Jahrgang 3 / Heft 1 / 2018
Herausgeber/innen Sabine Hahn Bruno Hemkendreis Michael Löhr Dorothea Sauter Gianfranco Zuaboni
Psychiatrische Pflege
Akademische Fachgesellschaft Psychiatrische Pflege
Themenschwerpunkt Sexualisierte Gewalt
Geschäftsführender Herausgeber Michael Schulz
Sexualisierte Gewalt erkennen, aufdecken und verhindern
Werner Tschan
Sexualisierte Gewalt Praxishandbuch zur Prävention von sexuellen Grenzverletzungen bei Menschen mit Behinderungen Mit einem Geleitwort von Monika Egli-Alge / Heinz Siegwart. 2012. 204 S., 8 Abb., 2 Tab., Kt € 28,95 / CHF 39.50 ISBN 978-3-456-85109-9 Auch als eBook erhältlich
In diesem Buch werden Fälle thematisiert und analysiert, in denen Fachleute Menschen mit geistiger Behinderung, die man ihnen zum Schutz anvertraut hat, Gewalt angetan haben. Sachlich klärt der erfahrene Autor über Mythen und Fakten sexualisierter Gewalt auf. Weiter zeigt er die Bedeutung der Sexualpädago-
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gik für eine nachhaltige Prävention auf. Er gibt Betroffenen eine Stimme, bricht das Schweigen, schaut hin und ermutigt alle Betroffenen, miteinander zu reden und gemeinsam zu handeln, um sexualisierte Gewalt frühzeitig zu erkennen, aufzudecken und zu verhindern.
Psychiatrische Pflege
Jahrgang 3 / Heft 1 / 2018
Themenschwerpunkt Sexualisierte Gewalt Geschäftsführender Herausgeber Michael Schulz Herausgeber/innen Sabine Hahn Bruno Hemkendreis Michael Löhr Dorothea Sauter Gianfranco Zuaboni
Geschäftsführender Herausgeber
Prof. Dr. Michael Schulz, Bielefeld
Herausgeber/innen
Prof. Dr. Sabine Hahn, Bern Bruno Hemkendreis, Gütersloh Prof. Dr. Michael Löhr, Bielefeld Dorothea Sauter, Bielefeld Gianfranco Zuaboni, Kilchberg
Redaktion
Christoph Müller, PsychiatrischePflege@hogrefe.ch
Verlag
Verlag Hogrefe AG, Länggass-Strasse 76, Postfach, CH-3000 Bern 9, Tel. +41 (0) 31 300 45 00, zeitschriften@hogrefe.ch, www.hogrefe.ch
Anzeigenleitung
Josef Nietlispach, Tel. +41 (0) 31 300 45 69, inserate@hogrefe.ch
Herstellung
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Satz
punktgenau GmbH, Bühl
Druck
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Institute: € 198.– / CHF 260.– Private: € 98.– / CHF 130.– Lernende: € 48.– / CHF 65.– zzgl. Porto- und Versandgebühren: Schweiz: CHF 14.– Europa: € 12.– Übrige Länder: CHF 26.– Einzelheft: € 22.–/CHF 28.– zzgl. Porto- und Versandgebühren
Erscheinungsweise
6 Hefte jährlich (= 1 Band) © 2018 Hogrefe AG, Bern ISSN-L 2297-6965 ISSN 2297-6965 (Print) ISSN 2297-6973 (online)
Titelbild
© Ulrich-Thomas Pommerin; Foto: Alexey Kovalev Die Psychiatrische Pflege ist das offizielle Mitgliederorgan der Akademischen Fachgesellschaft Psychiatrische Pflege Die Psychiatrische Pflege ist das offizielle Verbandsorgan der Bundesfachvereinigung leitender Krankenpflegepersonen der Psychiatrie BFLK Die Psychiatrische Pflege ist das offizielle Verbandsorgan der Deutschen Fachgesellschaft für Psychiatrische Pflege DFPP Die Psychiatrische Pflege ist das offizielle Mitgliederorgan des Vereins Ambulante Psychiatrische Pflege VAPP Für die Anzeigen zeichnet sich der Verlag verantwortlich
Inhalt Editorial
Umgang mit Nähe und Distanz folgt individuellen Regeln
5
Michael Schulz, Dorothea Sauter Brunos Universum
7
Höher, weiter, länger Bruno Hemkendreis
Schwerpunkt
Transsensibilität statt Diskriminierung – Wirksame Hilfen beim Transitionsprozess
9
Nadine van Peeren Beziehungsgestaltung in der Zusammenarbeit mit Menschen mit sexuellen Gewalterfahrungen
13
Dorothea Sauter, Jacqueline Rixe 19
Sexualisierte Gewalt im Maßregelvollzug Wolfgang Peiffer, Andreas Gerke, Muriel Hecht Aufklärung und Auswege finden – Die Behandlung von sexuell devianten Jugendlichen
23
Jutta Benz, Michael Loureiro Prati Kamingespräch
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Sexuelle Übergriffe zum Thema machen Sabine Hahn
Quintessenz
Das Trauma aus zweiter Hand – Sekundäre Traumatisierungen von psychiatrisch Pflegenden
29
Anja Maria Reichel Freie Beiträge
Schwer verdaulich – Zum Phänomen des intendierten Fremdkörperschluckens im Kontext der forensischen Psychiatrie – Probleme, Nöte und Lösungswege
31
Susanne Schoppmann Psychiatrie Inklusiv – Menschen mit Lernbehinderungen und psychischen Störungen begleiten
35
Petra Ott-Ordelheide Neuanfang – Teilhabe für die Psychiatrie in Deutschland
41
Hansgeorg Ließem Schmerz – Herausforderung für die Pflege. Schmerzmanagement in Psychosomatik und Psychotherapie
47
Switlana Endrikat Lebensqualität psychisch erkrankter pflegebedürftiger betagter Menschen im Pflegeheim
53
Andreas Egger, Sabine Hahn Interview
Anschaulich Psychatrie näherbringen – Interview mit Curd Nickel
59
Christoph Müller Rezensionen
61
Wissens- und Verständnisquelle Günter Storck Praxistauglich – Arbeitshilfe beschäftigt sich mit Hoffnung und Trost
62
André Nienaber © 2018 Hogrefe
Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 3–4
Inhalt
Kunst und Psyche
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Ebenso einladend wie merkwürdig – Der Künstler Ulrich-Thomas Pommerin Beate Steffens
What’s new, Susanna?
Susanna Flansburg
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Verbandsmitteilungen
Mitteilungen der Akademischen Fachgesellschaft Psychiatrische Pflege
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Mitteilungen der Bundesfachvereinigung leitender Krankenpflegepersonen der Psychiatrie e. V.
66
Mitteilungen der Deutschen Fachgesellschaft Psychiatrische Pflege
68
Mitteilungen des Vereins Ambulante Psychiatrische Pflege
71
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Pflegediagnosen bei Menschen mit psychischen Störungen anwenden Mary C. Townsend
Pflegediagnosen und Pflegemaßnahmen für die psychiatrische Pflege Handbuch zur Pflegeplanerstellung Deutsche Ausgabe herausgegeben von Christoph Abderhalden / Ian Needham. Übersetzt von Gernot Walter / Thomas Fischer / Michael Herrmann. 3., vollst. überarb. u. erw. Aufl. 2012. 928 S., 5 Abb., 16 Tab., Gb € 49,95 / CHF 66.90 ISBN 978-3-456-83944-8 Pflegediagnosen helfen menschliche Reaktionen auf aktuelle und potenzielle Gesundheitsprobleme zu erkennen, zu benennen und zu behandeln. Das erfolgreiche Praxishandbuch ordnet die jeweils
wichtigsten Pflegediagnosen psychiatrischen Krankheitsbildern zu, die nach DSM-IV gegliedert sind und schlägt Pflegemaßnahmen zum Umgang mit diesen Problemen vor.
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Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 3–4
© 2018 Hogrefe
Editorial
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Umgang mit Nähe und Distanz folgt individuellen Regeln
D
as Thema „Sexualität“ ist in der Pflege noch immer ein Tabu. Die Pflegewissenschaftlerin Sonja Kleinevers sieht die Gründe dafür in der historischen Entwicklung des Frauenberufs „Pflege“. Der Widerspruch ist für sie in traditionsbedingter beruflicher „Asexualität“ einerseits und dem Durchbrechen der Intimsphäre andererseits in der Berufsrolle angelegt. Da Pflegende ebensowenig asexuelle Wesen sind, wie die zu pflegenden Patientinnen und Patienten, gilt es für jede Pflegeperson einen Umgang mit diesem Thema zu finden. Erfahrungsgemäß gibt es in der Ausbildung eher wenig Hilfestellung. Der Umgang mit kleineren oder größeren Übergriffen ist in vielen Institutionen so geregelt, dass die Betroffenen sich nicht wirklich geschützt fühlen. Die Tabuisierung der Sexualität trägt zur Entstehung und Aufrechterhaltung sexualisierter Gewalt wesentlich bei. Sexualisierte Gewalt hat sehr viele Formen und Gesichter. Sie wird vom Opfer her definiert. Nicht immer ist sie seitens der Täter beabsichtigt oder bewusst. Gewalterfahrungen sind Thema vieler Patientinnen und Patienten, weil sie in Ihrer Lebensgeschichte Opfer oder Täter oder beides geworden sind. Die Hilfeinstitutionen sind anfällig für sexualisierte Gewalt. Pflegefachpersonen können selbst zu Opfern oder zu Tätern werden.
falen zurückgelassen. Dort hatten Pflegende im Nachtdienst offenbar sexuelle Verhältnisse mit Untergebrachten. Hier stellt sich die Frage, wie eine solche Form der Grenzüberschreitung möglich ist. Der professionelle Umgang mit Nähe und Distanz folgt individuellen Regeln, unterliegt aber auch ebenso kulturellen, gesellschaftlichen und professionellen Einflüssen und bedarf der Reflektion. In psychiatrischen Settings – aber nicht nur dort – müssen Pflegende zudem therapeutische Fähigkeiten entwickeln, um im interdisziplinären Team und im Sinne der helfenden Beziehung hier für ein gutes Ergebnis zu sorgen. In eigener Sache dürfen wir Sie noch darüber informieren, dass nun auch die Akademische Fachgesellschaft Psychiatrische Pflege in der Schweiz diese Zeitschrift als Organ nutzt. Wir begrüssen die neuen Leserinnen und Leser herzlich und freuen uns über Beiträge, Anregungen und den fachlichen Austausch. Im Namen des Herausgeber-Teams wünschen wir Ihnen eine anregende Lektüre und einen guten Start ins Jahr 2018! Ihr Michael Schulz und Ihre Dorothea Sauter
Literatur Therapeutische Fähigkeiten entwickeln In der psychiatrischen Pflege begegnet uns das Thema demnach in sehr vielfältiger Form. Häufig ist es Gegenstand therapeutischer Maßnahmen. So kommt es vor, dass in der Kinder- und Jugendpsychiatrie therapeutisch bzw. pflegetherapeutisch interveniert wird, weil bei Jugendlichen ein problematisches Sexualverhalten zu Problemen im Leben führt. Ebenso treffen Pflegende in der Forensik auf Patienten, die wegen Sexualdelikten untergebracht sind. Viele der Patientinnen und Patienten, die in psychiatrischen Settings betreut werden, haben in ihrer Vergangenheit Gewalterfahrungen unterschiedlichster Art erlebt. Zu diesen Themen finden sich in dieser Ausgabe Artikel. Denn das Thema – so die einhellige Meinung im Herausgeber-Team – ist ohne gesellschaftliche Debatte schon anspruchsvoll. Materialien zur fundierten Fach- und Meinungsbildung sind unbedingt notwendig. Verstört hat uns in diesem Zusammenhang die Nachricht aus einer Maßregelvollzugsklinik in Nordrhein-West-
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Kleinevers, S. (2004). Sexualität und Pflege. Bewusstmachung einer verdeckten Realität. Hannover: Schlütersche Verlagsgesellschaft.
Prof. Dr. Michael Schulz Lehrstuhl Psychiatrische Pflege an der Fachhochschule der Diakonie Bielefeld, geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Psychiatrische Pflege
Dorothea Sauter M. Sc. Gesundheits-und Pflegewissenschaften, B. A. Psychiatrische Pflege/Psychische Gesundheit, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fachhochschule der Diakonie Bielefeld, Vize-Präsidentin der Deutschen Fachgesellschaft Psychiatrische Pflege
Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 5 https://doi.org/10.1024/2297-6965/a000147
Rheingau
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Brunos Universum
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Höher, weiter, länger Bruno Hemkendreis
A
ls ich Kind war, habe ich gerne mit anderen Jungs „Herr auf dem Berg“ gespielt. Es ging bei dem Spiel darum, sich oben auf einem Sandhaufen gegen die Anderen behaupten zu können. Wer am längsten oben blieb, war der „Herr auf dem Berg“. Mit zunehmendem Alter wurde das Spiel zu kindlich und folglich abgelöst von einem anderem, welches aber nur im Geheimen gespielt werden konnte: wer kann am weitesten pinkeln? Wir Jungs lieben ja derartige Wettbewerbe und entwickeln sie immer weiter, indem wir sie an unsere körperlichen und geistigen Fähigkeiten anpassen. Irgendwann im Jugendalter kam das „Stiefeltrinken“, eine Vorform des Komasaufens, dann Wettfahrten mit der frisierten Kreidler oder Zündapp. Übrigens ging nur entweder die eine oder die andere Moped-Marke. Das war ähnlich fundamental wie die Gretchenfrage jener Zeit: „Hörst Du Beatles oder Stones?“ Sowohl … als auch … – dies war ein absolutes No-Go. Dann kamen die Autos ins Spiel. Es funktionierte ähnlich wie die Autoquartett-Kartenspiele. Wer hat am meisten PS zu bieten? Eine brillante Erfindung sind auch die SUVs, weil es die in XXXL gibt. Leider konnte ich das Spiel „Wer hat den Größten?“ nie mitspielen. Die Einkommen in der Pflege geben es einfach nicht her. Einige Jahre später durfte ich des Öfteren in verschiedenen Gremien im Gesundheitswesen sitzen, in denen es nur so von Professoren, Eminenzen, Silberrücken und ausgewiesenen Experten wimmelte. Viele Sitzungen und Diskussionen erinnerten mich an das alte „Herr-auf-dem-BergSpiel“. Es ging letztlich darum, wer sich am längsten auf dem Gipfel behaupten konnte. Nicht selten verschwanden die – eigentlich – wichtigen Inhalte komplett in den Hintergrund. Ähnliches kennt man auch aus der Politik. Ein bekannter, aber hier unbenannter Wissenschaftler brachte es bei einem gemeinsamen Abendessen nach einem großen Kongress und nach einigen Gläsern Wein unverblümt auf den Punkt: „Es geht doch immer nur darum, wer den Längsten hat.“
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Wer die längste Narbe hat Kurz vor der Rente: Vor dem Eingang einer Kurklinik für Herz- und Lungenkrankheiten luden bei herrlichem Wetter mehrere Bänke zum Verweilen ein. Ich suchte mir einen schönen Sonnenplatz. Nach wenigen Minuten gesellte sich ein älterer Herr zu mir, sagte kurz „Hallo“ und erzählte mir ohne Umschweife, dass er mehrere Tage im Koma gelegen habe, wie extrem lang seine Herz-OP-Narbe auf der Brust sei, dass er wohl ein besonders harter Hund sei, denn so etwas überlebe schließlich nicht jeder. Ich hörte erstaunt zu, mehr war auch nicht möglich. Bis sich noch zwei ältere Herren zu uns setzten, sie hatten wohl einige Gesprächsfetzen aufgegriffen und übernahmen kurzerhand selbstbewusst und etwas unsensibel den Gesprächsfaden. Schnell wurde klar, dass sie garantiert schwerere Erkrankungen und kompliziertere Operationen hinter sich hatten als ihr Vorredner. Während der nächsten Tage und Wochen hatte ich die Gelegenheit, immer wieder ähnlichen Gesprächen zu begegnen. Ich fragte mich, ob und warum wir Jungs für unser Selbstbild etwas brauchen, was wir messen und vergleichen können. Wenn Weitpinkeln nicht mehr so gut funktioniert, ebenso der Vergleich, wer den Längsten hat, durch altersbedingte körperliche Veränderungen irgendwie peinlich wird, dann bleibt ja immer noch die Klärung der Frage, wer die längste Narbe hat.
Bruno Hemkendreis Sozial-und Milieupädagoge, Präsident Deutsche Fachgesellschaft Psychiatrische Pflege (DFPP) bruno.hemkendreis@lwl.org
Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 7 https://doi.org/10.1024/2297-6965/a000133
Nicht schweigen, sondern handeln!
Ruth Draths
Fragmente eines Tabus Sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen – über den sensiblen Umgang mit Betroffenen 2017. 104 S., 24 farb. Zeichnungen, Kt € 19,95 / CHF 26.90 ISBN 978-3-456-85710-7 Auch als eBook erhältlich
Dreizehn Geschichten mit dem Erlebnis sexueller Gewalt werden aus der Sicht der Autorin und Jugendgynäkologin geschildert. Während ihrer medizinischen Betreuung stellt sie eine Beziehung zum Opfer her und begleitet die Betroffenen feinfühlig wieder aus dem Dunkeln der Gewalt heraus in ein Leben danach.
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Nichts wird beschönigt, und dennoch macht das Buch Mut, als Opfer den Schritt hinaus zu wagen. Wie zerstörerisch sexuelle Gewalt wirkt, wird nicht nur durch die Geschichten, sondern auch durch berührende Bilder vermittelt, die speziell für dieses Werk erstellt wurden und sich durch das gesamte Buch ziehen. Das Buch wendet sich gegen die Tabuisierung des sexuellen Missbrauchs, es gibt den Opfern eine Stimme und ein Gesicht.
Schwerpunkt
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Transsensibilität statt Diskriminierung Wirksame Hilfen beim Transitionsprozess Nadine van Peeren
Menschen mit einer Transidentität stellen besondere Anforderungen an die Hilfesysteme. Wenig transsensible Hilfen können großen Schaden anrichten und werden oft als Diskriminierung erlebt.
I
n der Internationalen Klassifizierung von Krankheiten (Dilling, Freyberger & Cooper, 2014) wird die Diagnose „Transidentiät“ unter dem Begriff „Transsexualismus“ geführt. Sie fällt unter die „Störungen der Geschlechtsidentität“ (F64.0) und wird somit als eine „Persönlichkeits- und Verhaltensstörung“ klassifiziert. In der Neuauflage für die ICD-11 wird eine nicht pathologisierende Klassifikation außerhalb des Bereichs psychischer und Verhaltensstörungen angestrebt. Dies soll eine Anlehnung an das bereits veröffentlichte DSM-5 sein. Hier wird darunter eine „Geschlechtsdysphorie“ verstanden. Aus diesem Grund wird im weiteren Verlauf der Begriff der „Transidentität“ benutzt, da diese Formulierung aktuell in der Fachwelt benutzt wird und die fälschliche Annahme einer Störung oder gar einer Sexualstörung nicht unterstützt. Transidentität hat nichts mit der Sexualität oder der sexuellen Orientierung zu tun. Transidentität bedeutet das unumstößliche Wissen, dem gesellschaftlich indoktrinierten Geschlecht nicht anzugehören und eine Suche nach der eigenen Geschlechtlichkeit. Rauchfleisch (2016) betrachtet die Transidentiät als Normvariante. Damit ist gemeint, dass diese Menschen genauso psychisch gesund oder psychisch krank sein können, wie alle nicht transidenten Menschen (CIS-Menschen). Darüber hinaus hat Rauchfleisch gemäß der DSM-5 die Auffassung, dass der Leidensdruck durch die Genderinkongruenz entsteht und nicht die Transidentität an sich pathologisch ist. Genderinkongruenz bedeutet, die Differenz zwischen Geschlechtsidentität und dem biologischen Geschlecht.
Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen Im sozialen Umfeld von transidenten Menschen kommt es häufig zu invalidierenden und diskriminierenden Erfahrungen (Göth & Kohn, 2014). Diesen Erfahrungen © 2018 Hogrefe
liegt das geschlechterrollen-non-konforme Verhalten zu Grunde. Ein transidenter Mensch bricht die gesellschaftliche Rollenerwartung und die Grundhaltung der Zweigeschlechtlichkeit und bildet die Grundlage sich wiederholender, belastender Diskriminierungserfahrungen (siehe Kasten „Praxisbeispiel“). Diese Diskriminierungserfahrungen gehen nicht selten mit Gewalt einher und führen teilweise bis hin zu Mord oder in der Folge zum Suizid. Das „Trans Murder Monitoring Project“ von Transgender Europe listete im September 2016 weltweit 2264 recherchierte Morde an Trans*Personen seit Beginn der Zählung im Januar 2008 (Transgender Europe, 2016). In einer deutschen Studie gaben 60 % befragter TransPersonen an, Gewalterfahrungen aufgrund ihres TransSeins gemacht zu haben (LesMigraS, 2012). Laut einer Studie in Nordrhein-Westfalen (Fuchs, Ghattas, Reinert & Widmann, 2012) gaben 73 % der Transmänner und 85 % der Transfrauen an, in den letzten fünf Jahren Diskriminierung erlebt zu haben. 78 % der teilnehmenden Transmänner und 22 % der teilnehmenden Transfrauen haben an Suizid gedacht. Einen Suizidversuch begingen 30 % der teilnehmenden Transmänner und 29 % der teilnehmenden Transfrauen. Eine repräsentative, bevölkerungsgestützte Studie aus Schweden Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 9–12 https://doi.org/10.1024/2297-6965/a000132
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(Dhejne, Lichtenstein, Boman, Johansson, Långström, Landén & Scott, 2011) kam zu dem Ergebnis, dass selbst nach der „geschlechtsangleichenden Operation“ die Suizidrate fast zwanzig Mal höher ist als in der Allgemeinbevölkerung, da nach Abschluss der Transition das bestehende soziale Umfeld die „neue“ gesellschaftliche Rolle nicht anerkennt und es so nicht möglich wird, eine klare gesellschaftliche Rolle einzunehmen. Auch das Minderheiten-Stress-Modell (Meyer, 1995) verweist darauf, dass Angehörige stigmatisierter sozialer Kategorien einem besonderen Ausmaß an Belastung und Stress ausgesetzt sind, die es zu bewältigen gilt, um nicht krank zu werden.
Diskriminierung im Hilfesystem Aufgrund einiger Vorgaben seitens der Krankenkassen und der verschiedensten medizinischen Fachbereiche sind transidente Menschen abhängig vom Gesundheitssystem und dem Wohlwollen einzelner Akteure. Fremde Menschen entscheiden über ihr Leben und ihr Empfinden. Solch eine Fremdbestimmung und Entmündigung lässt sich selten in einer anderen Behandlung von körperlichen und psychischen Erkrankungen finden. Zum Beispiel ist eine Zwangstherapie ansonsten nur bei Sexualstraftätern zu finden und stellt oftmals eine quälende, entwicklungshemmende und unnötige Wartezeit dar.
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Schwerpunkt
Manchmal wird dadurch erst der Leidensdruck geschaffen, den es eigentlich zu beseitigen oder zu verhindern gilt (Fuchs et al., 2012). Dies steht im Widerspruch zu den Psychotherapie-Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA, 2011). Wenn sich Trans-Menschen jedoch gegen diese verpflichtende Psychotherapie entscheiden, entstehen spätestens seit der strikten MDS-Begutachtungsanleitung des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS, 2009) Schwierigkeiten mit der Kostenübernahme für somatische Maßnahmen durch die Krankenkassen. Hierin wird das problematische Verhältnis von transidenten Menschen und der Medizin deutlich. Transidente Menschen wollen und benötigen Unterstützung und erhalten aufgezwungene Maßnahmen und Krankheitszuschreibungen. Hirschhauer bezeichnete bereits 1997 die deutschen Standards als „anachronistisches Dokument der persistenten Hilflosigkeit“ (Hirschauer, 1997). Ein weiteres Problem besteht darin, dass es nur wenige spezialisierte Fachkräfte gibt. Einen Psychotherapeuten, Endokrinologen, Gynäkologen, Logopäden oder Hals-Nasen-Ohren-Arzt zu finden, der sich mit dem Thema Transidentität auskennt, gleicht der Suche nach der „Nadel im Heuhaufen“. Ein Termin ist mit langen Wartezeiten verbunden. Diese Situation zieht den transidenten Weg in die Länge und begünstigt Diskriminierungen, da ohne die ärztliche Unterstützung ein Passing (als Mitglied desjenigen Geschlechts akzeptiert und eingeschätzt werden, mit
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Schwerpunkt
dem man sich identifiziert) nicht möglich ist. Das Abhängigkeitsverhältnis, in dem sich die transidenten Menschen zu ihren behandelnden Ärzten befinden, macht es schwierig bis unmöglich, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, steht einer effektiven Unterstützung im Weg und produziert ein Machtungleichheits- und Abhängigkeitsverhältnis im diagnostischen Prozess. Darüber hinaus sind stationäre Dienste bislang häufig ein institutionalisiertes Diskriminierungsumfeld für transidente Menschen. Laut LesMigras (2012) berichten 44,7 % aller Trans-Menschen von Diskriminierungserfahrungen im Bereich der Gesundheitsversorgung. Dies bedeutet bei transidenten Menschen im Falle von Eigengefährdung, dass die Unterbringung in ein stationäres Setting wahrscheinlich eine Eskalation der Krise herbeiführt. Durch die Studienlage (LesMigraS, 2012) wird deutlich, dass der komplexe und langwierige Transitionsprozess häufig geprägt ist durch mannigfaltige Diskriminierungserfahrungen, zum Beispiel in Form von Beschimpfungen, sexuellen und körperlichen Übergriffen und institutionalisierten Diskriminierungen. Dies verdeutlicht, dass die gängigen Vorgehensweisen innerhalb der psychiatrischen Versorgung nicht greifen und neue Handlungsstrategien entwickelt werden müssen. Es zeigt sich, dass eine intensive Beziehungsarbeit von immenser Bedeutung und für das Hilfegeschehen grundlegend ist.
Resilienz und Management von Diskriminierungserfahrungen Die Folgen dieser schwierigen Lebensumstände können zu Depressionen, Angst und anderen Störungen führen. Hieran wird deutlich, wie wichtig eine transsensible psychiatrische Versorgung und Resilienzförderung für transidente Menschen ist. Eine Konstellation innerer und äußerer Bedingungen entscheidet darüber wie vulnerabel bzw. resilient ein Mensch sein kann (Göth & Kohn, 2014). Ein wichtiger protektiver Faktor ist die soziale Resilienz, denn akzeptiert und unterstützt zu werden und ein tragfähiges soziales Netz verleiht eine größere Resistenz gegenüber Diskriminierungen und Anfeindungen. In Bezug auf Transidentität bedeutet soziale Resilienz, sich ein wohlwollendes, unterstützendes Umfeld aufbauen zu können und in ihm Hilfe zu erfahren. Essenziell wichtig ist ebenfalls die psychische Resilienz, um den Transitionsprozess in einer für sie erträglichen Zeitspanne durchlaufen zu können. Die Schwierigkeit hierbei liegt darin, die Trans-Person dabei so zu unterstützen, dass sie so viel Resilienz entwickelt, den Transitionsprozesses in einem für sie angemessenen Tempo zu durchlaufen. Ein zu langsames Durchlaufen des Prozesses kann genauso schädlich für die Psyche sein wie ein zu schnelles Procedere. Daher ist es notwendig eine enge und tragfähige Beziehung aufzubauen. Durch häufige negative Erlebnisse gibt es bei vielen transidenten Menschen ein Übergewicht an negativen Emotionen. Emotionale Resilienz ermöglicht es, diesen Erlebnissen positive Emotionen entgegen zu setzen. © 2018 Hogrefe
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Im Zusammenhang mit der medikamentösen und der operativen Therapien fördert die körperliche Resilienz die Fähigkeit des Körpers, Stress auszuhalten. Je gefestigter diese innerpsychischen Dimensionen sind, desto resilienter kann eine transidente Person gegenüber Diskriminierungen und den Anforderungen des Transitionsprozess sein. Je weniger Stärke und Resilienz innerpsychisch geschöpft werden kann, desto mehr werden förderliche und affirmierende Erfahrungen benötigt.
Fazit und Forderungen Betroffene erleben im deutschen Versorgungssystem praktische Probleme und Diskriminierungen. Beispielhaft zeigt das argentinische Geschlechtsidentitätsgesetz von 2012 (GATE, 2012b), wie der Transitionsprozess zeitlich deutlich verkürzt und somit der Leidensdruck deutlich gemildert werden kann. In diesem Gesetz ist sowohl die rechtliche Vornamens- und Personenstandsänderung per Selbsterklärung unbürokratisch zugänglich, als auch die transspezifische Gesundheitsversorgung geregelt. Der kostenfreie Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen ist unabhängig von medizinischen Diagnosen gestaltet und beruht auf Selbstdefinition und der vorherigen aufgeklärten Einwilligung. Ein transsensibles deutsches Versorgungssystem bedeutet geschlechtliche Selbstbestimmung, Entpsychopathologisierung und die Orientierung an individuellen Bedürfnissen – weg von restriktiven Modellen hin zu inklusiven Modellen. In allen Hilfeinstitutionen brauchen die Akteure spezifisches Wissen und Toleranz bis hin zu Akzeptanz, wenn sie Trans-Personen wirksam unterstützen wollen. Dies bedeutet eine korrekte Ansprache und Zimmerbelegung und das strikte Einhalten des Offenbarungsverbot nach dem Transsexuellengesetz (TSG). Darüber hinaus sollte ein Bewusstsein dafür bestehen, dass Menschen mit dieser Diagnose eine Vielzahl an Hilfen benötigen, das die Selbstdefiniton und -erklärung des jeweiligen Betroffenen im Fokus stehen und auf Fremdzuweisungen eines Geschlechts verzichtet werden muss. Transidentität, inklusive Prä- und Postzustand, ist kein Randthema. Die Dunkelziffer, aufgrund von Selbstbehandlern und eigener internalisierten Transphobie, ist vermutlich hoch. Ein wichtiger Bestandteil im Umgang mit transidenten Menschen sollte die Offenheit für das eigene Diskriminierungspotenzial sein. Nur wer bereit ist, zu akzeptieren, dass er womöglich Teil der Diskriminierung ist, auch wenn es dem eigenen Selbstbild widerspricht, hat die Möglichkeit, etwas zu verändern und somit transidenten Menschen zunehmend transsensibel zu begegnen. Das Angebot der deutschen Gesundheitsversorgung braucht spezifische Angebote, um beidseitige Verunsicherungen und Befürchtungen abzubauen. Andernfalls bleibt die beidseitige Hilflosigkeit erhalten und werden zwingend notwendige Behandlungen abgelehnt, Krisen verstärkt oder sogar der Suizid vollzogen. Im Mittelpunkt der Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 9–12
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Schwerpunkt
Hilfen sollte die psychosoziale Begleitung und Resilienzförderung stehen. Gleichzeitig müssen die psychosozialen Belastungen aufgefangen, aber auch abgebaut werden. Transsensibel bedeutet eine Sensibilität für die spezifischen Bedürfnisse und Belange transidenter Menschen inklusive der Einhaltung des TSG und dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG).
Praxisbeispiel Ein persönlicher Bericht einer 26-jährigen transidenten Frau: „Ich beginne meinen Tag, indem ich aufstehe und schon sicher weiß, was alles auf mich zukommt. Als erstes gehe ich ins Badezimmer. Vor dem Spiegel wird mir bewusst, dass ich aussehe wie ein „Mann“ und mich jeden Tag rasieren muss. Was ich auch tue, ich schaue mich an und neben den Selbstzweifeln habe ich ganz normale Probleme, mit meinem fetten Bauch und meinen männlichen Proportionen. Dann schminke ich mich, in der Hoffnung, nicht ausgelacht zu werden. Ich musste mir etliche Tutorials angucken, weil mir keiner gezeigt hat, wie das geht. Dann kommt mir meine Kindheit manchmal in die Erinnerung, die ein „Junge“ nun mal durchmacht. Ich schminke mich und muss mich genug schminken und immer darauf achten, dass es nicht übertrieben ist. Ist es aber manchmal schon, denn ich mache mir während des Schminkens und generell Gedanken, das sich, egal wie sehr ich mich schminke, niemals weiblich genug aussehen werde. Ich ziehe mir einen BH an, in dem nichts steckt und muss Kleidung anziehen, die kaschiert, dass ich ja noch etwas zwischen den Beinen habe und habe wieder Selbstzweifel und Minderwertigkeitskomplexe. Das geschieht alles in meinem Kopf. Dann gehe ich aus dem Haus und bekomme direkt die Bestätigung. Fast jeder, der in die Bahn kommt, guckt mindestens eine Sekunde länger zu mir beim Umsehen. Das nimmt mich mit. Nicht so sehr wie andere Dinge, aber es nimmt mich mit. Zum Glück ist jemand in der Bahn, mit dem ich reden und mich ablenken kann, aber ich kriege es trotzdem mit. Manche starren mich an, manche lachen, manche gucken geschockt und manche reden mit ihren Freunden über mich. Das macht mich kalt. Ich versuche es zu ignorieren und runter zu schlucken. Manchmal mache ich es so, manchmal sage ich etwas, meistens schweige ich oder schüttle den Kopf und sehe einfach weg. Wir kommen in den Tunnel. Ich sehe mein Spiegelbild. Meine Gedanken: „Vielleicht haben sie ja recht, ich sehe lächerlich aus, ich bin es nicht wert.“ Dann geht es eine Bahn und einen Zug weiter, mit Wartepausen an Zug und Bahn. Ich bin da und laufe zur schulischen Ausbildung. Dort angekommen, kommt direkt ein Augenrollen, sobald ich den Raum betrete.“
Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 9–12
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Nadine van Peeren Teamleitung im ambulant betreuten Wohnen für psychisch erkrankte Menschen beim PTV Dortmund GmbH und Studentin „Psychiatrische Pflege/ Psychische Gesundheit“ (B. A.) nadine.vanpeeren@ptv-dortmund.de
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Beziehungsgestaltung in der Zusammenarbeit mit Menschen mit sexuellen Gewalterfahrungen Dorothea Sauter, Jacqueline Rixe
Sexualisierte Gewalt hat viele Gesichter und reicht von einmaligen verbalen Übergriffen bis hin zu langjährigen erzwungenen sexuellen Handlungen, kombiniert mit anderen Formen von Gewaltausübung. Dieser Beitrag fokussiert auf Menschen, die in der Kindheit schwerem sexuellen Missbrauch ausgesetzt waren. Beschrieben werden Aspekte der Beziehungsgestaltung, die in der psychiatrischen Versorgung von Menschen mit Missbrauchserfahrungen zu berücksichtigen sind; auf die vielfältigen Hilfe- und Therapiekonzepte wird nicht eingegangen.
I
n allen psychiatrischen Settings begegnen Pflegende sehr häufig Menschen, die sexuelle Gewalt erfahren haben. Es sind bei weitem nicht nur diejenigen Patientinnen und Patienten, die diese Gewalterfahrungen im Rahmen einer stationären psychotherapeutischen Behandlung bewältigen wollen und einen konkreten Behandlungsauftrag für eine Traumabearbeitung äußern. Die meisten Betroffenen nehmen aus anderen Gründen Hilfe in Anspruch. Häufig wissen die Helfer nichts oder nicht alles von der Gewalterfahrung. Manchmal ist sie den Betroffenen selbst nicht bewusst oder sie ist seitens der Betroffenen nicht kommunizierbar. Opfer von sexueller Gewalt in der Kindheit stehen deutlich häufiger im Kontakt mit dem psychiatrischen Hilfesystem als die Normalbevölkerung (Cutajar, Mullen, Ogloff, Thomas, Wells & Spataro, 2010a), da psychische Traumata nicht nur Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) mit vielfältigen Komorbiditäten, sondern auch andere psychische Erkrankungen (z. B. Psychosen, Depression, Persönlichkeits-, Angst-, Ess- und Substanzkonsum-Störungen; Cutajar, Mullen, Ogloff, Thomas, Wells & Spataro, 2010b; Maerker & Hecker, 2015; Egle, Hoffmann & Joraschky, 2015) hervorrufen können. Darüber hinaus werden Menschen mit Missbrauchserfahrungen in der Kindheit häufig auch im Erwachsenenalter wiederholt zu Opfern von Gewalt („Reviktimisierung“, Langer & Catani, 2016). © 2018 Hogrefe
Bei sexualisierter Gewalt handelt es sich um interpersonelle bzw. Man-Made-Traumata, die je nach Dauer der Situation in Typ-I- oder Typ-II-Traumata unterteilt werden. Dementsprechend sind Missbrauchserfahrungen in der Kindheit als interpersonelle Typ-II-Traumata einzuordnen, wenn diese wiederholt vorkommen. Darüber hinaus werden Hand-On-Taten und Hand-Off-Taten unterschieden, je nachdem, ob die Tat mit direktem Körperkontakt einhergeht („Hand-On“) oder nicht („Hand-Off “; Hagemann-White, 2016). Die Abgrenzung reiner sexualisierter Gewalt von anderen Gewaltformen (Vernachlässigung oder körperlicher Gewalt) ist aufgrund von häufig vorliegenden Überlappungen problematisch (Engfer, 2015). Dies erschwert konkrete Aussagen zum Vorkommen.
Auswirkungen langjähriger sexualisierter Gewalt auf die Beziehungsgestaltung Im Missbrauchsgeschehen werden Kinder von den Menschen verletzt und geschädigt, auf deren Liebe und Schutz sie angewiesen waren. Die Fähigkeit zu vertrauensvollen Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 13–17 https://doi.org/10.1024/2297-6965/a000134
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Beziehungen, das Vertrauen in die eigenen Empfindungen wie auch ein Gefühl für die eigenen und die Grenzen anderer, können sich kaum entwickeln. Dies prägt das Beziehungserleben der Betroffenen maßgeblich und anhaltend.
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Das Erleben des Missbrauchs – unterlegt mit vielen Selbstberichten – lässt sich gut nachlesen in „Klassikern“ zum Thema von Judith L. Herman (2010) oder Ursula Enders (2014).
Erleben des Missbrauchs Typisch für die sexuelle Traumatisierung von Kindern ist in den meisten Fällen das bestehende Vertrauensverhältnis zum Täter, da die meisten Täter aus dem familiären oder direkten sozialen Umfeld der Opfer stammen (Enders, 2014; Herman, 2010). Dabei kehren die Täter die Zuständigkeit für die Bedürfnisbefriedigung um: ein Kind erwartet von den sorgenden Personen, dass sie die kindlichen Bedürfnisse nach Nähe und Schutz befriedigen. In der Traumasituation erlebt es eine Umkehr dieses Grundsatzes, denn es wird dazu gebracht, die Bedürfnisse nach Macht und Stärke sowie nach sexueller Befriedigung des Erwachsenen zu erfüllen (Wilms, Broda, Dinger-Broda & Köllner, 2014). Zentrale Kriterien im Missbrauchsgeschehen sind dabei das Machtgefälle und die Unfähigkeit des Opfers, sich zu wehren. Die Handlung des Täters wird durch das Machtgefälle zur einer willkürlichen, massiven und grenzüberschreitenden Machtausübung. Das Opfer wird zum Objekt von sexualisierter Macht und Dominanz des Täters (Klein & Hundelshausen, 2002). Die tiefe Erschütterung des Vertrauens in die eigene Umgebung und das „überwältigende Gefühl der Hilflosigkeit“ stellen sehr schwierige Entwicklungsbedingungen dar (Herman, 2010). Zu den Angriffen auf den Körper kommt der emotionale Druck, den die Täter ausüben: Das Opfer wird zur Geheimhaltung der Ereignisse gezwungen. Oft wird es vom Täter für die Tat verantwortlich gemacht. Viele Täter bauen erst lange an einer freundschaftlichen Vertrauensbeziehung zum Opfer und fangen dann an, das Opfer zu destabilisieren. Sie desensibilisieren das Opfer für körperliche Berührungen. Sie vermitteln ihm eine unkorrekte Wahrnehmung der Umwelt und sie verunsichern es in seinem Bedürfnis, Grenzen zu ziehen. Die Täter verbessern im Laufe der Zeit ihre Strategien, das Opfer abhängig zu halten, den Missbrauch zum gemeinsamen Geheimnis zu machen, das Opfer zum Schweigen zu bringen und ihm die Schuld zuzuweisen.
Überlebensstrategien und Langzeitfolgen Jedes Missbrauchserleben ist eine schmerzende und prägende Lebenserfahrung, aber es führt nicht zwangsläufig zu massiven psychosozialen Störungen (Bender & Lösel, 2000). Viele Betroffene kämpfen später mit einem niedrigen Selbstwertgefühl, Ohnmacht, Selbstzweifeln, Ängsten, Resignation bis zur Suizidalität, Störungen der Affekt- und Selbstregulation und vielen weiteren Beeinträchtigungen (Sack, 2004). Viele Langzeitfolgen sind das Ergebnis der „Überlebensstrategien der Opfer“, also der Art und Weise, Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 13–17
wie das Opfer sich während und nach dem Missbrauch zur schützen versucht. Diese Überlebensstrategien können später so destruktiv wirken, weil sie als ursprüngliche Erfolgsrezepte automatisiert wurden. Aufgrund der stabilisierenden Funktion solcher Strategien fällt es den Betroffenen häufig schwer, diese trotz therapeutischer Hilfe zu durchbrechen (Sack, 2004). Ein Beispiel ist das Verharmlosen und Verdrängen des Geschehens. Es entlastet zunächst, verhindert dann die Bearbeitung und kann zu einer Unsicherheit bezüglich eigener Wahrnehmungen und zu unrealistischen Bewertungen der Umwelt führen. Oder die Betroffenen versuchen das Geschehen abzuspalten und „den Körper gefühllos zu machen“. Hieraus können sich Körperbildstörungen und/oder dissoziative Störungen bis hin zur multiplen Persönlichkeit entwickeln (Klein & Hundelshausen, 2002).
Probleme in sozialen Beziehungen und Bindungsstil Vertrauen zu jemandem zu haben ist die wichtigste Voraussetzung für die Entwicklung positiver Beziehungen. Genau diese Fähigkeit wurde zerstört. Weiterhin haben die Betroffenen nicht gelernt, dass jeder Mensch persönliche Grenzen hat und haben darf. Sie konnten somit kein Gespür für Grenzüberschreitungen entwickeln. Manche versuchen, durch den Aufbau sehr enger und symbiotischer Beziehungen das lädierte Selbstgefühl zu reparieren oder Verlassenheitsängsten entgegenzuwirken (Herman, 2010; Enders, 2014). Ein vertrauensvolles und hilfreiches Gespräch braucht Offenheit auf beiden Seiten. Doch Missbrauch findet im Kontext von Verheimlichung, Vertuschung, Geheimnistuerei und Verdeckung statt. Die Täter wendeten in aller Regel viele Strategien und teilweise massive Drohungen an, um es den Opfern unmöglich zu machen, über den Missbrauch zu sprechen. Zur Schwierigkeit des Vertrauensaufbaus kommen häufig problematische Verhaltensweisen, welche naturgemäß Beziehungen schwer belasten können. Zunehmend werden Fragen der Bindungsforschung im Zusammenhang mit kindlichem Missbrauch diskutiert. Die vom britischen Kinderpsychiater John Bowlby entwickelte Bindungstheorie bezeichnet es als universelles, primäres menschliches Bedürfnis, enge emotionale Beziehungen einzugehen (Hecht, 2016). Auf der Basis von Beziehungserfahrungen entwickeln Säuglinge und Kinder ihren Bindungsstil, der sich auf das Interaktions- und Beziehungsverhalten auswirkt und in späteren Jahren weniger beeinflusst werden kann. © 2018 Hogrefe
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Vom „sicher gebundenen“ Bindungsstil werden die „unsicher-vermeidenden“, „unsicher-ambivalenten“ und „unsicher-desorganisierten“ Bindungsstile unterschieden. Die unsicheren Bindungsstile werden zunehmend als Faktor für die Entstehung psychischer Krankheiten gesehen (Hecht, 2016). Misshandelte und vernachlässigte Kinder neigen zu desorganisierten oder zu einer Mischung aus vermeidenden und ambivalenten Bindungsstilen (Dornes, 2000). Viele Betroffene vermeiden Nähe aus Angst vor neuer Traumatisierung und können dadurch kaum noch verlässliche Beziehungserfahrungen zulassen und erleben (Herman, 2010).
Professionelle Beziehungsgestaltung und Zusammenarbeit Eine gelingende Beziehungsarbeit gilt für nahezu alle psychiatrischen Hilfeangebote als bedeutsamer Wirkfaktor (Priebe & McCabe, 2008). Menschen mit sexuellem Missbrauch in ihrer Vorgeschichte haben im persönlichen Nahbereich verheerende Beziehungserfahrungen und oft negative Erfahrungen mit Helfern gemacht. Die Patienten sind besonders vulnerabel gegenüber Kontrollverlust, Invalidierung, aggressiven Vorwürfen, Missachtung ihrer Bedürfnisse und Grenzüberschreitungen (Gräbener, 2013).
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lungsschritte sollten dementsprechend miteinander besprochen bzw. kleinschrittig angekündigt und transparent gestaltet sein. Die Selbstversorgungskompetenz muss gefördert und vorhandene Ressourcen (re-)aktiviert werden. Ein ressourcenorientiertes Vorgehen, das viele Parallelen zum Recovery-Konzept aufweist, steigert nicht nur das Selbstwirksamkeitserleben, sondern erhöht auch die Wahrscheinlichkeit, längerfristig ein Posttraumatisches Wachstum zu entwickeln (von Eichborn, 2010). Da die Patienten aufgrund ihrer Lernerfahrungen Schwierigkeiten in der Beziehungsgestaltung haben und zu sehr engem Kontakt oder zur Vermeidung von Nähe neigen, stellt die Balance zwischen Nähe und Distanz in der professionellen Beziehung eine besondere Herausforderung dar. Viele Patienten übertragen traumatische Erfahrungen auf professionelle Beziehungen, entwickeln Rettungsphantasien und idealisieren die Helfer, sodass Enttäuschungen und Wut nicht ausbleiben können (Gräbener, 2013; Herman, 2010). Es wichtig, von Anfang an die eigenen Grenzen klar zu benennen und Spielregeln miteinander auszuhandeln. Die Pflegebeziehung stellt ein Übungsfeld dar, in dem die Patienten lernen können persönliche Grenzen für sich selbst zu setzen, zu behaupten und beim anderen zu respektieren.
Schritte im Pflege-/Hilfeprozess Grundregeln und Vertrauensaufbau Wie oben beschrieben haben von kindlichem Missbrauch betroffene Menschen gelernt, eigene Gefühle und Bedürfnisse nicht wahrzunehmen bzw. nicht ernst zu nehmen. Daher muss die Kommunikation der professionellen Helfer immer validierend gestaltet sein. Jede Würdigung seiner Wahrnehmungen und Bedürfnisäußerungen zeigt dem Patienten, dass diese zunächst einmal eine Berechtigung haben und ernst genommen werden. Professionelle Helfer müssen sich das Vertrauen der Patienten oft langsam und mühsam verdienen. Mögliche Zurückhaltung oder Misstrauen sind zunächst als umsichtiges Verhalten der Patienten zu interpretieren. Für den Vertrauensaufbau ist Verbindlichkeit (zum Beispiel das Einhalten von Absprachen) absolut erforderlich. Zu keiner Zeit dürfen unrealistische Versprechungen und Zusagen gemacht werden. Es ist darauf zu achten, Termine einzuhalten (oder gegebenenfalls zumindest zu erklären, warum es zu einer Verschiebung des Termins kommt und einen Ersatztermin anzubieten), um Enttäuschungen entgegenzuwirken. Angesichts desorganisierter Bindungsstile und ambivalentem Verhaltens der Patienten ist das Vermeiden von Vertrauensabbrüchen besonders wichtig. Das Pflegeorganisationsmodell Primary Nursing beziehungsweise Bezugspflege bietet hierfür geeignete Rahmenbedingungen. Da traumatisierte Menschen einen massiven Kontrollverlust und eine Entindividualisierung erlebt haben, ist es sehr wichtig, den Patienten Kontrolle zu überlassen und Raum für Individualität zu geben (Reichel, 2014). Hand© 2018 Hogrefe
Beim Assessment soll die Kontrolle beim Patienten bleiben. Er bestimmt, welche Informationen er wem, wann und in welchem Tempo preisgeben will. Gemeinsame Festlegung von Behandlungs- und Hilfezielen (im Sinne des „Shared Decision Makings“; Abderhalden & Prins, 2011) ermöglicht Kontrollerleben und Selbstbestimmtheit. Auf Seite der Helfer ist hierfür Zieloffenheit gefordert. Dies ist nicht einfach, da viele Patienten mit der Artikulation von Wünschen oder Zielen überfordert sind und/oder sich sehr ambivalent zeigen. Die Helfer müssen ihre eigenen konkreten Zielvorstellungen in das Gespräch einbringen, um ein klarer Verhandlungspartner zu ein, aber nicht um die Patienten von diesem Weg zu überzeugen. Vielmehr müssen die Patienten unterstützt werden Motive hinter möglichen Ambivalenzen zu entziffern und Abwägungen zu treffen. Hierfür gibt das Konzept der motivierenden Gesprächsführung (Kremer & Schulz, 2013) gute Impulse.
Umgang mit herausfordernden Situationen Viele Situationen erfordern von den Helfern Fachwissen und Feingefühl. So können die Störungen der Affektregulation und Impulskontrolle zu exzessivem Risikoverhalten oder anderen selbst- und fremdaggressiven Verhaltensweisen führen. Für den Umgang mit Dissoziationen, selbstverletzenden oder aggressiven Verhaltensweisen, die von den Patienten häufig im Zusammenhang mit hoher Anspannung als Bewältigungsstrategie eingesetzt werden, haben Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 13–17
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sich in den letzten Jahrzehnten die Fertigkeiten (Skills) aus der Dialektisch Behavioralen Therapie (DBT) nach Linehan (1993) etabliert. DBT bietet den Menschen, die Schwierigkeiten bei der Beziehungsgestaltung oder aber auch der Emotionsregulation haben, und denen, die diese Menschen professionell begleiten, eine hilfreiche Orientierung, Sicherheit und Klarheit. Eine wertschätzende und wohlwollende Haltung gegenüber den Patienten stellt das Fundament der DBT dar. Wichtig ist, dass die Bausteine der DBT (z. B. Verhaltensanalyse, Wiedergutmachung) nicht als Sanktion, sondern als Lernchance eingesetzt und als solche verstanden werden. Eine heikle Situation ist es, wenn Maßnahmen gegen den Willen der Patienten erforderlich sind. Teams sind gefordert, damit solche Situationen die Arbeitsbeziehung nicht belasten oder von den Patienten gar als retraumatisierend erlebt werden. Handlungen gegen den Patientenwillen werden oft als Kontrollverlust und völliges Ignorieren der Patientenbedürfnisse wahrgenommen. Zwangsmaßnahmen stellen dann eine Wiederholung der Traumasituation dar. Um das Erleben von Willkür zu reduzieren, müssen geeignete Handlungsleitlinien für Zwangsmaßnahmen entwickelt und eingehalten werden: das Ankündigen und Begründen vor der Maßnahme, das Eingehen auf Bedürfnisse und das Vorhalten von Wahlmöglichkeiten während der Maßnahme, das rechtzeitige Beenden und das Nachbesprechen (vgl. DFPP, 2016). Generell haben problematische Verhaltensweisen der Patienten ihren Hintergrund. Sie erfüllen eine Funktion.
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Sie können erst dann wirksam modifiziert werden, wenn sie in ihrer Funktion verstanden werden. So kann eine erste Vereinbarung lauten, dass Pflegende und Patient wie im Rahmen einer Verhaltensanalyse gemeinsam versuchen, diese Funktion zu entschlüsseln. Pflegende und Patienten dürfen sich vor Augen halten, dass viele herausfordernde Verhaltensweisen aufgegeben werden können, wenn die Symptombelastung gemindert ist und angemessene Problemlösestrategien entwickelt werden. Dieses Wissen ist entlastend.
Fazit und Ausblick Die Beziehungsgestaltung zu Menschen mit sexualisierten Gewalterfahrungen unterliegt besonderen Herausforderungen. Die tragfähige Beziehung ist die Voraussetzung gelingender Hilfen und Therapien. Die Patienten sollen in der Helferbeziehung korrigierende Beziehungserfahrungen erleben (Herman, 2010; Gräbener, 2013). Problematisches Verhalten zu entschlüsseln statt zu pathologisieren, validierende Kommunikation, Verlässlichkeit und Transparenz im Kontakt sowie die Rückgabe von Kontrolle an den Patienten sind im Umgang mit schwer traumatisierten Menschen essentiell wichtig (Sauter, 2011). Viele Patienten haben in ihrer Lebensgeschichte verschiedene Formen von Gewalt erlebt, ohne dass Pflegende und Behandlungsteams davon wissen. Traumasensibles Handeln und die Berücksichtigung der genannten Aspekte sind daher in allen Pflegebeziehungen bedeutsam.
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© 2018 Hogrefe
Dorothea Sauter M. Sc. Gesundheits- und Pflegewissenschaften, B. A. Psychiatrische Pflege/Psychische Gesundheit, Krankenschwester, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld, Buchautorin dorothea.sauter@fhdd.de
Jacqueline Rixe M. Sc. Gesundheits- und Pflegewissenschaften, B. A. Psychiatrische Pflege/Psychische Gesundheit, Fach-Gesundheits- und Krankenpflegerin für psychiatrische Pflege, Stabstelle psychiatrische Pflegeforschung im Evangelischen Klinikum Bethel und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld jacqueline.rixe@fhdd.de
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Alte Menschen wirkungsvoll vor Missbrauch schützen
Barbara Baumeister / Trudi Beck (Hrsg.)
Schutz in der häuslichen Betreuung alter Menschen Misshandlungssituationen vorbeugen und erkennen – Betreute und Betreuende unterstützen 2017. 216 S., 30 Abb., 14 Tab., Kt € 29,95 / CHF 39.90 ISBN 978-3-456-85664-3 Auch als eBook erhältlich
Warum und wie werden alte Menschen in der häuslichen Betreuung misshandelt? Wie lassen sich diese Misshandlungen erkennen und vermeiden? Die Herausgeberinnen des forschungsbasierten Praxishandbuchs erklären, warum alte Menschen in der häuslichen Betreuung misshandelt werden, differenzieren verschiedene Formen des Missbrauchs und zeigen, wie dieser erkannt werden kann. Sie nennen Interventionen und bieten Hilfsmittel, um Missbrauch vorzubeugen, zu erkennen und Betreute und Betreuende zu unterstützen und zu entlasten.
www.hogrefe.com
Das erfahrene Autorenteam • klärt, welche Kriterien entscheidend sind, damit bei Verdacht oder im Falle von Misshandlungssituationen in der häuslichen Betreuung alter Menschen interveniert wird • zeigt, wie Interventionsprozesse verschiedener Fachpersonen im Falle von Vernachlässigung oder Misshandlung in der häuslichen Betreuung alter Menschen verlaufen • analysiert, welche Faktoren eine Gewaltanwendung durch Angehörige in der häuslichen Betreuung alter Menschen begünstigen oder verhindern.
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Sexualisierte Gewalt im Maßregelvollzug Wolfgang Peiffer, Andreas Gerke, Muriel Hecht
Das pflegerische und therapeutische Stationskonzept im Maßregelvollzug wird beschrieben. Es werden die Herausforderungen der psychiatrischpflegerischen Arbeit mit forensischen Patienten erläutert. Zuletzt berichtet ein langjährig untergebrachter Patient in einem Interview von seinem Stationsalltag sowie seinen Veränderungen und Schwierigkeiten während der Unterbringung.
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err K. befindet sich auf einer forensischen Therapiestation, deren Aufgabe die Behandlung und Wiedereingliederung von straffällig gewordenen Menschen mit der Diagnose Persönlichkeitsstörung ist. Im Rahmen der geschlossenen Unterbringung wird die Sicherung von Maßregelvollzugspatienten mit unterschiedlichen Deliktproblematiken gewährleistet (s. Tab. 1), die gemäß § 63 Strafgesetzbuch (StGB) untergebracht sind. Schwerpunktmäßig handelt es sich um männliche Patienten, welche Sexualstraftaten begangen haben. Laut § 63 StGB ordnet das Gericht eine Unterbringung an, wenn ein Straftäter bei Begehung der Tat wegen einer psychischen Erkrankung gar nicht oder nur eingeschränkt schuldfähig ist. Außerdem muss aufgrund der Erkrankung die Gefahr weiterer Straftaten gegeben sein. Die Unterbringungsdauer ist dabei nicht befristet, sondern abhängig von den Behandlungsfortschritten der Patienten.
Inhalte und Ziele der psychiatrischen Krankenpflege im Maßregelvollzug Die psychiatrische Pflege im Maßregelvollzug ist durch Angebote geprägt, die eine Erweiterung der sozialen und alltäglichen Kompetenz der Patienten fördern sollen. Weitere pflegerische Ziele sind der Aufbau und die Steigerung lebenspraktischer Fähigkeiten, sowie das Erlernen und Stabilisieren sozialer Kontaktfähigkeit und der angemessene Umgang mit Konflikten. Gleichzeitig muss dem gesetzlichen Auftrag, der Besserung und Sicherung des Patienten sowie die Gewährleistung von Sicherheit und Schutz der Allgemeinheit vor weiteren erheblichen rechtswidrigen Straftaten Rechnung getragen werden. © 2018 Hogrefe
Für die angestrebte Sozialisation müssen die Patienten stabile, belastbare und kontinuierliche Beziehungen zum Behandlungsteam erleben können. Grundlage hierfür ist die in einem Bezugspflegesystem organisierte psychiatrische Pflege. Einzel- und Gruppenangebote sind für die Patienten zur Vertiefung des therapeutischen Prozesses maßgebend. Den Patienten wird ein geschützter Rahmen
Tabelle 1. Verteilung der Diagnosen der Patienten des Maßregelvollzugs in NRW (Stichtag 31.12.2014) Störungen aus dem schizophrenen Störungskreis
37,68 %
Suchterkrankungen
29,48 %
Persönlichkeitsstörungen
14,47 %
Intelligenzmilderung / Hirnorganische Störung
5,10 %
Störungen der sex. Orientierung
3,22 %
Andere
8,80 %
Keine Diagnose
1,24 %
Anmerkung. Quelle: Ministerium für Heimat, Kommunales, Bauen und Gleichstellung des Landes Nordrhein-Westfalen, 2014. Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 19–22 https://doi.org/10.1024/2297-6965/a000135
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geboten, der Klarheit und Struktur vermittelt und so zur Förderung der sozialen und alltäglichen Kompetenzen beiträgt.
Interventionen im Stationsalltag Es sind folgende zielgerichteten Interventionen in den Stationsalltag eingebettet: • Auf der Station sind klare Regeln unter anderem in einer Stationsordnung vorgegeben, wodurch es zu Grenzsetzungen kommt, die das tägliche Miteinander steuern sollen. Am Umgang des Einzelnen mit diesen Grenzen kann das Ausagieren der Störung oder auch das Einsetzen der Ressourcen beobachtet werden, so dass dann zielgerichtet Interventionen erfolgen können. Es bedarf eingehender Beobachtung der Patienten durch das Personal, was eine räumliche Nähe voraussetzt. Eine enge Rückkopplung zwischen Pflegepersonal und therapeutischer Leitung ist ebenfalls erforderlich. • Zur Förderung der individuellen Ressourcen wird ein Teil der Organisation des Stationsalltags (Küchennutzung, Waschtage, Umgang mit Allgemeingut) in die Hände der Patienten gegeben. Dies wird begleitend vom Personal beobachtet und interventiv gesteuert. Ziel ist es, Selbstmanagement und praktische Kompetenzen zu stärken. • Durch das Einbinden der Patienten in „Gemeinschaftsdienste“ auf der Station werden Konflikte deutlich und Auseinandersetzungen geführt, die in der Patientengruppe geklärt werden sollen. Hier sollen soziale Kompetenzen und Konfliktfähigkeit geschult werden aber auch Grenzsetzungen untereinander erfolgen. Bei Bedarf wird seitens des Personals moderierend eingegriffen. • Durch die Begleitung bei Lockerungserprobungen (Pat. erhält Lockerungen, je nach Einschätzbarkeit, Absprachefähigkeit, Gefährlichkeit und Stand im therapeutischen Prozess) im Rahmen von Stadtausgängen können Pflegekräfte den Pat. hinsichtlich der Umsetzung neuer Strategien Im Alltag beobachten und ihm später eine fundierte Rückmeldung geben. • Durch die enge Zusammenarbeit im multiprofessionellen Team können Beobachtungen der einzelnen Professionen bei regelmäßigen Stationsübergaben und Fallkonferenzen zusammengetragen und bewertet werden. Daraus werden dann als „Teamentscheidungen“ Lockerungen des Patienten festgelegt.
Die Herausforderungen der psychiatrischen Pflege im Maßregelvollzug Psychiatrische Pflege ist in der Forensik mit Milieugestaltung, therapeutischer Arbeit und der Schaffung von innerer und äußerer Sicherheit beschäftigt. Dies unterscheidet sich nicht wesentlich von der Pflege in der Allgemeinpsychiatrie. Die Pflegenden sind jedoch zum einen damit konfrontiert, dass die Patienten aufgrund richterlicher AnordPsychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 19–22
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nung und überwiegend gegen ihren Willen untergebracht sind, zum anderen damit, dass der untergebrachte Patient eine Straftat begangen hat. Gleichzeitig soll aber eine Bindung und Beziehung zum Patienten aufgebaut und langfristig aufrechterhalten werden, da die Unterbringungsdauer der nach § 63 StGB untergebrachten Patienten vor der Entlassung zum Zeitpunkt der Erhebung vom 31. Dezember 2013 im Durchschnitt mehr als 8 Jahre betrug (Internetseite des Landesbeauftragten für den Maßregelvollzug in Nordrhein-Westfalen, 31.12.2013). Bei 34 % dauerte die Maßregel bis zu 10 Jahre und länger. Psychiatrische Pflege lebt vom Verständnis des Gegenübers, was bei Straftätern mitunter nicht vollumfänglich gegeben ist. Dennoch muss eine gewisse Nähe geschaffen werden, um eine tragfähige Beziehung aufzubauen. Pflegende begleiten die Patienten bei ihrer Chance auf Veränderung, leisten Beziehungskontinuität durchaus über Jahre auch in Krisen (therapeutische Pause/Rückschritt), reflektieren eigene Persönlichkeitsmuster in der Beziehung und zum Ende der Unterbringung (Verlegung zur Reha/Entlassung) vollziehen diese professionelle Ablösung.
Das therapeutische Programm im Stationsalltag Die therapeutische Arbeit im Stationsalltag umfasst sowohl Aspekte der sozialen Kompetenz, als auch der Deliktrekonstruktion und Deliktbearbeitung als Grundlage für die Erstellung einer adäquaten und wirksamen Rückfallprophylaxe. Es bedeutet, dass der Straftäter verstehen lernen muss, in welchen Situationen er ein Delikt begangen hat und wie er es zukünftig schafft, in ähnlichen Situationen eine andere Strategie einzusetzen, die ihn von der Begehung einer Straftat abhält. Im Einzelnen sind dafür folgende Maßnahmen implementiert: • Einzelgespräche der untergebrachte Mensch soll lernen, über Alltagsprobleme und über sein Delikt zu sprechen • deliktunspezifische Psychotherapiegruppe untergebrachte Menschen sollen sich Grundlagen der späteren Deliktarbeit erarbeiten; dazu gehören Kommunikation, Wahrnehmung von Gefühlen, Eigen- und Fremdwahrnehmung • deliktspezifische Sexualstraftätergruppe Deliktrekonstruktion, Umgang mit Fantasien, Rückfallprävention • IBT (Integrative Behaviorale Therapie) die untergebrachten sollen im weitesten Sinne lernen, angemessen mit ihren Gefühlen umzugehen • Arbeitstherapie • Ergotherapie • soziales Kompetenztraining • Sporttherapie © 2018 Hogrefe
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Die verschiedenen Termine der therapeutischen Angebote strukturieren den Alltag der Patienten. Sie sind, ebenso wie die Bezugspflegegespräche, regelmäßig terminiert
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und finden je nach Art des Angebots täglich (z. B. Arbeitstherapie), im wöchentlichen (z. B. Psychotherapiegruppe) oder im zweiwöchigen Rhythmus statt.
Hintergrund zum Patienten Herr K. ist 57 Jahre alt. Er ist seit 2001 wegen versuchter Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung gemäß § 63 StGB untergebracht. In seinem therapeutischen Prozess ist er fortgeschritten, da er bereits verschiedene therapeutische Maßnahmen durchlaufen hat (z. B. Soziales Kompetenztraining) sowie eine deliktspezifische Sexualstraftätergruppe abgeschlossen hat, in der er sich die Deliktrekonstruktion und eine Rückfallprävention erarbeitet hat.
Interview Therapeut: Wie erleben Sie den Alltag auf Station? Patient: Der Alltag ist angenehm. Ich verstehe mich eigentlich gut mit den Mitpatienten. Wir gehen offen miteinander um. Allerdings finden wenige Freizeitaktivitäten mit meinen Mitpatienten statt. Dadurch muss ich eher die Initiative ergreifen und auf meine Mitpatienten zugehen. Ihr Alltag ist natürlich auch geprägt von therapeutischen Maßnahmen und dem Kontakt zum Behandlungsteam. Wie erleben Sie das? Der Kontakt zum Team ist gut. Ich kann offen sein und meine Probleme ansprechen, ohne negative Konsequenzen zu erfahren. Anfangs hatte ich Angst, über meine sexuellen Fantasien zu sprechen oder abgelehnt zu werden, aber jetzt ist das kein Problem mehr. Auch bei weiblichem Personal habe ich keine Schwierigkeiten mehr, über meine Fantasien zu sprechen.
meine sexualisierenden Fantasien über Frauen, meine negativen Kognitionen, und dass ich in der Zeit, in der ich mein Delikt begangen habe, keine Strategien hatte, um mit meinen Schwierigkeiten umzugehen. Was hat sich verändert? Welche Kognitionen hatten Sie beispielsweise und wie sehen diese heute aus? Wichtig war für mich der Gedanke „Mit mir kann man es ja machen“. Alles was ich gemacht habe, war schlecht. Jetzt lasse ich nicht mehr alles mit mir machen. Ich kann dem entgegenwirken und habe verschiedene Strategien entwickelt. Auch hatte ich früher keine Empathie und ein geringes Selbstwertgefühl. Heute kann ich mich selbst akzeptieren, weil ich nicht abgelehnt werde und viele positive Erfahrungen gemacht habe. Dadurch kann ich auch andere Menschen besser akzeptieren. Außerdem wollte ich damals gerne eine Beziehung zu einer Frau haben. Meine Bemühungen sind immer gescheitert. Ich wurde oft belogen. Ich hätte früher viel eher auf die Situation reagieren müssen und mich an jemanden wenden sollen. Ich weiß heute, bei welchen Reizen und Risikosituationen ich mir Hilfe suchen muss. Momentan habe ich auch keine sexuellen Fantasien mehr.
Wenn Sie auf die letzten 16 Jahre zurückblicken, welche Veränderungen können Sie bei sich feststellen? Die ersten Jahre habe ich eher verschlafen. Ich habe mich gefragt, was von mir erwartet wird und wie die Therapie aussieht. In meinem Leben wurde ich früher oft gehänselt, weil ich gestottert habe. Daher war ich auch zu Beginn meiner Unterbringung sehr verschlossen. Jetzt bin ich offener und kann über meine Probleme reden.
Welche therapeutischen oder pflegerischen Maßnahmen haben Ihnen, Ihrer Einschätzung nach, dabei besonders geholfen? Das Behandlungsteam ist immer wieder auf mich eingegangen. Dadurch wurde mir meine Problematik bewusst. Die vielen Gespräche mit dem Pflegepersonal und meinem Therapeuten waren dabei besonders hilfreich. Diese gaben mir Vertrauen und ich konnte offen reden. Auch durch die zunehmenden Lockerungsstufen hatte ich das Gefühl, dass man mir meine Entwicklung zutraut. Die Deliktgruppe, die ich durchlaufen habe, hat mir auch noch einmal Einblicke in meine Persönlichkeit gegeben. Anfangs war ich sehr zurückhaltend, konnte aber am Ende selbstbewusster sein und auf andere Mitpatienten eingehen.
Und in Bezug auf Ihr Delikt und Ihren Therapieprozess? Mein Delikt bewerte ich als negativ. In meinem Therapieprozess bin ich sehr weit. Früher habe ich mich nicht attraktiv genug gefühlt und hatte kein Selbstbewusstsein. Ich war mir egal und daher waren mir andere auch egal. Jetzt weiß ich, dass viele Aspekte zu meinem damaligen Verhalten und meinem Delikt beigetragen haben. Dazu gehören neben meinem fehlenden Selbstbewusstsein auch
Gibt es ein bestimmtes Ereignis oder einen Zeitpunkt, an dem Sie gemerkt haben, dass sich etwas an Ihrem Denken und Fühlen verändert hat? Nein, das war eher ein Lernprozess. Ich habe aber nie Rückschritte gemacht. Wie beschrieben, wollte ich anfangs allen gefallen. Mit der Zeit entwickelte ich immer mehr Eigenakzeptanz sowie Selbstwertgefühl und war mir nicht mehr so egal. Während meiner Unterbringung
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habe ich auch einige Regelverstöße begangen. Diese waren sehr positiv für meine Entwicklung. Ich habe dadurch gelernt, mehr Situationen anzusprechen und auf das Team zuzugehen. Was hat Ihnen während Ihrer Unterbringung größere Schwierigkeiten bereitet? Ich stand mir selbst im Weg. Ich habe mich teilweise zurückgezogen und habe mir keine Hilfe gesucht. Ich bin frech geworden, war ironisch, habe Sprüche gemacht, die unangebracht waren. Ich war mir selbst egal. Das hat man auch an meinem Erscheinungsbild gesehen. Man konnte mir ansehen, wenn es mir schlecht ging, da ich dann sehr ungepflegt war. Ich wollte, dass alle auf mich zugehen. Die häufigen Rückmeldungen vom Team haben mir aber sehr geholfen, das zu ändern. Was fällt Ihnen vielleicht heute noch schwer? Ich muss immer noch achtsam sein. Manchmal vermische ich meine Kognitionen und denke, dass ich alles al-
leine schaffen muss. Ich muss mir dann sagen, dass ich Hilfe annehmen darf. Denn das ist sehr wichtig. Wenn Sie an eine Entlassung denken, gibt es etwas, was Ihnen Angst macht oder Sorgen bereitet? Mein Alter. Ich bin 57 und werde nicht mehr viel arbeiten können. Ich mache mir Sorgen, wie ich mein Leben finanzieren soll. Wie werde ich die Zeit nach der Entlassung bewältigen? Ich war 16 Jahre untergebracht. Das wird auf jeden Fall eine Lebensumstellung sein. Ich muss aber keine Angst haben. Während der Lockerungserprobungen habe ich es hier auch geschafft. Natürlich muss ich immer achtsam sein, stets die Situation überprüfen und auf meine Risikosituationen und Warnsignale achten. Ich habe aber gelernt, mit meiner anfänglichen Angst umzugehen. Ich würde daher meine Gefährlichkeit gering einschätzen. In schwierigen Situationen kann und muss ich mir immer Hilfe suchen.
Literatur Ministerium für Heimat, Kommunales, Bauen und Gleichstellung des Landes Nordrhein-Westfalen. Fragen und Antworten zu den neuen Maßregelvollzugskliniken. (o. D.). Verfügbar unter https://www.mhkbg.nrw/linearisiert/gesundheit/versorgung/ massregelvollzug/Fragen_und_Antworten_zu_den_neuen_ Ma__regelvollzugskliniken/index.php [Zugriff am 15.09.2017]. Landesbeauftragter für den Maßregelvollzug in Nordrhein-Westfalen. Dauer der Behandlung. (o. D.). Abgerufen von http://www. massregelvollzug.nrw.de/behandlung/dauerBehandlung/ index.html [Zugriff am 28.09.2017].
Wolfgang Peiffer Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, (PP) therapeutischer Leiter einer hochgesicherten forensischen Station für Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung in der LVR-Klinik Langenfeld
Andreas Gerke Fach-Gesundheits- und Krankenpfleger für psychiatrische Pflege, pflegerischer Stationsleiter in der LVR Klinik Langenfeld andreas.gerke@lvr.de
Muriel Hecht Psychologin M.Sc., Psychotherapeutin in Ausbildung in der LVR Klinik Langenfeld muriel.hecht@lvr.de
wolfgang.peiffer@lvr.de
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Aufklärung und Auswege finden Die Behandlung von sexuell devianten Jugendlichen Jutta Benz, Michael Loureiro Prati
In der Kinder- und Jugendpsychiatrie, behandeln wir sowohl Heranwachsende, die in ihrem sozialen Umfeld sexuell auffällig geworden sind, als auch diejenigen, die bereits zum Zeitpunkt der Aufnahme, erwiesen gegen die sexuelle Selbstbestimmung Anderer, gehandelt haben. Hierbei bewegen wir uns in einem Spektrum von sexuell belästigendem Verhalten, bis hin zu schweren Formen der Vergewaltigung.
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in wesentlicher Bestandteil der Therapie von sexuell devianten Jugendlichen, ist die Verhinderung neuer Taten. Dies beinhaltet einerseits das Herausstellen der vorhandenen Täterstruktur sowie das Täterverhalten und den Tathergang zu skizzieren, um den Jugendlichen und das vermeintliche Opfer vor neuen Taten zu schützen. Zum anderen werden Interventionen wie die sexuelle Aufklärung, die Selbstwertsteigerung des Adoleszenten und die Psychoedukation als ein Merkmal der Prävention genutzt (Priebe, 2008). Insbesondere bedeutet dies für den Pflege- und Erziehungsdienst in der täglichen Interaktion mit dem Jugendlichen, diesen nicht auf das deviante Verhalten zu reduzieren. Demgegenüber werden jedoch die rechtlichen und moralischen Konsequenzen seines Handelns nicht relativiert. Stattdessen werden ihm im Kontext der Psychoedukation neue Lösungsstrategien im Umgang mit destruktiven Emotionen wie Wut, Aggression und Frustration aufgezeigt (Priebe, 2008). Die Psychoedukationsgruppe wird in einem multiprofessionellen Team durchgeführt. Hier wird unter anderem der Tathergang und der Verlauf detailliert erörtert, um mögliche Frühwarnzeichen, im Sinne der Prävention zu erkennen und bestehende Schemata zu unterbrechen. Hierbei besteht die größte Herausforderung darin, Rechtfertigungsstrategien, eigene Opfererfahrungen und Verantwortungsabgabe zu unterbinden. Insbesondere gilt es im Wesentlichen, den sexuellen Übergriff nicht mit Lust nach Liebe und Sexualität gleichzusetzen, sondern mit Macht und Machtmissbrauch sowie Rache und selbstgerechter Vergeltung (Spehr, Yoon & Briken, 2010). © 2018 Hogrefe
Offene Fragen und Ängste Ein weiterer essentieller Bestandteil ist die sexuelle Aufklärung. Hier offenbaren sich bei den devianten Jugendlichen im Rahmen der Therapie kontinuierlich große Wissenslücken, die sich unter anderem durch die schwierige schambehaftete Lebensphase der Adoleszenz erklären. Im schulischen Aufklärungsunterricht, der sich hauptsächlich mit der biologischen Entwicklung auseinandersetzt, finden offene F ragen oder Ängste, die aus Schamgefühl oft nicht gestellt werden, wenig Beachtung (Priebe, 2008). Somit bleiben Jugendliche und Heranwachsende im Umgang mit ihren Emotionen und ihrer aufkeimenden sexuellen Lust und deren Befriedigung auf sich allein gestellt. Hier erlebt der Pflege- und Erziehungsdienst in den regelmäßig stattfindenden Aufklärungsgruppen skurrile Annahmen über die weibliche Anatomie. So beschrieb beispielsweise ein Teilnehmer, dass seiner Ansicht nach, die Gebärmutter der Frau im Hals sitze. Durch einen hohen Medienkonsum mit pornographischen Inhalten entsteht vielfach bei den devianten Jugendlichen ein verzerrtes und aggressives Verständnis von gelebter Sexualität (Spehr, Yoon & Briken, 2010). Ein familiär ausgeprägtes missachtendes Frauenbild und eine falsche Darstellung von gesunden Machtverhältnissen in der elterlichen Beziehung dienen ihnen als Legitimation des übergriffigen Verhaltens und zur Rechtfertigung der begangenen Taten. Daher ist es von Bedeutung, diesen Mangel an Wissen und die emotionale Komponente zu berücksichtigen sowie ein wertschätzendes Frauenbild zu repräsentieren. InfolgePsychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 23–24 https://doi.org/10.1024/2297-6965/a000136
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dessen ist ein wesentlicher Bestandteil der Tätertherapie weibliche Mitarbeiter im ganzheitlichen Therapiekontext einzusetzen (Priebe, 2008).
Erhebliche Brisanz Im Stationsalltag liegt der Fokus in der Differenzierung von sozial erwünschtem Verhalten und dem klassischem „grooming“. Mit dem Phänomen „grooming“ wird die gezielte Beziehungsanbahnung durch Vertrauensaufbau zum potentiellen Opfer beschrieben, um sexuelle Kontakte herbei zuführen (Schuhrke & Arnold, 2009). Somit ist es von besonderer Relevanz, das Selbstwirksamkeitserleben zu stärken und eine gesunde Nähe- Distanzregulation zu fördern. Die sexuell devianten Jugendlichen berichten häufig von einem negativen Erleben durch Abwertung und Missachtung aus ihrem schulischen und primären sozialen Umfeld (Allroggen, Rau & Fegert, 2012). Eine erhebliche Brisanz ist hierbei, durch eine gezielte Selbstwertsteigerung und das Fördern von sozialen Kompetenzen den Adoleszenten darin zu unterstützen, mit den Anforderungen der Gesellschaft verantwortlich, kompetent und selbstbewusst umzugehen und nicht aus ihm einen „besseren Täter“ zu machen. Die Arbeit mit sexuell devianten Jugendlichen basiert auf dem humanistischen Grundgedanken und der lösungsorientierten Konfrontation mit dem vordergründig angepassten Verhalten. Eine weiterführende Behandlung ist aus unserer Sicht unumgänglich und findet zumeist in einer spezifischen Jugendhilfeeinrichtung statt. Deren Schwerpunkt gezielt auf die Prävention zukünftiger Delikte und einer realistischen Perspektivplanung ausgerichtet ist.
Literatur Allroggen, M., Rau, T. & Fegert, J. (2012). Sexuelle Übergriffe von Jugendlichen und Heranwachsenden auf Jugendliche. Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 60, 35–40. Priebe, B. (2008). Rückfallprophylaxe bei jungen Sexualstraftätern. Erfahrungen aus der ambulanten Arbeit mit sexuell grenzverletzenden Kindern und Jugendlichen. Zeitschrift für Sexualforschung, 21, 249–268. Schuhrke, B. & Arnold, J. (2009). Kinder und Jugendliche mit problematischem sexuellem Verhalten in (teil-)stationären Hilfen zur Erziehung. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 58, 186–214. Spehr, A., Yoon, D. & Briken, P. (2010). Sexuell auffällige Minderjährige. Zeitschrift für Sexualforschung, 23, 139–154.
Jutta Benz Erzieherin, B.A Psychische Gesundheit, Stationsleitung einer Tagesklinik in der LWL-Universitätsklinik Hamm der Ruhr-Universität Bochum, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik jutta.benz@lwl.org
Michael Loureiro Prati Erzieher, Stationsleitung einer jugendpsychiatrischen Station mit akutpsychiatrischem Schwerpunkt in der LWL-Universitätsklinik Hamm der Ruhr-Universität Bochum, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik michael.loureiro-prati@lwl.org
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Kamingespräch
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Sexuelle Übergriffe zum Thema machen Sabine Hahn im Gespräch mit Werner Tschan Werner Tschan ist promovierter Mediziner und Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Seit 1985 ist er im Fachgebiet tätig, seit 1990 in eigener Praxis. Sein Schwerpunkt ist die Psychotraumatologie sowie sexuelle Übergriffe durch psychiatrisch Tätige.
Sabine Hahn: Wofür brennt Ihr Herzen beruflich? Werner Tschan: Als Psychiater habe ich es mit leidenden Menschen zu tun – häufig durch Gewalterfahrungen verursacht. Ich kann nichts ungeschehen machen. Im besten Fall kann ich Betroffenen helfen, die Dinge hinter sich zu lassen und eine neue Lebensperspektive zu finden. Eine zentrale Aufgabe der Psychiatrie und Psychotherapie besteht darin, das Unrecht anzuerkennen, welches Betroffenen angetan wurde. Ich habe in meinem Beruf Wege gesucht, wie ich es machen kann und mich dabei intensiv mit Psychotraumatologie auseinandergesetzt. Was soll im Kaminfeuer verbrennen, da sich die Psychiatrie davon befreien muss? Das Festhalten an überholten Konzepten. Ich sehe oft Trauma-Betroffene, die von verschiedenen Gutachtern beurteilt wurden. Jeder kommt zu einer anderen Schlussfolgerung. Eine Meinung ist, dass die Betroffenen nichts von Bedeutung haben. Andere finden, dass die Beschwerden mit etwas Willensanstrengung zu überwinden sind. Diese unwissenschaftliche Vorgehensweise gehört ins Kaminfeuer. Die Ergebnisse über die epigenetischen Veränderungen, die Bindungstheorie und die Trauma-Forschung liefern überzeugende Erklärungsansätze über die Folgen, unter denen Betroffene leiden. Sie sind in einem tabuisierten Gebiet der Gesundheitsversorgung tätig. Können Sie unseren Lesern bitte kurz Ihren Werdegang schildern? Drei entscheidende Erfahrungen haben meinen beruflichen Werdegang geprägt. 1991 wurde ich durch die Fachgruppe der Psychiater in eine Arbeitsgruppe berufen, welche eine Vorgehensweise zu erarbeiten hatte, wenn BerufskollegInnen wegen sexualisierter Übergriffe in Behandlungen angeklagt wurden. In dieser Auseinandersetzung habe ich viel gelernt – nicht zuletzt, welche Mechanismen eine derartige Tabuisierung eines unliebsamen © 2018 Hogrefe
Sachverhaltes aufrechterhalten. Dann habe ich 1998 an der Universität Mainz eine Ausbildung in der Behandlung von Sexualdelinquenten absolviert – damit ich mit den Kolleginnen und Kollegen nach Fehlverhalten therapeutisch arbeiten konnte. Schliesslich habe ich an der Universität Zürich ein Masterstudium in Angewandter Ethik absolviert. Vor etwa zwanzig Jahren habe ich ein eigenes Forschungsinstitut zur Psychotraumatologie ins Leben gerufen. Ich habe seither weltweit viele Referate gehalten, diverse Bücher und Artikel verfasst sowie an zahlreichen TV-Sendungen mitgewirkt. Am meisten haben mich jedoch meine Patientinnen und Patienten mit ihren Erfahrungen geprägt. Sie haben mir immer wieder die Augen geöffnet und mir klar gemacht, was wir in unserem Job zu tun haben.
Der Patient wird kaum widersprechen Was ist sexuelle Gewalt und wie zeigt sie sich bei Fachleuten? Ich verwende heute den Begriff sexualisierte Gewalt – eine Gewalt, die sich im Sexuellen zeigt. Den Begriff sexuell verwende ich für einvernehmliche Sexualität. Sexualisierte Gewalt durch Fachleute ist leider ein häufiges Geschehen. Ich bezeichne Institutionen als Hochrisikobereiche Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 25–28 https://doi.org/10.1024/2297-6965/a000137
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für Übergriffe. Eine Fachperson will Übergriffe verüben, weil sich da beliebig viele Gelegenheiten ergeben. Die Täter schaffen sich ihre Tatorte und nutzen geschickt die Reputation der Institution resp. des Berufsfeldes aus. Wenn ein Arzt von einer Patientin verlangt, dass sie sich für die körperliche Untersuchung ganz frei machen soll, wird sie kaum widersprechen. Wenn eine Therapeutin beteuert, dass Liebe zwischen ihnen erlaubt sei, wird der Patient dies glauben. Wenn ein Pfleger einer Patientin zu nahe kommt, passiert dasselbe. Die fehlende Thematisierung der adäquaten Nähe und Distanz im Beruf und die unklare Rechtslage in der Schweiz machen es nicht einfacher. Wie häufig sind denn sexualisierte Übergriffe in der psychiatrischen Grundversorgung? Genaue Zahlen fehlen weitgehend. In der wissenschaftlichen Literatur geht man davon aus, dass 10 bis 20 % aller Fachpersonen im Bereich der psychiatrischen Grundversorgung Übergriffe verüben. Da die Anzeigerate gering ist, wird nur wenig bekannt. Betroffene Patientinnen und Patienten schweigen gewöhnlich jahrelang. Viele haben das Gefühl, selber schuld zu sein. Umgekehrt ist davon auszugehen, dass die überwiegende Mehrzahl aller psychisch erkrankten Personen an den Folgen sexualisierter Gewaltdelikte leidet. Die Gewalterfahrung hinterlässt Spuren. Dies hat die ACE-Studie (Adverse Childhood Experience) unmissverständlich gezeigt. Auch körperliche Beschwerden – in erster Linie, das was als psychosomatisch oder funktional bezeichnet wird – ist häufig in Zusammenhang mit Trauma-Folgen zu sehen. Nur wenige Ärztinnen und Ärzte wissen etwas Genaueres über TraumaFolgestörungen. Entsprechend unsicher sind sie in der Diagnostik und Therapie derartiger Beschwerden. Gibt es Berufsgruppen oder Situationen, die ein erhöhtes Risiko für sexualisierte Übergriffe auf Klientinnen und Klienten aufweisen? Je intimer die Untersuchungs- oder Behandlungssituation, desto grösser ist das Risiko. Der Täter kann seine Macht ausnutzen. Es darf allerdings nicht so verstanden werden, dass Untersuchungen und Eingriffe im Intimbereiche (etwa beim Gynäkologen, beim Urologen, beim Gastroenterologen, ebenso Intimpflege) generell mit einem höheren Risiko vergesellschaftet sind, im Gegenteil. Ohnehin sind oft bei derartigen Untersuchungen weitere Personen zugegen – schon wegen des Berufsrisikos, aufgrund von Fehlverhalten angeklagt zu werden. Das Risiko für Übergriffe bestimmt sich einzig und allein durch das Fehlverhalten einer Fachperson, die im Rahmen der beruflichen Rolle die Grenzen auslotet und potentielle Opfer identifiziert.
Ausgewogene Balance zwischen Nähe und Distanz Gerade in der psychiatrischen Pflege wird viel über Nähe und Distanz diskutiert. Die Pflege ist im 24-Std.Betrieb tätig und behauptet von sich, sehr nahe, auch Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 25–28
Kamingespräch
körperlich nahe (z. B. Körperpflege) am Patienten/der Patientin zu arbeiten. Ist die Gefahr von sexualisierten Übergriffen daher grösser? Ohne professionelle Nähe können wir unsere Arbeit nicht machen. Wichtig ist eine ausgewogene Balance zwischen Nähe und Distanz zu finden und die fachlichen Grenzen zu beachten. Es besteht die Gefahr nicht aufgrund der beruflichen Aufgabe, sondern wird ausschliesslich durch die eigene Haltung und den Umgang mit beruflichen Grenzen bestimmt. Dieser Punkt wird regelmässig übersehen. Dazu gibt es eine interessante Arbeit, welche Hals-NasenOhren-Ärzte mit Gynäkologen in Bezug auf Fehlverhalten verglichen hat und die 1992 im Deutschen Bundesministerium für Justiz publiziert wurde. Das Risiko für Übergriffe ist in beiden Berufsgruppen analog. Gibt es für mich als Fachperson Warnzeichen, wenn ich die Distanz verliere und beginne, Grenzen gegenüber der Patientin oder dem Patienten zu überschreiten? Ja, eindeutig, wenn sich Handlungsimpulse zusammen mit meinen Fantasien einstellen. Wenn ich anfange, mir zu überlegen, wie ich diese Person zu sexuellen Handlungen bringen kann, dann wird es kritisch. In diesem Moment überschreite ich als Fachperson eine rote Linie. Jetzt ist es fünf nach zwölf und Zeit für eine unverzügliche Hilfe! Hilfreich hat sich das Modell mit der Verkehrsampel erwiesen: Bewege ich mich im grünen Bereich, brauche ich weiter nichts zu unternehmen. Hingegen ist Vorsicht angesagt im gelben Bereich. Kommt es öfter vor, sollte ich meine Situation überdenken und fachliche Hilfe suchen. Den roten Bereich darf es in der beruflichen Situation nicht geben. Betroffene müssen vorher Hilfe suchen. Die Situation der häuslichen Pflege, wo eine Fachperson zu ihren Klientinnen und Klienten nach Hause geht: Birgt dies eine grössere Gefahr für sexualisierte Übergriffe? Oder spielt es keine Rolle, wo ich den Patientinnen und Patienten begegne? Das Risiko für sexualisierte Übergriffe wird nicht in erster Linie durch die Situation bestimmt, sondern durch die Haltung der Fachperson. Eine Fachperson, die fachlich korrekt vorgeht, macht nirgendwo Übergriffe. Umgekehrt können Sie davon ausgehen, dass eine tatbereite Fachperson eher Übergriffe begeht, wenn es die äusseren Umstände erlauben. Dem ist in der Ausbildung Rechnung zu tragen. Fachleute müssen wissen, wo die Grenzen liegen und was bei deren Verletzung geschieht. An welchen Leitlinien können sich Pflegefachpersonen in den deutschsprachigen Ländern orientieren? Diverse Berufsverbände haben über die letzten Jahre klare Richtlinien erarbeitet. Das Thema ist eindeutig aus der Schmuddel-Ecke geholt worden. Auch wurden Vorgehensweisen erarbeitet, welche Massnahmen Mitarbeitende zu ergreifen haben, wenn sie von derartigen Vorfällen Kenntnis erlangen. Arbeitsrechtlich gilt heute in vielen Betrieben eine Meldepflicht, deren Nichtbefolgung drastische © 2018 Hogrefe
Kamingespräch
Konsequenzen nach sich ziehen kann. Gesetzlich ist allerdings die Meldepflicht uneinheitlich geregelt. Dies führt zu einer hohen Rechtsunsicherheit, welche die Politik dringend korrigieren muss.
Rechtzeitig „Stop“ sagen Was ist zu tun, wenn ich merke, dass ich die Distanz zu meiner Patientin, meinem Patienten verliere oder einen sexualisierten Übergriff begangen habe? Es sind zwei unterschiedliche Dinge. Wenn ich rechtzeitig Stop sagen und Hilfe suchen kann, dann kann ich meinen Beruf weiter ausüben. Die Hilfe besteht in einem Boundary Training. Es ist eine deliktorientierte rückfallpräventive Interventionsstrategie, verbunden mit einem Monitoring. Wenn jemand einen Übergriff verübt hat, drohen strafrechtliche Konsequenzen. Da richtet sich das weitere Vorgehen nach den gerichtlichen Auflagen. Es reicht von Berufsverbot, therapeutischen Massnahmen, Bußen und sonstigen Auflagen. Wie soll ich mich als Kollegin, Kollege verhalten, wenn ich eine Grenzüberschreitung beim Kollegen, bei der Kollegin vermute? Viele Betriebe haben inzwischen für derartige Situationen interne und externe Meldestellen sowie eine Meldeplicht geschaffen – damit hat man eine klare Handhabe. Kein Mitarbeiter darf und soll auf eigene Faust Ermittlungen zum Sachverhalt anstellen. Es ist ausschließlich Sache der Ermittlungsbehörden. Der Betrieb muss in einer internen Entscheidungsfindung die Ausgangslage sichten und die Vorgehensweise festlegen. Im Zweifelsfall wird durch die Leitung eine Anzeige erstattet. Mitarbeiter seien gewarnt, wenn sie denken, es gehe sie nichts an. Schweigen ist die schlechteste Option! Sie müssen damit rechnen, dass gegen sie eine Anklage wegen unterlassener Hilfeleistung erhoben werden kann. Was genau ist Ihre Aufgabe: was tun Sie mit Personen, die sexualisierte Gewalt an Patientinnen und Patienten verübt haben? Können diese Personen noch weiter arbeiten? Die Begriffe fachliches Fehlverhalten oder Übergriff suggerieren eine einheitliche Problematik – das ist aber nicht der Fall. Im Alltag sehe ich alle möglichen Ausgangslagen, von relativ einfachen Grenzverletzungen bis zu gravierenden Sexualdelikten. Der Einzelfall erfordert individuelle Lösungen. So sehen es auch die Gerichte. Grob lassen sich die Übergriffe in der fachlichen Rolle in drei Kategorien einteilen: 1. situationale Gründe (persönliche Krise, einmaliges Fehlverhalten, keine gravierenden Delikte) 2. krankheitsbedingte Gründe (psychiatrische Leiden inkl. Suchterkrankungen, körperliche Erkrankungen mit Beeinträchtigung der Exekutivfunktionen) 3. forensisch relevante Störungsbilder (Pädosexualität, Gewaltanwendung u. a.). Die Interventionsansätze rich© 2018 Hogrefe
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ten sich nach den Gründen und werden aufgrund eines individuellen Assessments festgelegt. Eine Weiterbeschäftigung ist fallweise zu prüfen. Nach Abschluss eines Behandlungsprogramms wird mittels einer individuellen Risikoprüfung die Frage der Weiterbeschäftigung geklärt. Grundsätzlich ist eine weitere Berufstätigkeit nur mittels eines Monitorings zu verantworten. Was hat die Prävention und die Aufarbeitung von sexualisierten Übergriffen mit Fehlerkultur zu tun? Die Fehlerkultur beschreibt, wie eine Einrichtung oder eine Berufsdisziplin mit Fehlverhalten umgeht. Im Gesundheitswesen war man diesbezüglich lange sehr blauäugig und hat die Vorfälle bagatellisiert oder als bedauerliche Einzelfälle hingestellt. Was nicht sein darf, das ist nicht. Auch die Aufsichtsorgane im Gesundheitswesen gehen sehr uneinheitlich mit Vorfällen um. Meistens kann man ein generelles Unwissen um die Interventionsmöglichkeiten feststellen. Es hat in erster Linie damit zu tun, dass das fachliche Fehlverhalten und die Vorgehensweisen kaum curricular vermittelt werden. Die Implementierung von Schutzkonzepten setzt jedoch ein Problembewusstsein voraus. Solange man denkt, dies gibt es nicht bei uns, wird man durch die Realität böse eingeholt. Das Beispiel der katholischen Kirche, die ja auch Träger vieler Einrichtungen im Gesundheitswesen ist, hat dies deutlich gezeigt. Prävention muss vorausschauend konzipiert werden – nicht erst, wenn Vorfälle publik werden.
Eine proaktive Vorgehensweise hilft Was ist meine Verantwortung als Vorgesetzte um eine gute Prävention von sexualisierter Gewalt gegenüber Klientinnen und Patienten zu betreiben? Ist hier die allgemeine Gewaltprävention hilfreich? Wichtig ist in erster Linie, das Ganze zu einem Thema im Betrieb zu machen sowie die notwendigen Vorkehrungen zu treffen. Dies beinhaltet die Schaffung einer Meldestelle, die allen Ansprechpartner bekannt zu machen ist (Mitarbeiter, Patienten, Angehörige, Aufsichtsgremien), die Implementierung einer Meldepflicht (die Leitung kann nur aktiv werden, wenn sie Kenntnis erhält), die Implementierung einer Richtlinie über die Vorgehensweise bei fachlichem Fehlverhalten. Weiter müssen Leitungspersonen ein Netzwerk für Beratung und Erfahrungsaustausch aufbauen. Sie müssen Vorkehrungen für den Fall treffen, dass es zu Grenzverletzungen kommt (Kommunikation, wie soll man Betroffenen begegnen? u. a.). Das ganze Massnahmenbündel wird unter dem Begriff von Schutzkonzepten in Einrichtungen zusammen gefasst. Was sind die häufigsten Fehler, die im Umgang mit sexualisierte Gewalt von Vorgesetzen gemacht werden? Viele gehen davon aus, dass sie in ihrem Betrieb nie mit derartigen Vorfällen zu tun haben werden. Leider zeigt die Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 25–28
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Kamingespräch
Werner Tschan
Sexualisierte Gewalt Praxishandbuch zur Prävention von sexuellen Grenzverletzungen bei Menschen mit Behinderungen
Werner Tschan (2012). Sexualisierte Gewalt – Praxishandbuch zur Prävention von sexuellen Grenzverletzungen bei Menschen mit Behinderungen. Bern: Huber. ISBN 978-3-456-85109-9, 204 Seiten, € 28.95, CHF 39.50.
griffe unter Klienten oder an Mitarbeitenden. Eine proaktive Vorgehensweise hilft mit, in der Einrichtung ein Klima von Sicherheit zu schaffen. Die Implementierung von Schutzkonzepten ist mit wesentlich geringerem Aufwand zu bewerkstelligen als die Schadensbewältigung nach entsprechenden Vorfällen. Danke, Herr Tschan, für das offene Gespräch über ein Thema, das leider viel zu selten reflektiert wird.
Erfahrung, dass sich rund ein Drittel aller Übergriffe in Einrichtungen zutragen. Dabei handelt es sich nicht nur um Übergriffe durch Fachleute, sondern auch um Über-
Prof. Dr. Sabine Hahn (PhD) ist Mitherausgeberin der Psychiatrischen Pflege, Diplomierte Pflegefachfrau Psychiatrie, Pflege- bzw. Gesundheitswissenschaftlerin; leitet am Fachbereich Gesundheit der Berner Fachhochschule die Disziplin Pflege und die angewandte Forschung und Entwicklung/Dienstleistung Pflege. sabine.hahn@bfh.ch
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Quintessenz
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Das Trauma aus zweiter Hand Sekundäre Traumatisierungen von psychiatrisch Pflegenden Anja Maria Reichel
In der psychiatrischen Pflege stellt sich immer wieder die Frage nach sekundären Traumatisierungen für die helfenden Personen. Die Studie von Rixe und Luderer (2017) geht dem Phänomen auf den Grund und wird hier vorgestellt.
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ie Annahme, dass durch Traumatisierungen ausgelöste Symptome sich auch auf Menschen im sozialen Umfeld der Betroffenen übertragen können, hat in den letzten Jahren eine verstärkte Aufmerksamkeit erhalten (Daniels, 2010). Im Hinblick auf die Auswirkungen einer dauerhaften Tätigkeit in der psychiatrischen Pflege von traumatisierten Menschen sensibilisiert die vorliegende Arbeit daher für die bisher wenig beachtete Tatsache, dass die Pflege von Traumatisierten ihren Preis hat, der ohne Gegenmaßnahmen zu großen Teilen von den Pflegenden selbst gezahlt werden wird (Figley, 1995).
Ziel der Studie Hintergrund Die Autoren identifizieren eine dürftige Forschungsbasis in Bezug auf die Häufigkeit und die Risikofaktoren von sekundären Traumatisierungen als Folge der Arbeit mit Traumatisierten in der psychiatrischen Pflege des deutschsprachigen Raums. Die Literaturrecherche ergab verschiedene Definitionen sowohl des Begriffs selbst als auch der besonderen Risikogruppen. Für die vorliegende Studie wurde folgende Definition zugrunde gelegt: eine sekundäre Traumatisierung ist eine „Traumatisierung, die ohne direkte sensorische Eindrücke des Ausgangstraumas, sowie mit zeitlicher Distanz zum Ausgangstrauma entsteht“ (Daniels, 2006, S. 2). Nach einer kurzen Vorstellung möglicher Symptome sekundärer Traumatisierungen weisen die Autoren auf die zu erwartenden Auswirkungen hin, die zum einen die psychiatrisch Pflegenden dauerhaft in ihrer Gesundheit schädigen, als auch zum anderen die Versorgung der traumatisierten Menschen nachteilig beeinträchtigt. Die vorliegende Arbeit soll entsprechend eine wissenschaftliche Basis für eine spezifische Präventionsstrategie und Gesundheitsförderung in Bezug auf sekundäre Traumatisierungen liefern. © 2018 Hogrefe
Im Rahmen der vorliegenden Prävalenzstudie wollen die Autoren erfassen, wie häufig sekundäre Traumatisierungen bei psychiatrisch Pflegenden in Zusammenhang mit ihrer Berufstätigkeit vorkommen bzw. wie häufig sich Angehörige der Berufsgruppe durch die Inhalte ihrer Tätigkeit belastet fühlen. Es sollen bestimmte Risikofaktoren erfasst werden, die mit dem direkten, speziellen Arbeitsfeld innerhalb des jeweiligen psychiatrischen Pflegefeldes zusammenhängen.
Methode Die Autoren sammelten Daten mittels eines nachweislich geeigneten standardisierten Fragebogens zur Messung sekundärer Traumatisierungen von Daniels (2006), dieser wurde ergänzt durch einen einleitenden Teil zur Gewinnung der erforderlichen Daten zur Biographie und persönlichen sozialen Lebenssituation, sowie einen abschließenden Teil zur Kategorisierung des speziellen psychiatrischen Arbeitsfeldes. Die Gewinnung der Probanden erfolgte zum einen über eine großflächig verbreitete Online-Befragung soPsychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 29–30 https://doi.org/10.1024/2297-6965/a000138
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wie über eine schriftliche Befragung in verschiedenen Kliniken und psychiatrischen Pflegediensten. Die Zweigleisigkeit dieser Datengewinnungsmethode soll eine höhere Generalisierbarkeit der Daten sichern. Der Erhebungszeitraum erstreckte sich von Mai bis August 2016. Insgesamt 1284 Datensätze konnten schlussendlich vollständig ausgewertet werden.
Wichtigste Ergebnisse Es fanden sich in allen Arbeitsfeldern der psychiatrischen Pflege (bspw. ambulant/teilstationär/stationär, Kinderund Jugendpsychiatrie/Erwachsenenpsychiatrie/Gerontopsychiatrie/Forensik) klassifizierbare sekundäre Traumatisierungen. Etwa ein Drittel aller Befragten aus den Bereichen teilstationäre psychiatrische Pflege und Forensik gaben ein hohes Belastungserleben an, was diese Arbeitsfelder zu Spitzenreitern macht. Im teilstationären Bereich fanden sich hierbei auch die schwerwiegendsten Ausprägungen der sekundären Traumatisierung. Durchschnittlich findet sich bei der gesamten Stichprobe psychiatrisch Pflegender aus dieser Studie ein Anteil an 21,3 %, also einem Fünftel, der mit einer sekundären Traumatisierung belastet ist. Wiederum ein Drittel hiervon weist eine schwere Symptombelastung auf.
Quintessenz
sekundäre Traumatisierung dar. Somit handelt es sich um eine relevante arbeitsbedingte Belastung. Die Gefahr einer Chronifizierung vorübergehenden Belastungserlebens sowie die negative Beeinträchtigung der Beziehungsarbeit zu den Patienten und Betroffenen machen eine systematische Sensibilisierung hinsichtlich sekundärer Traumatisierungen bei allen Beteiligten erforderlich. Arbeitgeber und Berufsverbände sind gut beraten, Präventionsangebote zu entwickeln. Supervision und Intervision bieten gute Grundlagen für kollegialen Austausch, gezieltes Training geeigneter Copingstrategien sowie Resilienz-Training werden von den Autoren der Studie besonders empfohlen. Ein Ausblick auf die zu erwartenden Anstiege bei den zu versorgenden traumatisierten Menschen im Gesundheitssystem – als Beispiel sei die Flüchtlingsversorgung genannt – zeigt die Bedeutung einer umfassenden Unterstützung für die helfenden Professionen in diesem Feld. Der zu zahlende Preis weiter ansteigender Fälle sekundärer Traumatisierungen wird im Hinblick auf die aktuellen Probleme des Berufsfeldes psychiatrischer Pflege wie den Fachkräftemangel schmerzlich hoch sein. Eine Investition in Prävention und Gesundheitsförderung erscheint vor diesem Hintergrund als gewinnbringend für alle Beteiligten.
Literatur Diskussion und Schlussfolgerung Zu Ende der Forschungsarbeit setzen sich die Autoren intensiv kritisch mit den Limitationen ihrer Arbeit auseinander. Dem Leser werden ausführlich die verschiedenen Zugänge zum Studiendesign, zur Stichprobenart und zum Datenerhebungsverfahren erläutert. Es fällt auf, dass in der Diskussion der Ergebnisauswertung lediglich von der empfundenen Belastung durch die Schilderung traumatischer Erlebnisse die Rede ist. Die Praxis zeigt jedoch, dass psychiatrisch Pflegende durch ihre besondere Rolle der Alltagsbegleitung traumatisierter Menschen auch durch diverse andere Symptompräsentationen wie selbstschädigendes Verhalten, Ausstieg aus der Realität oder erhöhte Schreckhaftigkeit, hochgradig belastet sein können – dies kommt in der vorliegenden Arbeit nicht zur Sprache. Nach Abschluss dieser Bewertung bleibt festzuhalten: Psychiatrisch Pflegende stellen eine Risikogruppe für eine
Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 29–30
Daniels, J. (2006). Sekundäre Traumatisierung – kritische Prüfung eines Konstruktes. Unveröffentlichte Dissertation Universität Bielefeld. Daniels, J. (2010). Sekundäre Traumatisierung von Pflegerinnen und Pflegern. Psychiatrische Pflege Heute, 16, 202–205. Figley, C. R. (1995) (Hrsg.). Compassion fatigue: Coping with Secondary Traumatic Stress Disorder in those who Treat the Traumatized. New York: Brunner-Routledge. Rixe, J. & Luderer C. (2017). Das Trauma aus zweiter Hand – Sekundäre Traumatisierungen von psychiatrisch Pflegende. Pflege & Gesellschaft, 22, 213–230.
Anja Maria Reichel MSc Nursing Studies, stellvertretende Pflegedirektorin und Pflegedienstleitung am Asklepios Fachklinikum für Psychotherapie und Psychosomatik Tiefenbrunn, Krankenschwester, Traumazentrierte Fachberatung und -begleitung an.reichel@asklepios.com
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Schwer verdaulich Zum Phänomen des intendierten Fremdkörperschluckens im Kontext der forensischen Psychiatrie – Probleme, Nöte und Lösungswege Susanne Schoppmann
Intendiertes Fremdkörperschlucken, das absichtliche Verschlucken unverdaulicher Fremdkörper, ist ein eher seltenes Phänomen, das in der Literatur unterschiedlich bezeichnet wird. Es führt zu Übertragungsphänomenen, denen individuell begegnet werden muss.
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s wird etwa als Deliberate Foreign Body Ingestion (DFBI; Poynter, Hunter, Coverdale & Kempinsky, 2011), Repetitive Foreign Body Ingestion (RFBI; Lytle, Stagno & Daly, 2013) oder auch als Selfinjury Ingestion (SII; Navinés, Gutierrez, Arranz, Moreno-Espana, Imaz, Soler, Vazquez, Pascual & Martin-Santos, 2013) bezeichnet und den selbstverletzenden Verhaltensweisen zugerechnet.
Problemstellung Der weitaus größte Teil der Literatur, die sich mit diesem Phänomen beschäftigt, kommt aus Disziplinen wie der Chirurgie und der Gastroenterologie und behandelt die Entfernung der geschluckten Fremdkörper. Im Bereich der psychiatrischen Literatur finden sich einige Fallvorstellungen (Dyke, Hendry, Hill, Schultz, Mason & Glue, 2014; Gitlin, Caplan, Braun &Barsky, 2007; Klein, 2012; Navinés, Gutierrez, Arranz, Moreno-Espana, Imaz, Soler, Vazquez, Pascual & Martin-Santos, 2013; Reisner, Bornovalova, Gordish, Baker, Smith & Sexton, 2012), ethische Überlegungen zu Fragen der Behandlungspflicht (Lytle, Stagno & Daly, 2013) und literaturbasierte Handlungsempfehlungen (Poynter, Hunter, Coverdale & Kempinsky, 2011). Dabei gibt es eine weitgehende Übereinstimmung darin, dass dieses Phänomen auch bei erfahrenen psychiatrisch Tätigen zu einer aversiven Gegenübertragung und damit zu Schwierigkeiten in der Behandlung führen kann (Gitlin, Caplan, Braun & Barsky 2007, Poynter, Hunter, Coverdale & Kempinsky, 2011; Navinés, Gutierrez, Arranz, MorenoEspana, Imaz, Soler, Vazquez, Pascual & Martin-Santos, 2013; Reisner, Bornovalova, Gordish, Baker, Smith & Sexton, 2012). Deswegen wird eine Begleitung der Behandeln© 2017 Hogrefe
den im Umgang mit dieser aversiven Gegenübertragung empfohlen und gelegentlich auch als integraler Bestandteil der Behandlung (Poynter, Hunter, Coverdale & Kempinsky, 2011) angesehen, ohne dass näher beschrieben wird, wie diese Begleitung gestaltet werden kann. Klein (2012) betrachtet das Phänomen aus forensischer Perspektive und beschreibt, dass nach einer US-amerikanischen Erhebung pro Jahr etwa 2 % der Gefangenen selbstverletzendes Verhalten einschließlich des Verschluckens von Fremdkörpern zeigen. Derartige Verhaltensweisen treten in einigen Systemen täglich auf. Eine Häufung findet sich nach der Studie auf geschlossenen Stationen der maximalen Sicherheitsstufe. Dies passt zu der von Gitlin, Caplan, Braun & Barsky (2007) vermuteten Funktion des Symptoms – Selbstbestrafung, Fremdbestrafung und das Erzwingen von Fürsorge- in Zusammenhang mit Persönlichkeitsstörungen: „The behavior of ingesting objects thus has the combined function of self-punishment and the punishment of others, as well as forcing others to provide care.” Andere Autoren (Reisner, Bornovalova, Gordish, Baker, Smith & Sexton, 2012) diskutieren, ob gerade langandauernde stationäre Aufenthalte in der Psychiatrie zu diesem Verhalten beitragen, da es für die Betroffenen eine Möglichkeit darstelle, eine fragile Kontrolle über das eigene Selbst durch die Selbstverletzung aufrecht zu erhalten. Konsequenterweise empfehlen sie, diese Patientinnen und Patienten möglichst in einem ambulanten Setting psychotherapeutisch zu behandeln. Eine ambulante Behandlung ist bei Patientinnen und Patienten des Maßregelvollzugs initial nicht möglich, so dass es für Mitarbeitende dort unumgänglich ist, sich mit der Symptomatik und den daraus resultierenden Problemen auseinanderzusetzen. Nachfolgend werden diese Probleme beschrieben und mögliche Lösungswege aufgezeigt.
Negative Gefühle der Mitarbeitenden in Zusammenhang mit Selbstverletzendem Verhalten Dass selbstverletzendes Verhalten bei professionellen Helfern negative Gefühle von Befremden bis Ärger auslösen kann, ist hinlänglich bekannt (Schoppmann, 2003; Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 31–34 https://doi.org/10.1024/2297-6965/a000139
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Schoppmann, Herrmann & Tilly, 2014). Dabei erweckt die klinische Praxis den Eindruck, dass selbstverletzendem Verhalten inzwischen gelassener begegnet werden kann, was möglicherweise mit dem Wissenszuwachs durch die Verbreitung von Konzepten wie der Dialektisch Behavioralen Therapie (DBT; Schulte-Herbrüggen & Galinat 2013) zu tun hat. Anders verhält es sich mit dem sehr viel seltener auftretenden Phänomen des intendierten Fremdkörperschluckens, welches auch einige Unterschiede zu anderen Formen selbstverletzenden Verhaltens aufweist. Einer von Palta, Sahota, Bemarki, Salama, Simpson & Laine (2009) durchgeführten Erhebung zufolge sind die am häufigsten geschluckten Gegenstände Zahnbürsten, Kugelschreiber, Bleistifte, Löffel, Batterien, Rasierklingen, Glasscherben und Büroklammern. Die intendierte Fremdkörperingestion ist zunächst befremdlich und löst in der Folge bei Behandelnden und Betreuenden Unruhe aus, da jedermann mit dem Verschlucken solcher Fremdkörper eine intestinale Verletzungsgefahr verbindet. Dies ist einer der Unterschiede zu äußerlichem selbstverletzenden Verhalten. Es kann selbstverständlich gefährliche Auswirkungen haben, aber Menschen, die sich schneiden, ritzen oder Verbrennungen zufügen, zeigen ihre Verletzungen, wenn Sie Hilfe benötigen. Das Ausmaß der Verletzung ist unmittelbar sichtbar und in der Regel kann sofort reagiert und notwendigen Maßnahmen ergriffen werden. Dies heißt, der Akt der Selbstverletzung ist spätestens dort zu Ende, wo die Hilfe in Anspruch genommen wird. Menschen, die Fremdkörper verschlucken, sind noch mitten im Verletzungsprozess, wenn sie sich an Helfende wenden. Nicht immer sagen sie direkt, dass sie einen Gegenstand verschluckt haben. Es kann auch sein, dass sie lediglich über einen wagen Bauchschmerz oder Erbrechen klagen. Äußerlich ist nicht feststellbar, ob wirklich ein Gegenstand geschluckt wurde. Es wird ein aufwändiger diagnostischer Prozess in Gang gesetzt und die Gefahr ist erst dann gebannt, wenn der Fremdkörper entweder erfolgreich ausgeschieden oder endoskopisch oder chirurgisch
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entfernt wurde. Selbst dann sind negative Folgen einer solchen Intervention nicht ausgeschlossen, d. h. dieses Verhalten hält die Helfenden längere Zeit in Atem. Gitlin, Caplan, Braun & Barsky (2007) gehen sogar so weit, davon zu sprechen, dass hier die professionell Tätigen als Geiseln genommen werden. Ein weiterer Unterschied zu anderen Formen selbstverletzenden Verhaltens ist, dass sich im forensischen Setting die Verfügbarkeit von scharfen, spitzen oder anderweitig gefährlichen Gegenständen vergleichsweise gut kontrollieren lässt. Wohingegen eine Gestaltung der Umgebung dahingehend, dass sich nichts mehr findet, was verschluckt werden könnte, praktisch unmöglich ist. Erneutes Verschlucken von Fremdkörpern lässt sich nicht verhindern. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass sich bei den Behandelnden häufig Gefühle von Ohnmacht, Ärger, Sinnlosigkeit, Resignation und Frustration einstellen.
Die Not der psychiatrisch Pflegenden – die Not der fremdkörperschluckenden PatientInnen Die mit dem Verschlucken von Fremdkörpern verbundene Gefahr für die Patientinnen und Patienten lässt insbesondere die psychiatrisch Pflegenden alle Anstrengungen unternehmen das Verschlucken von Gegenständen zu verhindern – beispielsweise durch eine konstante 1:1-Begleitung oder durch die regelmäßige Kontrolle mit einem Metalldetektor. Werden trotzdem Fremdkörper verschluckt, entsteht die Notwendigkeit der wiederholten Überstellung in Polizeibegleitung in die somatische Klinik. Dies führt zu Konflikten mit den Mitarbeitenden der Endoskopie und der Chirurgie, aber auch der Polizei. Sie fragen natürlich, warum es nicht möglich ist, ein solches Verhalten zu unterbinden und stellen nicht selten die Kompetenz der Mitarbeitenden der forensischen Psychiatrie in Frage. Zusätzlich führt die hohe Personalbindung
Abbildung 1. Verschluckte und entfernte Gegenstände. Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 31–34
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dazu, dass die Angebote für die anderen Patientinnen und Patienten eingeschränkt werden müssen, was zu großer Unzufriedenheit und Verärgerung bei den Mitpatientinnen und Mitpatienten führen kann. Die Pflegenden müssen mehrere schwierige Gefühle gleichzeitig aushalten –wie die Sorge, eine möglicherweise lebensgefährliche Verletzung nicht unterbunden zu haben. Damit verbunden sind die eigenen Insuffizienzgefühle, der Ärger darüber, für inkompetent gehalten zu werden und der moralische Konflikt, zeitliche Ressourcen für andere Patientinnen und Patienten beschränken zu müssen. Diese unangenehme und schwierige Situation kann dazu führen, dass fremdkörperschluckende Patientinnen und Patienten immer engmaschiger kontrolliert und überwacht werden. Darüber hinaus werden immer weniger Handlungsspielräume eingeräumt. Das Zähneputzen mit einer Zahnbürste wird nicht mehr gestattet, weil dabei das Schlucken der Zahnbürste nicht verhindert werden kann. So entsteht ein Teufelskreis aus Macht und Ohnmacht (Reisner, Bornovalova, Gordish, Baker, Smith & Sexton, 2012). Die Pflegenden kontrollieren die Patientinnen und Patienten durch mehr Sicherheitsmaßnahmen. Gleichzeitig versuchen die Betroffenen, eine fragile Kontrolle durch erneutes Schlucken von Fremdkörpern aufrecht zu erhalten, was in einen Teufelskreis führt. Eine Möglichkeit, sich aus diesem Kreislauf zu befreien, besteht im automatischen Rückzug aus der Unterstützung dieser Patientinnen und Patienten oder im Beenden der Behandlung durch Verlegung in eine andere Einrichtung. Dem entgegen steht die ethische Abwägung (Lytle et al., 2013) der Fragen von Behandlungspflicht, Patientenautonomie und dem Recht auf Behandlung. Eine andere Möglichkeit besteht darin, Mitarbeitende in dieser schwierigen Situation zu begleiten.
Lösungswege Poynter et al. (2011) geben folgende fünf generelle Handlungsempfehlungen für den Umgang mit intendiertem Fremdkörperschlucken ab: Für eine sichere Umgebung sorgen, medizinische oder chirurgische Konsequenzen handhaben, versuchen, die Frequenz zukünftigen Fremdkörperschluckens zu reduzieren, mit den unvermeidlichen Gegenübertragungsgefühlen umgehen und das weitere institutionelle Umfeld ansprechen. Anhand der praktischen Erfahrung mit dem Fall einer fremdkörperschluckenden Patientin (Mescher, Kochuparackal & Schoppmann, 2016) soll nachfolgend auf die Zusammenarbeit mit dem weiteren institutionellen Umfeld und auf die Begleitung des Teams im Umgang mit den unvermeidbaren Gegenübertragungsgefühlen eingegangen werden. Die Zusammenarbeit über die Grenzen der Institution hinaus erfordert aktives Aufeinander-Zugehen und Vernetzung. Regelmässige Kontakte mit Mitarbeitenden aus Endoskopie, Chirurgie, Psychiatrie und der Polizei können nicht nur zum gegenseitigen Verständnis beitragen, son© 2017 Hogrefe
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dern auch der Wissensvermittlung und konkreten Absprachen dienen. Im Verlauf konnte im Rahmen dieser Zusammenarbeit eine konkrete Vorgehensweise für das Verschlucken von Gegenständen erarbeitet werden. Dazu gehört, dass in der Regel Gegenstände mit einer Länge unter 6 cm zunächst nicht sofort entfernt werden müssen, da sie auf natürlichem Weg ausgeschieden werden können. Längere Gegenstände hingegen, wie etwa Zahnbürsten, verursachen Probleme bei der Passage und sollten in einem Zeitfenster von 48 Stunden entfernt werden. Gegenstände, die in der Speiseröhre steckenbleiben und diese obstruieren oder perforieren, stellen einen medizinischen Notfall dar, auf den zeitnah, spätestens innerhalb von 24 Stunden reagiert werden sollte (Poynter, Hunter, Coverdale & Kempinsky, 2011; Klein, 2012). Es bedeutet, dass nicht bei jedem Vorfall sofort und unmittelbar reagiert werden muss, sondern notwendige Untersuchungen und Interventionen in der somatischen Klinik geplant und abgesprochen werden können. Dieser Austausch von somatischem und psychiatrischem Fachwissen hat wesentlich zur Entspannung der Situation zwischen den beteiligten Personen und Institutionen beigetragen. In der Begleitung des Teams im Umgang mit den aversiven Gegenübertragungsgefühlen erwies sich die Wissensvermittlung ebenfalls als hilfreich. Sie trug dazu bei, die Gefährlichkeit des Fremdkörperschluckens angemessen zu relativieren. Angemessen relativieren meint, diese Gefährlichkeit nicht zu negieren, sie aber auch nicht zu überbewerten. Zu einer weiteren Entlastung trug die Erkenntnis bei, die sich anhand der Literatur bestätigen ließ, dass es unmöglich ist eine Umgebung frei von verschluckbaren Gegenständen zu halten. Sie erlaubte es insbesondere den Pflegenden, ihre Verantwortung für das intendierte Fremdkörperschlucken angemessen zu relativieren und damit eigene Insuffizienzgefühle zu reduzieren. Neben der Wissensvermittlung war die tägliche, gemeinsam mit einer Pflegewissenschaftlerin vorgenommene Reflektion der Situation hilfreich im Erkennen und Benennen der aversiven Gegenübertragungsgefühle. Es war notwendig, einen Schutzraum zu schaffen, in dem diese Gefühle ausgesprochen werden konnten, ohne eine Beurteilung befürchten zu müssen. Dies gelang, indem vereinbart wurde, dass aversive Gefühlsäußerungen nur von demjenigen selbst bewertet werden, der sie äußert. Jeder würde seine eigene Reisschale waschen und nicht diejenige seiner Kolleginnen und Kollegen. Das trug zu einer offenen Atmosphäre bei, in der Dinge ausgesprochen und reflektiert werden konnten. Dabei wurden die Pflegenden sich selbst gewahr, dass sie sich von der Patientin mehr und mehr in die Rolle des kontrollierenden und versagenden Bewachers gedrängt fühlten, was mit ihrem Selbstbild als Pflegende erheblich kollidierte. Diese Selbstreflektion konnte dann mit dem Wissen um den Teufelskreis aus Macht und Ohnmacht verknüpft werden, so dass der Wunsch der Pflegenden nach durchgängiger Kontrolle der Situation relativiert werden konnte. Dies wiederum war die Voraussetzung dafür, dass der Patientin wieder mehr Handlungsspielraum Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 31–34
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gegeben werden und der beschriebene Teufelskreis durchbrochen werden konnte – etwa indem ihr zum Zähneputzen eine über den Finger stülpbare Kinderzahnbürste, deren Verschlucken eher ungefährlich ist, angeboten wurde. Eine dritte hilfreiche Strategie bestand darin, den Pflegenden Möglichkeiten der Selbstfürsorge, in Form von Distanzierungstechniken, aufzuzeigen. Allerdings war dies nicht nachhaltig. Die Techniken gerieten immer wieder in Vergessenheit. Dies änderte sich, als im Rahmen einer scherzhaften Situation, wobei dem Humor als einer Form der Distanzierung eine wichtige Rolle zukommt (Lubinska-Welch, Pearson, Comer & Metcalfe, 2016), eine Pflegeplanung für die Selbstfürsorge der Pflegenden erstellt und für alle zugänglich dokumentiert wurde. Dies wurde dann als sehr hilfreich erlebt.
Fazit Wie die multidisziplinäre Evaluation (Rabenschlag, 2016) zeigte, trug die Begleitung durch eine Pflegewissenschaftlerin bestehend aus den Komponenten der Wissensvermittlung, der Anleitung zur Reflektion und dem Aufzeigen von Möglichkeiten der Selbstfürsorge dazu bei, dass die Mitarbeitenden Distanz zu der belastenden Situation herstellen und so besser damit umgehen konnten, was letztlich der Patientin zugutekam. Dass Distanzierung im Umgang mit Belastungen eine hilfreiche Strategie darstellt, ist an sich keine neue Erkenntnis und wird ebenso wie die Sorge für die eigene Psychohygiene als Teil professionellen Handelns verstanden (Reddemann, 2003). In der Berufsgruppe der Pflegenden stehen dafür bisher Fallbesprechungen und Supervisionen zur Verfügung. Die engmaschige Begleitung durch eine Pflegewissenschaftlerin war ein Novum. Sie wurde von den Pflegenden vor Ort sehr geschätzt, stellte sie doch eine Begleitung von außen und doch aus der eigenen Berufsgruppe dar. Insofern wurde hier eine neue Möglichkeit der Begleitung von Teams in der psychiatrisch-forensischen Behandlung von Menschen, die unter intendiertem Fremdkörperschlucken leiden, erprobt und damit die Literatur um praktische Hinweise ergänzt.
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Lubinska-Welch, I., Pearson, T., Comer, L. & Metcalfe, S. E. (2016). Nurses as Instruments of Healing. Self-Care Practices of Nurses in a Rural Hospital Setting. Journal of Holistic Nursing, 34, 221–228. Lytle, S., Stagno, SJ. & Daly, B. (2013). Repetitive Foreign Body Ingestion: Ethical Considerations. The Journal of Clinical Ethics, 2, 91–97. Mescher, B., Kochuparackal, T. & Schoppmann, S. (2016). Das Phänomen des intendierten Fremdkörperschluckens in der forensischen Psychiatrie. Symposium, Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde, Berlin. Navinés, R., Gutierrez, F., Arranz, B., Moreno-Espana, J., Imaz, M. L., Soler, V., Vazquez, M., Pascual, J. C. & Martin-Santos, R. (2013). Long-term and Bizarre Self-Injurious Behavior: An Approach to Underlying Psychological Mechanisms and Management. Journal of Psychiatric Practice, 19, 65–71. Palta, R., Sahota, A., Bemarki, A., Salama,P., Simpson, N. & Laine, L. (2009). Foreign-Bodyingestion: Characteristics and outcomes in a lower socioeconomic population with predominantly intentional ingestion. Gastrointestinal Endoscopy, 69, 426–33. Poynter, B. A., Hunter, J. J., Coverdale, J. H. & Kempinsky, C. A. (2011). Hard to swallow: a systematic review of deliberate foreign body ingestion. General Hospital Psychiatry, 33, 518–524. Rabenschlag, F. (2016). Pflegewissenschaftlerinnen in der Praxis. Evaluation eines Einsatzes in der Forensisch-psychiatrischen Klinik der UPK. Unveröffentlichter Bericht, Universitäre Psychiatrische Kliniken, Basel. Reddemann, L. (2003). Einige Überlegungen zu Psychohygiene und Burnout-Prophylaxe von TraumatherapeutInnen. Erfahrungen und Hypothesen. Zeitschrift für Psychotraumatologie und Psychologische Medizin, 1, 79–85. Reisner, A., Bornovalova, M., Gordish, L., Baker, R., Smith, K. J. & Sexton, R. (2012). Practice Review : Ingestion of Foreign Objects as a Means of Nonlethal Self-Injury. Personality Disorders: Theory, Research and Treatment, 2, 182–189. Schoppmann, S. (2003). „Dann habe ich ihr einfach meine Arme hingehalten“. Selbstverletzendes Verhalten aus der Perspektive der Betroffenen. Bern: Huber. Schoppmann, S., Herrmann, M. & Tilly, C. (2014). Borderline begegnen. Miteinander umgehen lernen. Bonn: Psychiatrie Verlag. Schulte-Herbrüggen, O. & Gallinat, J. (2013). Das Fach Psychiatrie und Psychotherapie im Wandel. Differenzierte psychotherapeutische Angebote – Qualitätsmerkmal einer Klinik. Psychiatrische Praxis, 40, 409–410.
Susanne Schoppmann Dr. rer. medic., Fachkrankenschwester für psychiatrische Pflege und Pflegewissenschaftlerin Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel
Literatur
susanne.schoppmann@upkbs.ch
Dyke, J., Hendry, K., Hill, J., Schultz, M., Mason, E. & Glue, P. (2014). Management of a cluster of Foreign Body Ingestion Incidents in Patients with Borderline Personality Disorder. Open Journal of Psychiatry, 4, 99–103. Gitlin, D. F., Caplan, J. P., Braun, I. & Barsky, A. J. (2007). Foreign Body Ingestion in Patients with Personality Disorders. Psychosomatics, 48, 162–166.
Die Autorin bedankt sich bei Dr. Bettina Mescher für die Durchsicht des Manuskripts.
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Veröffentlicht online: 28.11.2017
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Psychiatrie Inklusiv Menschen mit Lernbehinderungen und psychischen Störungen begleiten Petra Ott-Ordelheide
„Der besondere Patient“, so werden Menschen mit Behinderungen und psychischen Störungen sowohl in der Presse, im Internet aber auch in der Pflegepraxis beschrieben. Diese Aussage suggeriert, dass es sich um ein besonders seltenes Phänomen handelt. Dabei ist die geistige Entwicklung bei 320 000 Menschen die Ursache für die Anerkennung des Status der Schwerbehinderung (Statistisches Bundesamt, 2015). Fast alle Menschen mit Behinderungen haben weitere Komorbiditäten, hier sind vor allen Dingen orthopädische Probleme, Epilepsie und körperliche Behinderungen zu nennen. Rund 20 % haben eine psychiatrische Komorbidität (Seidel, 2005).
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enschen mit Behinderungen sind auf die medizinische Regelversorgung von somatischen und psychiatrischen Erkrankungen angewiesen, diese Institutionen sind häufig nur unzureichend auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen und psychiatrischen Komorbiditäten vorbereitet, so dass mit der Aufnahme eines Menschen mit Lernbehinderung in eine Klinik der psychiatrischen oder somatischen Regelversorgung für Pflegende ein Spannungsfeld entsteht. Dieses Feld soll im vorliegenden Artikel beleuchtet werden und praxisorientierte Aspekte der Begleitung von Menschen mit Behinderung in den Fokus genommen werden.
Fallbeispiel Der Bruder von Lukas W.1 berichtet: Lukas W. (60 Jahre) lebt seit seinem 17. Geburtstag in einer Wohngruppe für Menschen mit Behinderungen. Er sei früher gehfähig gewesen, habe aber immer undeutlich gesprochen und habe nur wenige Worte äußern können. Ursache der Behinderung seien laut der Mutter Stürze während der Schwangerschaft. Vor ein paar Jahren habe er Anfälle entwickelt mit einzelnen Zuckungen, deshalb erhalte er ein Antiepileptikum. Bei Lukas W. traten immer wieder Unruhe und Erregungszustände auf, wobei der Verdacht bestand, dass es sich um rezidivierende akustische und visuelle Halluzinationen handeln könnte. Zudem gab es immer wieder Situationen, in denen der Patient lachte oder weinte, ohne dass es einen erkennbaren Grund dafür gab. Diese Situationen wiederholten sich, so dass das Behandlungsteam den Eindruck eines Zwanges hatte. Darüber hinaus stellten sich im letzten Jahr Schlafstörungen, insbesondere Durchschlafstörungen ein. Folgende somatische Diagnosen sind relevant: Diabetes Typ II, Hypertonie, Arthrose und Adipositas. Er besucht aktuell
Wahrnehmung psychiatrischer Symptome Bei der Aufnahme in eine Klinik geht die Initiative häufig nicht von dem Betroffenen aus, sondern von den Betreuenden oder der Einrichtung aus. Die Kommunikation bei der Anamnese ist häufig verändert und es kann nicht in gewohnter Weise ein Interview geführt werden. Bereits in dieser frühen Phase der Aufnahme ist zu berücksichtigen, dass Pflegenden die Möglichkeiten der Kommunikation des Betroffenen kennen sollten, um in Kontakt/Beziehung treten zu können und Informationen auch vom Betroffenen selbst erhalten zu können. Auch die Adhärenz für diagnostische Maßnahmen muss sich an den © 2018 Hogrefe
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Alle Namen und Details der Biographie wurden pseudonymisiert. Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 35–40 https://doi.org/10.1024/2297-6965/a000140
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eine Werkstatt für Behinderte und ist in die Aktivitäten einer Wohngruppe mit intensiven Betreuungsbedarf integriert. Der Alltag von Lukas W. muss in vielfältiger Weise unterstützt werden: Er benötigt passierte Nahrung, eine komplette Inkontinenzversorgung, er kann einen Moment stehen, ist aber bei allen anderen Wegen auf einen Rollstuhl angewiesen, er muss beim Inhalieren begleitet werden, er versteht einfach Aufforderungen und kann weiterhin wenige Worte sprechen. Der Bruder und das häusliche Behandlungsteam wünschen eine Klärung, ob eine psychiatrische Erkrankung vorliegt.
Geistige Behinderung/Lernbehinderung „Die Psychiatrie ist zuständig für die Versorgung von Menschen mit Lernbehinderungen und psychischen Störungen“ (Seidel, 2005) Psychiatrische Kliniken stellen aber nicht das Basis- Versorgungsangebot für Menschen mit Behinderungen dar. Neben der Möglichkeit in der Regelversorgung ein entsprechendes Angebot zu erhalten, das die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen berücksichtigt, entstehen Zentren für eine spezialisierte Versorgung von Menschen mit Behinderung. Mit der Entscheidung der Bundesregierung, Medizinische Zentren für Erwachsene Menschen mit Behinderung (MZEBs) einzuführen, wird dieser Spezialisierung im ambulanten Bereich Ausdruck verliehen (Versorgungsstärkungsgesetz § 119 c SGB V). Der Begriff der geistigen Behinderung ist dabei stark umstritten und wird von vielen Betroffenen-Verbänden als stigmatisierend abgelehnt, zunehmend setzt sich der Begriff der Lernbehinderung aus dem angloamerikanischen durch (Lingg & Theunissen, 2008). In diesem Artikel wird der Begriff der Lernbehinderung verwendet, nach unseren Beobachtungen in der Praxis hat sich dieser Begriff aber noch nicht durchgesetzt. Die Ursachen von Lernbehinderungen sind vielfältig und reichen von genetischen Problemen, über pränatale und perinatale Traumata, bis hin zu Umweltfaktoren (nicht ausreichende Förderung, Vernachlässigung) (Lingg & Theunissen, 2008; Theunissen, 2008). Psychiatrische Diagnosen sind außerordentlich heterogen: es kommen organische Psychosen, Suchterkrankungen, Angst- und Zwangsstörungen, häufigere psychiatrische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderungen sind Autismus-Spektrums-Störungen, Persönlichkeitsstörungen, Ess- und Schlafstörungen und Verhaltensauffälligkeiten (Schanze, 2014). Für die Einschätzung der Behinderung ist es wichtig die emotionale, kognitive und soziale Entwicklung zu kennen. So kann ein Patient in lebenspraktischen Aspekten das Niveau eines 8-jähirgen Kindes haben, die emotionale und kognitive Entwicklung kann aber deutlich darunter oder darüber liegen (Thiel & Jensen, 1997).
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kommunikativen Möglichkeiten des Betroffenen orientieren (modifiziert nach Schanze, 2014). Der Interpretation der Verhaltensweisen eines Betroffenen kommt eine besondere Bedeutung zu. Häufig können Menschen mit Lernbehinderungen nicht oder nicht ausreichend kommunizieren, welche Wahrnehmungen sie verspüren. Das führt dazu, dass Pflegende und weitere therapeutische Gruppen das Verhalten interpretieren müssen, um mit und für den Betroffenen geeignete Interventionen einleiten zu können. Dabei ist die Einordnung eines Erregungszustandes schwierig und kann durch viele Faktoren beeinflusst werden und ist nicht immer Ausdruck einer psychiatrischen Erkrankung oder einer Verhaltensstörung. Folgende Aspekte sollten immer geprüft werden: • Körperliche Schmerzen • Seelische Belastungen, insbesondere Trauer • Wechsel von Betreuern in der Wohngruppe/ Wechsel in der Werkstatt für behinderte Menschen/Wechsel der Wohngruppe • Situation im Wohnbereich/in der Werkstatt für behinderte Menschen (Frowein, 2005) • Verhaltensrepertoire des Betroffenen
Bei dem letzten Punkt besteht eine große Gefahr, dass Phänomene nicht wahrgenommen werden, weil sie dem Repertoire des Betroffenen zugeordnet werden (diagnostic overshadowing). Des Weiteren können sich im Rahmen einer psychiatrischen Erkrankung bekannte dem Verhaltensrepertoire zugeordnete Veränderungen, verstärken (baseline exaggeration). Hier ist ein Höchstmaß an Reflexion im interdisziplinären Team notwendig, um dieses zu erkennen (Schanze, 2014). Verhaltensstörungen oder psychiatrische Phänomene sind stark vom dem Kontext abhängig, in dem sie Vorliegen: Nackt umherlaufen kann sowohl eine Störung des Verhaltens sein (zum Beispiel auf der Station) wie auch eine sozial angepasste Handlung, wie z. B. der Aufenthalt in einer Sauna (Dworschak, Kannewiescher, Ratz & Wagner, 2012). Menschen mit Behinderungen erfahren in ihren ersten Lebensjahren häufiger, wie Kinder ohne Behinderung, Krankenhausaufenthalte, Diagnostik und Therapie, das führt zu einem veränderten Schmerzerleben und nach Wagner ist davon auszugehen, dass der Anteil von Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen bei Menschen mit Lernbehinderung deutlich erhöht ist (Wagener, 2012). Neben der kognitiven Entwicklung des Betroffenen und der Anpassung der Interventionen an die Ressourcen, die sich aus dieser Entwicklung ergeben, ist es für Pflegenden wichtig, sich über die emotionale Entwicklung des Betroffenen zu informieren. Dos̆en entwickelte auf der Grundlage eines multidimensionalen Entwicklungsmodells das Schema der emotionalen Entwicklung (SEO). Das SEO wird auf Grundlage von © 2018 Hogrefe
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Verhaltensbeobachtungen und Interviews mit Betreuungspersonen oder Eltern ermittelt. Dabei wird die emotionale Entwicklung in unterschiedlichen Kategorien eingeschätzt, um den emotionalen Entwicklungsstatus zu ermitteln. Die Kategorien eignen sich auch, um daraus Fragen für eine Pflegeanamnese abzuleiten (Tab. 1). Bei der Durchführung der Pflegeanamnese sollten vier Säulen der Informationserhebung berücksichtigt werden: 1. Die Befragung des Betroffenen 2. Die Befragung von Eltern oder Angehörigen (sofern der Betroffene und wenn vorhanden sein gesetzlicher Betreuer einverstanden sind) 3. Die Befragung der Mitarbeiter der versorgenden Einrichtung, auch hier sollte der Betroffene bzw. sein Betreuer einverstanden sein. 4. Die Wahrnehmung des Betroffenen durch das Pflegeteam und die Begleitung während der ersten Stunden in der Klinik. (modifiziert nach Schanze, 2014) Bei Menschen mit Lernbehinderungen, die einen Unterstützungsbedarf in Bezug auf die Selbstpflege haben, ist es wichtig die pflegerischen Erfahrungen während der Interventionen, in die Beobachtungen mit zu integrieren.
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Wünsche können auf dem Hintergrund der Erfahrungen, die Menschen mit Behinderung in ihrem Leben gemacht haben, besser verstanden werden. Durch das Erfassen der Biographie wird ein Zugang geschaffen und ist somit Kommunikationsmittel: die Identität der Menschen mit Behinderungen wird gestärkt (modifiziert nach Lindmaier, 2008). Allerdings sollte mit Angehörigen und Betreuenden darüber gesprochen werden, inwiefern Traumata oder das Erfragen der Biographie zu einer Destabilisierung des Betroffenen führen könnte, in diesem Fall muss davon abgesehen werden, biographische Aspekte zu erfassen.
Interventionen für Menschen mit Behinderungen Wurde in der Literatur der 90er-Jahre noch tituliert (Tölle, 1991), dass Menschen mit Lernbehinderungen mehr der pädagogischen Betreuung bedürfen als der ärztlichen Behandlung, so stehen heute unterschiedlichste therapeutische Ansätze als integraler Bestandteil der Förderung und Behandlung im multiprofessionellen Team im Vordergrund.
Ermutigung Kommunikation, Nähe/Distanz Gelingende Kommunikation mit Menschen mit Behinderungen ist zentral für Krankenhausaufenthalte. Dabei ergeben sich für Pflegende zentrale Grundannahmen, die Voraussetzung sind, damit Kommunikation häufig unter besonderen Bedingungen gelingen kann. • Die Auseinandersetzung mit der Kommunikation des Menschen mit Lernbehinderung, erfordert eine Reflexion der eigenen Kommunikation unter Berücksichtigung sowohl des sozialen Kontextes des Menschen mit Lernbehinderung, wie auch des persönlichen Kontextes. • Interventionen des Pflegeprozesses gelingen nur dann, wenn sie in die pflegerischen Prozesse des häuslichen Systems integriert werden: Erfolgt im häuslichen Bereich eine Förderung der Mobilisation, so ist dieses auch im Klinikbereich sinnvoll. • Pflege bedeutet immer dem Menschen mit Behinderungen bewusste, gezielte Interventionen anzubieten, aber auch intuitive Interventionen in der Funktion der Anwaltschaft für den Patienten zu übernehmen. Menschen mit Behinderungen können in Bezug auf ihren Pflegeplan vielfältige Entscheidungen treffen, z. B. wie jemand bei der Körperpflege unterstützt werden möchte, aber in einer Situation der Eskalation beispielsweise in einem Gruppensetting, müssen Pflegende angemessene Entscheidungen für den Menschen mit Behinderung und sein Umfeld stellen (modifiziert nach Lindmaier, 2008). • Eine besondere Bedeutung haben biografische Aspekte für Menschen mit Behinderungen: Bedürfnisse und © 2018 Hogrefe
Für Menschen mit Behinderungen und psychischen Störungen, ist der Aspekt der Ermutigung ein zentrales Konzept, um pflegerische Interventionen zu planen. Dabei sind die Schritte zu denen ermutigt werden kann individuell sehr unterschiedlich, einige Patienten benötigen Ermutigung, um an einem Gruppenangebot teilzunehmen, andere benötigen ermutigende Anreize um ausgewählte Aspekte der Selbstpflege umzusetzen. Dieses Konzept ist sowohl in der Pädagogik verankert mit den Grundannahmen der Individualpsychologie (Ratz, 2012), wie auch in der sozialen Arbeit (Herriger, 2009). Techniken der Ermutigung können sein:
• Selbstermutigung: Betroffene anleiten sich selbst Mut zu geben: „… ich werde es schaffen an der Gruppe teilzunehmen…“ • Ritualisierte Ermutigung: In jeder Situation, in der der Betroffene es geschafft hat eine Selbstpflege durchzuführen, wird er ermutigt für die Anteile, die er gut aushalten konnte oder selbst durchführen konnte. • Ermutigung durch Professionelle: Positives FeedBack verbal und nonverbal • Ermutigung in der Gruppe: Falls ein Gruppensetting vorhanden ist, an dem der Betroffene teilnimmt, kann es sinnvoll sein, dass die Teilnehmer sich gegenseitig ein positives Feed-Back geben (modifiziert nach Ratz, 2009).
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Pflegeprozess Die Umsetzung des Pflegeprozesses bedarf besonderer Sensibilität, denn häufig kann nicht direkt mit der Bearbeitung von Pflegeproblemen begonnen werden, sondern es müssen bewusst folgende zusätzliche Schritte bearbeitet werden. • Einstiegsphase: Kommunikation und Beziehung zu dem Betroffenen bewusst herstellen, z.B. mit Gesprächsthemen der Alltagswelt • Konflikt-/Problemklärung: z.B. Störung der aktuellen Stimmung • Phase der Beruhigung: z.B. Phantasiereise • Regel-/Arbeitsphase z.B. Einüben von Interventionen • Abschlussphase: Feed-Back Ermutigung für weitere Schritte (modifiziert nach Jendryka, Siegel und Winter, 2009)
Teilhabe im psychiatrischen Gruppenprogramm oder Gruppensettings Dos̆en veröffentlichte für therapeutische Angebote Überlegungen, die in modifizierter Form auch für pflegerische Gruppeninterventionen relevant sind:
• Das Angebot orientiert sich am kognitiven Niveau des Patienten • Das emotionale Entwicklungsniveau des Patienten kann durch den Moderator der Gruppe ausreichend berücksichtigt werden. • Der Moderator gibt Strukturen und Grenzen vor und kann auf deren Einhaltung achten • Es werden Fragestellungen/Aspekte bearbeitet, die im „Hier und Jetzt“ des Betroffenen relevant sind. • Der Moderator akzeptiert den Betroffenen mit allen Ressourcen und pflegerischen Problemen ohne Vorbehalte • Der Moderator kann direkt, pädagogisch und ausdrucksfördernd sein. • Die Interaktion kann über die Kommunikationskanäle erfolgen, die dem Klienten verfügbar sind. • Eine eventuell verminderte Belastbarkeit wird berücksichtigt. • Die Frequenz der Gruppe orientiert sich an dem Lernfortschritt, der dem Betroffenen möglich ist.
Tabelle 1. Fragen für die Pflegeanamnese Umgang mit dem eigenen Körper
Welche Besonderheiten gibt es im Umgang mit dem eigenen Körper: Autoaggression? Ausleben von Sexualität? Wahrnehmung von Schmerz? Körpergrenzen und anderen Sinneswahrnehmungen?
Umgang mit Bezugspersonen
Wie erleben der Betroffene und die Bezugspersonen die gegenseitige Wahrnehmung: ein Verhältnis von gegenseitigem Respekt geprägt? ein Verhältnis mit angemessener Nähe und Distanz?
Selbst- Fremd- Differenzierung (Interaktion)
Wie kann der Betroffene Interaktion gestalten? Gelingt es ihm die persönlichen Bedürfnisse, zu verdeutlichen? Kann er Bedürfnisse anderer erkennen und akzeptieren?
Veränderungen im Umfeld
Wie kann der Betroffene die Aufnahme in ein Krankenhaus verstehen und angemessen verarbeiten? Wie wurden Veränderungen im Umfeld in der Vergangenheit emotional bewältigt?
Angstregulation
Kann der Betroffene Ängste verbalisieren? Ist es ihm möglich sich von den Ängsten zu distanzieren?
Umgang mit Peers
Wie erlebt der Betroffene die Interaktion zwischen sich und anderen Mitgliedern einer Gruppe, wie nehmen die Betreuenden diese Interaktion wahr. Aussagen diesbezüglich sind oft zentral für einen Aufenthalt in einer Klinik mit einem Gruppensetting oder Mehrbett- Zimmern
Umgang mit Material
Inwiefern kann der Betroffene Materialien zielgerichtet nutzen oder den Nutzen erkennen, nicht selten können sich Menschen mit Behinderungen durch Materialien in ihrer Umgebung gefährden, z. B. durch das unbeabsichtigte Essen von Dingen in der Umgebung
Verbale Kommunikation
Kommunikation ist ein Schlüssel, um sich in der Umgebung Krankenhaus zurecht zu finden: Hier gilt es Möglichkeiten, Hilfsmittel, Codes zu erheben, um alle Ressourcen zu nutzen, die Betroffenen und ihr Umfeld entwickelt haben.
Affektdifferenzierung
Welche Möglichkeiten haben Betroffene, um ihre Emotionen zu verdeutlichen, weist Lachen oder Weinen Pflegende auf eine veränderte Stimmungslage hin? Oder gehört dieses zum Verhaltensrepertoire des Betroffenen.
Aggressionsregulation
Aggressionen und ihre Regulation entscheiden oft über die Integration von Betroffenen in Gruppen, aber auch über Behandlungsmöglichkeiten. In Bezug auf Aggressionen sollte nicht nur erhoben werden, ob sie vorhanden sind, sondern auch welche Situationen diese auslösen können, und welche Mechanismen der Deeskalation bekannt sind.
Anmerkung. Modifiziert nach Dos̆en, 2010.
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Insgesamt ist es empfehlenswert, wenn Menschen mit Lernbehinderungen in eine vorhandene Gruppe mit aufgenommen werden möchten, die Moderation durch zwei Personen durchführen zu lassen, eine kürzere Dauer zu vereinbaren und sehr gezielt die Thematik, das kognitive und soziale Niveau zu berücksichtigen.
Freie Zeit auf der Station gestalten Hier werden zwei grundsätzliche Tendenzen der Begleitung unterschieden: • Intentionale Begleitung: Hier liegt der Schwerpunkt auf dem zielgerichteten Handeln des Begleiters, um beim Betroffenen eine sozialerwünschte Interaktion zu erreichen (Dos̆en, 2010). Beispiel könnte sein, dass der Pflegende mit einem Patienten in einem Rollenspiel übt, wie er sich während des Essens in der Gruppe verhalten soll. • Funktionale Begleitung: Hier liegt der Akzent auf dem Zusammenleben, der Gestaltung der Interaktion und der kommunikativen Beziehung. Die Atmosphäre auf der Station und eine gelingende Beziehungsebene werden hier fokussiert. (Dos̆en, 2010) Die Begleitung von Menschen mit Lernbehinderungen in ihrer Therapiefreien Zeit auf der Station von großer Bedeutung, da Langeweile und Über-/Unterforderung zu psychiatrischen Phänomenen führen kann. Mit der Pflegeanam-
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nese sollte nach adäquaten Beschäftigungsmöglichkeiten gesucht werden: denn beispielsweise kann „Mensch Ärger Dich“ spielen für den einen Patienten eine sinnvolle Intervention sein, während es für einen anderen Patienten zu Aggression und Deeskalation führen kann. Lukas W. wurde auf einer Station für Menschen mit Mehrfacherkrankungen und Epilepsie aufgenommen. Er nahm dort an der Ergotherapie teil und konnte und wollte in der Gruppe gemeinsam mit den Mitpatienten essen. Eine funktionale Begleitung war völlig ausreichend, damit sich keine aggressiven Situationen ergaben. In der Diagnostik zeigte sich, dass vermutlich das Medikament gegen Epilepsie der Auslöser für das veränderte Verhalten war. Wie dieses Fallbeispiel zeigt, sind viele Interventionen für Menschen mit Lernbehinderungen in jedem Setting zu realisieren, erforderlich ist aber eine intensive persönliche Auseinandersetzung der Pflegenden mit der eigenen persönlichen Haltung in Bezug auf Behinderung, in Bezug auf Kommunikation und in Bezug auf den Pflegeprozess. Aus der Literatur heraus ergibt sich eine Vielzahl von pflegerischen Maßnahmen, die Inklusion und Teilhabe von Menschen mit Lernbehinderungen in der Gesundheitsversorgung ermöglichen und somit zukünftig die Begrifflichkeit des „besonderen Patienten“ überwunden werden kann. Während es in vielen pädagogischen Einrichtungen bereits einen intensiven Diskurs zum Thema Inklusion gibt, ist dieser auch in der Gesundheitsversorgung notwendig, damit alle Menschen an dieser teilhaben können.
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Literatur Deutscher Bundestag (2004). Bericht der Bundesregierung über die Lage behinderter Menschen und die Entwicklung ihrer Teilhabe. Drucksache 15/4575. Mau, V., Grimmer, A., Poppele, G., Felchner, A., Elstner, S. & Martin, P. (2015). Geistig oder mehrfach behinderte Erwachsene. Bessere Versorgung möglich. Deutsches Ärzteblatt, 12(47): A1980–A1984. Dos̆en, A. (2010) Psychische Störungen, Verhaltensprobleme und intellektuelle Behinderung. Ein integrativer Ansatz für Kinder und Erwachsene. Göttingen: Hogrefe. Dworschak, W., Kannewiescher, S., Ratz,C. & Wagner, M. (2012). Verhaltensstörungen bei Schülern im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. In C. Ratz (Hrsg.). Verhaltensstörungen und geistige Behinderung. Bamberg: Athena. Frowein, (2005). Konzept der Lebensqualität als umfassender Ansatz im Bereich der Wohneinrichtungen für Menschen mit seelischer Behinderung. Psych Pflege heute, 11, 154–157. Herriger, N. (2009). Empowerment in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung –Eine kritische Reflexion. Dokumentation der Fachtagung „Inklusion“, Rendsburg November 2009. Verfügbar unter http://news.eformation.de/v3/client/media/193/data/19452.pdf [Zugriff am 25.11.2017]. Jendryka, D., Siegel, E. & Winkler, C. (2009). „Wir für uns“ – Förderung des Klassenklimas im Unterricht in den Förderschwerpunkten emotional- soziale und geistige Entwicklung. In C. Ratz (Hrsg.), Verhaltensstörungen und geistige Behinderung. Bamberg: Athena. Lindmeier, C. (2008). Biographiearbeit mit geistig behinderten Menschen. Ein Praxisbuch für Einzel- und Gruppenarbeit. Weinheim: Juventa. Lingg, A. & Theunissen, G. (2008). Psychische Störungen und Geistige Behinderungen. Ein Lehrbuch und Kompendium für die Praxis. Freiburg im Breisgau: Lambertus. Ratz, C. (2012). Das Potenzial der Ermutigungspädagogik für Schüler im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. In C. Ratz (Hrsg.), Verhaltensstörungen und geistige Behinderung. Bamberg: Athena. Sappok, T. (2012). Emotionale Entwicklungsstörungen bei Menschen mit Intelligenzminderung: Eine Fall-Kontroll-Studie. Emotional Developmental Disorders in Individuals with Intel-
lectual Disabilities (ID): A Case-Control-Study. Psychiatrische Praxis, 39, 228–238. Schanze, C. (2014). Psychiatrische Diagnostik und Therapie bei Menschen mit Intelligenzminderung. Ein Arbeits- und Praxisbuch für Ärzte, Psychologen, Heilerziehungspfleger und -pädagogen. Stuttgart: Schattauer. Seidel, M. (Hrsg.) (2005). Die stationär-psychiatrische Versorgung von psychisch erkrankten Menschen mit geistiger Behinderung. Dokumentation der Arbeitstagung der DGSGB am 3.12.2004 in Kassel. Materialien der DGSGB. Band 10. Berlin. Seidel, M. (2014). Menschen mit Intelligenzminderung in Deutschland: Statistik, Lebenswelten, Hilfesysteme und Sozialrecht. In C. Schanze (Hrsg.), Psychiatrische Diagnostik und Therapie bei Menschen mit Intelligenzminderung. Ein Arbeits- und Praxisbuch für Ärzte, Psychologen, Heilerziehungspfleger und -pädagogen. Stuttgart: Schattauer. Statistisches Bundesamt (2015). Jahrbuch Gesundheit Gesundheit – Ausgaben – Fachserie 12 Reihe 7.1.1 – 2015. Verfügbar unter https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/ Gesundheit/Gesundheitsausgaben/AusgabenGesundheit.html [Zugriff am 25.11.2017]. Theunissen, G. (2008). Geistige Behinderung und Lernbehinderung. Zwei inzwischen umstrittene Begriffe in der Diskussion. In Geistige Behinderung, 47, 127–136. Thiel, H. & Jensen, M. (1997). Klinikleitfaden Psychiatrische Pflege. Lübeck: Gustav Fischer. Tölle, R. (1991). Psychiatrie (9. Auflage). Berlin: Springer. Wagner, M. (2012). Verhalten im Kontext „schwere Behinderung“zwischen Selbst- und Synreferenzialität. In C. Ratz (Hrsg.), Verhaltensstörungen und geistige Behinderung. Bamberg: Athena.
Petra Ott-Ordelheide Diplom- Pflegewirtin (FH), Stabstelle der Pflegedirektion am Krankenhaus Mara, Pflegeentwicklung, Projektmanagement, Praxisleitung Pflege Inklusiv, Lehrauftrag der Fachhochschule der Diakonie, Bielefeld Petra.Ott-Ordelheide@mara.de
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Neuanfang – Teilhabe für die Psychiatrie in Deutschland Hansgeorg Ließem
Spätestens seit Hans Vaihingers „Philosophie des Als Ob“ sind wir uns bewusst geworden, dass die menschliche Gesellschaft keinen ungestörten Zugang zur Realität braucht, um sich sozial zu organisieren. Es reicht eine allgemein akzeptierte Verständigung darüber, was als Wirklichkeit genommen werden soll. So sind sich viele in unserem Land schon lange darüber einig, dass uns die ganze Welt um unser Gesundheitswesen beneidet. Einen beachtenswerten Zeugen für diesen „Welt-Neid“ können wir nicht anführen. Doch wozu auch? Nicht die Welt braucht diese Fiktion, sondern wir selbst.
A
uch die Psychiatrie braucht ganz offensichtlich die Fiktion einer fortgeschrittenen Versorgungsstruktur. Hatte man 1975 im Rahmen der PsychiatrieEnquete (Deutscher Bundestag, 1975) noch bemängelt, dass die Behandlung der psychiatrisch Erkrankten ganz überwiegend im Krankenhaus stattfindet, so schien doch zumindest bis 2010 eine gewaltige Veränderung der Strukturen bewirkt. Seit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten sank die Zahl der Krankenhausbetten im Fachbereich Psychiatrie/Psychotherapie um 35,7 % von 84 048 Betten 1991 auf 54 035 Betten im Jahre 2010. Die Bettenreduzierung betraf vor allem die Fachkrankenhäuser für Psychiatrie, deren Dauerpatientenschaft schon vorher in heilpädagogische Heime überführt worden war. Immer mehr Betten entstanden in neu gegründeten Fachabteilungen an Allgemeinkrankenhäusern. Trotz dieser Umschichtung nahm die Bettenzahl ab, was als erheblicher Strukturerfolg gewertet wurde. Doch im gleichen Zeitraum stiegen die Fallzahlen um 97,9 % von 406 910 Behandlungsfällen 1991 auf 805 2 87 Fällen 2010. Die Bedeutung der Krankenhäuser für die medizinische Behandlung der psychisch Erkrankten nahm also keineswegs ab, sondern ganz beträchtlich zu. Die notwendige Anpassung zwischen schwindender Bettenzahl und Zunahme der Behandlungen erfolgte über eine drastische Reduzierung der Verweildauer im Krankenhaus von durchschnittlich 64,8 Tagen 1991 auf 22,9 Tage in 2010 (Bölt & Graf, 2012).
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Bevor hier eine neue Fiktion aufgebaut wird: dieser rasche Durchlauf der Patienten ist nicht durch einen gewaltigen Fortschritt in Diagnose und Therapie zustande gekommen. Nach dem Urteil dreier sehr bedeutender zeitgenössischer Psychiater scheinen die hierfür notwendigen Forschungsergebnisse erst in der Zukunft erwartet werden zu können: „Die zentrale Aufgabe unseres Faches ist die Weiterentwicklung und Anwendung von besseren Therapien und Präventionsstrategien für psychisch Kranke. Diesem Ziel muss die Forschung in unserem Fach vordringlich dienen. Die patientenbezogene Forschung umfasst die Pharmakotherapie, die Psychotherapie sowie die Soziotherapie. Für beide Säulen der Behandlung sind angesichts steigenden Bedarfs und hoher Chronifizierungsraten neue Strategien zu entwickeln und die verfügbaren Verfahren zu optimieren. Aber auch sozialpsychiatrische, gemeindenahe Forschung und Versorgungsforschung müssen – trotz der berechtigten Euphorie für grundlagennahe neurowissenschaftliche Forschung – viel stärker fortentwickelt werden.“ (Schneider, Falkai & Maier, 2012) Will man die Forschungssituation in Deutschland etwas weniger zukunftsorientiert formulieren, so kann man wie die S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen lapidar feststellen: „Eine systematische Literaturrecherche lieferte unzureichende Ergebnisse. Hauptsächlich wurden spezifische Studien aus Großbritannien und den USA identifiziert. Diese Studien finden hier Erwähnung, jedoch reicht die Evidenzlage nicht aus, um Empfehlungen für die Praxis abzuleiten“ (DGPPN, 2013). Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 41–45 https://doi.org/10.1024/2297-6965/a000141
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Hin- und Herschieben der Patienten Die Verkürzung der Krankenhausaufenthalte lässt sich nur mit erheblicher Einbeziehung niedergelassener Fachärzte bzw. im kleineren Umfang der Psychiatrischen Institutsambulanzen (PIA) organisieren. Im Jahre 2005 behandelten die niedergelassenen Nervenärzte etwa 400 psychiatrische Fälle im Quartal, die Psychiater rund 300 Fälle. „Multipliziert man die Fallzahlen mit der Anzahl der Ärzte in den beiden Fachgruppen (2900/1600), ergeben sich auf ein Jahr berechnet rund 6,6 Mio. Behandlungsfälle.“ Im gleichen Jahr wurden in den PIAs etwa 650.000 Behandlungsfälle verzeichnet. „Damit stehen einem PIABehandlungsfall 10 Behandlungsfälle niedergelassener Nervenärzte gegenüber“ (Melchinger, 2008). Die Behandlung eines psychisch Erkrankten bei einer PIA wird deutlich besser vergütet als beim niedergelassenen Facharzt. Dies führt zum Hin- und Herschieben der Patienten. „Von mehreren PIAs wird berichtet, dass von niedergelassenen Allgemein- und Fachärzten zunehmend häufiger Patienten an PIAs überwiesen („abgeschoben“) werden, weil sich die niedergelassenen Ärzte aufgrund ihrer Budgetbegrenzungen nicht in der Lage sehen würden, teure Medikamente (z. B. Atypika) oder Heilmittel (z. B. Ergotherapie) zu verordnen. Dabei handelt es sich nicht um Einzelfälle: Nach Angabe eines Psychiatrischen Krankenhauses sollen dort etwa 300 bis 400 Aufnahmen/Jahr, entsprechend 10 bis 15 Prozent aller Aufnahmen, auf solche Fälle entfallen“ (Melchinger, 2008). Die offensichtlich immer noch nicht überwundenen Schwierigkeiten der medizinischen Versorgung der psychisch Erkrankten, haben für die Betroffenen selbst erhebliche soziale Folgen. Unterbrechungen in der Erwerbsarbeit, nicht selten der Verlust des Arbeitsplatzes, die Auflösung wichtiger sozialer Beziehungen führen auch bei den Sozialbehörden zu einem Anstieg der Kosten. Schon im Jahre 1920 stellten die Städte und Landkreise im rheinisch-westfälischen Industriegebiet fest, dass die psychischen Erkrankungen • so weit verbreitet sind, dass ein spürbarer Teil der Bevölkerung davon betroffen ist, • bei den Betroffenen wirtschaftliche Not hervorrufen, • in ihrer Häufigkeit durch wirtschaftliche Not gesteigert werden, • in ihrem Verlauf positiv beeinflusst werden können durch die Optimierung des Behandlungsplanes und durch Kontrolle und Unterstützung bei seiner Umsetzung im alltäglichen Leben, • am Ausbruch durch rechtzeitige Erfassung und vorbeugende Maßnahmen gehindert werden können (Wendenburg, 1931). Als Antwort auf diese Entwicklung wurden durch die in Gelsenkirchen-Buer 1920 gefassten Beschlüsse 42 Fürsorgestellen im Ruhrgebiet geschaffen, welche die Aufgaben übernahmen, psychische Erkrankungen frühzeitig zu erfassen und ihrem Ausbruch vorzubeugen, das gesamte Aufnahmeverfahren vor der Krankenhausaufnahme zu Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 41–45
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übernehmen, die Entlassungen aus dem Krankenhaus vorzubereiten und zu begleiten, den Kontakt zwischen den Krankenhauspatienten und ihren Angehörigen zu organisieren, die Angehörigen zu beraten und die entlassenen Kranken zu Hause weiter zu begleiten. Damit die Fürsorge innerhalb dieses „Gelsenkirchener Systems“ eine heraufziehende psychische Erkrankung frühzeitig erkennen konnte, wurde diese Aufgabe an die Familienfürsorge delegiert. Damit wurde von Anfang an ein systemischer Ansatz gewählt. Psychische Erkrankungen haben nach dem damaligen Verständnis sehr oft soziale Ursachen bzw. gesellschaftsbedingte Auslöser. Bedingt eine Familiensituation öffentliche Unterstützung, haben die dort tätig werdenden Fachkräfte darauf zu achten, ob hierdurch bei einzelnen Familienmitgliedern psychische Störungen ausgelöst werden.
Komm-Struktur beibehalten Seit dem Gelsenkirchener Modell engagiert sich die kommunale Fürsorge für psychisch Erkrankte in ihrem Wohngebiet. Die Hilfen sind aufsuchend und zielen auf das Familiensystem, in dem sich der Erkrankte aufhält. Diese Form der kommunalen Fürsorge war demnach schon lange etabliert, bevor in Deutschland die große PsychiatrieReform einsetzte. Sie hat sich auch nicht in ihrer Bedeutung beschränken lassen, als die ambulante Begleitung der entlassenen Patientinnen und Patienten von immer mehr niedergelassenen Fachärzten übernommen wurde. Die ärztliche Zuwendung behält auch bei den psychisch Erkrankten ihre Komm-Struktur bei. Selten sucht ein niedergelassener Facharzt seine Patienten zu Hause auf. Er beschränkt sich auch allzu eng auf die medizinische sprich pharmakologische Seite der Therapie, so dass die Patientinnen und Patienten mit den sozialen Folgen ihrer Erkrankung ohne ärztliche Hilfe auskommen müssen. Da fühlten sich die Kommunen geradezu herausgefordert, ein umfassendes soziales Versorgungssystem zu entwickeln. Das ist nun auch nicht mehr allein beim Gesundheitsamt als sozialpsychiatrischer Dienst verortet, sondern nutzt die als Eingliederungshilfe bezeichnete Unterstützung aller Behinderter durch angemessene ambulante, teilstationäre und stationäre Hilfen, die sich an den besonderen Bedürfnissen psychisch Erkrankter zu orientieren versuchen. Im Jahre 2014 wurden insgesamt 169 488 behinderte Menschen ambulant aus Mitteln der Eingliederungshilfe begleitet. 71 % von ihnen, also 120 337 Personen sind als psychisch Behinderte anerkannt. Im Schnitt lässt sich die Sozialhilfe dies jährlich € 9 830 kosten. Dies entspricht rund € 819 im Monat (BAGüS, 2016). Das bedeutet einen Sozialhilfe-Aufwand von jährlich 1,183 Mrd. Euro. Hierbei handelt es sich um die reinen Betreuungskosten, also nicht um Aufwendungen für Miete und den Lebensunterhalt. Strukturell ist diese Begleitung psychisch Erkrankter nicht mit dem medizinisch-therapeutischen Behandlungssystem verbunden. Sie dient der Sicherung der Wohnsitua© 2018 Hogrefe
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tion und soll eine stationäre Unterbringung in einem Wohnheim vermeiden. Kenner der aktuellen Situation stellen fest: „Das weit verbreitete Modell der „Therapeutischen Kette“ sieht Rehabilitation als einen linearen, stetigen Fortschritt: von der klinischen Behandlung zur teilstationären Behandlung, zur beruflichen und sozialen Rehabilitation in einem Übergangswohnheim, dann einer Wohngemeinschaft usw., bis die Person selbständig lebt und arbeitet. Weil viele Klienten die „unabhängige“ Stufe nie erreichen, hat das Modell nur einen begrenzten Wert und demotiviert viele Mitarbeiter“ (Grohmann, Cramer & Peukert, ohne Jahresangabe). Deutliche Reduzierung der Psychiatrie-Betten in Krankenhäusern, Vermehrung der niedergelassenen Fachärzte sowie ein gewaltiger Ausbau der Sozialhilfe-Betreuungsleistungen für langfristig Erkrankte sind die Säulen der allgemein anerkannten Fiktion, die Psychiatrie in Deutschland sei auf einem guten Weg. Um diese Selbstverständigung nicht zu gefährden, werden bestimmte Entwicklungen nur am Rande und damit als unbedeutend wahrgenommen: Die klinischen Behandlungen nehmen in erschreckendem Umfang zu. Aus diesem Grunde werden auch seit 2007 wieder zusätzliche Krankenhausbetten errichtet. Allein der Krankenhausplan NRW von 2015 (MGEPA 2013) sieht mehr als 2000 neue Krankenhausbetten im Bereich Psychiatrie/Psychosomatik und Psychotherapie vor. Die klinische Behandlung reduziert sich immer mehr mit Rücksicht auf die kurzen Behandlungszeiten auf die pharmakologische Therapie. Andere therapeutischen Methoden werden mangels Zeit der ambulanten Seite vorbehalten.
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Zuwendung bezieht sich auf alle Lebensfelder Die niedergelassenen Fachärzte unterliegen in ihrer zeitlichen Behandlungsfähigkeit und in ihrem Verordnungsverhalten einer Budgetierung, die so unpräzise gehalten wird, dass allein die Furcht, man könnte am Ende des Jahres von der Kassenärztlichen Vereinigung in Regress genommen werden, noch restriktiver wirkt als klare Regelungen. Die Schere im Kopf reduziert die Zuwendung zur Patientin/ zum Patienten besonders effektiv. Eine aufsuchende ärztliche oder therapeutische Tätigkeit findet nur in Ausnahmen statt. Allenthalben herrscht eine Komm-Struktur, unabhängig davon, dass die Probleme der Patientinnen und Patienten, mit ihrer Erkrankung und deren sozialen Folgen allein im Lebensalltag zurechtzukommen, im gesamten System bekannt sind. Der kompensatorisch entstandene Betreuungsapparat der Eingliederungshilfe mischt sich schon aus sozialrechtlichen Gründen nicht in den Behandlungsprozess ein. Das medizinische System nimmt deren Existenz dankbar wahr, unterstützt sie doch die eigene Fiktion von der umfassenden Versorgungssicherheit. Es gehört zu diesem Versorgungsbild, dass zwei ambulante Instrumente der sozialtherapeutischen Versorgung der psychisch Erkrankten künstlich niedergehalten werden: die Soziotherapie gem. § 37a SGB V und die ambulante psychiatrische Pflege gem. § 37 SGB V. Die Soziotherapie ist 2000 in das fünfte Sozialgesetzbuch eingefügt worden, nachdem ein GKV-Modellprojekt erstaunlich positive Ergebnisse aufgezeigt hatte (Melchinger, 1999).
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Die ambulante psychiatrische Pflege wurde 2005 durch Ergänzung der Richtlinien für die häusliche Krankenpflege eingeführt (Gemeinsamer Bundesausschuss, 2009). Zwei Arbeitsfelder wurden der ambulanten psychiatrischen Pflege zugeordnet: Unterstützung der Patientin/des Patienten bei der Bewältigung akuter Krisen sowie die Entwicklung kompensatorischer Hilfen zur Rückgewinnung verloren gegangener Teilhabefähigkeit. Für diese Leistung wird ein Zeitraum von maximal vier Monaten festgelegt, in dem die Wirkung eintreten soll. Diese zeitliche Begrenzung braucht die Soziotherapie nicht zu beachten. Sie kann dauerhaft verordnet werden, allerdings nur in einem Umfang von 120 Stunden bezogen auf drei Jahre. In der Praxis sucht eine Soziotherapeut/-in ihre Patientinnen und Patienten im Schnitt einmal pro Woche auf. Gemessen an den Arztbesuchen, die häufig nur einmal im Quartal möglich gemacht werden, eine beträchtliche Vermehrung der persönlichen Zuwendung, die darüber hinaus auch noch im Lebensumfeld der Patientin/ des Patienten stattfindet. Die Zuwendung der Soziotherapeut/-in bezieht sich auf alle Lebensfelder der Patientin/des Patienten, die für eine Stabilisierung des Gesundheitszustandes von Belang sind. Da kann es um die berufliche Situation ebenso gehen, wie um familiäre Probleme. Es kann aber auch die innere Einstellung zur Erkrankung thematisiert werden, die Schwierigkeiten, sich auf die Behandlungsstrategie des Arztes einzulassen, die immer wieder auftretende Schwäche, eigene Ziele auch tatsächlich umzusetzen. Diese häufig sehr nahe kommende Begleitung schwer kranker Menschen ist von Anfang an in die Behandlungskonzeption der Ärztin/des Arztes eingebunden. Hier findet zwischen den Fachkräften ein ständiger Austausch statt. Es darf keine Parallelität der Einwirkung geben. Arzt und Soziotherapeut müssen dieselbe Genesungsstrategie verfolgen. Die Dichte der Beziehung zwischen Patient/-in und Soziotherapeut/-in muss sich direkt auf das Handeln der Ärztin/des Arztes auswirken können. So wird auch die Patientin oder der Patient selbst viel intensiver in den Genesungsprozess einbezogen. Schließlich ist sie es, die den Hauptteil des Prozesses zu tragen hat. Soziotherapie und ambulante psychiatrische Pflege beziehen ganz selbstverständlich die subjektiven Komponenten jeder erfolgreich verlaufenden Behandlung in die Zusammenarbeit mit den Ärztinnen und Ärzten ein. Immer wieder wird die Patientin oder der Patient ermutigt, ihre Wahrnehmungen und Interessen direkt zu vertreten, damit sich auch die persönliche Kompetenz wieder entwickeln kann. Freunde und Angehörige werden einbezogen, wenn sie eine wichtige Rolle im Leben der Patientin/des Patienten spielen.
Es ist höchste Zeit Ziel aller Bemühungen ist die Verbesserung der Teilhabe der psychisch Erkrankten am Leben der Gesellschaft. Was Teilhabe für die konkrete Person bedeutet, das kann Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 41–45
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sie nur selbst festlegen. Die sozialpsychiatrische Behandlung kommt also nicht daran vorbei, Ziele und Strategien vom Lebensbild der einzelnen Patientin/Patienten her zu entwickeln. Das ist aber genau das, was eine am Krankenhaus und an der Arztpraxis klebende psychiatrische Behandlung nicht leisten kann. Sie kann nicht anders, als ihre Behandlungsleistung an „objektiven“ Kriterien zu orientieren, denn sie kennt die Lebenswirklichkeit ihrer Patientinnen und Patienten nicht. Doch was bleibt von der Teilhabeproblematik übrig, wenn man sie auf das mögliche Ungleichgewicht von Hirnprozessen reduziert? Wer glaubt dies wirklich noch, dass eine ausschließliche pharmakologische Therapie Teilhabe bewirken kann? Auch wenn ein Antidepressivum noch so wirksam die Dauer einer Phase völliger Antriebslosigkeit verkürzen kann, es ist die Motivation und die soziale Kompetenz der Patientin oder des Patienten selbst, ob sie wieder Beziehungen aufbauen kann, die ihrem Leben Sinn geben. Teilhabe heißt Lebenssituationen zu verändern, die vorher isolierende und apathische Reaktionen hervorriefen. Dazu braucht es mehr als Pharmakologie und nicht nur das: Die pharmakologische Therapie muss Orientierungshilfen annehmen, die aus der unmittelbaren Kenntnis des Alltagsverhaltens der Patientinnen und Patienten stammen. Das Ziel muss es sein, die Betroffenen wieder gleichberechtigt zum Subjekt der Genesung zu machen. Das braucht dann auch möglichst bald keine ambulante Pflege und keine Soziotherapie mehr als Teilhabehelfer. Weshalb hat insbesondere die Soziotherapie so außerordentliche Schwierigkeiten, flächendeckend den betroffenen Patientinnen und Patienten zur Verfügung zu stehen? Weil die Krankenkassen kein Interesse daran haben. Sie haben die ambulanten Dienste der Sozialhilfe vor Augen und fragen sich, weshalb sie viele Millionen in die Hand nehmen sollen, um der Eingliederungshilfe ihre Ausgabenpolitik streitig zu machen. Es ist doch wirtschaftlich alles wunderbar für die Krankenkassen geregelt. Die Hilfe für die somatisch Kranken zahlt mangels Alternative die Krankenkasse, die psychisch Kranken müssen sich, © 2018 Hogrefe
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wenn die Erkrankung länger anhält, auf die Sozialhilfe einstellen. Das heißt Offenlegung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse und somit auch die Notwendigkeit in Kauf zu nehmen, für die sozialen Teile der Behandlung selbst zu zahlen. Soweit die Fiktion vom guten psychiatrischen Behandlungssystem. Es ist höchste Zeit, dass wir in Deutschland unsere Psychiatrie am allgemeinen medizinisch-therapeutischen Fortschritt in der Welt teilhaben lassen. Der erste Schritt in diese Richtung ist die rasche und flächendeckende Ambulantisierung der Behandlung. Dieses Ziel besteht aus verschiedenen Modulen: Bildung eines ambulanten Behandlungspools aus Ärztinnen und Ärzten, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, Soziotherapeutinnen und Soziotherapeuten und psychiatrischen Pflegediensten. Dieses Modul hat eine quantitative und eine qualitative Seite: Der quantitative Aspekt bedeutet den Aufbau eines flächendeckenden soziotherapeutischen und pflegerischen Behandlungssystems, das jede Patientin/jeder Patient leicht erreichen kann. Der qualitative Aspekt meint den intensiven gegenseitigen Austausch in jedem Behandlungsfall, so dass die unterschiedlichen Kompetenzen auch wirklich zusammenfließen können. Aussetzen aller Planungen, die Zahl der psychiatrischen Krankenhausbetten wieder zu vermehren. Das Anhalten dieses quantitativen Prozesses schafft den Krankenkassen wirtschaftlichen Spielraum, um die zusätzlichen ambulanten Kapazitäten finanzieren zu können. Qualitativ gesehen brauchen die Häuser eine konzeptionelle Erneuerung ihrer eigenen Rolle im Behandlungsprozess. Krankenhäuser verlieren auch bei durchgreifender Ambulantisierung der Psychiatrie nicht ihre Bedeutung. Sie wandelt sich aber. Aktivierung der demokratischen Mitsprache der Kassenmitglieder bei grundsätzlichen Finanzierungsentscheidungen ihrer Krankenkassen. Hier werden zwar im Rahmen der sog. Sozialwahlen Vertretungen von den Kassenmitgliedern gewählt, doch ist diese Form der Mitbestimmung zu einer totalen Fiktion verkommen. Niemand kennt diese Vertreter, niemand weiß, was in den Gremiensitzungen besprochen wird, es existiert kein öffentlicher Diskurs. Besser kann man eine demokratische Struktur nicht in einem schwarzen Loch verschwinden lassen. Hier liegt insbesondere für die vielen Selbsthilfegruppen und -Verbände in Deutschland ein bedeutendes künftiges politisches Betätigungsfeld. Besinnung der Träger der Eingliederungshilfe auf ihre Rolle als Verantwortliche für die soziale Rehabilitation der psychisch Erkrankten gem. § 6 SGB IX. Statt ambulante Beratungsleistungen weiter zu forcieren, die nicht mit dem medizinisch-therapeutischen Komplex verbunden sind, sollten sie den Betroffenen ein Gruppenangebot machen (Ließem, 2016). Ähnlich den Grundsätzen der beruflichen Rehabilitation („Erst platzieren, dann rehabilitieren“) sollte es bei der Entwicklung von Teilhabeprozessen darum gehen: „Erst in Gruppen integrieren, dann rehabilitieren.“ Nutzung aller bestehenden öffentlichen Forschungsetats und Gewinnung von industrie-ungebundenen privaten © 2018 Hogrefe
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Quellen für eine breite sozialpsychiatrische Forschung. Für diese Thematik müssen wir auch die Hochschulkompetenzen gewinnen sowie die ambulanten Leistungserbringer offen machen. Es ist höchste Zeit, dass das Desinteresse der deutschen Wissenschaft an den Teilhabeproblemen der psychisch erkrankten Menschen überwunden wird.
Fazit Kurz zusammengefasst: Es besteht die Chance, unsere Flucht in bequeme Fiktionen zu beenden. Wir brauchen einen Neuanfang. Wir müssen unsere eigene Teilhabeproblematik bearbeiten. Die Kompetenzen hierfür haben wir. Doch finden wir auch den Mut dazu? Denn ohne das Eingehen von Konflikten wird es nicht gehen. Wenn wir uns gegenseitig stützen, kann es möglich werden. Diese Bitte um Unterstützung auszusprechen, war eine der Motive zu diesem Diskussionsbeitrag.
Literatur Bundesarbeitsgemeinschaft überörtlicher Sozialhilfeträger (2016). Kennzahlenvergleich 2014. Münster: BAGüS. Bundesministerium für Gesundheit (2009). Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Verordnung von häuslicher Krankenpflege in der Neufassung vom 9. September 2009. Berlin: Autor. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (2013). S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen. Berlin-Heidelberg, Springer. Deutscher Bundestag (1975). Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn: Autor. Grohmann, P., Cramer, M. & Peukert, R. Online-Lehreinheit IBRP. Verfügbar unter www. ibrp-online.de [Zugriff am 17.04.2017]. Ließem, H. (2016). Rehabilitative Wirkung sozialer Prozesse – Gruppenprogramm zur sozialen Rehabilitation. Recht und Praxis der Rehabilitation, Heft 4, 54–58. Melchinger, H. (1999). Ambulante Soziotherapie, Bonn: Bundesministerium für Gesundheit. Melchinger, H. (2008). Strukturfragen der ambulanten psychiatrischen Versorgung. Hannover: Medizinische Hochschule Hannover. Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter (2013). Krankenhausplan NRW 2015. Düsseldorf: MGEPA. Schneider, F., Falkai, P. & Maier, W. (2012). Psychiatrie 2020 plus. Berlin-Heidelberg: Springer. Vaihinger, H. (1923). Die Philosophie des Als Ob. Leipzig: Felix Meiner. Wendenburg, F. (1931). Offene psychiatrische Fürsorge vom kommunalen Fürsorgeamt aus. In: Bumke, O. et al. (Hrsg.), Handwörterbuch der psychischen Hygiene und der psychiatrischen Fürsorge. Berlin-Leipzig: de Gruyter.
Hansgeorg Ließem freier Sozialplaner mit Schwerpunkten in Psychiatrie, Altenpflege, Eingliederungshilfe und gemeinschaftliches Wohnen, Vorsitzender des Berufsverbandes der Soziotherapeuten e. V. liessem@soziotherapie.eu Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 41–45
Wie Schmerzpatienten zu mehr Lebensqualität finden
Monika Specht-Tomann / Andreas Sandner-Kiesling
Schmerz Ganzheitliche Wege zu mehr Lebensqualität 2. überarb. Aufl. 2014. 256 S., 31 Abb., 12 Tab., Kt € 19,95 / CHF 28.50 ISBN 978-3-456-85314-7 Auch als eBook erhältlich
Schmerzen – von der Geburt bis in den Tod begleiten sie unser Leben. Wer kennt nicht das bohrende, klopfende oder nagende Gefühl? Besonders chronischer Schmerz stellt eine enorme körperliche, aber auch psychische Belastung dar. Oft bringt er Gefühle wie Wut oder Traurigkeit mit sich. Die Psychologin Monika Specht-Tomann und der Intensivmediziner Andreas Sandner-Kiesling erklären in diesem Ratgeber in klarer, verständlicher Sprache das Phänomen aus interdisziplinärer Sicht. Sie beschreiben die verschiedenen Formen und die wichtigsten Ursachen von Schmerzen sowie insbesondere die neu-
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esten Therapien zu deren Behandlung. Einfühlsam geben sie Betroffenen wie auch Angehörigen in zahlreichen Fallbeispielen einen Überblick über die Möglichkeiten, im Alltag damit umzugehen. Wie lässt sich der Schmerz überhaupt mitteilen, wie kann man mit dem Arzt richtig darüber sprechen? Wie lässt sich die lähmende Wirkung von Schmerzen auflösen? Die Autoren klären auf über den richtigen Gebrauch und die Wirkung von Medikamenten und stellen wichtige Komplementärmaßnahmen zur Schulmedizin vor, wie z. B. Physiotherapie, Naturheilverfahren, Konzentrations- und Entspannungsübungen.
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Schmerz – Herausforderung für die Pflege Schmerzmanagement in Psychosomatik und Psychotherapie Switlana Endrikat
Schmerzen sind in der Pflege ein häufig anzutreffendes Phänomen. Eine Herausforderung für das pflegerische Schmerzmanagement stellt die Gruppe von Menschen mit somatoformen Schmerzstörungen dar. Diese Störung bezeichnet Schmerzen, die sich durch organische Veränderungen nicht hinreichend erklären lassen, sondern eher auf psychosozialen Belastungen beruhen. Die Behandlung dieser Patienten erweist sich als sehr schwierig, da sie einen Zusammenhang zu den psychosozialen Schmerzkomponenten nicht wahrnehmen und auf eine organische Ursache ihrer Schmerzen beharren. Menschen mit somatoformen Schmerzstörungen finden sich in allen Versorgungsbereichen des Gesundheitswesens.
Die Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Die Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie im LVR Klinikum Düsseldorf behandelt Patienten mit psychischen und psychosomatischen Störungen im Sinne einer psychosomatischen Komplexbehandlung. Dazu stehen zwei Stationen mit je 12 Betten und eine Tagesklinik mit 19 Behandlungsplätzen zur Verfügung. Sowohl bei der teil- als auch bei der vollstationären Aufnahme erfolgt eine ausführliche psychodynamische Diagnostik (biographische Anamnese), anhand derer die Persönlichkeitsentwicklung und die wahrscheinliche Entstehung der psychischen und psychosomatischen Symptomatik erfasst wird. Entsprechend dieser diagnostischen Einschätzung wird ein patientenbezogener Gesamtbehandlungsplan erstellt. Die Dauer der Behandlung beträgt im Regelfall drei Monate. Die Versorgung erfolgt interdisziplinär und wird in wöchentlichen Teamsitzungen reflektiert. Die Grundlage unserer Pflege bildet die Theorie der Interpersonalen Beziehungen nach Peplau und das Konzept © 2018 Hogrefe
der Bezugspflege. Beide setzen den strukturell-inhaltlichen Rahmen für die Organisation des Pflegeprozesses und die Gestaltung einer pflege-therapeutischen Beziehung zum Patient. Eine Zunahme an Patienten mit chronischen Schmerzen wird beobachtet. Viele dieser Patienten haben zahlreiche Arztbesuche und Untersuchungen hinter sich, ohne dass eine subjektiv zufriedenstellende Schmerzsituation oder eine Diagnose gestellt werden konnte. Diesen Patienten stehen wir hilflos gegenüber und können außer Medikamenten und Trost nur wenig anbieten, was den Patienten helfen kann, ihre Schmerzen effektiver zu regulieren. Um die Versorgung dieser Patientengruppe zu verbessern, haben wir ein Schmerzmanagementkonzept und einen Pflegestandard entwickelt und in allen Versorgungsbereichen der Klinik (stationär, teilstationär und ambulant) implementiert. Dabei war uns besonders wichtig, das Schmerzmanagement in allen drei Bereichen gleich aufzubauen, damit die Patienten beim Settingwechsel keine Prozessumbrüche haben. Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 47–51 https://doi.org/10.1024/2297-6965/a000142
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Chronische Schmerzen – Stand der Forschung Der Schmerz gehört zu den frühen, häufigen und eindrücklichen Erfahrungen eines Menschen und stellt grundsätzlich eine lebenserhaltende biologische Reaktion auf schädigende Einwirkungen dar (Nobis, Rolke & Graf-Baumann, 2012). In der Funktion als Schadensmelder wird zwischen akutem und chronischem Schmerz unterschieden. Als akut wird in der Fachliteratur plötzlich auftretender Schmerz bezeichnet, der für kurze Zeit anhält und meist in einem klaren Zusammenhang mit einer Gewebe- oder Organschädigung steht. Ist die Schadensursache behoben, klingt der Schmerz ab. Als chronisch werden anhaltende oder wiederkehrende Schmerzen bezeichnet, die primär durch ihre Dauer – mindestens 12 Wochen – gekennzeichnet sind und in einer bedeutsamen Weise Beeinträchtigungen der Lebensqualität im physischen (Mobilitätsverlust und Funktionseinschränkung), psychisch-kognitiven (Befindlichkeit, Stimmung, Denken) und sozialen (sozialer Rückzug) Bereich verursachen. Der Schmerz wird von der International Association for the Study of Pain (IASP) als ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potentieller Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben, definiert. Diese Definition stellt den somatischen Schmerzbegriff in den Vordergrund und impliziert die Annahme, dass die Stärke des Schmerzes dem Ausmaß der Gewebeschädigung entsprechen muss. Dieses Schmerzverständnis hat weitreichende Folgen für die Diagnostik und Therapie chronischer Schmerzzustände. Es erschwert die Realisierung eines bio-psychosozialen Schmerzverständnisses in der Versorgungspraxis und kann zu einer inadäquaten Behandlung von Schmerzpatienten führen (Egle & Zentgraf, 2014). Der Schmerz ist ein bio-psycho-soziales Phänomen und somit ein sehr komplexes Geschehen. Die Komplexität des Schmerzens lässt sich nicht mit einfachen biomedizinischen Modellen erfassen, denn das individuelle Schmerzerleben und der Umgang mit dem Schmerz wird von biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren, zu denen auch familiäre, kulturelle und biografische Erfahrungen zählen, stark beeinflusst (Müller-Mundt, 2008). Heute gilt es als wissenschaftlich erwiesen, dass belastende biografische Ereignisse wie emotionale Vernachlässigung, körperliche Misshandlung, Unfälle, Krankheiten, Verluste, die Menschen vor allem in den frühen Lebensjahren erfahren haben, zu einer Störung im Bereich der zentralen Schmerz- und Stressverarbeitung führen und die Entwicklung eines chronischen Schmerzsyndroms begünstigt (Egle & Zentgraf, 2014). Alle diese Erfahrungen sind im Gedächtnis gespeichert und spielen eine wesentliche Rolle bei der Schmerzverarbeitung. Sie beeinträchtigen nicht nur die Wahrnehmung eines Schmerzreizes, sondern auch dessen kognitive und emotionale Bewertung und daraus resultierende Handlungsplanung. Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 47–51
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Ein weiteres Risiko der Schmerzchronifizierung stellen auch Persönlichkeitsmerkmale und psychosoziale Belastungen dar, wie • Ängstlichkeit und Depressivität • hoher Leistungsanspruch an sich selbst • Durchhaltewille und Entspannungsunfähigkeit • Schon- und Vermeidungsverhalten • anhaltender Stress und emotionale Belastungen, wie schwere Krankheit oder Tod einer wichtigen Bezugsperson • emotionale Vernachlässigung innerhalb des sozialen Umfeldes • problematische Beziehungen und damit verbundene Kränkungen (Egle & Zentgraf, 2014). Jedoch können die Patienten zunächst keinen Zusammenhang zwischen ihren Schmerzen und psychosozialen Belastungen erkennen. Sie sind meist davon überzeugt, dass etwas in ihrem Körper krank sein muss, wenn sie lange Zeit an starken Schmerzen leiden. Bei 25 bis 30 % aller Schmerzkranken sind ausschließlich psychosoziale Belastungen für das Schmerzgeschehen verantwortlich und trotzdem dauert es immer noch 7 bis 9 Jahre bis eine psychosomatische Abklärung des Schmerzes stattfindet. In dieser Zeit suchen die Betroffenen im Durchschnitt 9 bis 12 verschiedene Ärzte auf (Ettrich, Reuter, Seifert & Günther,, 2011). Durch diverse Behandlungsversuche sind die Schmerzpatienten nicht selten mit Folgen iatrogener Schädigungen belastet. Hierzu zählen Analgetikaund Opioidenabusus, körperliche Schädigungen aufgrund chirurgischer oder orthopädischer Behandlungen, zunehmende körperliche Inaktivität, dysphorische Stimmung, Konflikte mit medizinischem Personal und mit Bezugspersonen (Egle, Nickel, Schwab &Hoffmann, 2000). Die erlebten Misserfolge der Patienten wirken sich negativ auf ihr Selbstwertgefühl und ihre Selbstwirksamkeit aus, was sich in ihrer hilflosen, resignierten und passiven Haltung widerspiegelt. Bei Patienten mit chronischen Schmerzen hat die Förderung des Selbstmanagements durch Information, Schulung und Beratung eine zentrale Bedeutung. Das wesentliche Prinzip des Selbstmanagements ist, die Patienten in ihrer Eigenverantwortung und Eigenaktivität zu stärken und zu fördern. Je größer ihre Selbstwirksamkeitsüberzeugung ist, desto mehr sind sie in der Lage, für sich selbst zu sorgen und Maßnahmen zur Bewältigung, Kontrolle und Reduktion des Schmerzes umzusetzen (Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege, 2014).
Das Schmerzmanagementkonzept Um den Patienten mit chronischen Schmerzen eine adäquate, an den wissenschaftlichen Erkenntnissen orientierte Pflege anbieten zu können, haben wir ein Schmerzmanagementkonzept und ein Pflegestandard für psychisch und psychosomatisch erkrankte Patienten mit chronischen Schmerzen entwickelt. Das Ziel ist es, dieser wach© 2018 Hogrefe
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senden Patientengruppe in der Versorgung gerecht zu werden und das pflegerische Leistungsangebot, auch vor dem Hintergrund von PEPP (Pauschaliertes Entgeltsystem Psychiatrie und Psychosomatik), zu optimieren. Übergeordnet verfolgt das Schmerzmanagement folgende Ziele: • Verbesserung des subjektiven Wohlbefindens, der Funktionsfähigkeit und der Lebensqualität im physischen, psychisch-kognitiven und sozialen Bereich durch Erreichung einer stabilen Schmerzsituation • Entwicklung eines bio-psycho-sozialen Schmerzverständnisses durch Psychoedukation • Vermittlung effektiver Strategien der Schmerz- und Stressreduktion sowie adäquater Problemlöse- und Bewältigungsstrategien durch Beratung und Schulung • Stärkung der Selbstakzeptanz, der Selbstfürsorge und des Selbstwertes • Stärkung der Selbstmanagementkompetenz und der Selbstregulationsfähigkeit • Medikamentenmanagement Individuell kann es um Schmerz-, Stress- oder Angstbewältigungstraining sowie um Bearbeitung und Veränderung der Bindungs- und Beziehungsmuster gehen.
Der Pflegstandard Schmerzmanagement bei chronischen Schmerzen Die Entwicklung eines Pflegestandards Schmerzmanagement bei chronischen Schmerzen erfolgte in Anlehnung an den gleichnamigen Expertenstandard des Deutschen Netzwerks für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP). Die Anforderungen des Expertenstandards beziehen sich auf Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität und definieren die Aufgaben und Kompetenzen der Pflegekräfte. Als Zielsetzung gibt der Standard vor, dass jeder Patient mit chronischen Schmerzen ein individuell angepasstes Schmerzmanagement erhält. Das Schmerzmanagement soll zur Schmerzlinderung, zum Erhalt oder zur Erreichung einer bestmöglichen Lebensqualität und Funktionsfähigkeit sowie zu einer stabilen und akzeptablen Schmerzsituation beitragen und schmerzbedingten Krisen vorbeugen. Die Anwendung des Expertenstandards in der Praxis wurde an die Besonderheiten unseres Versorgungssettings angepasst.
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den auch psychischen und sozialen Faktoren das Erleben und Verhalten des Schmerzpatienten modulieren und wesentliche aufrechterhaltende und verstärkende Bedingungen für das Schmerzgeschehen darstellen. Daher ist ihre Erfassung unmittelbar nützlich und notwendig für die Therapieplanung. Der subjektive Bericht des Patienten über seine Erkrankung ist die Grundlage für alle darauf aufbauenden diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen (Handbuch DSF, 2015). Die Entscheidung, als Instrument für ein differenziertes multidimensionales Schmerzassessment bei chronischem Schmerz den Deutschen Schmerzfragebogen (DSF) anzuwenden, ist begründet durch: • die standardisierte Erhebung mit Berücksichtigung der bio-psycho-sozialen Schmerzaspekte • die Praktikabilität, Reliabilität und Validität des Bogens, welcher durch Studien belegt wurde • das Vorliegen eines Handbuchs zur Auswertung der erhobenen Daten, das online kostenlos von der Deutschen Schmerzgesellschaft e. V. zu Verfügung gestellt und für die praktische Anwendung im klinischen Alltag von Frau Endrikat bearbeitet wurde • die Anwendung der Bogen in der Schmerzambulanz der Uni Kliniken Düsseldorf, in welche unsere Patienten konsiliarisch vorgestellt werden Bei der Einschätzung der subjektiven Schmerzintensität ist die Entscheidung für die Numerische Rating Skala (NRS) gefallen. Sie wird bereits im DSF-Bogen verwendet und eignet sich sowohl für die Messung konkreter Schmerzepisoden als auch Unwohlbefinden bei emotionaler oder körperlicher Erregung.
Assessmentinstrumente: Deutscher Schmerzfragebogen (DSF) und Numerische Rating Skala (NRS)
Das Schmerzmanagement – praktische Umsetzung
Chronische Schmerzen stellen ein komplexes multidimensionales Phänomen dar, das gleichzeitig somatische, psychische und soziale Faktoren aufweist. Innerhalb eines bio-psycho-sozialen Modells des Schmerzes wird davon ausgegangen, dass neben den körperlichen Befun-
Das Schmerzmanagement zielt darauf ab, den Schmerzpatienten eine bedarfs- und bedürfnisgerechte Pflege anzubieten. Dies setzt eine sorgfältige Pflegediagnostik der Schmerzproblematik unter Berücksichtigung der bio-psycho-sozialen Schmerzfaktoren voraus.
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Im Rahmen der pflegerischen Anamnese wird daher jeder Patient nach Schmerzen befragt. Bei Patienten, die Schmerzen äußern, wird im Rahmen der Pflegeanamnese ein initiales Schmerz-Assessment durchgeführt. Bei jedem Patienten mit einer Schmerzintensität NRS ≥ 3/10 und/oder einer instabilen Schmerzsituation wird gemäß den internen Pflegestandards ein Schmerzmanagement eingeleitet. Das Schmerzmanagement wird im Rahmen der Bezugspflege durchgeführt. Zusätzlich nehmen die Schmerzpatienten an ausgewählten pflegerischen und therapeutischen Verfahren teil (siehe Tab. 1). Die Verfahren sind dem individuellen Bedarf des Patienten angepasst und werden in Einzel- oder Gruppentherapien durchgeführt. Die Gruppengröße kann zwischen 2 bis 12 Teilnehmern variieren. Das Schmerzmanagement ist modular aufgebaut und in einem schmerzspezifischen Pflegeplan berücksichtigt. Jedes Modul hat eine klar definierte Zielsetzung und einen Arbeitsauftrag, wobei die Modulgrenzen fließend sind. Damit können die Modulinhalte an die Individualität des Schmerzpatienten angepasst werden.
Modul 1: Schmerzanamnese, Schmerzdiagnostik, Schmerzbeobachtung Einführung in die schmerzspezifischen Behandlungsangebote der Klinik In diesem Modul wird mittels des Deutschen Schmerzfragebogens (DSF) eine ausführliche Schmerzdiagnostik durchgeführt. Die Fragebogen werden von den Patienten selbstständig ausgefüllt. Die so erhobenen Daten werden von den Pflegekräften ausgewertet. Die Auswertungsergebnisse werden mit dem Patienten im Hinblick auf: • Schmerzempfindung und Schmerzerleben, • Schmerzverständnis und Erklärungsmuster, • Schmerzursachen und Schmerzauslöser, • Linderungsmöglichkeiten und Behandlungserfahrungen, • Grad der Beeinträchtigung der Lebensqualität im physischen, psychischen und sozialen Bereich, validiert und individuelle Behandlungsziele formuliert.
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Die Patienten erhalten Informationen über das Schmerzmanagement und die schmerzspezifischen Behandlungsangebote der Klinik. Sie bekommen eine Einführung in die Verfahren zur Selbst- und Schmerzregulation (Achtsamkeit, Imagination, PMR, Therapeutisches Boxen, Körperentspannung und Schmerzgruppe) und werden mit der Schmerzbeobachtung mittels Schmerz-Affekt-Tagebuch vertraut gemacht. Diese Maßnahme hilft den Patienten den Schmerz in einem bio-psycho-sozialen Kontext zu beobachten, ihre persönlichen Reaktionen im Umgang mit ihm zu visualisieren und ihre unwirksamen Coping-Strategien zu erkennen. In der Bezugspflege reflektieren wir ihre Beobachtungen und unterstützen sie bei der Entwicklung selbstregulativer Kompetenzen.
Modul 2: Psychoedukation, Beratung und Schulung Ein wesentlicher Baustein für ein effektives Schmerzmanagement stellen psychoedukative Verfahren dar. Unter dem Begriff der Edukation wird die planvolle Herbeiführung einer Lernerfahrung auf Seiten von Patienten verstanden. Ziel ist es, die Selbstpflege- und weitergehende Selbstmanagementkompetenzen der Patienten zu fördern. Auf den Stationen besuchen die Patienten einmal wöchentlich eine ärztlich-pflegerisch geleitete Schmerzgruppe. In der Tagesklinik wird unter pflegerischer Leitung eine Schmerzmanagementgruppe angeboten. In diesen Gruppen wird den Patienten Hintergrundwissen über bio-psycho-soziale Zusammenhänge des Schmerzgeschehens vermittelt und mit persönlichen Erfahrungen jedes einzelnen Patienten verknüpft und reflektiert. Eine fachlich geleitete Auseinandersetzung mit biopsycho-sozialen Schmerzfaktoren hilft den Patienten, ihr Schmerzgeschehen kognitiv neu zu bewerten und ermutigt sie zu einer aktiven Mitarbeit bei der Krankheitsbewältigung Darüber hinaus wird die Entwicklung einer differenzierten Selbst-und Schmerzwahrnehmung unterstützt. Die Patienten werden sensibilisiert zwischen organisch und psychisch bedingtem Schmerz zu unterscheiden, indem sie ein
Tabelle 1. Schmerzspezifische pflege-therapeutische Verfahren Pflegeverfahren
Medizintisch-therapeutische Verfahren
Bezugspflege
Medizinische Visite
Therapeutisches Boxen
Physiotherapie
Imagination
Einzeltherapie
PMR
Ärztlich-pflegerisch geleitete Schmerzgruppe
Achtsamkeit
Interaktionsgruppe
Schmerzmanagementgruppe (Tagesklinik)
Sozialtherapeutische Gruppe Rezeptive Musiktherapie Körpertherapie Sport – und Bewegungstherapie Kunsttherapie
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Verständnis für die psychosozialen Ursachen des Schmerzes und seiner Ausdrucksformen entwickeln. Dadurch lernen sie den Schmerz im jeweiligen biografischen und situativen Kontext (Gedanken, Gefühle, Stimmungen, Konflikte, zwischenmenschliche Kontakte) zu beobachten und zu reflektieren. Sie entwickeln ein Bewusstsein für die innere Befindlichkeit und lernen ihre eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Gefühle wahrzunehmen, zu erkennen und zu regulieren. Die großen thematischen Bereiche sind: • Salutogenese • Leistung und Kontrolle vs. Bindung und Lust • Belastungsgrenzen und Selbstregulation • Selbstfürsorge und Selbstwirksamkeit • Stress- und Schmerzmanagement
Modul 3: Selbstmanagementkompetenz Dieses Modul dient der Festigung des erworbenen Wissens und der Fertigkeiten im Umgang mit Schmerzen. Im Rahmen der Bezugspflege werden die persönlichen Erfahrungen und die Selbstmanagementkompetenzen des Patienten reflektiert, Ressourcen gestärkt, die selbstregulativen Fähigkeiten und effektive Bewältigungsstrategien verfeinert und gefestigt. Die Wirksamkeit des Schmerzmanagements wird vor der Entlassung mittels DSF-Verlaufsbogen evaluiert. Die Auswertungsergebnisse werden individuell mit dem Patienten besprochen.
Reflexion und Ausblick Seit der ersten Einführung des Schmerzmanagements sind fünf Jahre vergangen. In dieser Zeit ist erreicht worden, • eine umfassende Schmerzdiagnostik mittels Deutschen Schmerzfragebogens (DSF), der uns von der Deutschen Schmerzgesellschaft e. V. zu Verfügung gestellt wurde, durchzuführen und den Behandlungserfolg ebenfalls mit dem DSF-Verlaufsbogen zu evaluieren • die erhobenen Daten auszuwerten und die Ergebnisse individuell mit jedem einzelnen Patienten im Rahmen der Bezugspflege zu besprechen, wodurch die Patienten das Gefühl bekommen, in ihrer Schmerzproblematik ernst genommen zu werden • einen Pflegestandard „Schmerzmanagement bei chronischen Schmerzen“ in Anlehnung an den gleichnamigen Expertenstandard des Deutschen Netzwerks für Qualitätsentwicklung in der Pflege zu entwickeln und im stationären und teilstationären Bereich zu implementieren • unser Behandlungsangebot durch Einführung schmerzspezifischer Gruppen und pflege-therapeutischer Verfahren – wie Achtsamkeit, PMR, Imagination und Therapeutisches Boxen in das Schmerzmanagement – auszubauen • diese Angebote den Patienten vorzustellen, gemeinsam mit ihnen die erste Auswahl zu treffen und die Indikationsstellung in der interdisziplinären Teambesprechung zu überprüfen © 2018 Hogrefe
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• auf die regelmäßige Teilnahme des Patienten an ausgewählten Verfahren zu achten, ihre gemachten Erfahrungen in der Bezugspflege zu reflektieren und beim Auftreten von Umsetzungsschwierigkeiten Unterstützung anzubieten • ein Patienten-Handout und Schulungsunterlagen entwickelt zu haben und diese auf dem aktuellen wissenschaftlichen Stand zu halten • einen Raum zu schaffen, in welchem die individuellen Lebens- und Leidensgeschichten des Patienten mit dem gemeinsamen Symptom „Schmerz“ einen Platz haben • eine Sensibilität für die Wahrnehmung der Schmerzproblematiken des Patienten zu entwickeln und ihre pflegerische Versorgung deutlich zu verbessern Das Schmerzmanagement ist zu einem interdisziplinären und Setting-übergreifenden Projekt ausgebaut worden. Seit Dezember 2015 ist das Schmerzmanagement in der Tagesklinik implementiert. Seit April 2016 wird eine ambulante Schmerzgruppe unter ärztlich-pflegerischer Leitung angeboten. Für die Zukunft wünschen wir uns mehr interdisziplinäre Kooperation und Austausch, um gemeinsam an der Verbesserung und Entwicklung der Pflegequalität zu arbeiten.
Literatur Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (2014). Expertenstandard Schmerzmanagement in der Pflege bei chronischen Schmerzen. Hochschule Osnabrück: Autor. Deutsche Schmerzgesellschaft e. V. Handbuch DSF Deutscher Schmerz-Fragebogen. Verfügbar unter http://www.dgss.org/file admin/pdf/pdf_2/DSF-Manual_2015.pdf [Zugriff am 4.11.2015]. Deutsche Schmerzgesellschaft e. V. Deutscher Schmerzfragebogen. Verfügbar unter http://www.dgss.org/deutscher-schmerzfragebogen/ [Zugriff am 4.11.2015]. Egle, U. T., Nickel, .R, Schwab, R. & Hoffmann, s. o. (2000). Die somatoforme Schmerzstörung. Deutsches Ärzteblatt, 97, 1469–1473. Egle, U. T. & Zentgraf, B. (2014). Psychosomatische Schmerztherapie – Grundlagen, Diagnostik, Therapie und Begutachtung. Stuttgart: Kohlhammer. Ettrich, U., Reuter, U., Seifert, J. & Günther, K. P. (2011). Rückenschmerz aus orthopädische Sicht. Ärzteblatt Sachsen, 2, 61–64. Müller-Mundt, G. (2008). Bewältigungsherausforderungen des Lebens mit chronischem Schmerz – Anforderungen an die Patientenedukation. Pflege & Gesellschaft, 13, 32–48. Nobis, H. G., Rolke, R. & Graf-Baumann, T. (2012). Schmerz – eine Herausforderung. Information für Betroffene und Angehörige. München: Springer Medizin.
Switlana Endrikat Altenpflegerin in der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des LVR-Klinikums Düsseldorf, Diplom-Pflegewirtin (FH), freiberufliche Dozentin an der Krankenpflegeschule des LVRKlinikums Düsseldorf switlana.endrikat@lvr.de Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 47–51
Menschen mit Depression professionell behandeln
Thomas Hax-Schoppenhorst / Stefan Jünger (Hrsg.)
Das Depressions-Buch für Pflege- und Gesundheitsberufe Menschen mit Depressionen gekonnt pflegen und behandeln 2016. 360 S., 24 Abb., 39 Tab., Kt € 29,95 / CHF 39.90 ISBN 978-3-456-85608-7 Auch als eBook erhältlich
Depressionen gehören neben Angststörungen zu den häufigsten psychischen Störungen. Pflegende und andere Gesundheitsberufe sind mit Betroffenen in allen Versorgungsbereichen und Lebensaltern konfrontiert. Bislang hat ein umfassendes Praxishandbuch zur Behandlung und Pflege von Menschen mit einer Depression für Pflege- und Gesundheitsberufe gefehlt. Diese Lücke schliesst dieses Werk mit einem multiprofessionellen und mehrdimensionalen Ansatz. Die erfahrenen Autoren aus Medizin und Pflege • zeigen neurobiologische und psychosoziale Dimensionen der Depression und beschreiben Stigmatisierungsfolgen • stellen Elemente einer modernen Depressionsbehandlung und Pharmakotherapie dar
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• zeigen Zusammenhänge zwischen Schlafstörungen und Depressionen • gehen auf Personengruppen mit Depressionen ein, wie Kinder und Jugendliche, Kinder depressiver Eltern, pflegende Angehörige, Lebenspartner, Migranten und Flüchtlinge, Wöchnerinnen, Menschen mit Krebs und alte Menschen • beschreiben Situationen der Depressionsbehandlung, wie Migration, Partnerschaft, Wochenbett und Settings stationärer Versorgung • zeigen Schwerpunkte und Perspektiven der professionellen Pflege von Menschen mit Depressionen auf, wie Achtsamkeit, Beziehungsarbeit, Burn-out, motivierende Gesprächsführung, kindgerechte Kommunikation über Depression, Prävention, Pflegediagnostik, Recovery-Orientierung, Suiziderkennung und -prävention, Surveillance, Vulnerabilität • erleichtern das Lesen und Lernen mit einem didaktisch gut strukturierten Werk.
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Lebensqualität psychisch erkrankter pflegebedürftiger betagter Menschen im Pflegeheim Andreas Egger, Sabine Hahn
Chronisch psychisch kranke Betagte benötigen wegen ihren psychiatrischen Verhaltensauffälligkeiten eine spezialisierte Alterspflege. Bewohnende eines spezialisierten Wohnbereichs wurden ein Jahr nach der Eröffnung nach ihrer Lebensqualität befragt. Die Ergebnisse zeigen, dass eine Betreuung durch spezialisiertes Personal, mit geringfügig erhöhtem Personalschlüssel und spezifischen baulichen Maßnahmen zu einer durch die Betroffenen als gut beurteilten Pflege- und Lebensqualität führt.
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iele psychiatrische Kliniken in der Schweiz führten bis vor kurzem Langzeitabteilungen. Chronisch psychisch kranke Menschen verbrachten daher, selbst wenn sie längst nicht mehr therapiebedürftig waren, einen großen Teil ihres Lebens im Klinikumfeld. Für die Gesellschaft waren die auffälligen Personen „versorgt“ und die Kliniken verfügten über eine stattliche Anzahl sicher belegter Betten. Mit den günstig zu führenden, gut ausgelasteten Langzeitabteilungen konnten andere Angebote querfinanziert werden. Die Patienten kannten keine anderen Möglichkeiten und gewöhnten sich an das Leben in der Klinik. Fachleute dachten an Hospitalismus und verpasste Normalisierung und hatten ein ungutes Gefühl. In den letzten Jahren lösen aus Kostengründen immer mehr Schweizer Kantone diese traditionellen und kantonal mit finanzierten Strukturen auf. In einer Klinik soll nur noch stationär behandelt werden, wer der Klinikbehandlung bedarf. Beispielsweise, wer die Sicherheit der Klinik sowie medizinische und pflegerische Betreuung und Therapie wegen einer akuten Erkrankung benötigt. Dies wird neben fachlichen Argumenten durch neue Finanzierungsgrundsätze gefördert. Bezahlt werden die Behandlung und die bezogenen Leistungen der zu behandelnden Person. Pauschale Finanzierungen der Versorgungsstrukturen werden eingestellt. Im Kanton Aargau (Schweiz) wurden für die Patientengruppe der nicht-klinikbedürftigen chronisch erkrankten Menschen mit Pflegebedarf neue, spezialisierte Pflegeplätze außerhalb der Kliniken geschaffen. Der Kanton ge© 2018 Hogrefe
währte dem Reusspark, Zentrum für Pflege und Betreuung, Niederwil, eine Zusatzfinanzierung pro Pflegetag und Person sowie einen einmaligen Beitrag an die Umbaukosten zur Umnutzung eines vorhandenen Personalhauses in zwei gerontopsychiatrische Stationen. Ein Jahr nach der Neueröffnung dieser Lebensbereiche stellt sich die Frage: Wie beurteilen die psychiatrisch erkrankten Bewohnenden, von denen manche Jahrzehnte ihres Lebens in der psychiatrischen Klinik verbracht haben, ihre Lebensqualität im neuen Umfeld eines Pflegeheims?
Zum Begriff Lebensqualität Lebensqualität beschreibt das subjektive Wohlbefinden, die tatsächlich erlebte Qualität. Sie kann nur bei den Betroffenen direkt erhoben werden, Aussagen von Angehörigen oder Personal decken sich zu wenig mit den Wahrnehmungen der Bewohnenden (Estermann & Kneubühler, 2008). Lebensqualität ist eine wichtige Ergänzung zu den „harten“ Qualitätsindikatoren wie „Anzahl Stürze“, „Anzahl Dekubiti“ oder „Verabreichte Neuroleptika“, die aus der Sicht der Institutionen und der Fachleute erhoben werden. Lebensqualität zeigt auf, wie all die erbrachten, Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 53–57 https://doi.org/10.1024/2297-6965/a000143
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professionellen Leistungen bei den Betroffenen ankommen. Sie ist die Schnittmenge zwischen den erbrachten Leistungen und dem Erleben der Betroffenen. Themen wie Freundlichkeit, menschliche Nähe, erlebte Autonomie, ermöglichte Partizipation sind aus Sicht der Betroffenen höher zu werten, als fachliche Kennzahlen (Hennessey & Mangold, 2009, 2012). Der subjektive Aspekt der Lebensqualität erschwert die Interpretation der Daten. Nicht zwingend ist die erbrachte Leistung schlecht, wenn der Bewohnenden traurig oder unzufrieden sind. Dies könnte im Zusammenhang mit den erlebten Leistungen stehen oder im eigenen Befinden, etwa durch eine Depression bedingt sein. Im umgekehrten Fall kann gefragt werden, ob Frau Müller mit ihren eigenen Ressourcen ihre Lebensqualität verbessert hat oder ob die Leistungen des Heims dafür verantwortlich sind.
Die Bewohnerinnen und Bewohner In den gerontopsychiatrischen Wohnbereichen des Reussparks werden ausschließlich Personen aufgenommen, die das Rentenalter 65 erreicht haben. Um das Angebot gegenüber spezialisierten Wohnbereichen für Menschen mit Demenz abzugrenzen, gehört eine im Vordergrund stehende psychiatrische Diagnose zu den Aufnahmebedingungen. Diese Diagnose ist gemäß ICD-10 mit F1 und höher definiert und muss von einem Facharzt diagnostiziert worden sein. Zudem soll eine deutliche körperliche Pflegebedürftigkeit vorliegen. Auf Grund der psychiatrischen Grunderkrankungen ist bei den betroffenen Personen ein weites Spektrum deutlicher Verhaltensauffälligkeiten vorhanden. Das Verhalten der Bewohnenden geht von liebenswert schrullig, bis kaum integrierbar querulierend und von der Blockade durch Ängste und Depressionen bis zum übersteigerten Antrieb durch Manie oder wahnhaftes Erleben.
Bauliche Rahmenbedingungen Ein Wohnbereich besteht jeweils aus zwei Gruppen von Bewohnenden mit 14 Plätzen davon zehn Einzel und zwei Zweierzimmer. Die relativ kleinen Gruppen erlauben vertiefte Kontakte und einen überschaubaren, ruhigen Alltag. Bei der Einrichtung der Wohnbereiche wurde auf die besonderen Bedürfnisse der Bewohnenden eingegangen. Konzipiert wurden große, helle Aufenthaltsräume die zu Gemeinschaft einladen aber auch Distanz ermöglichen. Eine Rückzugsnische im Korridor bietet zusätzlich Privatsphäre und ermöglicht trotzdem distanziertere Teilhabe am Wohnbereichsalltag. Auf Grund der Lebensgeschichte der Bewohnenden, in der das Rauchen und die Kultur rund um den Raucherraum der Klinik eine große Rolle spielte, wurde in diesen Wohnbereichen ein freundlicher Raucherraum gestaltet. Was sonst im Heim längst nicht mehr üblich ist. Im Weiteren gehört ein Aktivierungsraum für Gruppenaktivitäten und Kreatives zu den Wohnbereichen. Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 53–57
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Das Betreuungsteam Der Personalschlüssel ist höher als in den „normalen“ geriatrischen Wohnbereichen des Heims und beinhaltet mehr Fachpersonal: 0,72 Stellen pro Bett, davon 50 % Diplomiertes Pflegepersonal, 25 % Fachfrau/-mann Gesundheit (Gesundheitsberuf mit Lehrabschluss) und 25 % Hilfspersonal mit Anlehre oder einem kurzen Pflegekurs. Eine 80 % Stelle ist für eine Aktivierungsverantwortliche im Wohnbereich bestimmt. Auch die ärztliche Präsenz ist etwas höher als sonst im Heim, ist aber deutlich tiefer als im in einem Klinikumfeld. Der ärztliche Dienst wird durch einen Geriater als Heimarzt abgedeckt. Einmal monatlich findet ein Termin mit dem ärztlichen und pflegerischen Liaisondienst aus der Psychiatrischen Klinik statt um spezifische Herausforderungen zu besprechen. Es wird bevorzugt Pflegepersonal mit psychiatrischer Berufserfahrung eingestellt. Psychiatrisches Fachwissen im Team ist unabdingbar. Gerade in der Beziehungsgestaltung muss die entgegenkommende Haltung der Demenzpflege und Palliative Care, die im Pflegeheim tief verankert ist, ergänzt werden. Weniger geübt sind Pflegende aus der Langzeitpflege, wenn es darum geht Konflikte auszuhalten und auf klare, wertschätzende Weise Grenzen zu vereinbaren oder soziales Verhalten gezielt zu beeinflussen. Dies braucht Absprachen im Team, entsprechend werden häufiger, einmal wöchentlich, Fallbesprechungen durchgeführt.
Die Befragung Im Rahmen der Abschlussarbeit Master of Advanced Studies in Mental Health an der Berner Fachhochschule wurde eine strukturierte Befragung mit der deutschen Version des „Resident Satisfaction Interview Form 2012“ durchgeführt. Der Fragebogen wurde im Rahmen der Studie Residents Perspectives of Living in Nursing Homes in Switzerland (RESPONS) nach wissenschaftlichen Kriterien übersetzt und an Schweizer Verhältnisse adaptiert. Er wurde in der RESPONS-Studie in einer repräsentativen Umfrage bei 1035 Heimbewohnenden in Schweizer Pflegeheimen eingesetzt (Sommerhalder et al., 2015). Der Fragebogen besteht aus 58 Fragen die zum größten Teil in einer Dreierskala beantwortet werden können (Ja/Teilweise/Nein). Die Lebensqualität wird in elf Dimensionen erhoben. Außerdem werden Fragen zur emotionalen Befindlichkeit und zur allgemeinen Zufriedenheit mit der Institution gestellt. Es können Personen bis zu einer mittleren kognitiven Beeinträchtigung befragt werden, die Triage erfolgte auf Grund der Cognitive Performance Scale (CPS). Befragt wurden Personen mit CPS Werten 0 bis 3. Die Einzelinterviews wurden von einer geschulten, nicht mit dem Heim verbundenen Studierenden durchgeführt und anschließend anonymisiert ausgewertet. Sie dauerten jeweils etwa 40 Minuten. In die Befragung wurden die zwei beschriebenen gerontopsychiatrischen Wohnbereiche und eine schon länger beste© 2018 Hogrefe
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hende Abteilung für Betreutes Wohnen eingeschlossen. Diese ist ebenfalls auf die Betreuung psychisch kranker Betagter spezialisiert, deren Bewohnende allerdings weniger Pflegebedarf aufweisen.
Lebensqualität aus Sicht der Bewohnenden 35 vollständige und 7 unvollständige Interviews konnten erhoben werden. Das heißt 65 % der Bewohnenden, die kognitiv dazu in der Lage waren, beteiligten sich freiwillig an der Umfrage. Die Daten wurden mit deskriptiven statistischen Methoden ausgewertet. Für die folgenden Auswertungen wurden die jeweils eindeutig positiven Aussagen (Ja/Teilweise/Nein) der Dreierskala verwendet. 77 Prozent der Antworten fielen eindeutig positiv aus und zeigten ein sehr erfreuliches Bild. Hervorragend wurde die Umgebung – das heißt, Zimmer, Bad, Erreichbarkeit persönlicher Gegenstände bewertet. Ebenso positiv wurde die erlebte Würde und das Einhalten der Privatsphäre bewertet. Ausnahmslos alle Befragten fanden, dass das Personal freundlich mit ihnen umgeht. Es wurde viel Autonomie in den kleinen Entscheidungen des Alltags erlebt. Die Bewohnenden aller drei Wohnbereiche gaben die negativste Bewertung im Bereich „Bedeutende Aktivitäten“ ab (siehe Tab. 1 und 2). Diese Übereinstimmung weist auf eine vorhandene Lücke in der Betreuung hin und auf einen eindeutigen Handlungsbedarf. Wobei die Werte für bedeutende Aktivitäten an Werktagen besser waren, als diejenigen für das Wochenende. Offensichtlich bringt das Angebot unter der Woche einen Mehrwert für die Bewohnenden. Eine der vier Fragen lautete: „Helfen sie manchmal anderen Leuten?“ Sie wurde nur zu 24 % mit „Ja“ beantwortet. Hier liegt möglicherweise ein Potenzial verborgen, das durch die Förderung der sozialen Kontakte unter den Bewohnern genutzt werden könnte. In zwei Wohnbereichen war der zweittiefste Wert die „Individualität“. Hier wurde das „Wahr-genommen-wer-
den-als- Person“ erfragt (Abb. 1). Eine Frage zielte auf das erfahrene Interesse an der Lebensgeschichte. Obwohl in der Geriatrie die Biografiearbeit sehr hoch gewertet wird, erleben die Befragten in zwei Wohnbereichen wenig Interesse des Personals an ihrer Person und der eigenen Lebensgeschichte. Scheinbar wird das standardisierte Fragen nach der Lebensgeschichte bei Eintritt nicht als authentisches Interesse gewertet. Möglicherweise wird es im Verlauf des Aufenthaltes nicht genügend aufrechterhalten. Auch in diesem Themenkreis bezog sich eine Frage auf die Mitbewohnerinnen und Mitbewohner: „Kennen andere Bewohnerinnen und Bewohner sie gut, wissen sie was ihnen wichtig ist und worauf sie Wert legen?“ Diese Frage wurde nur zu 46 % mit „Ja“ beurteilt und könnte wiederum auf eine ungenutzte soziale Ressource in der Bewohnergemeinschaft hinweisen. Die neun Fragen zur emotionalen Stimmung wurden in einer Viererskala (Häufig, Manchmal, Selten, Nie) be-
Tabelle 2. Dimension 4, Bedeutende Aktivitäten 12) Gibt es Aktivitäten hier, die Ihnen Freude machen?
nein teilweise ja weiss nicht Gültige
Prozent
10
25
4
10
25
65
2 39
100.0
13) Gibt es am Wochenende Aktivitäten, die Ihnen Freude machen?
nein teilweise ja weiss nicht Gültige
Tabelle 1. Die elf Dimensionen und die Höchstwerte über alle drei Wohnbereiche
Anzahl
Anzahl
Prozent
15
39
6
16
17
45
3 38
100.0
14) Helfen Sie manchmal anderen Leuten? Anzahl
Prozent
22
54
9
22
Dimension der Lebensqualität
Positive Antwort in %
nein
Behaglichkeit
77 %
teilweise
Anpassung der Umgebung/Zimmer
94 %
ja
10
24
Privatheit
85 %
Gültige
41
100.0
Bedeutende Aktivitäten
45 %
15) Können Sie hier die Hobbies ausüben, die Ihnen Freude machen?
Freude am Essen
82 %
Autonomie
81 %
nein
Sicherheit
78 %
teilweise
Würde/Personal
93 %
ja
Individualität/Interesse
59 %
weiss nicht
1
Beziehung
72 %
keine Antwort
2
Zufriedenheit mit dem Personal
73 %
Gültige
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Anzahl
Prozent
11
29
9
24
18
47
38
100.0
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wertet, wie bei den Fragen zur Lebensqualität wurde auch hier nur die Anzahl der jeweils positivsten Aussagen zur Auswertung verwendet. Also beispielsweise waren 22 Personen, das sind 63 % der Antwortenden, häufig glücklich und 13 Personen, das waren 37 %, sagten sie seien nie traurig. Im Durchschnitt wurden im Bereich Stimmung zu 47 % die positivsten Aussagen gewählt (Tabelle 3). Die stimmungsbezogene Frage „Sind sie gerne im Heim“ wurde mit 54 % „Ja“ bewertet. Diese emotionsbezogenen Fragen erzielten somit schwächere Werte, als die mehr sachbezogenen Einzelfragen zur Lebensqualität. Ein Grund dürften die häufigen affektiven Störungen, bei 39 % der Bewohnenden sein, die auch gemäss anderen Studien die Lebensqualität stark beeinflussen (Meesters et al., 2013).
Relevanz für die Praxis Die Resultaten dieser Erhebung decken sich in großen Teilen mit der nationalen Umfrage die nur Heimbewohnende, die nicht in gerontopsychiatrisch spezialisierten Stationen lebten einschloss (Sommerhalder et al., 2015). Auch hier bildet das Aktivitätsangebot eine große Herausforderung. Im Pflegeheim ist dies kleiner und weniger vielfältig als in der Psychiatrischen Klinik. Dieser Aspekt wird in den kommenden Monaten aufgegriffen werden um nach Verbesserungsmöglichkeiten zu suchen. Dazu gehört ein vertieftes Abklären nach den Wünschen und Bedürfnissen der Bewohnenden. Ein Ansatz der weiter verfolgt werden sollte, zielt auf gegenseitige Wahrnehmung und soziale Interaktion der Bewohnenden untereinander. Immerhin bil-
Abbildung 1. Säulendiagramm elf Dimensionen.
Tabelle 3. Übersicht alle Fragen, drei Wohnbereiche mit Durchschnitt Betreutes Wohnen n = 13–19
Gerontopsychiatrie 1 n = 5–10
Gerontopsychiatrie 2 n = 9–13
1.2
2.5
1.8
77
76 %
79 %
74 %
Ja (Ja/Nein)
91
94 %
100 %
80 %
Schulnote für die Institution? (44)
5 bis 6 (gut bis ausgezeichnet)
71
78 %
80 %
56 %
Wie gut werden Sie hier gepflegt? (45)
Gut/sehr gut (5er Skala)
81
94 %
67 %
83 %
Sind Sie gerne hier im Heim? (46)
Ja (3er Skala)
54
56 %
60 %
46 %
Wie schätzen Sie ihre LQ im Allgemeinen ein? (58)
gut bis sehr gut (5er Skala)
60
72 %
60 %
50 %
Stimmung? (48–56)
Beste 4 (4er Skala)
47
54 %
38 %
44 %
Fragen (Nr)
Bewertung
CPS (0 = kognitiv intakt)
Mittelwert
Elf Dimensionen der LQ? (1–42)
Beste Werte 3 (3er Skala)
Heim empfehlen? (43)
Ø in %
Anmerkungen. CPS = Cognitive Performance Scale, LQ = Lebensqualität, n = Anzahl Antworten Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 53–57
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den die Bewohnenden häufig für Jahre eine Lebensgemeinschaft und könnten von vertieftem gegenseitigem Kontakt und Anteilnahme profitieren. Wie könnte dies gefördert werden? Muss der soziale Rückzug, zum Beispiel im Zusammenhang mit der häufigen Minussymptomatik bei chronischen Schizophrenien, nicht schlichtweg akzeptiert werden? Ist auf Grund der Resultate eine Langzeitinstitution nun in der Lage eine angemessene Lebensqualität für psychisch kranke Betagte zu bieten? Wir bejahen diese Frage. Mit den hier geschilderten, mässig angepassten Rahmenbedingungen gegenüber der „normalen“ Geriatrie ist dies möglich. Die 77 % positiven Aussagen zur Lebensqualität lassen auf eine im Allgemeinen gute Lebensqualität der psychisch kranken Bewohnenden schließen. Im Alltag zeigt sich dies beispielsweise bei einigen Personen, die vor Eröffnung der gerontopsychiatrischen Wohnbereiche schon im Heim lebten und intern verlegt wurden. Sie konnten zuvor in den herkömmlichen Wohnbereichen nur mit grosser Mühe integriert werden und wurden teilweise von Personal und Mitbewohnenden als große Belastung im Alltag erlebt. Diesen Menschen geht es aus Sicht der Betreuenden heute eindeutig besser.
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Hennessey, R. & Mangold, R. (2009). Gesundheitsförderung wirksamer machen, Forum für Prävention, 12. Verfügbar unter http://www.proeval.com/cgi-bin/ViewPublikationen.pl?& activemainid=1879 [Zugriff am 24.08.2014] Kane, R. A., Kane, R. L., Bershadsky, B., Cutler, L. J., Giles, K., Liu, J. et al. (2004). Measures, Indicators, and Improvement of Quality of Life in Nursing Homes. Final Report. Verfügbar unter http:// www.hpm.umn.edu/ltcresourcecenter/research/QOL/Final_ Report_to_CMS_Volume_1.pdf [Zugriff am 25.05.2014]. Meesters, P. D., Comijs, H. C., De Haan, L., Smit, J. H., Eikelenboom, P. & Beekman, A. T. F. (2013). Subjective quality of life and its determinants in a catchment area based population of elderly schizophrenia patients. Schizophrenia Research, 147, 275–280. Minnesota Departement of Human Services (2012). Resident Satisfaction Interview Form 2012. Verfügbar unter http://www.vitalresearch.com/MNSurvey2012/Resident_Satisfaction_Interview_Form.pdf [Zugriff am 25.05.2014]. Sommerhalder, K., Gugler, E., Conca, A., Bernet, M., Bernet, N., Serdaly, C. & Hahn, S. (2015). Lebens- und Pflegequalität im Pflegeheim: Beschreibende Ergebnisse der Befragung von Bewohnerinnen und Bewohnern in Pflegeheimen in der Schweiz (RESPONS). Verfügbar unter https://www.gesundheit.bfh.ch/ de/forschung/aktuell/respons.html.
Andreas Egger Pflegefachmann AKP, Ausbilder SVEB 2, MAS Mental Health; Leiter Gerontopsychiatrie im Reusspark, Zentrum für Pflege und Betreuung, Niederwil, Schweiz
Literatur Abrahamson, K., Lewis, T., Perkins, A., Clark, D., Nazir, A. & Arling, G. (2013). The Influence of Cognitive Impairment, Special Care Unit Placement, and Nursing Facility Characteristics on Resident Quality of Life. Journal of Aging an Health, 25, 574–588. Cognitive Performance Scale (CPS), Quick Guide to Scoring Rules. n. d. Verfügbar unter http://www.compassionandsupport.org/ pdfs/professionals/training/CPS.pdf [Zugriff am 24.05.2014]. Cummings, R., Lau, A. & Davern, M. (2011). Homeostatic mechanisms and subjective wellbeing. In K. Land, A. Michalos & M. J. Sirgy (Eds.), Handbook of Social Indicators and Quality of Life Studies. Heidelberg: Springer. Estermann, J. (2008). Warum Lebensqualität im Pflegeheim bedeutsam ist und wie sie gemessen werden kann. Swiss Journal of Sociology, 34, 187–210. Hennessey, R. & Mangold, R. (2012). Das Konzept Lebensqualität. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, 18, 27–33.
andreas.egger@reusspark.ch
Sabine Hahn PhD, dipl. Pflegefachfrau Psychiatrie, dipl. Pflegeexpertin, Master in Nursing Science, PhD in Health and Nursing Science, Leiterin der angewandten Forschung & Entwicklung/ Dienstleistung Forschung, Berner Fachhochschule sabine.hahn@bfh.ch
Aufruf Befragung zur Vermeidung von Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie Im Rahmen des BMG-geförderten Forschungsverbundes „Vermeidung von Zwangsmaßnahmen im psychiatrischen Hilfesystem“ (ZVP) führen wir eine bundesweite anonyme Befragung psychiatrischer Pflegekräfte durch. Das Ziel ist es, die Anwendung von Maßnahmen zur Zwangsvermeidung umfassend zu untersuchen und Ausgangspunkte für eine Verbesserung der gegenwärtigen Praxis zu erlangen. Unterstützt wird die Befragung von der BAPP, der BFLK, der DFPP und dem AK Pflege in der DGSP. Die Befragung richtet sich an alle psychiatrischen Pflegekräfte, die seit mindestens einem Jahr auf einer Stati-
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on mit Akutversorgung (z.B. Aufnahmestation, geschlossene Station u.a.) tätig sind und während ihrer Arbeit mit der Anwendung von Zwangsmaßnahmen konfrontiert werden. Der Fragebogen dauert ca. 15-20 Minuten und kann unter dem folgenden Link abgerufen werden: https://ww3. unipark.de/uc/zvp/pflegebefragung/ Sollten Sie Interesse an der Zusendung von Papierfragebögen oder Fragen zur Umfrage haben, melden Sie sich bitte unter: linden.uni-hamburg@gmx.de Dalia Luna Linden, Kolja Heumann und Prof. Dr. Tania Lincoln
Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 53–57
Aktuelle Sachbücher und Ratgeber Julia Weber
Maja Storch et al.
Ich fühle, was ich will
Embodiment
Wie Sie Ihre Gefühle besser wahrnehmen und selbstbestimmt steuern 2017. 216 S., 3 farbige Tab., 45 Abb., Gb € 24,95 / CHF 32.50 ISBN 978-3-456-85557-8 Auch als eBook erhältlich
Laut einer aktuellen Studie sind ca. 10 % der Bevölkerung Deutschlands von „Gefühlsblindheit“, der sogenannten Alexithymie, betroffen. Julia Weber geht den Gefühlen mittels des Zürcher Ressourcen Modells (ZRM®) auf den Grund und erklärt leicht verständlich und fundiert das Konzept der Alexithymie und ihrer Entstehung.
Hans Rudolf Olpe / Cora Olpe
Hirnwellness Alzheimer, Hirnschlag und Depressionen – von den Risiken zu präventiven Möglichkeiten 2017. 184 S., 3 Abb., Kt € 19,95 / CHF 26.90 ISBN 978-3-456-85605-6 Auch als eBook erhältlich
Bei der Entstehung der schweren Hirnerkrankungen Alzheimer, Hirnschlag und Depressionen sind biologische, psychische und soziale Faktoren maßgeblich beteiligt. Diese Faktoren sind eng mit unserem Lebensstil verbunden und wir können sie daher selbst verändern. Ziel dieses Buch ist es, auf das große Potenzial präventiver Maßnahmen gegen die drei Krankheiten hinzuweisen.
www.hogrefe.com
Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen 3., unveränd. Aufl. 2017. 184 S., 34 Abb., Gb € 29,95 / CHF 39.90 ISBN 978-3-456-85816-6 Auch als eBook erhältlich
Warum fällt es vielen Menschen so schwer, achtsam mit dem eigenen Körper umzugehen? Die vier Autoren gehen in „Embodiment“ dieser und anderen Fragen nach und kommen einmütig zum Schluss: Es ist höchste Zeit, das wichtigste Erfahrungsinstrument des Menschen zurückzuerobern: den Körper.
Georg H. Eifert et al.
Mit Ärger und Wut umgehen Der achtsame Weg in ein friedliches Leben mit der Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) Übersetzt von Matthias Wengenroth. Mit einem Vorwort von Steven C. Hayes. 3., unveränd. Aufl. 2017. 248 S., 2 Abb., Gb € 24,95 / CHF 32.50 ISBN 978-3-456-85833-3 Wutanfälle sind überflüssig und peinlich. Auf Basis der Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) zeigen die Autoren, dass es sinnlos ist, emotionale Reaktionen wie Wut und Ärger zu unterdrücken, sondern dass man lernen kann, sich diesen Gefühlen mit Verständnis und akzeptierender Achtsamkeit zuzuwenden.
Interview
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Anschaulich Psychiatrie näherbringen Curd Nickel bündelt langjährige Erfahrungen in unterhaltsamen Büchern
Mehr als vier Jahrzehnte hat Curd Nickel am Niederrhein mit psychisch und neurologisch erkrankten Menschen sowie mit Behinderten gearbeitet. In dieser Zeit hat der gelernte Krankenpfleger und Heilpädagoge viel erlebt – mit den ihm anvertrauten Kranken und Behinderten, mit Kolleginnen und Kollegen, mit den Institutionen. Schon in der Zeit vor seinem Ruhestand hat er Ernst gemacht mit einer Aussage, die langjährig in der psychiatrischen Pflege erfahrene Kolleginnen und Kollegen von sich geben: „Ich könnte Bücher schreiben mit meinen zahllosen Erlebnissen und Erfahrungen.“ Christoph Müller, der bekanntlich die Leidenschaften psychiatrische Pflege, Lesen und Schreiben mit Curd Nickel teilt, hat den persönlichen Austausch gesucht.
Christoph Müller: Was hat Sie, lieber Curd Nickel, motiviert, sich vor den Computer zu setzen und die unzähligen Erfahrungen in Psychiatrie und Behindertenhilfe in spannende Geschichten zu verpacken? Curd Nickel: Das Schreiben war als Kind schon eine meiner Leidenschaften. Ich erinnere mich an das fünfte Schuljahr, als unsere Hausarbeit ein kleiner Aufsatz war. Während Mitschüler eine ein- bis zweiseitige Arbeit abgaben, produzierte ich einen 20 Seiten dicken Krimi. Mit Stolz durfte ich das Schreibwerk vor der Klasse vorlesen. Zu Beginn der 1980er-Jahre – nach dem Ablegen meines Examens für Psychiatrie und Neurologie sowie des Staatsexamen für Krankenpflege – begann ich, eher aus Langeweile, während der Nachtwachen, in denen es ruhig war, mit Papier, Radiergummi und Bleistift, den ersten Roman zu kreieren. Ich hatte so viel Spaß, dass ich in einer Art „Besessenheit“ zwei Manuskripte fertigstellte. Später dann kaufte ich mir eine Schreibmaschine und tippte die Werke – unterlegt mit drei Schichten Kohlepapier – mühsam mit einem Finger ab. Computer gab es damals nicht. Die Manuskripte schlummerten dann im Keller über 30 Jahre vor sich hin. 2003 lernte ich meine jetzige Frau kennen, die jene Manuskripte beim Aufräumen im Keller fand. Zuerst blätterte sie darin herum. Später begann sie, eines zu lesen. Sie zeigte sich begeistert und drängte mich, ein Manuskript einem © 2018 Hogrefe
Verlag anzubieten. Ich gab schließlich nach. Zwei Wochen später kam dann der Vertrag des Verlags ins Haus geflattert. Die alte Leidenschaft flackerte wieder auf. Leider hatte der seinerzeitige Verlag eher das Ziel, von den Produktionskostenbeteiligungen der Autoren zu leben. Alles änderte sich, als ich zu meinem jetzigen Verlag gelangte. Hier merkte ich sofort die professionelle Struktur und das Streben nach Qualität. Somit ist es dort bisher zu fünf Veröffentlichungen gekommen, in denen ich meinen über 40-jährigen Erfahrungsschatz anwenden konnte. Ich glaube behaupten zu können, dass ich in der Psychiatrie und dem Behindertenbereich so ziemlich alles erlebt habe, was man dort nur erleben kann. Was macht das Krimi-Genre so interessant, dass sich dort Geschichten aus der fremden Welt der Psychiatrie erzählen lassen? Lehrbücher und Fachliteratur über dieses Thema gibt es massenhaft. Doch Krimis und Thriller, realitätsnah niedergeschrieben von jemandem, der alles in irgendeiner Form selbst erlebt hat, eher kaum. Jene Bücher, die als Bestseller zu kaufen sind, spiegeln nicht das wahre Umfeld. Durch nichts lassen sich die Spielarten und Erkrankungen des Geistes dem Leser näher bringen, als durch einen Krimi oder Thriller, von jemandem geschrieben, der das nötige Hintergrundwissen dafür hat. Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 59–60 https://doi.org/10.1024/2297-6965/a000148
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Interview
Alkohol als tragendes und zerstörerisches Element In dem Roman „Koordinaten des Wahnsinns“ thematisieren Sie den Alkoholismus und bekennen, viele Jahre selber Probleme mit einer Abhängigkeitserkrankung gehabt zu haben. Inwieweit hat das eigene Betroffensein die Arbeit mit psychisch erkrankten und seelisch behinderten Menschen verändert? In meiner ersten Ehe heiratete ich in eine Familie ein, in der Alkohol das tragende und letztendlich zerstörerische Element war. Doch mehr wollte ich öffentlich dazu nicht sagen. Gleiches war auch bei meinem Berufseintritt in der Psychiatrie der Fall. Es war 1976. Getrunken wurde dort überall. In den 1980er-Jahren änderte sich das beinahe schlagartig, als das absolute Alkoholverbot ausgesprochen wurde. Die bis dahin aufgebaute Eigendynamik bewirkte, dass viele Kollegen Probleme bekamen. Bei einigen hatte sich die Alkoholerkrankung entwickelt. Bei mir selbst kam es zu einem fortwährenden Kampf mit dem dunklen Bruder in mir, der sich über Jahre dahinzog. Erst, als ich dem Alkoholteufel vollständig entsagte, konnte ich diese eigene Quälerei beenden und einen Neustart beginnen. Es war wie eine Wiedergeburt, in der ich die ersten Jahre der Abstinenz jeden Gedankengang, der mir dabei kam, reflektierte und niederschrieb. Das war dann die Grundlage des Buches „Koordinaten des Wahnsinns“. Was die Arbeit mit den kranken und behinderten Menschen betrifft, so glaube ich, dass sie mich sensibler dafür gemacht hat, mich auf Augenhöhe zu ihnen zu begeben. Sie brechen mit den „Koordinaten des Wahnsinns“ ein Tabu und stellen fest, dass für viele Kolleginnen und Kollegen eine Sucht ein Problem ist, das selbst in der Klinik oder im Wohnheim verschleiert oder verschwiegen wird. Was hat Sie bewegt, Verschwiegenes laut zu äußeren? Haben (ehemalige) Kolleginnen und Kollegen darauf reagiert? Das Leben eines Betroffenen ist meist davon geprägt, sich zu verstecken. Im Dienst reißt man sich zusammen. Nach der Arbeit lässt man sich fallen. Je nachdem, in welcher Phase dies geschieht, gelingt es nur mit Mühe. Ich war in
guten Phasen – aufgrund meiner Qualifikation und meines Fachwissens – eher unangreifbar. In schlechten Phasen jedoch war das absolute Gegenteil der Fall.
Ich habe alles selbst erlebt Nach den vielen Jahren der völligen Abstinenz und den Erfahrungen mit dieser Krankheit, meinem Renteneintritt und meinen gemachten Aufzeichnungen glaubte ich, dass es Zeit sei, diesen Erfahrungsschatz öffentlich zu machen. Ein Suchttherapeut oder Verfasser von Lehrbüchern dieses Themas kann seine Analysen einzig auf Beobachtungen und Befragungen stellen. Ich hingegen habe alles, was ich niederschrieb, selbst erlebt. Dies ist der Grund, der mich bewegte. Im gesellschaftlichen und beruflichen Alltag wird die Arbeit mit psychisch erkrankten Menschen häufig idealisiert. Sie scheinen die Krimis mit einem verschmitzten Lächeln zu schreiben. Wie viel Kritik am System, wie viel Leidenschaft für den psychiatrischen Alltag wollen Sie vermitteln? Nichts hat mir in den über 40 Jahren in diesem System an Vorteilen so wenig eingebracht als das Mitgefühl und SichEinsetzen für psychisch erkrankte oder behinderte Menschen. Man ist eher ein Exot, der belächelt wird, als dass man sich in irgendeiner Weise gut fühlen könnte. Wenn man wollte, könnte man Sie als Botschafter für Psychiatrie und Behindertenhilfe bezeichnen. Was treibt Sie an, die Geschichten aufzuschreiben? Es gibt zwei Hauptelemente, die mich antreiben. Zum einen natürlich das (schöne) Gefühl, dass viele Menschen meine Bücher lesen und es sich vielleicht irgendwann auch materiell lohnt. Jeder Autor, der dies bestreitet, lügt. Ich halte mir immer vor Augen, dass ich schlichtweg Glück hatte, gesund in einem sicheren und freien Land zur Welt zu kommen. Andere Menschen hatten dieses Glück nicht. Sie waren behindert oder wurden psychisch krank. Insofern möchte ich versuchen, anschaulich das Leben, die Erkrankungen oder Behinderungen dieser Menschen in Form eines Krimis oder Thrillers näherzubringen. Ich mache dies so gut, wie ich es kann und hoffe, dass es mir gelingt. Herzlichen Dank für das Interview, lieber Curd Nickel.
Curd Nickel (2017). Koordinaten des Wahnsinns. Waiblingen: SWB Media Publishing. ISBN: 978-3946686323, 300 Seiten, € 12,80
Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 59–60
Christoph Müller psychiatrisch Pflegender, Redakteur „Psychiatrische Pflege“, Fachautor arscurae@web.de
© 2018 Hogrefe
Rezension
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Wissens-und Verständnisquelle Günter Storck
S
ie wollen schon seit längerem ein Fachbuch am Arbeits- oder Studienplatz liegen haben, in dem Sie mit kurzem Blick komplexe Informationen zu bestimmten psychiatrisch-pflegerische Themen bekommen? Hilde Schädle-Deininger legt mit ihrem Mitautor David Wegmüller ein Lehrbuch vor, das im stationären und ambulanten psychiatrischen Pflegealltag sowie im Studium stets griffbereit im Handlungskontext verfügbar sein sollte. Den beiden Autoren ist es gelungen, den komplexen Umfang von psychiatrisch-pflegerischem Wissen unter Einbeziehung praktischer Umsetzungshinweise gut lesbar und in klarer Struktur darzustellen. Der Umfang und die Bearbeitung der Themen sprengen fast das Format Kurzlehrbuch. Mit der Wissensprägnanz, die die Autoren setzen, führen sie den Leser zu einer Neugier nach mehr. Es drängt sich schnell der Gedanke auf, dass die psychiatrische Pflege als Wissensund Handlungsorientierung eine „Stammwurzel“ haben muss. Im Vorwort des Buchs wird diese Stammwurzel schnell sichtbar. Schädle-Deininger und Wegmüller schreiben: „… um Menschen nicht nur mit ihrer psychischen Erkrankung, sondern umfassend wahrzunehmen, orientiert sich Psychiatrische Pflege individuell am einzelnen hilfebedürftigen Menschen …“ Dieser „Wurzeltrieb“, um bei dieser Metapher zu bleiben, durchdringt und verzweigt sich in diesem Leitfaden zu einem komplexen vernetzten psychiatrisch-pflegerischen Wissen.
Inhaltsvielfalt wird dekliniert Der Leser wird in einer logischen Struktur von der Pflege als Beruf, über das Pflegewissen vernetzen, Einblick in die psychiatrische Versorgungslandschaft und deren Rahmenbedingungen, Pflege und die medizinische Disziplin, Pflege in der Allgemeinpsychiatrie, alte Menschen und Pflege in der Psychiatrie, Pflege und psychische Störungen im Kindesund Jugendalter, Pflege und forensische Psychiatrie, Grenzerfahrungen und Psychiatrische Pflege geführt. Im Zusammenhang mit den „Pädagogischen Zusammenhängen in Weiterbildung, Praxis und Studium“ kommt die Akademisierung der Pflege zur Sprache. Die Autoren stellen neben den Texten mit einem übersichtlichen und aussagekräftigen Schaubild ihren Vorschlag von möglichen Qualitätsniveaus in der Pflege dar. Im Zusammenhang mit dieser Darstellung argumentieren sie unter anderem, dass akademische Pflegeexperten in der Praxis arbeiten und Wissen anwenden, Projekte entwickeln, Konzepte umsetzen. Eine Fülle von psychiatrischpflegerischen Aspekten wie Ziele und Grundlagen psy© 2018 Hogrefe
H. Schädle-Deininger & D. Wegmüller (2017). Psychiatrische Pflege – Kurzlehrbuch und Leitfaden für Weiterbildung, Praxis und Studium. 3. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Bern: Hogrefe. ISBN 978-3-556-85611-7, € 59.95
chiatrisch-pflegerischer Bildung, Qualitätskriterien der beruflichen Bildung, pädagogische Grundlagen und didaktische Ansätze oder Verknüpfung von Lerninhalten, Kompetenzen und Schlüsselqualifikationen finden sich als Grundlage von Lehrveranstaltungen, die zu einer Vertiefung des Wissens animieren.
Solides und erweitertes Aufbauwissen Von Seite zu Seite ist klar, welchen qualitativen psychiatrischen Pflegefachfundus man in der Hand hält. Ja, es gibt dem erfahrenen Pflegenden Bestätigungen seines bisherigen Handelns, neue Blickrichtungen im psychiatrisch-pflegerischen Handlungsrepertoire. Die Sprache im Buch ist eingängig, die Thematiken sind durch entsprechende Grafiken, Tabellen sowie kleine Übungseinheiten aufgelockert und so unterlegt, so dass die jeweiligen Fragen und Aussagen sich gut verifizieren lassen. Zusammengefasst liegt hier ein Werk vor, dass sich sehr gut zu den einschlägigen qualitativen psychiatrischen Pflegefachbüchern zuordnen lässt und durchaus auch für interessierte nichtpflegerische Mitarbeiter/innen im multiprofessionellen Team eine Wissens- und Verständnisquelle im Sinne eines Nachschlagewerks sein kann.
Günter Storck Krankenpfleger, langjähriger Leiter einer gemeindepsychiatrischen Einrichtung, ehemals Sprecher der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) guenter.storck@t-online.de Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 61 https://doi.org/10.1024/2297-6965/a000146
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Rezension
Praxistauglich Arbeitshilfe beschäftigt sich mit Hoffnung und Trost André Nienaber
M
it „Trost und Hoffnung für den Genesungsweg“ bringen die beiden Autorinnen Marie Boden und Doris Feldt ihr insgesamt drittes „Handbuch zur Gruppenmoderation und zur Selbsthilfe“ auf den Markt. Bereits die beiden Bücher „Krisen bewältigen, Stabilität erhalten, Veränderungen ermöglichen“ und „Gefühle erkennen, annehmen und gut mit ihnen umgehen“ zeichnen sich durch hohe Praxisfreundlichkeit und Anwendbarkeit aus. So ist es nicht überraschend, dass auch dieses Buch eine umfangreiche Sammlung an Themenblättern zur direkten Anwendung in der Praxis der Begleitung von Menschen mit der Erfahrung von seelischen Erschütterungen und Krisen zur Verfügung stellt. Das Buch nimmt die großen Lebensthemen Trost und Hoffnung in den Blick. Es geht sowohl um Abschied im Sinne von Loslassen, als auch um Zuversicht im Hinblick auf etwas Neues oder einen Wandel. Mit ihrem Buch möchten sie sensibilisieren, zum Fragen und zur Diskussion anregen sowie zum Austausch von Erfahrungen und Erinnerungen einladen. Vor diesem Hintergrund beschreiben sie ihr Buch als „Arbeitshilfe“ und „Handwerkszeug“ für den psychiatrischen Alltag, um tabuisierte, aber eben zum Menschsein zugehörige Gefühle wie Traurigkeit und Trost, Hoffnung und Zuversicht wieder sichtbar und spürbar werden zu lassen. Sehr gut gefallen die „stärkenden Unterbrechungen“, insgesamt 30 Übungen für Körper, Seele und Geist und die drei „Atempausen“ mit den Titeln „(Inneres) Pilgern“, „Spaziergang“ und „Stille“. Sollen Sie doch darauf hinweisen, dass eine Auseinandersetzung mit Trost und Hoffnung „immer wieder Zeit für Pausen und Erholung benötigt“.
M. Boden & D. Feldt (2017). Trost und Hoffnung für den Genesungsweg – Ein Handbuch zur Gruppenmoderation und zur Selbsthilfe. Köln: Psychiatrie-Verlag. ISBN 978-3-88414-648-4, 256 Seiten, € 39.95
in der Begleitung von Menschen in seelischen Krisen eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden muss. Der einfühlsame und hoffnungsfördernde Schreibstil der Autorinnen gefällt. Es wird deutlich, dass die Autorinnen über einen eigenen und persönlichen Zugang zu den Themen Trost und Hoffnung verfügen. Sie haben selbst erlebt, dass der Umgang mit diesen Gefühlen belastend war und Zeit und Kraft beansprucht hat, um schließlich gut mit ihrem Leben verbunden zu sein. Das Buch ist aus der praktischen Arbeit mit Menschen mit psychischen Erschütterungen und Erkrankungen zu den Themen Trost und Hoffnung entstanden und kann von den verschiedenen Professionen und in unterschiedlichen Praxisfeldern in der psychiatrischen Versorgung eingesetzt werden.
Einfühlsamer Schreibstil Mit „Trost und Hoffnung für den Genesungsweg“ haben Marie Boden und Doris Feldt erneut eine wertvolle Arbeitshilfe für den psychiatrischen Alltag vorgelegt. Die behandelten Lebensthemen sind nicht nur für Menschen mit einer eigenen Erfahrung einer seelischen Erschütterung relevant, sondern sie betreffen alle. Dass diese Themen im Alltag häufig keinen Platz finden und tabuisiert sind, ist leider richtig, ebenso wie die Aussage, dass ihnen besonders
Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 62 https://doi.org/10.1024/2297-6965/a000145
André Nienaber Gesundheits-und Pflegewissenschaftler, Stabsstelle Klinikentwicklung und Forschung am LWL-Klinikum Gütersloh, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Psychiatrische Pflege der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld andre.nienaber@fhdd.de
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Kunst und Psyche
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Ebenso einladend wie merkwürdig Der Künstler Ulrich-Thomas Pommerin
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as Werk von Ulrich-Thomas Pommerin enthält Abstraktes, aber auch freie Figürlichkeit, die für sich existieren können oder auch auf demselben Bild zusammenfinden. Mal besiedelt er die Räume in seinen graphischen Kompositionen mit Figuren, mal ergänzt er freie Flächen in einer figürlichen Szenerie mit geometrischen Strukturen und konstruktiven Gebilden. Oft gibt er expressive Farben in eine Bleistiftskizze hinein, wo sie nach und nach in alle Zwischenräume hineinwachsen. Die Menschen in Ulrich-Thomas Pommerins Werk wirken ebenso einladend wie merkwürdig und besitzen überraschende Eigenschaften. Der bärtige Mann zum Beispiel, der die „Katze im Menschen“ verkörpert, „man holy chinese woman – two meters eight zenit“ oder die „Frau von besonderer Art, syrisch-orthodox“. Irgendetwas an ihnen ist immer anders, als man es erwarten würde. Scheinbar braucht der Betrachter die verschiedenen Szenen nicht zu enträtseln, denn der Künstler kommentiert seine Werke oft selbst mit Stichworten und Sätzen, die er in die Bilder integriert. Die kurzen Texte suggerieren eine Erläuterung, hinterlassen aber schließlich neue Fragezeichen: „Salalaica. Eight. Kaukasus. Very many Hills. Moskau“, „Me visage, me courage“, „Fußball in Richtung Tor als sogenannter Fallrückzieher“ und „Partitur d`amour“. Seine beiden neuen Skulpturen hat er beschriftet. Gesammelte Fragmente, Sägereste aus Holz, Keile aus Keilrahmen und Fundstücke wie Kerze, Stift, Kaffeetasse, Bürste und Wasserpistole hat er zu abstrakten Gebilden zusammengeklebt und die Schriftzüge wie Bausteine einbezogen. Eine kreuzförmig konstruierte Plastik krönte er mit einem Grablicht und schrieb rechts und links davon jeweils „Rabbiner“ bzw. „Rabbinerin“ auf das Objekt. Beate Steffens
Fotos: Alexey Kovalev © 2018 Hogrefe
Biographische Daten Geboren 1956 in Hannover, Ausbildung als Glasgraveur, lebt seit 1995 in Bielefeld, ist seit 1995 im Künstlerhaus Lydda aktiv
Ausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen/Auswahl 1996 „Seelenbilder“, Kreishaus Herford 1998 „Zwischen Himmel und Erde“, Galerie Lydda 2000 „So Frei Mal Ich“, Galerie Lydda 2006 „Grüße aus Bethel“, Japan 2008/2009 „Weltensichten“, Galerie Lydda (4 Künstler) 2009 „Das Bielefelder Gefühl“, Bielefelder Kunstverein 2009 „Menschen in Bewegung – Beinahe in Peking“, Medizinisches Forum Bielefeld 2010 „Bielefelder Kunstmeile“, Bielefeld 2010/2011 „Lions meet Lydda“, Bielefeld 2011 „Unterwegs“, Sennestadthaus, Bielefeld 2012 „intermezzo”, Kunst im Pavillon, Bielefeld 2016 „Gezeiten“, Galerie Lydda, Bielefeld 2017 „Werke aus dem Künstlerhaus Lydda“, ZiF, Universität Bielefeld 2017 „Resonanzen“, Galerie Lydda, Bielefeld Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 63 https://doi.org/10.1024/2297-6965/a000144
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Dies sollte Schule machen Unter der Trägerschaft des Diakonisches Werkes Berlin Stadtmitte e. V. bietet die Berliner Beratungsstelle Pflege in Not erstmals eine Anlaufstelle für junge pflegende Angehörige zwischen 13 und 25 Jahren an. Zielgruppe sind Jugendliche und junge Erwachsene, die in die Pflege und Betreuung eines Menschen in der Familie stark eingebunden sind. Das Projekt „echt unersetzlich...!?“ ist bislang in Deutschland einzigartig und bietet den Betroffenen kostenfreie niedrigschwellige und lebensweltorientierte Unterstützung im Sinne einer Online-Beratung und -information an. Das Angebot steht krankheitsbild-übergreifend allen jungen Menschen offen, die sich um pflegebedürftige oder körperlich beeinträchtigte Angehörige kümmern. Beratung erhalten die jungen Menschen unter anderem zu Themen wie Konflikte in der Schule/Ausbildung/Studium, die sich aus dem hohen Zeitaufwand für die Pflege und Haushaltsführung ergeben aber auch bei psychischen Belastungen, die im Zusammenhang mit der Pflegeverantwortung stehen. Weitere Infos erhält man auf der kindgerecht gestalteten Homepage unter: http://www.echt-unersetzlich.de
Studie „Gewalt in der Pflege“ Gewalterfahrungen gegenüber Patienten, Bewohnern und Pflegebedürftigen, aber auch gegenüber Pflegenden gehören ganz offensichtlich in Deutschland zum Pflegealltag. Zu diesem Schluss kam eine im September 2017 veröffentlichte Studie des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung (DIP). Für die Studie konnten rund 400 standardisierte Fragebögen von Pflegefachpersonen und -schüler ausgewertet werden. Fast jeder Dritte berichtete über Maßnahmen gegen den Willen von Pflegeempfängern. Geht es um Gewalterfahrungen, die sich gegen die Pflegenden richten, gab fast jeder siebte Befragte an, in den vergangenen drei Monaten selbst Opfer von Gewalt geworden zu sein. Alamierend ist auch das Ergebnis, dass vier von fünf Befragten angaben, dass die Aufarbeitung solcher Gewalterfahrungen in den Einrichtungen ausbleibt und dies obwohl mehr als die Hälfte angaben, in ihren Institutionen entsprechende Anlaufstellen zu haben. Aktuell gibt es in den Einrichtungen erhebliche Defizite in der Prävention und Aufarbeitung von Gewaltsituationen gegenüber aller Betroffenen. Dies würden die Befragten gerne ändern. Mehr als drei Viertel aller Befragten zeigten großes Interesse an Fort- und Weiterbildungen zum Thema Gewalt in der Pflege. Diesem großen Interesse steht nach Auffassung dieser Befragtengruppe aber nur ein geringes Bildungsangebot gegenüber. Quelle: www.dip.de
Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 64
What’s new, Susanna?
Studiengänge aus der Pflegelandschaft nicht mehr wegzudenken Tiefgreifende Veränderungen der Versorgungsbedarfe im Gesundheitswesen – verursacht durch den demographischen Wandel, gepaart mit dem medizinischen Fortschritt und der Notwendigkeit sektorenübergreifender und interdisziplinärer Versorgung und der Herausbildung eines neuen Pflegeverständnisses – erfordern andere Qualifikationen in den Berufen der Gesundheitsversorgung. Der Wissenschaftsrat empfahl bereits 2012 eine Akademisierungsquote von zehn bis 20 Prozent in den Pflege- und Therapieberufen. Mittlerweile bieten bundesweit über 50 Hochschulen pflegebezogene Studiengänge an. Doch ist die Akademisierung die adäquate Antwort auf die beschriebenen Herausforderungen? Dieser Frage geht das Projekt „Berufliche Perspektiven für Absolventen der pflegewissenschaftlichen Studiengänge“ nach. Erfahrene Expertinnen und Experten bewerten hier die Passung empirisch fundierter Kenntnisse über Kompentenzprofile und Tätigkeitsfelder akademisierter Pflegefachpersonen mit den jeweiligen Anforderungsprofilen von Einrichtungen und Institutionen. Fazit: Die Vermittlung der Kompetenzen entspricht weitgehend den Erwartungen der Einrichtungen. Anzumerken ist allerdings, dass der Stellenwert der direkten Pflege bei der Kompetenzvermittlung von Seiten der Hochschulen weniger prominent als bei den befragten Einrichtungen war. Insbesondere die konkreten Einsatzfelder der Absolventen dualer Studiengänge scheinen in der Praxis noch immer unklar zu sein. Ursächlich hierfür sind unzureichende Kooperationen der Institutionen und Einrichtungen mit den Hochschulen. Problematisch bleibt weiterhin die angemessene Vergütung der Pflegeakademikerinnen und -akademiker sowie deren Refinanzierung. Es lässt sich festhalten, dass die Pflegestudiengänge etabliert und die Absolventen aus der Pflegelandschaft definitiv nicht mehr wegzudenken sind. Von der Akademisierung gehen wertvolle Impulse für die Bewältigung der beschriebenen Problemkonstellation aus.
Susanna Flansburg B. A. Psychische Gesundheit, LWL-Klinikum Gütersloh susanna.flansburg@web.de
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Mitteilungen der AFG Psychiatrische Pflege
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Akademische Fachgesellschaft Psychiatrische Pflege Der psychiatrischen Pflege eine Stimme geben und sie in die Diskussion über wichtige gesellschaftliche Themen und Fragen der Gesundheitsversorgung einbringen – darin besteht das Ziel der Akademischen Fachgesellschaft (AFG) Psychiatrische Pflege. Mit Engagement, Innovation und einem klaren wissenschaftlichen Fundament setzen wir uns seit 2005 erfolgreich dafür ein. Unser Blick gilt dabei immer dem Wohl der Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen. Die Mitglieder der AFG arbeiten in den unterschiedlichsten Bereichen des Gesundheitswesens und in unterschiedlichen Positionen. Wir alle verfügen über mindestens einen Master of Science in Pflege und einige über ein Doktorat. Die meisten Mitglieder arbeiten in der Praxis, einige im Management und natürlich sind wir auch in Lehre und Forschung tätig. Wir arbeiten gerade daran, unsere jeweiligen Wissensgebiete, Fachexpertise und Kompetenzbereiche so zusammen zu stellen, dass wir uns noch besser koordinieren und die Informationen über unsere Internetseite auch transparent machen können. Mit dem neuen Webauftritt unserer Dachorganisation, des Schweizerischen Vereins für Pflegewissenschaft, in der ersten Jahreshälfte 2018 wollen wir dieses Ziel erreichen. Dieses Jahr möchten wir uns innerhalb der AFG Psychiatrische Pflege zudem noch stärker in thematischen Gruppen organisieren, denn nur so ist es möglich, schnell und effizient Fragestellungen zu bearbeiten und auf aktuelle politische bzw. fachliche Entwicklungen Einfluss zu nehmen. An den halb- oder ganztägigen Sitzungen der AFG werden neben dem gegenseitigen Informations- und Fachaustausch und der Koordination des Engagements unserer Mitglieder auch ausführlich über fachinhaltliche Themen diskutiert. So unterstützen wir finanziell das Erstellen der Richtlinie zur Psychiatrischen Intensivbetreuung in der Schweiz und fungieren als Sounding-Board für die Arbeitsgruppe, welche die nationale Richtlinie gemeinsam mit dem Netzwerk Pflegefachentwicklung Psychiatrie unter der Leitung von Dr. Franziska Rabenschlag ausarbeitet. Weitere Themen, die uns 2018 beschäftigen werden: • Die Positionierung der AFG im Umfeld der Psychiatrischen Pflege in Praxis, Management, Forschung und Bildung verbessern • Den Schwerpunkt Psychiatrie und Psychische Gesundheit in der Überarbeitung der SRAN (Swiss Research Agenda for Nursing) einbringen
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• Die Beschreibung akademischer Rollen und Tätigkeitsprofile sowie das Mentoring junger Pflegewissenschaftlerinnen vorantreiben • Das vorhandene Fach- und Expertenwissen in der Schweiz (Fachliteratur sowie Master- und Doktorarbeiten) zu Themen rund um die Psychiatrische Pflege weitestgehend erfassen und im Rahmen von Publikationsund Urheberrechten zur Verfügung stellen • Den Grademix in der psychiatrischen Pflege und Auswirkungen auf die Pflegequalität im Fokus behalten und dabei die Entwicklung der APN-Rollenprofile in der Psychiatrie in Zusammenarbeit mit der IGswissANP und dem Deutschen Netzwerk APN/ANP fördern Argumentativ gefordert werden wir auch in Bezug auf die verschiedensten Sparmassnahmen und die Mittelverteilung sein, welche die Arbeit der Pflege immer noch nicht entsprechend ihrer Kompetenzen berücksichtigt. Auf der politischen Agenda stehen zudem das neue Gesundheitsberufegesetz und die erfolgreich eingereichte Pflegeinitiative. An Inhalten für unser Engagement wird es also nicht fehlen! Wir freuen uns, Sie fortan auf dieser Seite über unsere Arbeit und Themen, die uns beschäftigen, auf dem Laufenden halten zu können. Unser Redaktionsteam nimmt gerne Ihre Anregungen und Rückmeldungen entgegen unter psychiatrie@vfp-apsi.ch. Für die AFG Psychiatrische Pflege, das Co-Präsidium: Prof. Dr. Sabine Hahn, PhD der Universität Maastricht (NL) in Pflege und Gesundheitswissenschaften, Master of Science in Pflege und Gesundheitswissenschaften, Diplomierte Pflegeexpertin, Diplomierte Pflegefachfrau Psychiatrie, Leiterin der Abteilung Pflege und der angewandten Forschung & Entwicklung/Dienstleistung Pflege am Departement Gesundheit der Berner Fachhochschule. Peter Wolfensberger, MScN, Master of Science in Pflege der Universität Cardiff (UK), PhD-Student an der Universität Bournemouth (UK), Fakultät für Gesundheitsund Sozialwissenschaften, Diplomierter Pflegefachmann, Pflegeexperte und Pflegewissenschaftler in der Integrierten Psychiatrie Winterthur-Zürcher Unterland.
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Mitteilungen der BFLK
In der letzten Ausgabe hat sich der Landesvorsitzende von Rheinland-Pfalz/Saarland und Leiter des Netzwerkes Forensik, Werner Stuckmann, mit seinem Steckbrief vorgestellt. In der vorliegenden Ausgabe stellt sich der Vorsitzende des BFLK Landesverbandes Nordrhein-Westfalen Norbert Nowak vor.
Steckbrief Name, Vorname
Norbert Nowak
Alter
39 Jahre
Wohnort
Leverkusen
Beruflicher Werdegang
Ausbildung zum Kaufman beim Siemens I Center, danach den Zivildienst und die Ausbildung zum Kinderkrankenpfleger in den von Bodelschwinghschen Anstalten in Bielefeld. Im Jahre 2004 begann meine Tätigkeit im PED der KJP Müchnen (Heckscher Klinik). Im Anschluß (2005) kam der Wechsel zu den Kliniken der Stadt Köln (KJP) in den PED (Teilzeit) mit zeitgleicher Studienaufnahme zum Diplom-Sozialwirt (HS Niederrhein). Mit Beendigung des Studiums 2009 wurde ich stellvertretende Stationsleitung, danach kam 2010 der Wechsel zur DRK Fachklinik Bad Neuenahr (KJP), erst als Stationsleitung im Sommer 2010, dann auch als stellvertretende Pflegedienstleitung. Seit 2011 bin ich in der LVR Klink Düsseldorf als PDL tätig, zuständig hier für die KJP, Psychosomatische Abteilung und diverse kommissarische Leitungen in der AP. Mit Abschluß meines Masterstudiums (Schwerpunkt Sozialraumorientierung, HS Fulda/Wiesbaden) 2016 übernahm ich im Sept. 2016 das Amt des stellvertretenden Pflegedirektors im LVR Klinikum Düsseldorf.
Mitglied seit
2013
Funktion in der BFLK
Landesvorsitzender des BFLK Landesverbandes NRW
Aktuelle Themen in der BFLK
– Pflegekammer NRW – Aktive Mitgestaltung des PsychVVG – Psych KG Novellierung und die weiteren notwendigen Anpassungen mit gestalten – Personalbemessungen – Einflussnahme auf die Landespsychiatrieplanung NRW
Lebensmotto
Immer nach vorne schauen
Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 66–67
Lieblings-Reiseziel
Immer zu neuen Orten, da es viel zu entdecken gibt.
Hobbys
Joggen, Reisen, Kultur an Rhein und Ruhr
Nachrichten Neuer Landesvorstand in NRW gewählt Zum 1. Vorsitzenden wurde Norbert Nowak (LVR Düsseldorf) gewählt, zur stellvertretenden Vorsitzenden Heidrun Lundie (St. Alexius/St. Josef Krankenhaus in Neuss). Yvonne Auclair (LWL Dortmund), Marion Brand (LWL Bochum), Christiane Frenkel (LVR Essen) und Stefan Rogge (LVR Bonn) wurden als Beisitzer einstimmig gewählt. Der Bundesvorstand bedankt sich ganz herzlich bei dem vorherigen Vorstand für seine intensive und engagierte Arbeit. Die Wahl fand am 8. November 2017 während der Veranstaltung „(Fest) Halten, statt fixieren“ in der LWL Klinik Herten statt. Die Tagung selbst war ein voller Erfolg, sie hatte einen sehr großen Zulauf, da die Thematik neben den Führungskräften auch viele Mitarbeiter der Basis ansprach und damit eine Diskussion und einen Austausch auf breiter Ebene ermöglichte.
BFLK gibt zukunftsweisendes Projekt in Auftrag Im November 2017 schloß die BFLK mit der Fachhochschule der Diakonie, Bielefeld auf ihrer Herbsttagung einen Vertrag, indem Prof. Michael Löhr und sein Team sich zukünftig mit der Berechnung von Personalbesetzung und Mindestpersonalausstattung beschäftigen werden. Das © 2018 Hogrefe
Mitteilungen der BFLK
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BFLK-Bundeskonferenz tagt in Berlin Vom 12.–13. November 2017 fand im Ev. Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge (KEH) in Berlin die Herbsttagung der BFLK statt. Alle Landesvorsitzenden stellten ihre Entwicklungen, Themen und das Engagement ihrer Mitglieder aus ihren Bundesländern dar. Der Bundesvorstand berichtete von seinen Aktivitäten mit den befreundeten Verbänden, die Arbeit im Deutschen Pflegerat und das Engagement im Gemeinsamen Bundesausschuss. Traditionell wird auf der Herbsttagung auch das Programm der nächsten Jahrestagung besprochen. Ein „Muss“ für alle Leitungen aus psychiatrischen Kliniken. Die Arbeit und die Ergebnisse aller Teilnehmer sind zusammenfassend als sehr positiv einzuschätzen.
Termine und Veranstaltungen
Vertragsübergabe: G. Oppermann, BFLK und M. Löhr, FHdD
Ziel ist eine Personal-Patienten-Relation (PPR-PP) zu erhalten, die in unterschiedlichen Settings Anwendung findet. „Auf diese durchaus zukunftsweisende Studie und Arbeit hat die psychiatrische Pflege schon gewartet und jetzt wird sie Realität“, so Georg Oppermann bei der offiziellen Vertragsübergabe. In einem Jahr wird die Fachwelt sehen, welche pflegerischen Ressourcen notwendig sind. Diese Studie hat das Potenzial, auch als Grundlage für politische Entscheidungen zu fungieren. Sie ist methodisch auch auf andere Berufsgruppen anzuwenden. Inhalte und Ergebnisse werden auf den verschiedenen BFLK-Veranstaltungen präsentiert.
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Deutscher Pflegetag 2018 15.–17. März 2018 Ort: STATION-Berlin (Gleisdreieck), Luckenwalder Str. 4–6, Berlin Der Deutsche Pflegetag ist Deutschlands führender Pflegekongress. Unter dem Motto „Teamarbeit – Pflege interdisziplinär!“ treffen sich 2018 über 10.000 Interessenten der Branche um die Zukunft der Pflege zu gestalten. Kontakt: https://deutscher-pflegetag.de/ 43. BFLK-Jahrestagung 2018 23.–25. April 2018 Ort: Klinik Königin Elisabeth Herzberge, Berlin Kontakt: Vilsmeier@bflk.de Save the Date: 4. Nationales Forum für Entgeltsysteme in der Psychiatrie und Psychosomatik (NFEP) 15.–16. Oktober 2018 Ort: Ev. Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge (KEH), Berlin
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Editorial „Die richtigen Hilfen und Pflegeangebote in die Praxis bringen“ Menschen, die in besonderer Weise gesundheitliche Herausforderungen zu bewältigen haben, brauchen ein vielfältiges Set an individuellen Hilfen. Die DFPP setzt sich dafür ein, dass die Pflege als wichtiger Akteur im Hilfegeschehen einen eigenständigen Beitrag leisten kann. Wir tragen darüber hinaus Sorge, dass dieser Beitrag nicht nur von den Betroffenen, sondern auch von Entscheidungsträgern in Politik und Gesundheitsversorgung gesehen und wertgeschätzt und honoriert wird. Professionelle psychiatrische Hilfen dürfen dabei nicht beliebig sein, sondern müssen Standards einhalten – fachlich (am aktuellen Stand der Wissenschaft orientiert) und ethisch. Die psychiatrische Pflege hat gerade in Deutschland sehr viel zu tun, um ihre eigenen fachlichen Standards zu beschreiben, in die multiprofessionelle Hilfeplanung einzubringen und in der Praxis flächendeckend zu verwirklichen. Vor allem, weil die Akademisierung hierzulande so spät begonnen hat, ist viel aufzuholen (Schulz & Sauter, 2015). Erfreulich ist, dass neben den laufenden Akademisierungsprozessen zunehmend weitere Schritte unternommen werden. Einige Beispiele: • immer häufiger arbeiten Pflegefachpersonen bei der Erstellung und im Konsentierungsprozuess von (multiprofessionellen) Behandlungsleitlinien oder bei der Entwicklung von Qualitätsstandards mit • immer häufiger werden sie in politische Anhörungsverfahren einbezogen (vgl. letztes Heft). Die DFPP wird oft angefragt, entsprechende Experten zu benennen und sucht nach Wegen, damit entsprechende Anfragen an unseren Verband in Zukunft regelmäßig geschehen. • die DFPP unterstützt gerne und zunehmend Forschungsprojekte, welche eine gute Versorgung der Betroffenen oder wichtige Belange der Pflege zum Ziel haben (s. u.). • ein großes Problem ist in der Regel, dass neue Erkenntnisse auch im Alltagshandeln der Praktiker ankommen. Gefordert sind vielfältige Wege um Wissen bekannt zu machen, sowie Hilfen für die Einführung/ Implementierung vor Ort. Neben den vielfältigen Themen der Arbeitsgruppen (s. u.) will auch die Entscheidung, jährlich eine Fachtagung auszurichten (s. u.), diesen Zielen dienen. Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 68–70
Mitteilungen der DFPP
Durch das Handeln sehr vieler aktiver Menschen kann die DFPP mittlerweile wesentlich dazu beitragen, dass „gute psychiatrischer Pflege“ (Richter et al., 2014) beim Patienten ankommt. Damit wird auch die Bedeutung der Pflege immer sichtbarer. Ihre Dorothea Sauter, DFPP-Vizepräsidentin
Literatur Richter, D., Schwarze, T. & Hahn, S. (2014). Was ist gute psychiatrische Pflege. Ergebnisse eines Forschungsprojektes. Psych Pflege Heute, 20, 125–131. Schulz, M. & Sauter, D. (2015). Ein langer Weg. Zur wissenschaftlichen Fundierung der Psychiatrischen Pflege. Dr. med Mabuse, 216, 34-35.
Aus Vorstand und Präsidium Anstehende Mitgliederversammlung und Vorstandswahl Am 12. März 2018 wird im Rahmen der nächsten Mitgliederversammlung (s. u., Termine) die Neuwahl des DFPPVorstandes stattfinden. Gerne können sich an einer Kandidatur interessierte DFPP-Mitglieder vorab mit dem aktuellen Vorstand abstimmen. Das Wahlverfahren ist in der Satzung hinterlegt, siehe https://dfpp.de/archiv/dfpp/ dfpp-satzung.pdf. (DS)
Gründung AG StäB Angedacht ist im Rahmen der Mitgliederversammlung eine AG zu gründen, die sich mit der Konzeptualisierung und Umsetzung der „Stationsäquivalenten Behandlung“ befasst. Eine Unter-AG macht sich unter Moderation von Mathias Welberts (MathiasWelberts@t-online.de) erste Gedanken. Nähere Informationen auch unter https://dfpp. de/index.php/arbeitsgruppen.html. (DS)
Forschungsprojekte – mit der Bitte um Mitwirkung Die DFPP fördert gerne Forschungsprojekte, die voraussichtlich zu einer besseren Hilfe beitragen werden. Aktuell arbeitet Stefan Scheydt mit einer Arbeitsgruppe daran, die Kernaufgaben der stationären psychiatrischen Pflege valide zu beschreiben (Infos bei stefan.scheydt@zimannheim.de). © 2018 Hogrefe
Mitteilungen der DFPP
Wir unterstützen das Projekt des Bundesministeriums für Gesundheit zur Erforschung der Prävention von Zwangsmaßnahmen und wünschen, dass viele Pflegefachpersonen wie auch Patienten sich bis Ende Februar an der Umfrage beteiligen (https://ww3.unipark.de/uc/zvp/ pflegebefragung/). Aktiv beteiligt sich die DFPP am Projekt der Fachhochschule der Diakonie Bielefeld, um Fragen um berufliche Erschöpfung zu klären – auch hier bitten wir um Beteiligung an der Umfrage und entsprechende Streuung im Kollegenkreis (https://ww3.unipark.de/uc/profdrlhr_Fachhochschule_ der_Dia/427e/). (DS)
DFPP-Fachtagungen Das DFPP-Präsidium hat entschieden, ab dem Jahr 2019 an wechselnden Orten in Deutschland jedes Frühjahr eine eigene Fachtagung auszurichten. Diese soll von den DFPP-Arbeitsgruppen inhaltlich mitgestaltet werden und mit der Mitgliederversammlung verknüpft werden. Ein „Tagungsausschuss“ in AG Öffentlichkeit übernimmt die Planung, Ansprechperson ist Johannes Kirchhof (johannes. kirchhof@uk-koeln.de). (DS) Das nunmehr dritte Symposium „Evidenz-basierte Psychiatrische Pflege“ fand am am 17. November 2017 im Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim statt, in Kooperation mit der DFPP und der Katholischen Hochschule Mainz. Im thematischen Fokus standen „Akademische Pflegekräfte im Kontext der multidisziplinären psychiatrischen Versorgung“. Hierzu konnten mit Prof. Dr. Bernd Reuschenbach (München), Prof. Dr. Sabine Hahn (Bern), Prof. Dr. Michael Schulz (Bielefeld) sowie Uwe Braamt (Herten) hervorragende Referenten gewonnen werden, welche Ihre Forschungsarbeiten und Erfahrungen im Zusammenhang mit der Akademisierung der Pflege und der Integration akademisch ausgebildeter Pflegender in den Einrichtungen des Gesundheitswesens vorstellten. Der Andrang zu diesem Symposium war sehr hoch, leider konnten aufgrund von Umbauarbeiten am ZI nur 80 Interessierte an der Veranstaltung teilnehmen. Auch 2018 soll das Symposium fortgesetzt werden, nähere Informationen folgen. (Stefan Scheydt)
Aus den Arbeitsgruppen
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rung, ambulante psychiatrische Pflege sowie Leitlinien und Behandlungspfade für die psychiatrische Pflege, Qualifizierung, Transkulturalität in der täglichen Praxis und evidenzbasierte Pflege an. Sowohl die benannten Themen als auch die anwesenden Kolleginnen und Kollegen spiegelten in besonderer Weise die Vielseitigkeit unserer Landeshauptstadt Berlin wider. In einem regen und inspirierenden Austausch wurden Ideen zur weiteren Entwicklung der AG festgestellt. Die AG soll auf lange Sicht eine Anlaufstelle im Raum Berlin für Fragen rund um die psychiatrische Pflege werden. Zielgruppen der AG sind sowohl stationär als auch ambulant arbeitende Kolleginnen und Kollegen, Fachpflegende als auch studierte Pflegende. Um die Anliegen der psychiatrischen Pflege im Raum Berlin zu vertreten, ist es wichtig mit möglichst vielen Kolleginnen und Kollegen ins Gespräch zu kommen. Dabei ist die Mitarbeit in der AG „Berlin Regional“ sowohl aktiv mit Argumenten, als auch passiv mit einer Mitgliedschaft möglich. Ein weiteres Treffen der Regionalgruppe ist für Februar 2018 geplant. Interessierte Kolleginnen und Kollegen sind herzlich eingeladen, Kontakt aufzunehmen: ag-berlin@dfpp.de. (Jacob Helbeck)
AG Suizidprävention Das öffentliche Stellungnahmeverfahren zum HTA-Bericht der AG-Suizidprävention hat noch nicht stattgefunden. Wir rechnen damit, dass die externen Sachverständigen im Oktober 2018 den vorläufigen Basisbericht bekanntgeben werden. Die AG-Suizidprävention wird anschließend Stellung nehmen. Das nächste Treffen findet in Kürze in Form einer Skype-Konferenz statt. (Mathias Welbers)
AG Netzwerk Entgelt Das verbandübergreifende Netzwerk tagte am 16. Oktober 2017 in Bielefeld. Thema waren neben der Nachweispflicht, der Vereinbarung zum StäB und der Diskussionen um die Mindestpersonalbesetzung vor allem die Weiterentwicklung des OPS-Katalogs. Weiterhin sollten Vorschläge für die nächste OPS-Aktualisierung mit dem Ziel entwickelt werden, um den Bürokratieaufwand in den Kliniken deutlich reduzieren können. Das nächste Treffen ist am 22. Januar 2018, 10:30 bis 15:30 Uhr, an der Fachhochschule der Diakonie, Bielefeld. (DS)
Regionalgruppe Berlin Am 30. November 2017 trafen sich interessierte Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Berliner Kliniken und Versorgungskontexten, um in den Räumen des Evangelischen Krankenhauses die AG „Berlin Regional“ zu gründen. Begleitet wurde der Auftakt durch einen kurzen Impuls von Herrn Prof. Dr. Michael Schulz sowie Herrn Prof. Dr. Michael Löhr. Es stellten sich die anwesenden Mitglieder vor. Erste Interessenslagen und Themenschwerpunkte wurden diskutiert. Es klangen unter anderem Themen wie Pflegekammer und Nachwuchsförde© 2018 Hogrefe
AG State of the Art Beim AG-Treffen vom 09. November 2017 in Mannheim wurde eine Breite an Themen der Pflegepraxis diskutiert. Beim ersten Tagesordnungspunkt wurde entschieden, eine Stellungnahme zur Bezugspflege zu entwickeln. Als Gast war Johanna Feuchtiger für das „IzEP“ gekommen. Sie stellte das „Instrument zur Erfassung von Pflegesystemen“ vor und berichtete von vielen Erfahrungen bei der Einführung oder Verbesserung von Bezugspflege oder „Primary Nursing“. In einer DFPP-Stellungnahme soll Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 68–70
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deutlich werden, dass Bezugspflege-Systeme eine wichtige Voraussetzung für gelingende Beziehungsarbeit mit dem Patienten sind und alle Mitarbeiter – auch das Management – das System unterstützen sollen. Wer in der Unter-AG (online) mitdiskutieren will, wende sich bitte an Daniel Sahm: d.sahm85@googlemail.com. Außerdem wird das Thema Peer-Involvement weiterverfolgt. Michael Mayer leitet nun die Unter-AG, die zunächst online versuchen wird, einen Entwurf für eine Stellungnahme zu entwickeln. Kontakt: mm@allgaeu-akademie.de. Für das Protokoll und weitere Infos kontaktieren Sie agstateart@dfpp.de. (DS)
Mitteilungen der DFPP
Der in diesem Jahr erneut vergebene DGPPN Preis für Pflege- und Gesundheitsfachberufe wurde geteilt. Ausgezeichnet wurden Werner Höhl und Andreas Pfeiffer aus dem LVR-Klinikum Düsseldorf mit der Arbeit „Handeln gegen Trägheit“ sowie Tim Fleiner, Prof. Dr. Wiebren Ziljstra, René Deperieux und PD Dr. Peter Häussermann von der Deutschen Sporthochschule Köln mit der Arbeit „Gerontopsychiatrie in Bewegung“. Im Bereich der Posterpräsentationen besteht weiterhin Entwicklungsbedarf. (André Nienaber & Susanne Schoppmann)
Terminvorschau/Ankündigungen Rückblick WPA-Kongress und Mitwirkung HORATIO Vom 08. bis 12. Oktober 2017 fand in Berlin der WPA XII World Congress of Psychiatry statt. Der ansonsten jährlich stattfindende DGPPN Kongress war integriert. Insgesamt kamen über 10.000 Personen zu diesem weltgrößten Kongress der Psychiatrie mit über 900 einzelnen Veranstaltungen. Mehr als 2000 Teilnehmende kamen aus Ländern wie Australien und den USA, Indien und Afrika. Aus dem Bereich der Pflege- und Gesundheitsfachberufe konnten mehr als 800 Teilnehmende gezählt werden. Die beiden Referate Psychiatrische Pflege und Gesundheitsfachberufe waren mit wichtigen Themen der psychiatrischen Versorgung und unter Nutzung der verschiedenen Formate (Symposium, Course (=Workshop), Postern) aktiv an der Gestaltung des Kongresses beteiligt. Erfreulich war in diesem Jahr, dass zum ersten Mal eine Keynote durch das Referat Psychiatrische Pflege mitgestaltet werden konnte. Als Referentin konnte Prof. Edilma Yearwood aus den USA mit dem Titel „Future of nursing: An underutilized global force to address and promote mental health“ gewonnen werden. Das Hauptsymposium des Referats Psychiatrische Pflege trug den Titel „Person centered care – a forward looking approach in psychiatric nursing“, war international besetzt und wurde in englischer Sprache gehalten. Sehr gefreut haben wir uns über den Besuch und das Symposium „Meeting the challenges facing psychiatric nurses in Europe: The work of Horatio“ durch die Board-Mitglieder von Horatio – European Psychiatric Nurses. Darüber hinaus war der von den Fachgesellschaften organisierte Stand der Psychiatrischen Pflegeverbände wieder ein attraktiver Treffpunkt zum Austausch oder auch zum Verweilen und Durchatmen.
Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 68–70
Mitgliederversammlung und AG-Treffen in der UniKlinik Köln 12. und 13. März 2018, Köln Ablauf 12. März • 11.00 bis 14.00 Uhr: Arbeitssitzung Fachreferat Pflege der DGPPN • 15:00 bis 16:00 Uhr: Vortrag (angefragt), anschließend Kaffee • 16:16 bis 18:45 Uhr: Mitgliederversammlung DFPP und Vorstandswahlen • 18:45 bis 19:30 Uhr: Präsidiumssitzung • Ab 19:30 Uhr: come together (bitte Voranmeldung) Ablauf 13. März • 9:00 bis 14:30 AG State of the Art • 9:00 bis 13:00 AG Suizideinschätzung • 9:00 bis 13:00 AG Pflegeexperten • 13:30 bis 15:30 AG Öffentlichkeit plus Treffen Regionalvertreter
Kongresse 2018 Gerne verweisen wir auf spannende Kongresse unserer Partner: Horatio Kongress Safe Setting 10.–12. Mai 2018, Tórshavn, Faröer http://www.horatio-web.eu/ Vierter Internationaler Psychiatriekongress zu seelischer Gesundheit und Recovery 28.–29. Juni 2018, Inselspital Bern http://www.recovery-psychiatrie.eu/
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Mitteilungen des VAPP
Es war einmal … Die Anforderungen an den Verein im Wandel Die Umstrukturierungen auf der Webseite www.vapp.ch haben unter den Mitgliedern zu einigen Irritationen geführt. Wir nehmen dies zum Anlass, die Entwicklung des Vereins rückblickend zu betrachten. Es ist die Frage zu stellen, wie sich der Verein in Zukunft entwickeln wird und welche Konsequenzen für die Angebote und den Auftritt des Vereins zu erwarten sind. Es war einmal eine Zeit, da konnten sich alle Freiberuflichen APP des Kantons Bern in einem Wohnzimmer treffen. Es kam darauf an, die Grundlagen der Vernetzung zu legen, das Angebot bekannt zu machen und sich auszutauschen. Es war auch einmal eine Zeit, in der die APP tatsächlich bemerkt wurde und von verschiedenen Seiten das Bedürfnis geäußert wurde, eine zentrale Ansprechperson für die APP zu bekommen. Es war dann auch eine Zeit, in der die APP dem Wohnzimmer entwachsen war und die Gründung des Vereins nicht nur dem Wunsch Einzelner entsprach, sondern sich von außen aufdrängte. Krankenkassen, Fachinstitutionen und Forschung suchten konkrete Ansprechpartner. Konkret: Die APP wechselte von der Stube an den Küchentisch, um zu arbeiten und den Verein zu gründen. Es war eine übersichtliche, einfache, „gemütliche“ Zeit. Der Verein konnte auf alle Bedürfnisse eingehen, die Webseite sah nicht nur „hand made“ aus, sie war es auch. Alle Mitglieder kannten sich persönlich.
Das ist vorbei… Heute haben sich die Ansprüche und Erwartungen an den Verein deutlich erhöht. Es ist Professionalisierung gefragt. Vernetzung mit Behörden, Krankenkassen, anderen Verbänden und Ausbildungseinrichtungen ist erforderlich. Unsere Fachexpertise muss geschärft und zur Verfügung gestellt werden. Kurzum: Wir werden wahr- und ernst genommen. Als Verein stehen wir in der Pflicht und müssen den an uns gestellten Erwartungen und Bedürfnisse verantwortungsbewusst begegnen. Zugleich ist die Mitgliederzahl erfreulich gestiegen, was aber mit sich bringt, dass wir uns nicht mehr alle persönlich kennen und der Verwaltungsaufwand erheblich gestiegen ist. Beispielgebend und zur Klärung die Überlegungen des Vorstands zu Punkt e) (Pflege und Unterhalt der Website des Vereins. Informationen bereitstellen für Mitglieder, Fachpersonen und Betroffene): © 2018 Hogrefe
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Was heißt «Verantwortung»? Zur Erinnerung der Zweck des Vereins aus den Statuten: a. Vertretung der fachlichen Interessen ambulant tätiger Psychiatriefachpersonen b. Empfehlung und Weiterentwicklung von Qualitätsstandards für die APP c. Definition und Empfehlung für Aus-, Fort-, und Weiterbildungen d. Unterstützung regionaler Gruppen und Netzwerke e. Pflege und Unterhalt der Website des Vereins. Informationen bereitstellen für Mitglieder, Fachpersonen und Betroffene f. Förderung der Zusammenarbeit ambulanter psychiatrischer Pflegefachpersonen und anderer ambulanter Leistungserbringer g. Öffentlichkeitsarbeit und Vernetzung h. Organisation von APP-relevanten Veranstaltungen i. Hilfestellung für Neueinsteiger in der APP. Beratung für Mitglieder, Fachpersonen und Betroffene
Die Webseite ist ein Spiegel des Vereinslebens. Sie soll die Mitglieder erreichbar machen. Sie soll unsere Fachexpertise verdeutlichen, Außenstehenden einen Plattform zur Information und Kontakt bieten. Dabei muss sie in allen Bereichen übersichtlich bleiben, der Verwirrung entgegenwirken und durch einen professionellen Auftritt unsere Professionalität wiederspiegeln. Zu guter Letzt muss der Aufwand zur Betreuung der Website im ehrenamtlichen Rahmen zu bewältigen sein. Damit dieser Spagat gelingt, sucht der Vorstand den geeigneten (Mittel-)Weg, allen Ansprüchen Rechnung zu tragen. So ist in näherer Zukunft mit weiteren Anpassungen und Optimierungen auf der Webseite zu rechnen. Anregungen und Wünsche nimmt der Vorstand gerne entgegen und diskutiert die konzeptionelle Umsetzung der Bedürfnisse. Ein anderer Aspekt wäre Punkt b) (Empfehlung und Weiterentwicklung von Qualitätsstandards für die APP): Fachlich ist die gesamte psychiatrische Pflege in den letzten Jahren gewaltig in Bewegung geraten. Begriffe wie Recovery, Empowerment und Adherence sind in aller Munde und füllen sich zunehmend auch mit Inhalten. Der Verein erachtet es im Rahmen der Professionalisierung der ambulanten psychiatrischen Pflege als unerlässlich, diese Inhalte für die APP zu gestalten und zu definieren. Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 71–72
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Zur Ermöglichung richtet der Verein den Fokus auf die Fachexpertise der einzelnen Mitglieder (z. B. in den Workshop-Tagungen) und der Fachtagung. Um die darin enthaltenen Ressourcen und inklusionsorientierte Arbeit umzusetzen, braucht es eine klare Auseinandersetzung bei den Mitgliedern über die angewandten Werkzeuge in der täglichen Praxis. Gleichzeitig ist es erforderlich, diese Erkenntnisse über die APP bei den Partnerorganisationen zu vermitteln. Roger Freiburghaus/Udo Finklenburg
Mitteilungen des VAPP
Die anschließende Tagung zeichnete aber ein anderes Bild. Drei Viertel der Referate behandelte aufsuchende Dienste der Kliniken. Durch die zahlreichen Wortmeldungen der anwesenden APPler bleibt die APP in guter Erinnerung der Tagungsteilnehmer.
Agenda 3. Workshop-Tagung 23. Februar 2018, 9.30 Uhr, Hotel Olten, Olten Anmeldung ab Januar über www.vapp.ch
APP versus Ergotherapie Aus der AG APP/Ergotherapie ist zu berichten, dass es durchaus gemeinsame Arbeitsfelder und Synergien gibt, die Psychiatriepflege aber aufgrund ihrer medizinisch-psychiatrischen Expertise immer den Lead hat.
Erhebung ambulant-psychiatrische Angebote seitens des Bundesamtes für Gesundheit Wir möchten den Vereinsmitgliedern danken, dass so viele an der vom BAG in Auftrag gegebenen und vom Büro BASS durchgeführten Umfrage teilgenommen haben. Das Ergebnis ist eindrücklich: 78% der in der Schweiz erbrachten ambulant-psychiatrischen Leistungen werden von Freiberuflern oder der Spitex erbracht.
Psychiatrische Pflege (2018), 3 (1), 71–72
Generalversammlung 15. März 2018, ab 19.00 Uhr, Hotel Olten, Olten www.vapp.ch SBK-Kongress 2.–4. Mai 2018, OLMA Messen, St. Gallen www.e-log.ch 10. Fachtagung Ambulante Psychiatrische Pflege 25. Mai 2018, Basel www.fachtagung-app.ch 15. Dreiländerkongress Pflege in der Psychiatrie 27./28. September 2018, Parkhotel Schloss Schönbrunn, Wien www.pflege-in-der-psychiatrie.eu
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Umfassend und aktuell – das komplette Wissen der Psychologie
Markus Antonius Wirtz (Hrsg.)
Dorsch – Lexikon der Psychologie Unter Mitarbeit von Janina Strohmer. 18., überarb. Aufl. 2017. 1952 S., Gb € 74,95 / CHF 95.00 ISBN 978-3-456-85643-8
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Der Dorsch bietet • rund 12 000 Stichwörter von über 600 Fachautoren aus allen Bereichen der Psychologie • eine strukturierte Aufbereitung der Inhalte in 19 Teilgebiete, die von renommierten Gebietsexperten betreut werden • 1200 Topstichwörter für vertieftes Wissen und schnellen Zugang zu allen Teilgebieten der Psychologie • den Zugang zum Dorsch Lexikon Online, das fortdauernd aktualisiert und erweitert wird • das aktuelle Wissen der Psychologie, kompakt und zitierfähig.
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Das optimale Vorgehen nach sexualisierter Gewalt
Jan Gysi / Peter Rüegger (Hrsg.)
Handbuch sexualisierte Gewalt Therapie, Prävention und Strafverfolgung Bearbeitet von Angelika Pfaller. 2018. 722 S., 26 Abb., 25 Tab., Gb € 79,95 / CHF 99.00 ISBN 978-3-456-85658-2 Auch als eBook erhältlich
Sexualisierte Gewalt ist nicht nur mit vielen Tabus verbunden, sondern bedeutet für die Opfer Schmerz, Ohnmacht, das Aushalten des Geschehenen und das Bewältigen der posttraumatischen Symptome. Viele schweigen, einige suchen Unterstützung in Beratung und Therapie, aber nur wenige strengen ein Strafverfahren an. Lediglich ein kleiner Teil davon, etwas weniger als ein Fünftel, führt zur Verurteilung des Täters. Das vorliegende Handbuch weist basierend auf dem neuesten Stand der psychologischen und psychiatrischen Forschung wie auch der Diskussion in Polizei und
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Justiz den Weg für ein optimales Vorgehen der verschiedenen Fachpersonen. Die Herausgeber haben damit für die Praxis ein Nachschlagewerk geschaffen zu Kernfragen in der Unterstützung, der Behandlung, des Umgangs und der Vertretung von Opfern sexualisierter Gewalt. Im Zentrum steht der interdisziplinäre Ansatz bei der Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt, der sich sowohl an medizinische und psychologische Fachpersonen wie auch an Fachleute aus der Strafverfolgung, der Gerichte und der Prävention richtet.