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Niederflurtrams für Verhaltensauffällige
Die Coronapandemie macht uns bewusst, wie kontextabhängig erwünschtes und auffälliges Verhalten ist. Stellen Sie sich vor, eine Studentin der HfH hätte vor zwei Jahren während der Grippezeit nur mit Maske und Abstand an den Vorlesungen teilnehmen wollen. Dieses Verhalten hätten wir wohl als auffällig, vielleicht sogar als störend oder herausfordernd wahrgenommen. Je nach Kontext werden Schwächen zu Behinderungen. Ein Kollege, der im Rollstuhl unterwegs ist, sagte mir einmal: «Ob ich behindert bin oder nicht, hängt davon ab, welches Tram kommt. Ist es ein Niederflurtram, bin ich beim Einsteigen nicht behindert.» Eine Schule für alle nutzt ihre Möglichkeiten, neben der besonderen Förderung, auch den Schulkontext so zu gestalten, dass niemand beim Lernen und Teilhaben behindert wird. Für Schülerinnen und Schüler mit einer Körperbehinderung ist es meist of fensichtlich, dass bauliche Anpassungen oder Assistenzleistungen in herausfordernden Situationen, beispielsweise beim Umziehen in der Turnhallengarderobe, notwendig sind. Aber auch Kinder und Jugendliche mit Verhaltensschwierigkeiten benötigen Hilfestellungen oder Assistenzleistungen, insbesondere im Rahmen wenig strukturierter sozialer Kontexte: zum Beispiel während der Pause oder bei Gruppenarbeiten. Herausforderndes Verhalten ist häufig eine unbeholfene Reaktion auf überfordernde soziale Situationen im Schulalltag. Bei der Gestaltung eines Schulalltags, der Schülerinnen und Schüler mit besonderem Bildungsbedarf nicht behindert, spielen sonderpädagogische Fachpersonen eine zentrale Rolle. Aufgrund ihres Fachwissens können sie antizipieren, welche Alltagssituationen eine Schülerin oder einen Schüler überfordern und welche Unterstützungsmassnahmen präventiv geeignet sind. Deshalb spielen Kompetenzen in der Beratung und in der multiprofessionellen Zusammenarbeit eine immer wichtigere Rolle. Die neu konzipierte Masterausbildung Schulische Heilpädagogik befähigt die Studierenden auch dazu, Lehrpersonen bei der Gestaltung eines in jeder Beziehung barrierefreien Unterrichts und Schulalltags zu beraten und zu unterstützen. Dies ist insbesondere auch für Schülerinnen und Schüler mit herausforderndem Verhalten notwendig – sie benötigen mehr «schulische Niederflurtrams».
Philippe Dietiker, Leiter Abteilung Sonderpädagogisches, Volksschulamt, Bildungsdirektion Kanton Zürich, Mitglied des Hochschulrats
«Sonderpädagogische Fachpersonen können antizipieren, welche Unter‑ stützungsmassnahmen für Schülerinnen und Schüler geeignet sind.»