracts international public attention; as an architect, he influences style and confidently advocates his attitudes in the media. The Austrian federal state of Carinthia subsidised the building to the tune of 1.1 million euro; the official opening was a widely noted event. The long struggle for completion of their respective houses nevertheless links the two artists to a greater extent than initially appears to be the case. Junker’s artist’s house and his other works are part of the emergence of Modernism; linked to Jugendstil and to the Arts and Crafts movement, these works foreshadow expressionism. In his techniques and materials he still believed in handicraft, its creative potential and expressiveness. Domenig, on the other hand, is able to reflect in his Steinhaus the avant-garde art movements in retrospect: he not only refers to expressionism but also to constructivism, Dadaism and futurism, and moreover to the return of collage and montage techniques in contemporary architecture. Domenig applies technoid material; pursues a machine aesthetics; alludes to cockpit and tower. It is the pathos that Junker and Domenig have in common: making their artists’ houses their lives’ work (in the eminent sense of the word) – built manifestos of a creative solitude whose place is architecture.

The dissection of a traditional cottage, Günther Domenig, 1977.

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1)

München war zwischen 1850 und 1914 vermutlich das wichtigste kunstschaffende Zentrum im deutschsprachigen Europa. Die Münchner Schule im engeren Sinn wurde begründet durch den 1856 an die Akademie berufenen Karl von Piloty. Der Begriff steht für einen typischen Malstil der Münchener Malerei des späten 19. Jahrhunderts, der im Umfeld der Akademie der Bildenden Künste München zu finden ist. Beliebte Themen bei deren Künstlern sind Landschafts-, Historien- und Porträtgemälde. Die bedeutendsten Vertreter der Münchener Schule sind der Malerfürst Franz von Lenbach, Karl von Piloty, Ludwig von Herterich, Wilhelm von Diez und Hans von Marées.

2)

Vgl. Röhrl, Boris: Wilhelm Leibl, Hildesheim 1993, S. 127 f.

3)

Vgl. Röhrl, Boris: Kunsttheorie des Naturalismus und Realismus, Hildesheim 2003, S. 61 ff.

4)

Hans Makart war selbst Student an der Münchener Akademie in der Malklasse von Theodor von Piloty.

5)

Edgar Allan Poe (1809–1849) wirkte im Übergang von der Romantik zum Symbolismus als Vermittler, zuerst nach Frankreich und von dort aus wieder zurück in die USA und nach Deutschland, wo sich im Umfeld des Expressionismus eine starke Rezeption seiner Werke entwickelte. Zu Lebzeiten von Karl Junker sind in Frankreich Charles Baudelaires Poe-Übersetzungen maßgeblich.

6)

Vernes Roman Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer erscheint 1870 in deutscher Übersetzung, seine Reise zum Mittelpunkt der Erde 1874. Vgl. auch Adamowsky, Natascha: Annäherung an eine Ästhetik des Geheimnisvollen. Beispiele aus der Meeresforschung des 19. Jahrhunderts. In: Ästhetik in der Wissenschaft: Interdisziplinärer Diskurs über das Gestalten und Darstellen von Wissen; hg. von Wolfgang Krohn, Hamburg 2006.

7)

Vgl. Lenman, Robin: Maler in München: Eine Gemeinde im Wandel. In: Die Kunst, die Macht und das Geld, Frankfurt 1994.

8)

Olevano gilt im 19. Jahrhundert als Paradies für deutsche Künstler, besonders der Landschafts- und Genremaler.

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Vor allem die Romantiker Josef Anton Koch, Johann Christian Reinhart, Jacob Wilhelm Mechau, Heinrich Reinhold, Philipp Fohr, Franz Horny, Ludwig Richter, Carl Rottmann, Julius Schnorr von Carolsfeld, Carl Blechen und Franz Horny fanden hier einige ihrer Motive. 9)

Bielefeld ist seit 1847 an das Eisenbahnnetz nach Köln angebunden. Seit 1900 gibt es in der Stadt Straßenbahnen. Erst 1880 wird Detmold, 1896 Lemgo an die Bahnlinie angeschlossen.

10)

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wächst die Einwohnerzahl Lemgos schnell. Die Kleinstadt gehört zur aufstrebenden Wirtschaftsregion, vor allem der Textilindustrie in Bielefeld und Umgebung.

11)

Walmdach mit vier gleichmäßigen Giebeln. Diese Dachform verstärkt über kubischem Baukörper die allansichtige Erscheinung des Junkerhauses.

12)

Beispielhaft etwa Federico Zuccari, der seine Gäste durch Dämonenmäuler in den Garten seines römischen Stadtpalastes eintreten ließ.

13)

„Im Verlauf des 19. Jahrhunderts kristallisiert sich die Entwicklungsgeschichte des Künstlerhauses in zwei deutlich voneinander getrennten gesellschaftlichen Bereichen: Auf der einen Seite wird die Tendenz, das Künstlerhaus dem Ideal eines Adelspalais anzupassen, weiter entwickelt und erreicht in den Palästen der Münchner Künstlerfürsten Franz von Lenbach und Franz von Stuck einen letzten nostalgisch verklärten Höhepunkt. Neben dieser vorherrschenden Tendenz finden wir aber auch schon sehr früh entwickelte Beispiele dafür, dass nicht mehr die nostalgische Hinwendung an idealisierte Eliten der Vergangenheit, sondern die Erneuerung des Lebens aus der Kunst und Architektur selbst heraus, also eine der Metaerzählungen der Moderne, zum Motiv für die neue, bis heute gültige Vorstellung vom Künstlerhaus wird.“ Schwarz, Hans-Peter, Künstlerhäuser – eine Architekturgeschichte des Privaten, Braunschweig 1989, S. 12.

14)

Beispielhaft zeigt sich hier die von Theodor W. Adorno in seiner Ästhetischen Theorie entwickelte These, nach der das Naturschöne Modellcharakter für das Kunstschöne habe (S. 44). Ebenso lässt sich in dem an dieser Stelle genannten Vergleich eines bizarr wuchernden Gestrüpps mit Junkers

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Netzgebilden Adornos Begriff der „Pseudomorphose“ aufzeigen. Dieser ist hilfreich, um zu verstehen, dass und wie Junkers Raumkunstwerk an dem spezifischen Spannungsverhältnis von Naturnachahmung und Naturbeherrschung teilhat, das die Kunstwerke der Expressionisten so entscheidend prägte. Vgl. hierzu: Adorno, Theodor W. Ästhetik (1958/59) Frankfurt 2009, S. 36–71. 15)

Vitruv: Zehn Bücher über die Architektur, Darmstadt 1964, S. 79 ff. Für die Ausführungen zum Zusammenhang von vitruvianischer Urhütte und der Suche nach einer ursprünglichen Holzarchitektur im 19. Jahrhundert lieferte mir der Aufsatz von Wolfgang Pehnt entscheidende Informationen: In Bäumen leben. In: Der Anfang der Bescheidenheit: kritische Aufsätze zur Architektur des 20. Jahrhunderts, München 1983, S. 241–247. Einer ausführlichen Untersuchung widmete sich Joseph Rykwert in: Adams Haus im Paradies – Die Urhütte von der Antike bis Le Corbusier, Berlin 2005.

16)

Der Architekt Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc (1814–1879) hatte viele mittelalterliche Kathedralen, Schlösser und Städte vor dem Zerfall gerettet und rekonstruierend wiederhergestellt. Leider hat er dabei „das Mittelalter korrigiert“ und, wo seiner Meinung nach Lücken oder Mängel vorhanden waren, den Bestand skrupellos ergänzt. Er strebte die Restaurierung bis zu einem möglichst „kompletten Zustand“ an – selbst wenn dieser so nie existiert hatte. Er wollte also nicht bloß reparieren und vermutlich auch nicht einfach interpretieren, sondern gewissermaßen als „Vollender“ einer unvollendet gebliebenen Architektur in die Geschichte eingehen. Die Gegenposition zu Violletle-Duc vertrat der Engländer John Ruskin (1819–1900). In seiner überaus einflussreichen Programmschrift The Seven Lamps of Architecture (1849) tat er jegliche Rekonstruktion kategorisch als historische Lüge und als Geschichtsfälschung ab. Auch er war ein Kenner und Liebhaber gotischer Architektur, aber er zog im Gegensatz zu Viollet-le-Duc die Komplexität der gewachsenen Architektur und die Authentizität der langsam verwitternden Sandsteinschichten einer unzulässigen „Totenerweckung“ vor – selbst wenn die Bauwerke schließlich bloß als ruinöse Erinnerungsstücke überleben sollten.

17)


Between 1850 and 1914, Munich was probably the most important centre of fine arts in German-speaking European countries. The so-called Münchner Schule (Munich School) was established by Karl Theodor von Piloty, who was appointed to the Academy of Fine Arts in 1856. Münchner Schule stands for a style of painting that became typical in the milieu of the Academy in the late 19th century. Popular genres amongst the artists were landscape art, history painting, and portraits. The most important representatives of the Münchner Schule are the “painter prince” Franz von Lenbach, Karl Theodor von Piloty, Ludwig von Herterich, Wilhelm von Diez and Hans von Marées.

1)

Kunst, die Macht und das Geld, transl. by Reiner Grundmann, Frankfurt a. M. 1994; cf. also Robin Lenman, Artists and society in Germany, 1850–1914, Manchester 1997. 14)

Cf. Boris Röhrl, Wilhelm Leibl, Hildesheim 1993, p.127 f.

3)

Cf. Boris Röhrl, Kunsttheorie des Naturalismus und Realismus, Hildesheim 2003, p. 61 ff.

4)

Hans Makart himself had been a student at the Academy of Fine Arts in Munich, attending the painting class of Karl Theodor von Piloty.

In the 19th century it is said, Olevano was a paradise for German artists, particularly for painters of landscapes and genre works. Notably Romanticists found some of their subjects in Olevano, for example Josef Anton Koch, Johann Christian Reinhart, Jacob Wilhelm Mechau, Heinrich Reinhold, Philipp Fohr, Franz Horny, Ludwig Richter, Carl Rottmann, Julius Schnorr von Carolsfeld and Carl Blechen.

8)

9) 2)

Since 1847 Bielefeld had been connected via the railway network to Cologne. Trams ran in the town from 1900 onwards. Detmold was connected to the railway network in 1880, Lemgo in 1896. In the second half of the 19th century the population of Lemgo grew rapidly. The small town was part of a developing industrial region, with the textile industry of Bielefeld at its centre.

10)

Edgar Allan Poe’s (1809–1849) works mark the passage from the American Romantic Movement to Symbolism; their influence spread first to France and then from there back to the U.S. and to Germany. In the milieu of the Expressionist Movement, Poe’s poetry and tales were widely read. In Karl Junker’s lifetime, Poe was particularly appreciated in France, with his work being translated by Charles Baudelaire.

11)

Jules Verne’s novel Vingt mille lieues sous les mers was published in 1869/70, the first translation into German was published by A. Hartleben (Vienna) in 1875 (titled Zwanzigtausend Meilen unterm Meer); Voyage au centre de la terre was published in 1864, the German translation, published by Gebrüder Légrády (Pest) in 1873 (titled Reise zum Mittelpunkt der Erde). Moreover cf. Natascha Adamowsky, “Annäherung an eine Ästhetik des Geheimnisvollen. Beispiele aus der Meeresforschung des 19. Jahrhunderts”, in: Wolfgang Krohn (ed.), Ästhetik in der Wissenschaft: Interdisziplinärer Diskurs über das Gestalten und Darstellen von Wissen, Hamburg 2006.

13)

5)

6)

Cf. Robin Lenman, “Maler in München: Eine Gemeinde im Wandel”, in Die

7)

of modernism.” Hans-Peter Schwarz, Künstlerhäuser – eine Architekturgeschichte des Privaten, Braunschweig 1989, p. 12.

Vitruvius: The Ten Books on Architecture, transl. by Morris Hickey Morgan, New York 1960, book II, ch. I: The Origin of the Dwelling House.

15)

16)

James Hall, Essay on the Origin, History and Principles of Gothic Architecture, London 1797. – I gained vital insights into the connection between the Vitruvian primitive hut and the 19th century search for a “primordial wooden architecture” from an essay by Wolfgang Pehnt; cf. Wolfgang Pehnt, “In Bäumen leben. Über Biotekten und NaturbauIngenieure”, in: Der Anfang der Bescheidenheit. Kritische Aufsätze zur Architektur des 20. Jahrhunderts, München 1983, p. 241–247. A detailed analysis is provided by Joseph Rykwert, On Adam’s House in Paradise. The Idea of the Primitive Hut in Architectural History, 2nd ed., Cambridge, Mass. 1993.

17)

The architect Eugène Emmanuel Violletle-Duc (1803–m1897) saved numerous mediaeval cathedrals, châteaux, and towns by reconstructing and restoring decaying buildings. Unfortunately, he understood it as his task to “adjust the Middle Ages”; in other words, he unscrupulously complemented existing buildings if he saw something flawed or lacking. Viollet-le-Duc strove to restore buildings “as completely as possible” – even if such completeness had never existed. Restoration didn’t aim at mere repair and it wasn’t simple interpretation; rather Viollet-le-Duc saw it as his task to “complete” an architecture

Formed like a square hip roof but with four symmetrical gables. Sitting on a cubic body, this type of roof intensifies the appearance of Junker’s house as a building that one can gaze at from all sides.

A good example is Federico Zuccari, visitors to whose palace garden in Rome had to pass through “mouths of demons”.

12)

“During the 19th century the development of artists’ houses crystallised in two distinct social spheres, separated from each other: on the one hand the tendency to equate the artist’s house with the palace of the nobility continued to evolve and peaked for the last time, transfigured by nostalgia, in the houses of the so-called ‘painter princes’ in Munich, Franz von Lenbach and Franz von Stuck. Alongside this predominant trend, however, there were substantive instances from a very early stage of motifs being chosen for a new conception of the artist’s house, one that has remained applicable up to the present day, that no longer drew on nostalgic devotion towards idealised elites from the past but espoused the renewal of life from within art and architecture instead, thus joining the metanarratives

In his lectures on Aesthetics (from 1958/59), Theodor W. Adorno reminds us that natural beauty can have the character of a model for artistic beauty in a very specific sense (p. 44). Comparing for example – as we have done – freakishly rampant undergrowth and Junker’s sprawling netting, we might refer to Adorno’s concept of “pseudomorphosis”: This could help to understand how Junker’s architectural work of art shares that specific strained relationship between imitation of and control over nature which so decisively influenced the art of Expressionism. Cf. Theodor W. Adorno, Ästhetik (1958/59), Nachgelassene Schriften, Abt. IV: Vorlesungen, Bd. 3, Frankfurt a. M. 2009, p. 36–71.

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18)

Vgl. Kreyenberg, Gerhard: Das Junkerhaus zu Lemgo i. L. Ein Beitrag zur Bildnerei der Schizophrenen. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, Bd. 114, 1928, S. 152–172, sowie MacGregor, John: Junker House. The Architecture of Madness. In: Raw Vision, Heft 41, 2002, S. 48–57. Eine ausführliche Untersuchung zum Thema legte erstmals Hans Prinzhorn vor: Bildnerei der Geisteskranken, Berlin und Heidelberg 1922. Karl Junker ist hier nicht erwähnt.

19)

Doch ganz anders als in Frankreich, wo die gesamte künstlerische Avantgarde, vor allem die Surrealisten, den Briefträger Cheval und sein Palais idéal für sich entdeckt hatten, nahmen die Künstler in Deutschland keine Notiz von Junkers Lemgoer Werk.

20)

Die ersehnte Anerkennung in Künstlerkreisen fand Junker so erst zwei Jahre nach seinem Tod.

neben Werken von Max Pechstein, Karl Schmidt-Rottluff und Ernst Ludwig Kirchner auch Hoetgers Arbeiten zu sehen waren. Der war inzwischen in die Schweiz emigriert. 25)

Ausstellungskatalog Bernhard Hoetger Gedächtnisausstellung zu seinem 90. Geburtstag, Bremen 1964.

21)

22)

Zitiert nach: Schmalenbach, Werner: Kurt Schwitters, München 1984.

23)

Zitiert nach: Schulenburg, Lutz (Hg.): Richard Huelsenbeck, En avant dada. Eine Geschichte des Dadaismus, Hamburg 1978, S. 29 f.

24)

Auch Bernhard Hoetger hätte es besser wissen müssen: Der Bremer Bildhauer war zunächst in die NSDAP eingetreten, „um die völkisch-nordische Ideenwelt meiner Kunst den Parteigenossen nahe zu bringen.“ Doch bereits 1928 waren kunstvoll windschiefe – kurz, expressionistische Wohnhäuser wie das von Hoetger in Worpswede in dem Buch Kunst und Rasse des späteren Nazi-Propagandisten Paul SchultzeNaumburg mit Parolen wie „Nur eine krumme Nase wohnt in einem schiefen Haus!“ belegt worden. Weitergehende Diffamierungen folgten: So verglich der Autor avantgardistische Porträtgemälde von Picasso, Kirchner und Max Ernst mit Porträtfotos von körperlich und geistig Behinderten, um bei den Betrachtern die gewünschten rassistischen Reaktionen auszulösen, und verleumdete so die gesamte Kunst der Moderne als „artfremd“. Schließlich lieferte sein Buch die inhaltliche Grundlage für die NS-Agitationsausstellung Entartete Kunst, in der dann 1937

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„Zwischen 1933 und 1945 erschien eine Reihe von Zeitungsartikeln, in denen es als ‚Heim eines Sonderlings‘ bzw. ‚Gespensterhaus‘ bezeichnet wurde. Als lokale Sehenswürdigkeit zog das Haus Besucher an, aber in den Blick der NS-Kulturpolitik geriet es (nach derzeitigem Forschungsstand) nicht. Vielleicht hatte der Lemgoer Grafiker Walter Steinecke das Haus den Blicken der NS-Bürokratie entzogen. Steinecke hatte im Jahre 1924 eine Mappe mit Zeichnungen über das Junkerhaus herausgegeben. In der NS-Bürokratie hatte er als Gauamtsleiter in Westfalen und Lippe eine einflussreiche Position inne, und in dieser Funktion setzte er sich vor allem für die Förderung der Kultur in seiner Heimatstadt ein. Das Junkerhaus aber blieb in den von Steinecke initiierten und geförderten Kulturprojekten unberücksichtigt.“ Jürgen Scheffler in: Art brut.Tagungsdokumentation, Kunsthaus Kannen, Münster ( Hg.), in Vorbereitung. Vgl. Lampugnani, Vittorio Magnago: Architektur und Städtebau des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1980. Haase, C. (Hrsg.): Die Stadt des Mittelalters. 3 Bde.

26)

27)

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Vgl. Pehnt, Wolfgang: Die Architektur des Expressionismus, Stuttgart 1973, S. 8.


that had remained uncompleted and thereby enter the history books. John Ruskin (1819–1900) took an opposite view. In his extremely influential programmatic work, The Seven Lamps of Architecture (1849), he categorically rejected every reconstruction as a forgery and distortion of history. Ruskin himself was an expert on and admirer of Gothic architecture, but he preferred, in contrast to Viollet-le-Duc, the complexity of evolved architecture and the authenticity of slowly weathering layers of sandstone and refused to accept a “resurrection of the dead” – even if the buildings should finally survive only as ruins and mementoes. Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc, Histoire de l’habitation humaine: depuis les temps préhistoriques jusqu’a nos jours, Paris 1875; English edition: The Habitations of Man in All Ages, transl. by Benjamin Bucknall, reprint, Ann Arbor 1971. Cf. Gerhard Kreyenberg, “Das Junkerhaus zu Lemgo i.L.. Ein Beitrag zur Bildnerei der Schizophrenen”, Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, vol. 114 (1928), p. 152-172; and John MacGregor, “Junker House – The Architecture of Madness”, Raw Vision, no. 41 (2000) p. 48-57. Hans Prinzhorn provided the first detailed analysis on this topic, cf. Hans Prinzhorn, Bildnerei der Geisteskranken, Berlin-Heidelberg 1922. Karl Junker is not part of this study.

18)

In contrast to France, where the artists of the avant-garde, notably the Surrealists, discovered the Palais Idéal and made the facteur Cheval one of their peers, artists in Germany didn’t take any notice of Junker or his work in Lemgo.

19)

In fact, in 1914, the artists’ association Neue Secession in Berlin presented works of Karl Junker, together with those of Expressionist artists like Max Pechstein and Karl Schmidt-Rottluff. Thus, Junker finally found recognition amongst artists, for which he was longing for so long, only two years after his death.

20)

21)

Cf. the exhibition catalogue Bernhard Hoetger Gedächtnisausstellung zu seinem 90. Geburtstag, Bremen 1964.

22)

Cited in: Werner Schmalenbach, Kurt Schwitters, München 1984.

in his native Lemgo. Yet Steinecke (and the cultural projects he initiated and fostered) disregarded the Junkerhaus.” Jürgen Scheffler in: Kunsthaus Kannen, Münster (ed.), Art brut, conference documentation, forthcoming.

23)

Cf. Lutz Schulenburg (ed.): Richard Huelsenbeck, En avant dada. Eine Geschichte des Dadaismus, Hamburg 1978, p. 29 f.; English edition: Richard Huelsenbeck, En Avant Dada: A History of Dadaism (1920), transl. by Ralph Manheim, in: Robert Motherwell (ed.), The Dada Painters and Poets. An Anthology, 2nd ed., Boston, Mass. 1981, p. 21-48, here: p. 35 f.

For sure, Bernhard Hoetger could have known better: the sculptor, living in Bremen, joined the NSDAP “in order to make the populist nordic ideas of my works (völkisch-nordische Ideenwelt in the German original) accessible to the Party comrades.” Yet already in 1928, the later Nazi propagandist Paul Schultze-Naumburg stated in his book Kunst und Rasse (Art and Race) with reference to the artfully crooked, expressionist houses of Worpswede (like Hoetger’s): “No one but a crooked nose will live in a crooked house!” Continuing with further defamation, Schultze-Naumburg compared avantgarde portraits, namely by Pablo Picasso, Ernst Ludwig Kirchner and Max Ernst, to photographs of physically and mentally disabled people; offensively stigmatising modern art as a whole, he defamed it as “abnormal” and “racially impure”. Schultze-Naumburg’s book eventually supplied much of the foundation for the Nazi propaganda exhibition entitled Entartete Kunst (Degenerate Art) in 1937, which showed Bernhard Hoetger’s works besides those of Max Pechstein, Karl Schmidt-Rottluff, and Ernst Ludwig Kirchner. Hoetger had already emigrated to Switzerland by then.

26)

Cf. Vittorio Magnago Lampugnani, Architektur und Städtebau des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1980; English edition: Architecture and City Planning in the Twentieth Century, New York 1985.

27)

Cf. Wolfgang Pehnt, Die Architektur des Expressionismus, Stuttgart 1973, p. 8; English edition: Expressionist Architecture, transl. by James A. Underwood and Edith Küstner, London 1973, p. 8.

24)

25)

“Between 1933 and 1945 a series of newspaper articles were published calling Junker’s house the ‘home of a strange character’ or even a ‘haunted house’. Being a local attraction, the house found interested visitors; yet it didn’t attract the interest of Nazi cultural policy (that is, according to the current state of research). Conceivably the Lemgo-based graphic artist Walter Steinecke had concealed Junker’s house from the eyes of Nazi officials. In 1924 Steinecke, later a Nazi official himself, had edited a collection of drawings presenting the Junkerhaus. He held high office within the nationalsocialist bureaucracy as a Gauamtsleiter (head of a regional office) in Westphalia and Lippe; one of his main concerns was the promotion of culture

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„Die Reise hat sich gelohnt“, sagt Thomas Völlmar, Architekt in Hamburg, der zum ersten Mal den „Wegen durch das Land“ ins Ostwestfälisch-Lippische folgte und dabei ein Bauwerk kennenlernte, wie er es noch nicht gesehen hat. Seit sieben Jahren ist die von FSB unterstützte Rede zur Architektur fester Bestandteil des sommerlichen Literatur- und Musikfestes, das zu Entdeckungen einlädt und überraschende Beziehungen aufdeckt. Die Nachfrage nach den Karten ist groß. Aus Berlin und Köln, Wiesbaden, Aachen und Rostock reisen Veranstaltungsbesucher an. Das Nachdenken über Greifen und Griffe, das seinen Niederschlag fand in der 16-bändigen FSB-Edition fand, dehnte „der Verlag, der auch Klinken herstellt“, mit seiner Beteiligung an dem Programm der „Wege durch das Land“ auf das Nachdenken über Architektur aus. Auf Schloss Wendlinghausen bot Peter Zumthor 2003 mit einer sensiblen „Einführung in die Dinge um mich herum“ Orientierung auf den „Wegen zur Architektur“. Ein Jahr später folgten Mario Bottas aufschlussreiche Erläuterungen zum Zusammenspiel von Architektur und Gedächtnis. Auf Wunsch des Sponsors FSB wird jede der Veranstaltungen dokumentiert. Jahr für Jahr erweitert ein neuer Band die bibliophile Bibliothek. Nachdem Peter Eisenman im Jahr zuvor im Kloster Dalheim zu Gast war, führten diesmal die „Wege zur Architektur“ wieder nach Wendlinghausen und damit an einen Ort, wo der Dialog zwischen Alt und Neu, zwischen Natur und Kultur intensiv gepflegt wird. Dazu tragen Ausstellungen, Konzerte und Theateraufführungen, denen das im Stil der Weserrenaissance errichtete Wasserschloss eine reizvolle Kulisse verleiht, ebenso bei wie das umweltorientierte Engagement, das sich in dem Pilotprojekt „Energiedorf Wendlinghausen“ konkretisiert. Eine Informationstafel am Parkplatz macht auf die zukunftsweisende Anlage aufmerksam. Rege wahrgenommen wird die Möglichkeit des Transfers nach Lemgo zur Besichtigung des einzigartigen Baudenkmals, das im Mittelpunkt des Architekturtages steht. Schon

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zu Lebzeiten des Architekten, Malers und Holzbildhauers Karl Junker zählte das Haus, das er an der Hamelner Straße errichtete und an dem er über 20 Jahre arbeitete, zu den Attraktionen der lippischen Kleinstadt. Als er starb, würdigten Bürger Lemgos sein Werk in einem Nachruf, der in der Lippischen Post vom 31. Januar 1912 abgedruckt wurde: „Junker hat der Stadt eine Sehenswürdigkeit hinterlassen, die schon von vielen Tausenden von Fremden und Einheimischen besucht und bewundert wurde.“ Mittlerweile reicht der Ruf des Junkerhauses bis nach Japan und in die USA. Die Stadt geht mit diesem kostbaren Erbe behutsam um, das Museumsleiter Jürgen Scheffler hütet wie einen Augapfel. Nur in kleinen Gruppen werden Besucher eingelassen. Konsequent verwirklichte Junker seine Vision einer Einheit von Kunst und Leben. Was er mit unbeirrbarer Liebe zum Detail schuf, weckt zwiespältige Empfindungen. Wie in einen Kokon spann er sich in sein Schnitzwerk ein, das sich spinnwebenartig durch alle Stockwerke und bis in jeden Winkel zieht. Die überwältigende Fülle unentrinnbar verschränkter Motive, die Elemente des aus dem Unbewussten schöpfenden Symbolismus ebenso aufweist wie Anklänge an den Jugendstil oder eine Vorahnung der impulsiven Gestik des Expressionismus, wirkt erdrückend, übt aber auch Faszination aus. Auf den ersten Blick stehe das Haus im Widerspruch zu allen architektonischen Grundsätzen und Bestrebungen, meint der Architekt aus Hamburg. Wie viele seiner Kollegen findet es Völlmar jedoch „spannend“, sich auf das phantastische, in seiner Konsequenz beeindruckende Gesamtkunstwerk einzulassen, und betrachtet staunend die Holzapplikationen, die die gesamte Fassade schmücken. Das ganzheitliche Konzept bewundert die Düsseldorfer Innenarchitektin Heike Falkenberg, die FSB nicht nur durch die „Wege zur Architektur“ verbunden ist, sondern auch durch einen eigenen KlinkenEntwurf, mit dem sie die Produktpalette des Brakeler Beschläge-Herstellers erweiterte.


“The trip was worthwhile,” says Hamburg architect Thomas Völlmar, fresh from his first venture down “ways through the land” to Eastern Westphalia-Lippe and from getting to know a building in a way he had never seen it before. For seven years now, an FSB-sponsored talk on architecture has been part and parcel of a summer literature and music festival that is conducive to discovery and points up some surprising correlations. Demand for tickets is high, with visitors coming from Berlin, Cologne, Wiesbaden, Aachen and Rostock. FSB, a “publisher with a sideline in architectural hardware”, devoted 16 volumes to delving into the issue of handle culture before spreading its net to embrace the whole of architecture with its involvement in “Ways through the land”. Peter Zumthor offered directions on “Ways to Architecture” in his sensitive “Introduction to the things around me”, which he delivered at Wendlinghausen Palace in 2003. A year later, we had Mario Botta’s insightful elucidations on the interplay between architecture and memory. Each event is immortalised in print as wished for by the sponsor FSB. Year in, year out, a further tome is added to the company’s cultured library. The venue for last year’s “Ways to Architecture” talk, given by Peter Eisenman, was Dalheim Abbey; this year saw a return to Wendlinghausen and hence to a place where the dialogue between old and new, Nature and culture is pursued with particular intensity. Exhibitions, concerts and theatre performances are held against the enchanting backdrop of a water-bound palace built in the Weser Renaissance style, whilst active commitment to the environment comes in the form of the “Wendlinghausen Energy Village” pilot project. An information plaque at the car park draws attention to this forward-looking enterprise. There has been a keen take-up of the shuttle service to Lemgo to view the unique architectural monument forming the centrepiece of the festival. Architect, painter and wood carver Karl Junker spent over 20 years building his house on Hamelner Straße and it was a major attraction in the small Lippe town

even in his own lifetime. When he died, the citizens of Lemgo honoured his work in an obituary published in the Lippische Post on 31 January 1912: “Mr Junker has bequeathed to the town a point of interest that has already been visited and admired by thousands of people both from elsewhere and from the town itself.” Word of the Junker House has spread to Japan and the USA since then. The town handles its precious legacy, jealously guarded over by museum curator Jürgen Scheffler, with great care. Visitors are only admitted in small groups. Junker was very single-minded in the way he put his vision of the unity of art and life to effect. The upshot of his unerring love of detail triggers conflicting responses. He effectively cocooned himself within wood carvings that extend over all floors and into all corners like a spider’s web. Their vast plethora of inextricably tangled motifs, which combine elements from symbolism - that tapper of the subconscious - with shades of art nouveau or, indeed, hints of the gestural impulsiveness of expressionism, have a rather oppressive effect, fascinating though they undoubtedly are. Our architect from Hamburg feels that, at first glance, the house seems to be at variance with any architectural principle or endeavour imaginable. Like many of his colleagues, Völlmar nevertheless finds it “exciting” to surrender to this fantastical total work of art, so impressively uncompromising, and is astounded by the timber mouldings that adorn the entire facade. One admirer of the holistic thinking involved is Düsseldorf-based interior designer Heike Falkenberg, whose ties with FSB predate the “Ways to Architecture” venture, since she has already added a handle design of her own to the product range of this hardware makers from Brakel. The key thing for her is the human link, which she sees as having been achieved in exemplary manner in the Junker House. The restoration of the Junker House and opening of the Museum in September 2004 gave rise to intensified scientific debate about Karl Junker that seeks to go beyond

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Das Wichtigste aus ihrer Sicht ist der Bezug zum Menschen, den sie im Junkerhaus auf beispielhafte Weise verdeutlicht sieht. Die Restaurierung des Junkerhauses und die Eröffnung des Museums im September 2004 zogen eine verstärkte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Karl Junker jenseits der Pathologisierung als psychisch kranker Sonderling nach sich. Heute gilt Junker als wichtiger Repräsentant der Art Brut im Sinne von Jean Dubuffet, der diese Bezeichnung für das spontan und unreflektiert Geschaffene prägte, das sich kulturellen Normen widersetzt. In einem als Manifest konzipierten Text betonte Dubuffet, dass psychopathologische Aspekte nicht von Belang sind für die alternative Kunst: „Wir sind der Ansicht, dass die Wirkung der Kunst in allen Fällen die gleiche ist, und dass es ebensowenig eine Kunst der Geisteskranken gibt wie eine Kunst der Magenkranken oder der Kniekranken.“ Dass Architektur die Auseinandersetzung mit dem vom Menschen geschaffenen Raum und insbesondere die Wechselbeziehung zwischen Mensch, Raum und Zeit bedeutet, führt das Junkerhaus dem Besucher höchst sinnfällig vor Augen. Mit seinen scheinbar wie Gestrüpp wuchernden, geschnitzten Ranken und Girlanden erinnert es an die Ursprünge architektonischer Formen in der Natur, an Behausungen aus Ästen und Bäumen. Sie stehen für die Idee des perfekten Gebäudes, in dem der Mensch ganz zuhause ist und das richtig ist wie die Natur selbst. Mit ihrem Essay zur Geschichte der Künstlerhäuser, der einen Bogen spannt von den Renaissancevillen bis zu Günther Domenigs Steinhaus am Ossiacher See, leistet Bettina Rudhof einen Beitrag zur Einordnung Junkers in die geistigen Strömungen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, dabei Zusammenhang herstellend auch zur Artsand-Crafts-Bewegung, die auf die vitruvianische Vorstellung von der „Urhütte“ zurückgriff. Vitruv verlangte von den Baumeistern, sich in der Musik auszukennen. Die Musik enthülle ihnen die Harmonie der Proportionen, lehre sie Gleichmaß und sinnvolles Gefüge eines

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Gebäudes. Auch der Kirchenlehrer Augustinus bekundete höchste Wertschätzung sowohl für Musik wie für Architektur. Er sah die Baukunst als Abbild ewiger Harmonie. Diese Gedanken übten Einfluss aus bis in die Gegenwart hinein. „Die Musik ist Zeit und Raum wie die Architektur“, wies Le Corbusier auf die Nähe beider Künste hin. Deren Verwandtschaft erhielt konkrete Ausprägung durch Bauwerke wie den 1990 von Pieter Zaanen verwirklichten gläsernen Musiksaal, der als Raum im Raum der Amsterdamer Börse implantiert wurde. Seine Hülle bilden unterschiedlich getönte Glaswände, deren Reflexion sich mit der Beleuchtung ändert. Der Expressionismus griff den Gedanken der Kunstsynthese auf. Dabei ging es auch um die Bindung des Menschen an einen kosmischen Urgrund in der Erwartung, dadurch könnten soziale Grenzen überwunden werden. Diese Überlegungen stehen hinter Bruno Tauts „Weltbaumeister“, einem 1920 geschriebenen „Architektur-Schauspiel für symphonische Musik“. Die Einbettung architektonischer Themen in einen Kontext von Literatur und Musik macht den Architekturtag für die Mitglieder des BDA Kassel zu einem „beliebten Event“. Sie begeben sich seit einigen Jahren regelmäßig mit dem Fahrrad auf die „Wege zur Architektur“ und genießen dabei außer den Anregungen durch Poesie und Partituren auch das intensive Landschaftserlebnis. Das beziehungsreiche, von Brigitte Labs-Ehlert, der künstlerischen Leiterin des Literatur- und Musikfestes „Wege durch das Land“, mit sicherem Gespür und profundem Wissen zusammengestellte Programm bot auch diesmal wieder eine Fülle von Anknüpfungspunkten, die den Anstoß gaben, Zusammenhängen und gegenseitigen Beeinflussungen von Architektur und Musik, von Literatur und Architektur nachzugehen. „Wie man in einen Raum geht, worin man sich bereits befindet“ lautet der Titel eines der Stücke, die von den exzellenten Musikern um den Kontrabassisten und Komponisten Barry Guy und die Ausnahmegeigerin Maya Homburger vorgetragen wurden. Elegante


merely diagnosing him as some mental weirdo. Junker is now regarded as an important representative of art brut in the vein of Jean Dubuffet, who coined the term to describe work which is created spontaneously and unreflectedly and which defies cultural norms. In a text proffered as a manifesto, Dubuffet stresses that psychopathological aspects are irrelevant to alternative art: “It is our opinion that the impact of art is the same whatever and that, just as there is no ulcer or knee injury-induced art, neither is there a form of art specifically attributable to mental illness.” Visitors to the Junker House gain a strong impression of architecture as a process of interlocution with the space created by human effort and notably as an interaction between humanity, space and time. Tendrils and garlands carved to resemble rampant undergrowth recall the origins of architectural forms in Nature, recall houses made of branches and trees. They embody the notion of the perfect building in which people can be wholly at home and which is as right as Nature herself. In her essay on the history of artists’ houses, which covers everything from Renaissance villas to Günther Domenig’s stone house by Lake Ossiach, Bettina Rudhof helps place Junker in the context of intellectual trends in the late 19th and early 20th centuries, in the process also establishing a connection with the Arts and Crafts movement, which had recourse to the Vitruvian concept of the “primitive hut”. Vitruvius demanded knowledge of music from architects. Music, he argued, would reveal to them the harmony of proportions, teach them about dimensional balance in and the sensible structuring of a building. Another person who held both music and architecture in the highest esteem was the religious theorist Augustine, who regarded architecture as being a reflection of everlasting harmony. Such thinking continues to exert an influence today. As Le Corbusier once observed, “music is time and space just like architecture”. Just how close the two art forms can become

has been lent concrete expression in structures such as the glass music hall realised by Pieter Zaanen in 1990, which was implanted as a space within the space of the Amsterdam stock exchange. Its shell is made up of variously toned glass walls whose reflectance alters with the lighting. Expressionism took up the notion of the artistic synthesis. In part this involved mankind being bound to a cosmic primal ground in the expectation of social barriers being transcended as a result. Such are the considerations behind Bruno Taut’s “Global Master Builder”, an “architecture play for symphonic music” written in 1920. The embedding of architectural topics in a context of literature and music specifically makes the Architecture Festival a “popular event” with the Kassel branch of the Federation of German Architects (BDA). Its members regularly bike across to “Ways to Architecture” and, as well as being stimulated by verse and music, also have a great deal of countryside to indulge in. The versatile programme of events put together with a sure touch and profound knowledgeability by Brigitte LabsEhlert, Artistic Director of the “Ways through the land” literature and music festival, again provided plenty of scope for pursuing interconnections and reciprocal influences between architecture and music, between literature and architecture this year. The title of one of the pieces performed by the excellent musicians supporting double bassist and composer Barry Guy and the exceptionally gifted violinist Maya Homburger translates as “How to enter a space you’re already in”. Elegant flights of fancy likewise mark “Annalisa”, dedicated to the authoress Annalisa Zumthor-Cuorad, wife of architect Peter Zumthor and an exponent of Rhaeto-Romance literature. Peter, meanwhile, plays jazz on the double bass in his spare time. His son, Peter Conradin Zumthor, has inherited this love of music - he is a jazz drummer and plays in the Lucas Niggli Drum Quartet for one thing. The literary offering transported the audience from the rustic setting of the period

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Gedankenflüge zeichnen auch „Annalisa“ aus, gewidmet der Schriftstellerin Annalisa Zumthor-Cuorad. Die Ehefrau des Architekten Peter Zumthor ist Autorin rätoromanischer Literatur. Er selbst spielt in der Freizeit Jazz auf dem Kontrabass. Die Liebe zur Musik hat sein Sohn Peter Conradin Zumthor geerbt, er ist Jazz-Schlagzeuger und spielt unter anderem im Lucas Niggli Drum Quartet. Der literarische Beitrag entführte die Zuhörer aus der rustikalen Atmosphäre des zu Schloss Wendlinghausen gehörenden historischen Wirtschaftsgebäudes in das Berlin vor dem Ersten Weltkrieg, als sich die Großstadt an der Spree zu einem Zentrum der modernen europäischen Kunst entwickelt hatte. Hier kreuzt sich der Lebensweg Karl Junkers mit denen des Schriftstellers und Propheten der Glasarchitektur Paul Scheerbart und des Architekten Bruno Taut, mit dessen Glashaus für die Werkbundausstellung des Jahres 1914 in Köln Scheerbarts Visionen erstmals gebaute Wirklichkeit wurden. Nicht auszuschließen, dass Junker auf seiner Walz als Schreinergeselle auch in Berlin Station machte. 1914, zwei Jahre nach Junkers Tod, stellte die Neue Secession in Berlin Arbeiten des Lemgoer Künstlers aus. Wie Else Lasker-Schüler oder Peter Hille gehörte auch Paul Scheerbart zu der künstlerischen Avantgarde, die sich um den Berliner Musiker, Theaterkritiker, Galeristen und Verleger Herwarth Walden zusammenfand. Für Adolf Behne, den ebenfalls im „Sturm“-Kreis um Walden aktiven Verfechter einer modernen Architektur und Kunst, war Scheerbart der „wahrhaftige Schutzheilige der echten Architektur“. Über Taut und dessen „gläserne Kette“ strahlten Scheerbarts Auffassungen auf die Bauhausbewegung und die weitere Entwicklung der Architektur aus. Scheerbart sah unsere Kultur als „ein Produkt unserer Architektur“. Seine Überzeugung war: „Wollen wir unsre Kultur auf ein höheres Niveau bringen, so sind wir wohl oder übel gezwungen, unsre Architektur umzuwandeln.“ Weitsichtig forderte er, „den Räumen, in denen wir leben, das Geschlossene zu nehmen“.

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Dazu beitragen sollten einladende Gesten: „Es ist nicht nötig, dass sich die äußeren Türen von selber öffnen, aber wenn sich die inneren Türen von selber öffnen, so ist das wie ein freundliches Entgegenkommen des Hausbesitzers, obgleich er gar keine Handbewegung dazu beizutragen braucht.“ Proben von Scheerbarts Humor erhielt das Publikum in Wendlinghausen durch die hinreißende Lesung des Schauspieler-Duos Andrea Sawatzki und Christian Berkel, das Einblick gab in das Jet-Set-Leben des internationalen Super-Star-Architekten Edgar Krug, der seiner Gattin im Ehevertrag vorschreibt, wie sie sich farblich zu kleiden habe. „Das Kostüm muss zurücktreten vor der Architektur“, heißt es in dem 1914 erschienenen „Damenroman“ mit dem Titel „Das graue Tuch und zehn Prozent Weiß“. Gepflegte Gastlichkeit in und vor den alten Scheunen bot zwischen den Veranstaltungsteilen den Rahmen, um nicht nur Kontakte zu pflegen und vertiefende Gespräche zu führen, sondern auch die Kleiderordnung zu überprüfen. Wie Scheerbart ging es auch Taut um Veränderung der Welt. Gegen den gewaltigen Einsatz der Technik auf den Schlachtfeldern wollte er unübersehbare Signale des Friedens setzen. Zu diesem Zweck schlug er vor, die Bergspitzen und Schluchten der Alpen mit riesigen Konstruktionen aus Stahl, Beton und farbigem Glas zu überbauen. In seinen Schriften beschwor er die Leser: „Seid friedfertig! Ihr könnt alle gut leben, gut gebildet sein und Frieden haben.“ Als am Abend die Sonnenstrahlen durch die Wolken brachen und sich in den Wasserpfützen auf dem Schlosshof spiegelten, wurde das Hochgefühl nachvollziehbar, das Erich Mühsam erfüllte, als er in seinen „Unpolitischen Erinnerungen“ dem Verfasser der Glasarchitektur ein literarisches Denkmal setzte mit den Worten: „Die Zeit wird kommen, die Scheerbarts Lachen wieder lernen wird, das große und befreiende Lachen, das aus dem weiten glücklichen Weltall stammt, wo es keine Not und keine Kriege gibt.“


working quarters at Wendlinghausen palace to pre-First World War Berlin, which had evolved into a centre of modern European art by this time. It was here that Karl Junker crossed paths with the author and prophet of glass architecture Paul Scheerbart and the architect Bruno Taut, whose glass house for the 1914 Werkbund exhibition in Cologne represented the first concrete realisation of Scheerbart’s visions. It is conceivable that, during Junker’s wanderings as an apprentice carpenter, he also called in on Berlin. In 1914, two years after Junker’s death, the Neue Secession in Berlin exhibited works by the Lemgo artist. Like Else Lasker-Schüler or Peter Hille, Paul Scheerbart was part of the artistic avant-garde that formed around Berlin-based musician, theatre critic, gallery-owner and publisher Herwarth Walden. Adolf Behne, likewise an active advocate of modern architecture and art within the “Sturm” circle around Walden, saw in Scheerbart the “veritable patron saint of genuine architecture”. By way of Taut and his “glass chain”, Scheerbart’s views impacted on the Bauhaus movement and coming trends in architecture. Scheerbart saw our culture as “a product of our architecture”. He was convinced that, “if we wish to take our culture to a higher plane, then we are compelled to transform our architecture for good or evil”. He presciently demanded that “the spaces in which we live must be opened up”. Inviting gestures were to play a part in this: “It is not necessary for the outer doors to open on their own, but, if the inner doors do so, it is tantamount to an act of welcoming friendliness by the house owners without their actually having to do anything.” The audience in Wendlinghausen was provided with a taste of Scheerbart’s humour through the captivating delivery of thespian duo Andrea Sawatzki and Christian Berkel. They gave us a glimpse of the jet-set life of international superstar architect Edgar Krug, who actually laid down the colours his wife should wear in their marriage contract. One passage in the “ladies’ novel published in 1914 under the title “Grey cloth and ten per-

cent white” runs thus: “Your attire must not dominate the architecture”. Stylish hospitality in and outside the old barns provided an opportunity in between sessions not only for nurturing contacts and discussing matters in depth but also for checking one’s dress sense. Scheerbart and Taut were both intent on changing the world. The latter sought to counter the massive use of technology on the battlefields with peace signals that no one would be able to ignore. To this end he proposed covering the peaks and valleys of the Alps with huge structures in steel, concrete and coloured glass. In his writings he pleaded: “Be peace-loving! You can all live well, be well educated and have peace.” As the sun’s rays broke through the clouds in the evening and bounced back off the puddles in the palace courtyard, it was possible to share the sense of elation felt by Erich Mühsam as expressed in the literary memorial he erects to the author of glass architecture in his “Apolitical Memoirs”: “An age will come that can reappropriate Scheerbart’s laugh, that big, liberating laugh that emanates from the happy expanses of outer space, where there is no need and no war.”

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Wege zur Architektur 7 Herausgeber Franz Schneider Brakel GmbH + Co KG Nieheimer Straße 38 33034 Brakel © für diese Ausgabe Literaturbüro Ostwestfalen-Lippe, Detmold + Herausgeber FSB © Text Bauen wie im Traum Bettina Rudhof © Text Die inneren Türen öffnen Christine Longère © Bildfolgen Junkerhaus S. 8–47 Steinhaus S. 90–131 Gerhard Milting © Bildfolge Besucher S. 140–143 Christine Longère, Gerhard Milting Gestaltung und Satz Gerhard Milting Bildbearbeitung Gerhard Milting, alphaBIT Lektorat Dr. Oliver Schöner Projektmanagement Christian Riepe Druck Grafisches Centrum Cuno Gesetzt aus der Trade Gothic Einmaliger Privatdruck des Herausgebers FSB Printed in Germany September 2010

© Abbildungen zum Text Bauen wie im Traum: S. 52 Atelier Hans Makart S. 55 Haus von Federico Zuccari S. 58 Red House und Stuhl von William Morris S. 62 Vitruvianische Urhütte S. 63 James Hall S. 63 Viollet-le-Duc S. 64 Minakshi-Tempel S. 67 Antoni Gaudí S. 68/69 Atelier von Ernst Ludwig Kirchner S. 77 MERZ-Bau von Kurt Schwitters Abbildungen mit freundlicher Genehmigung des wissenschaftlichen Bildarchivs KOR, des Kunstgeschichtlichen Instituts der Goethe-Universität Frankfurt am Main. S. 53 Junkers Eintrag in das Matrikelbuch Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Akademie der Bildenden Künste München S. 56 Modell des Junkerhauses S. 57 Junkers italienisches Skizzenbuch Foto Gerhard Milting Abbildungen mit freundlicher Genehmigung des Museum Junkerhaus, Lemgo S. 61 Netzgebilde im Junkerhaus Foto Gerhard Milting S. 61 Gestrüpp Foto Bettina Rudhof S. 65 Temple de la Nature Foto Christophe Bonin Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Palais Idéal du Facteur Cheval S. 72 bis 75 Hoetger Alle vier Abbildungen aus Worpswede und Bremen mit freundlicher Genehmigung von Iris Geiger, Hoetger-Haus Worpswede, www.daskreativehaus.de S. 78 Wohnhaus von Frank Gehry Foto Heinrich Klotz Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Architekturmuseums Frankfurt am Main S. 85 Günther Domenig Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Architekturbüros Domenig & Wallner, Graz

Museum Junkerhaus Lemgo Hamelner Straße 36 32657 Lemgo 05261 667695 museen@lemgo.de 1. April bis 31. Oktober Dienstag bis Sonntag 10 bis 17 Uhr Montag geschlossen 1. November bis 31. März Freitag bis Sonntag 11 bis 15 Uhr Die Instandsetzung und Restaurierung des Junkerhauses wurde durch die Nordrhein-Westfalen-Stiftung finanziert.


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