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Gesundes Altern“ messbar machen – die Möglichkeiten, die uns mobile Datenerhebungsgeräte eröffnen
from Leseprobe NOVAcura 1/2020
by Hogrefe
Alexander Seifert
Wie kann digitale Datenerhebung im Alltag helfen?
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Die WHO postuliert eine Strategie des „gesunden Alterns“. Wie aber können wir dieses gesunde Altern im Alltag messen? Zum Beispiel mithilfe mobiler Erhebungsinstrumente. Das Gesundheits- und Sozialverhalten einer Person kann heute im Alltag mit einem Smartphone gemessen werden. Der folgende Beitrag informiert über die Vorteile ihres Einsatzes für die Forschung und stellt die Messmethode anhand einer Studie zu Nachbarschaftskontakten vor.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert in ihrem neuen Ansatz von 2015 „gesundes Altern“ als einen dynamischen, vom Individuum definierten und mitgesteuerten Prozess (WHO 2015). Anstelle einer meist kontextfreien Untersuchung einzelner krankheitsdefinierender Symptome wird nun der Blick auf die individualisierte Erhaltung der Lebensqualität im Alltag gerichtet (Oppikofer 2016). Demnach bewertet jedes Individuum die Lebensbereiche, die ihm für den Erhalt seiner Lebensqualität persönlich wichtig sind, selbst. Hinzukommend wird die Lebensqualität aber nicht nur von
der Person geprägt, sondern auch von den kontextuellen Bedingungen, in denen diese Person lebt. Das bedeutet, dass nicht nur die individualisierte Lebensqualität erfasst werden muss, sondern auch der Kontext, in dem soziales Verhalten erfolgt. Eine Möglichkeit, diese Erfassung in den Alltag der jeweiligen Personen zu integrieren, ist die Messung verschiedener Alltagsdaten mit einem mobilen Datenerhebungsgerät, in unserem Beispiel einem handelsüblichen Smartphone. Mittels der alltagsnahen Erfassung der jeweiligen kontextualisierten Lebensqualität können Aussagen darüber getroffen werden, was Menschen im Alltag wohl oder unwohl stimmt bzw. ihre Lebensqualität stabilisiert.
Die Vorteile der mobilen Datenerfassung
Wie bereits erwähnt, sind Smartphones dazu geeignet, die Lebensqualität oder andere relevante Gesundheits und Sozialverhaltensdaten im Alltag zu erfassen. Diese Messmethode ermöglicht es, Gedanken, Gefühle, Verhaltensweisen oder physiologische Prozesse älterer Menschen mithilfe einer App zu messen und zu verfolgen (Seifert, Hofer & Allemand 2018). Das Hauptziel der mobilen Datenerfassung ist das Sammeln aktiver Daten (z. B. subjektive Selbstberichte) und / oder passiver Daten (z. B. sensorbasierte Daten vom Smartphone). Diese Methode erfreut sich aufgrund ihrer vielen Vorteile einer zunehmenden Beliebtheit: Erstens werden Informationen direkt aus dem Alltag und der realen Umgebung der Probanden gewonnen; zweitens werden die Berichte im Moment gesammelt und sind daher weniger anfällig als retrospektive Beurteilungen; drittens erfassen intensive, wiederholte Messungen eines Teilnehmers personenbezogene und situationsbasierte Daten; viertens sind solche Alltagsdaten reich an kontextuellen Informationen, da sie die Kombination von Selbstberichten und objektiven Kontextinformationen ermöglichen; und fünftens sind Smartphones als Messgeräte sowohl leistungsfähig als auch in der Bevölkerung weitverbreitet. Mittels einer App können die Probanden mehrmals täglich z. B. angeben, wie sie sich gerade fühlen oder mit wem sie gerade Kontakt haben; parallel dazu kann – durch die Sensoren auf dem Smartphone – z. B. erhoben werden, wie räumlich aktiv die Person in dieser Zeit war. Hierbei können Zusammenhänge hergestellt werden; so z. B. in welchen Stadtgebieten, in denen wir unterwegs sind, wir uns mehr oder weniger wohlfühlen.
Das Beispiel Nachbarschaftskontakte im Alter
Wir alle leben in einer Nachbarschaft, und unser Umgang mit unseren Nachbarn lässt sich auch anhand der Häufigkeit der Kontakte zu ihnen messen. Diese Kontakte, in Form einer lebendigen Nachbarschaftlichkeit, können eine Ressource zur Bewältigung des Alltags im Alter sein. Aber wie genau zeigt sich der Kontakt zu den Nachbarn im täglichen Lebenskontext und wie beeinflusst dieser Kontakt das eigene Wohlbefinden, die Einsamkeit und die Verbundenheit mit der Nachbarschaft? Dieser Frage ist 2018 eine sozialwissenschaftliche Studie im Rahmen des Universitären Forschungsschwerpunktes (UFSP) „Dynamik Gesunden Alterns“ der Universität Zürich unter Leitung von Alexander Seifert nachgegangen. Das Projekt beinhaltete eine mikrolängsschnittliche Erfassung von Alltagsdaten zur Bedeutung der Nachbarschaftlichkeit bei älteren Menschen (Seifert 2018). Drei Wochen lang wurden hierzu 77 ältere Zürcherinnen und Zürcher ab 61 Jahren dreimal täglich mithilfe eines (ausgeliehenen) Smartphones zur Intensität ihrer Nachbarschaftskontakte und zu ihrem individuellen täglichen Wohlbefinden befragt.
Die ersten Ergebnisse zeigen, dass im Durchschnitt knapp ein Fünftel aller Teilnehmenden über 20 Tage Kontakte mit den Nachbarn hatte. In den allermeisten Fällen waren dies Kontakte, die länger als zwei Minuten dauerten und somit mehr als nur ein „Hallosagen“ beinhalteten. Dabei fanden die Kontakte mit den Nachbarn seltener statt als Kontakte mit Freunden (32 %), aber häufiger als Kontakte mit den eigenen Kindern (13 %). Ein Drittel der Kontakte ergab sich zufällig bzw. spielte sich ausserhalb des Wohngebäudes ab. In immerhin sieben Prozent aller Beobachtungen wurde nachbarschaftliche Hilfe erbracht oder angenommen. Aus dem subjektiven Stellenwert, der der Nachbarschaft eingeräumt wird, lässt sich die Häufigkeit nachbarschaftlicher Kontakte voraussagen. Auch leisten Frauen häufiger Nachbarschaftshilfe als Männer. Gerade bei den Nachbarschaftskontakten lassen sich tägliche Unterschiede erkennen. Die reichhaltigen Alltagsdaten zeigen zum Beispiel, dass Nachbarschaftskontakte zwar nicht direkt mit dem täglichen Wohlbefinden zusammenhängen, aber sehr wohl mit dem Gefühl einhergehen, nicht allein zu sein, und die Verbundenheit mit der Nachbarschaft fördern.
Mithilfe der mobilen Datenerfassung per Smartphone war es möglich, die tatsächlichen Nachbarschaftskontakte im Alltag zu erfassen, sichtbar zu machen und aufzuzeigen, dass diese je nach Situation – und damit also nicht nur je nach Person – variieren. Dieses Vorgehen ist aussagekräftiger als eine einmalige Befragung der Probanden nach der ungefähren Häufigkeit ihrer nachbarschaftlichen Kontakte in den letzten Wochen.
Verwendung der Daten für die Gesundheitsforschung
Aus der Perspektive der Gesundheitsforschung und praxis liegt der Hauptgrund für das mobile Messen von Gesundheitsdaten in dem erwarteten Effekt auf das Gesundheitsverhalten und das Wohlbefinden. Um aber die individuellen Zusammenhänge zwischen den erhobenen Daten und dem individuellem Wohlbefinden besser verstehen und um individualisierte Interventionen zur Verhaltensän
derung entwickeln zu können, braucht die Forschung Zugang zu den von den Probanden selbst erhobenen Daten. Seifert, Christen und Martin (2018) sind daher der Frage nachgegangen, ob ältere Schweizerinnen und Schweizer bereit wären, ihre selbst erhobenen Daten für die Forschung freizugeben. Sie stellten fest, dass dies etwa die Hälfte der befragten Personen tun würde. Für das Individuum würde sich hieraus ein Mehrwert ergeben, da dieses Vorgehen auch die Entwicklung individualisierter gesundheitsbezogener Interventionen ermöglichen würde. So könnten beispielsweise nach einem Spitalaufenthalt die vor dem Spitaleintritt per Smartphone aufgezeichneten Gesundheitsdaten Patienten und Ärzten helfen, individuell zu beurteilen, wie sich der Spitalaufenthalt ausgewirkt hat (z. B. über einen Vergleich der Bewegungsmuster vor und nach dem Aufenthalt) und welche Aktivitäten vom Patienten als angenehm empfunden werden.
Bezug zum Betreuungs- und Pflegealltag
Der Einsatz mobiler Geräte (z. B. eines Smartphones) innerhalb der Betreuung und Pflege von älteren Menschen liegt vielleicht nicht direkt auf der Hand. Dennoch gibt es neben dem Nutzen für die Forschung – der Erhebung /Auswertung verlässlicher, individualisierter und alltagsbezogener Daten zur Planung individueller Interventionen – auch die Möglichkeit, von den genannten Vorteilen auch im Betreuungs und Pflegealltag Gebrauch zu machen. Auch wenn hier die Validität nicht immer bestätigt ist, könnten diese „Alltagshelfer“ auch dafür eingesetzt werden, um Aktivitäten, Bewegungen und Vitaldaten im Alltag zu erheben und an die behandelnden Ärzte weiterzuleiten. Neben dem reinen Sammeln von Daten könnten innovative Apps es auch ermöglichen, dass diese Daten einerseits gleich in die Pflegedokumentation überführt werden und dass andererseits auch die Patientinnen und Patienten und deren Angehörige eine Informations und Datengrundlage haben, mit der sie z. B. auch Veränderungen frühzeitig selbst erkennen können. Hier werden in der Zukunft vermutlich noch mehr Anwendungsbereiche ersichtlich. Selbstverständlich sollten dabei auch weiterhin Datenschutzbedenken und andere ethische Vorbehalte nicht vernachlässigt und die Notwendigkeit dieser mit allen Beteiligten bilanziert und diskutiert werden.
Literatur
Oppikofer, S. (2018). Gesundheit und Lebensqualität im Alter:
Neues Strategiepapier der WHO. Gerontologieblog.Ch. Verfügbar unter https://gerontologieblog.ch/?s=Gesundheit+und+Le bensqualit%C3%A4t+im+Alter Seifert, A., Christen, M. & Martin, M. (2018). Willingness of Older
Adults to Share Mobile Health Data with Researchers. Gero-
Psych, 31(1), 41–49. https://doi.org/10.1024/1662-9647/a000181 Seifert, A., Hofer, M. & Allemand, M. (2018). Mobile Data Collection:
Smart, but Not (Yet) Smart Enough. Frontiers in Neuroscience, 12. https://doi.org/10.3389/fnins.2018.00971 WHO. (2015). World report on ageing and health. Geneva, Switzerland: World Health Organization.
Dr. Alexander Seifert
MA, Dipl.-Sozialpäd., Bereichsleiter „Forschung“ am Zentrum für Gerontologie (ZfG) der Universität Zürich
alexander.seifert@zfg.uzh.ch
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