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Immer weiter fragen
Fotos: Manuel Miethe, Text: Eva Maria Schneider
Inmitten der Hackeschen Höfe liegt der Eingang zum Anne Frank Zentrum. Der Lernort gibt Besuchern einen Einblick in das nur fünfzehnjährige Leben von Anne Frank. Ihr Tagebuch wurde weltberühmt und in 70 Sprachen übersetzt. Sie schrieb es von 1942 bis 1944 in einem Amsterdamer Hinterhaus, wo sich die jüdische Familie Frank vor den Nazis verstecken musste. Die Historikerinnen Veronika Nahm und Giulia Tonelli haben die Ausstellung „Alles über Anne“ konzipiert.
Unter den Füßen sind Erhebungen zu spüren. Sie weisen den Weg durch die Räume des Anne Frank Zentrums: entlang der Wände mit Video-Interviews, Fotos und Briefen, einer Bibliothek mit vielen Tagebüchern bis hin zu einem kleinen rot-weiß-karierten Buch, Annes Tagebucheinband. Viele Familien und Schulklassen besuchen die Ausstellung, die komplett barrierefrei gestaltet ist. In „Alles über Anne“ wird Antisemitismus in der Geschichte und Gegenwart thematisiert. Vor allem jungen Menschen soll hier ein Raum geschaffen werden, sich mit der Zeit des Nationalsozialismus und des Holocausts intensiv auseinanderzusetzen.
Über Unbegreifliches sprechen
Veronika Nahm leitet seit fünf Jahren den Bereich Ausstellung und Pädagogik im Anne Frank Zentrum. „Das Medium, um mit Kindern den Holocaust zu thematisieren, ist das Gespräch. Kein Film, kein Spiel, keine Fotos“, erklärt sie. Die Kinder können Fragen stellen und erhalten möglichst genaue Antworten. Nur, wenn weiter gefragt wird, wird auch weiter geantwortet. „Die Biografie ist ein guter Weg, ein solch schweres Thema mit Kindern zu besprechen, denn sie ist nachvollziehbar“, sagt Giulia Tonelli. Die Historikerin arbeitet seit 2014 als Bildungsreferentin am Anne Frank Zentrum. Zu Holocaust-Gedenkstätten sowie Bildungs- und Lernorten weltweit stehen sie und das ganze Team dabei in ständigem Austausch, auch was die Vermittlung und das pädagogische Konzept angeht. „Für die Jüngeren arbeiten wir auch mit Biografien von Kindern, die überlebt haben“, sagt Veronika Nahm. „Aber die Shoah bleibt ein Massenmord und den können wir nicht ohne Tote erzählen.“ Anne Frank verbrachte ihre Kindheit in Frankfurt am Main. 1934 musste die Familie vor den Nationalsozialisten nach Amsterdam fliehen. Wenige Jahre später fielen NS-Truppen auch in den Niederlanden ein. Die Familie Frank war gezwungen, sich ab 1942 in einem Hinterhaus zu verstecken. Im Laufe
der Zeit nahmen sie noch weitere Verfolgte auf. Nachdem ihr Versteck verraten worden war, wurden die Familien Frank und Pels sowie Fritz Pfeffer 1944 verhaftet und deportiert. Mutter Edith starb im Konzentrationslager Auschwitz, die Schwestern Anne und Margot starben im Februar 1945 im KZ Bergen-Belsen. Sie sind zwei von über einer Million durch die Nationalsozialisten ermordeter Kinder. Vater Otto Frank überlebte als einziger der Familie. „Die Geschichte der Familie Frank wurde weltberühmt, weil Anne zwei Jahre lang Tagebuch geschrieben hat, fast jeden Tag. Sie wollte Schriftstellerin werden“, erklärt Giulia Tonelli. „Annes Vater hat sich sehr dafür eingesetzt, dass diese Geschichte für andere Jugendliche zugänglich wird und sie dadurch die Möglichkeit haben, zu reflektieren, wie man Antisemitismus und Diskriminierung in dieser Gesellschaft entgegenwirken kann.“
Von Gleichaltrigen lernen
Die Peer Education ist im Anne Frank Zentrum ein Ansatz, diesen Zugang zu schaffen. Jugendliche können hier andere junge Menschen durch die Ausstellung begleiten. Dafür organisiert Giulia Tonelli regelmäßig Fortbildungen und Workshops, in denen die Peers ihr Wissen vertiefen. Veronika Nahm fing vor 17 Jahren selbst als Geschichtsstudentin am Anne Frank Zentrum an. Sie findet es wichtig, jungen interessierten Menschen Vertrauen zu schenken und ihnen die Möglichkeit zu geben, Gesellschaft mitzugestalten und zu verändern.
Bildungsarbeit ist für sie niemals langweilig: „Der Blick auf die Geschichte ist von der Gegenwart geprägt. Es werden immer neue Fragen von den Kindern und Jugendlichen aufgeworfen, auch durch die gegenwärtigen Herausforderungen in der Gesellschaft“, sagt die 41-Jährige. Der Gegenwartsbezug ist charakteristisch für das Ausstellungskonzept „Alles über Anne“. „Wir sollten uns über die Geschichte von Anne Fragen ins Heute stellen“, findet auch Giulia Tonelli. Sie sei oft erstaunt, wie sich Kinder und Jugendliche nach einem Besuch des Lernorts innerhalb kurzer Zeit öffnen und über eigene Diskriminierungserfahrungen sprechen. „Wenn wir in die Geschichte schauen, können wir uns sehr genau vor Augen führen, welche Auswirkungen unser Verhalten haben kann“, so Veronika Nahm.
Was passieren kann, wenn wir nicht solidarisch sind und uns nicht stark machen gegen diskriminierende Tendenzen.
Eigene Positionen zu finden und sensibel zu bleiben für Ungerechtigkeiten – das wollen die Pädagoginnen an Kinder und Jugendliche vermitteln. Dafür steht das Anne Frank Zentrum das ganze Jahr über allen interessierten Familien mit einem vielfältigen Begleitangebot offen.