oK T ober 2012
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hochSchULe LUzern DeSign & KUnST
ei n L ei T U n g S. 1
Die Kultur D es t ourismus V on Peter sP sPillmann illmann
a LT - n e U
n° 2 — hochSchULe LUzern – DeSign & KUnST — DeSTinaTion KULTUr
Dieses Heft handelt von der Kultur des Tourismus. Ausgelotet werden verschiedene kulturelle Phänomene und Effekte und gesellschaftliche Interaktionsfelder, auf die wir im Umfeld von Tourismus stossen. Die Beiträge im ersten Abschnitt (alt neu) kreisen um die Frage der Rolle, welche der Tourismus bei der Definition und Inszenierung von Geschichte und nationaler Identität spielt. Die Beiträge im zweiten Teil des Heftes (nah - fern) handeln vom Tourismus als einem prominenten Ort des Austauschs, der Begegnung und der Konfrontation unterschiedlicher kultureller Milieus und Akteure. Der dritte Abschnitt des Heftes (high - low) handelt von der im Feld des Tourismus besonders intensiv ausgetragenen Auseinandersetzung zwischen elitären und populären kulturellen Ansprüchen.
Destination Kultur
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Das i mmaterielle Kulturerbe als metaK meta K ulturelle ProD Pro D u K tion V on b arbara Kirshenblatt-Gimblett
S . 16
Von «t « t ourismus unD un D sP sPort» ort» zu «Kultur unD un D t ourismus» V on r eto s täheli
S. 22
i n D er m itte Von m arion V on o sten
S . 27
s tran tranD D enbur enburG G V on Jochen b ec ecK K er
S . 31
z ur i nsel machen Von e l K e Krasny
na h - f e r n S . 39
Von s chweizer Dörfchen unD un D «eD «e D len w il ilD D en» ein GesP Ges P räch mit w alter l eim eimG G ruber
S. 44
i n D ien in D er s chweiz V on s ybille f ran ranK K
S. 48
h ots otsP P ot e n G elber elberG G V on a n G ela s an anD D ers
S. 53
aufeinanDer zu unD aneinanDer Vorbei
ein GesPräch mit barbara emmeneGGer h igh - L o w S . 61
tourist wiDer willen Von maura couGhlin
S . 66
Kunst unD tourismus ein GesPräch mit niKa sPalinGer
S . 75
alPenPoP
Von michael zinGanel S . 81
anDenKentröDel unD fremDenKitsch Von franzisKa nyffeneGGer
S. 84
Von Der crux Des historismus ein GesPräch mit stanislaus Von moos
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Die Kultur des Tourismus von Peter Spillmann Es ist Anfang Juli, kurz nach Sonnenuntergang. Touristen drängen auf der Terrasse der Esplanade du Trocadéro und auf den grossen Treppen, die zum Pont d'Iéna runterführen und strecken ihre iPhones, iPads und Digitalkameras in den sich langsam violett färbenden Himmel. Ihre Gesichter sind von zahllosen kleineren und grösseren Displays matt erleuchtet, die alle dasselbe Bild wiedergeben: die Silhouette des Eiffelturms, der sich dunkel vom hellen Abendhimmel und von der Skyline von Paris abhebt. Reisegruppen, Paare, Familien, Singles, erklärende Reiseleiter/innen, eine Frau, die aus dem Reiseführer vorliest, ältere Damen und spielende Kinder. Ein junges Paar beim Fotoshooting, geleitet von der Imagination «romantischer Abend in Paris»: Sie ist vollständig in weiss angezogen, er in weissem T-Shirt und Jeans. Sie stellt sich an die Balustrade der Terrasse, hält den Kopf schief, streicht die Haare nach hinten, blickt in die Ferne, blickt über die Schulter zurück, lehnt sich an ihn. Er nimmt sie in den Arm, sie sitzen zusammen auf der Mauer, er stellt sich hin, sie stützt sich auf beide Ellenbogen, setzt sich aufrecht hin, wirft den Kopf nach hinten, während Bilder von der Seite, aus der Totalen und aus der Halbtotalen aufgenommen werden. Eine türkisch-französische Familie mit Verwandten und Freunden auf gemeinsamer Sightseeing-Tour. Die jungen Männer filmen sich vor der Hauptstadtkulisse beim Singen von kurzen improvisierten Spott liedern: «Sarkozy est parti, nous sommes toujours là!» Später auf YouToube werden daraus kleine Botschaften an die Welt. Immer wieder nehmen Leute dieselbe Pose ein, ein Arm ausgestreckt, die Hand waagrecht, als würde man die ungefähre Höhe von einem nicht anwesenden Objekt anzeigen. Nach zwei, drei Anweisungen und kleinen Korrekturen der Körperstellung ist die Illusion perfekt: «Geert touching the top of Eiffel Tower,» heisst die Bildunterschrift auf Flickr. Auf dem Platz vor dem Musée de l'Homme sind Dutzende von Strassenverkäufer unterwegs, die Leuchtflummis und fliegende Lichtschlangen anbieten. Neonfarbige Lichtspuren im Abendhimmel. Ein kleines Mädchen wirft seine rosa Leuchtschlange hoch in die Luft und ruft: «Oui! - Paris!» Ähnliche Szenen wie in Paris spielen sich überall auf der Welt ab, wo immer wir auf Hotspots des Tourismus treffen. Sie werden gerne belächelt und wie alles, was offensichtlich touristisch wirkt, erstmals nicht sonderlich ernst genommen. Nimmt man aber den Tou rismus als zeitgenössisches kulturelles Phänomen ernst, lässt sich schnell erkennen, dass dem touristischen Blick, dem Freizeitund Kulturkonsum und einem spezifischen touristischen Modus der Orts- und Geschichtsrezeption in der aktuellen Konzeption von Orten, Regionen und Nationen, die sich zunehmend in einem glo balen Wettbewerb verorten, eine zentrale Bedeutung zukommt. In der Kultur der Erlebniswelt wird die Welt zur Ausstellung und
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die mit dem Tourismus eng verbundene Kunst der Inszenierung und des Spektakels bildet denn auch wesentlich den aktuellen Kontext für künstlerische und kulturelle Produktionen. Im Zentrum des Interesses steht der Tourismus als ein kulturelles Phänomen, etwa die Bedeutung, welche touristische Erfahrungen und Erlebnis perspektiven für die Entwicklung der modernen Öffentlichkeit, die Selbstdarstellung von Nationen und die Mobilisierung einer nicht länger ausschliesslich an ihre Herkunft gebundene Subjektivität haben, aber auch Formen von Kultur, die nur im Tourismus entstehen konnten. Paris bietet sich hier als ein Einstieg an, um die Zusammenhänge zwischen einer ideologisch motivierten Inszenierung des Nationalen, einer dazu notwendigen Mobilisierung von Massenpublikum und dem darin angelegten Beginn des Massen- oder Städtetourismus zu verstehen. Der Eiffelturm wurde ursprünglich als monumentales Eingangstor für die Pariser Weltausstellung von 1889 konzipiert und gebaut. Die Ausstellung fand anlässlich des 100. Jahrestages der französischen Revolution statt. Kaum eine andere europäische Nation beherrschte zu dem Zeitpunkt die Kunst der Selbstinszenierung so perfekt wie Frankreich. Das Land stand in Konkurrenz zu England, Deutschland und Österreich und war an verschiedenen Fronten in kolonialer Expansion begriffen. Mit der Ausrichtung einer Weltausstellung verfolgten die grossen Staaten Ende des 19. Jahrhunderts stets eine doppelte imperiale Strategie: Die möglichst pompöse Darstellung der eigenen wirtschaftlichen Potenz - in Form von technischen Ingenieursleistungen - und die Demonstration der eigenen kulturellen Bedeutung - durch die Inszenierung von Differenz zwischen europäischer und aussereuropäischer Kultur und Lebensweise. Zu den populärsten Attraktionen der Ausstellungen gehörten denn auch die Darstellungen von fremden Völkern und Kulturen, etwa eine nachgebaute, von Statisten bewohnte Strassenpartie der Altstadt von Kairo, pastorale Dorfszenen aus der Schweiz oder die Live-Aufführung des Lebens von Angehörigen eines Volkes aus Afrika im Stil der damals in ganz Europa verbreiteten Völkerschauen. Die Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts können auch aus ökonomischer Sicht als Vorläufer des Massentourismus gesehen werden. Alleine die Ausstellung von 1889 in Paris zählte bereits 7 Millionen Besucher/innen. Gustave Eiffel hatte für die Finanzierung seines Projekts ganz im Stil der Zeit eigens Aktien herausgegeben. Die Baukosten waren nach dem ersten Betriebsjahr nur mit den Eintritten bereits zu zwei Dritteln wieder eingespielt und die Aktie des Eiffelturms wurde damit eine der erfolgreichsten der franzö sischen Wirtschaftsgeschichte. Das heute selbstverständlich erscheinende Interesse von Millionen von Städtereisenden für die Metropole Paris, für ihre historischen Monumente und für Museen wie dem Louvre ist schliesslich das Ergebnis wiederholter solcher Mobilisierungen einer breiten Öffentlichkeit. In der vorliegenden Publikation werden die kulturellen Phänomene und Effekte sowie gesellschaftlichen Interaktionsfelder, auf die wir im Umfeld von Tourismus immer wieder stossen, von drei Seiten her kritisch ausgelotet. Die Beiträge im ersten Abschnitt (alt - neu) krei-
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sen um die Frage der Rolle, welche der Tourismus bei der Definition und Inszenierung von Geschichte und nationaler Identität spielt. Seit dem 19. Jahrhundert stellt das Feld des Tourismus eine der prominentesten Bühnen dar, auf denen Nationen, Regionen und Städte ihre Geschichten und Eigenheiten vor einem immer breiter werdenden Publikum wirkungsvoll in Szene setzen können. Touristische Normalität lässt schnell vergessen, dass Geschichte immer auch in erster Linie als ein nationales oder regionales Abgrenzungsprojekt kon stituiert ist und ihre Deutung ein sozial und kulturell umkämpftes Territorium darstellt. Der Wettkampf, den die unterschiedlichen europäischen Empires einst auf den kolonialen Schauplätzen und im Rahmen von Weltausstellungen gegeneinander führten, findet heute seine logische Fortsetzung denn auch in der Konkurrenz von Metropolen und Regionen als attraktive Sightseeing-, Shopping-, Kultur- oder Kongressdestinationen. Als Strategie der Inszenierung bewährt sich der Bau einer spektakulären architektonischen Landmark gleichermassen wie die Bewerbung um einen exklusiven Weltkulturerbe-Titel. Mit der Entwicklung der UNESCO-Politik seit den 1950er Jahren und durch die Einführung von einheitlichen Standards bezüglich Reflektion, Definition und Inventarisierung der eigenen kulturellen Tra ditionen hat sich gerade auch im Umfeld des Tourismus die Vorstellung von einem für die Menschheit insgesamt schützenswerten Weltkulturerbe durchgesetzt. Die Kulturtheoretikerin Barbara Kirshenblatt-Gimblett gehört seit Jahrzehnten zu einer kritischen Beobachterin dieser Entwicklung. In ihrem Text führt sie in die spezielle Dynamik der Kulturerbenpolitik ein und zeigt auf, dass das, was passiert, nicht ausschliesslich dem Erhalt von bestehender Kultur dient, sondern im Grunde einen neuen Modus der metakulturellen Produktion darstellt, die sowohl dem Tourismus, als auch einem spezifischen globalen Wettbewerb der Nationen untereinander dient. Die Frage, mit welchen Bildern eine touristische Region auf sich aufmerksam machen will, ist denn auch nur vordergründig das Problem der Tourismusverantwortlichen und ihrer Marketingspezia listen. Imagekonzepte betreffen indirekt auch immer Fragen der regionalen Identität. Was dabei ein partizipativer Prozess bedeuten könnte und welche Probleme damit verbunden sind, zeigt der Beitrag von Reto Stäheli am Beispiel der Region Toggenburg auf. Im Städtetourismus von Berlin spielten die Sichtbarkeit und die Deutung von Geschichte und damit die Frage, welche Spuren erhalten und welche ausgelöscht werden sollen, in der gesamten Nachkriegszeit eine zentrale Rolle. Der Fall der Mauer und der touristische Boom der letzten 20 Jahre hat eine weitgehende Überarbeitung und Neuinszenierung der nationalen Geschichte zur Folge. An die Stelle von realen Spuren im städtischen Raum treten die Bemühungen, die unsichtbar werdende Geschichte mit Hilfe von aufwändigen Inszenierungen «fassbar» oder «erlebbar» zu machen. Diese neuen Erzählungen richten sich an ein internationales Publikum, spektakuläre Blockbuster an Stelle von vielfältigen Auseinandersetzungen mit spezifischen Geschichten und lokalen Kämpfen. Die Künstlerin und Kuratorin Marion von Osten stellt, ausgehend von einer Installation des Künstlers Cyprien Gaillard, Überlegungen zur aktuellen Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe Preussens an - dies im
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Kontext der laufenden Neukonzipierung der Berliner Museen und der damit eng verbundenen Neuinszenierung von Deutscher Geschichte. Die Hoffnungen, welche an den Tourismus als ökonomischer aber auch kultureller Entwicklungsimpuls geknüpft werden, stehen im Zentrum der Eindrücke, die der Autor und Kurator Jochen Becker rund um das Projekt «Tropical Islands» im Süden von Berlin ge sammelt hat. Die touristische Umnutzung stillgelegter industrieller Anlagen scheint seit den späten 1990er Jahren eine der wichtigsten Strategien zu sein, um peripheren Regionen eine neue wirtschaft liche Zukunft zu versprechen. Aus munitionsverseuchten militärischen Sperrzonen und in von Kohletagbau zerstörten Landstrichen entstehen in Ostdeutschland und anderswo immer neue Naturer lebnis-Parks und Seenlandschaften. Mindestens ebenso wichtig wie die wirtschaftlichen Effekte scheinen für die Verantwortlichen aus der Politik aber auch die erhofften kulturellen Effekte eines «Tourismus-Impulses» zu sein. Der Beitrag der Kuratorin und Projektkünstlerin Elke Krasny schliesslich handelt von den inselähnlichen Raumkonfigurationen, die im Kontext von touristischen Entwicklungen immer häufiger anzutreffen sind. Das sorgfältig rekonfigurierte historische Monument, die neue architektonische Landmark und die Museumsinsel stellen gemäss ihrer Beobachtung drei wichtige Eckpunkte aktueller Öko nomisierungsstrategien von Städten dar. Das Prinzip des Insularen wird zur zentralen Produktionsstrategie globalisierter Stadträume. Neugeschaffene Museums-Inseln dienen vielerorts als eine Art Motor, um Stadt- oder Regionalentwicklungsprozesse in Gang zu bringen und um spezifisch Lokales global wirksam in Szene zu setzen.
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Die Beiträge im zweiten Teil des Heftes (nah - fern) handeln vom Tourismus als einem prominenten Ort des Austauschs, der Begegnung und der Konfrontation unterschiedlicher kultureller Milieus und Akteure. Der touristische Raum ist bei zunehmender Mobi lität breiter Bevölkerungsschichten unschwer als ein zentrales so ziales und gesellschaftliches Laboratorium der Modernisierung und Globalisierung zu erkennen. Im Kontext des Tourismus stossen wir auf den unterschiedlichsten Ebenen auf komplexe kulturelle Austauschverhältnisse, etwa im Zusammenhang mit zirkulierenden Erzählungen und Bildern, im realen Kontakt mit andern gesellschaftlichen Verhältnissen und Akteuren, aber auch bei der Inanspruchnahme von Services und Dienstleistungen, welche im Tourismus mittlerweile fast überall zu einem sehr hohen Anteil von migrantischen Arbeitskräften erbracht werden. Durch die lange Geschichte eines von aussen bereisten, betrachteten und beschriebenen Territoriums eignet sich die Schweiz besonders als Fallstudie zur Beobachtung der wechselseitigen Einflüsse von Selbst- und Fremdwahrnehmung. Die Frage, wie weit die aktuelle kulturelle Identität der Schweiz von diesem Austauschverhältnis geprägt wurde, ist Gegenstand des Gespräches mit dem Volkskundler Walter Leimgruber. Gäste aus Indien stellen eine relativ neue Zielgruppe von Reisenden dar, die für einzelne Destinationen in der Schweiz immer wich-
tiger werden. Im Zentrum des Begehrens indischer Gäste steht weniger das reale Land Schweiz als vielmehr eine Art utopisches «Disneyland der Liebe». Vorurteile und Projektionen, welche wiederum die Bereisten bezüglich der «indischen» Eigenart entwickelten, führten zu Beginn zu vielen Missverständnissen. Die Soziologin Sybille Frank zeigt am Beispiel von Engelberg auf, wie komplex sich kulturelle Austauschverhältnisse zwischen zwei ganz unterschie dlichen Kulturen entwickeln und ausgestalten können. Von der Hinterbühne des globalisierten Tourismus nähert sich auch die Ethnologin Angela Sanders dem Phänomen Engelberg an. Ihr Beitrag befasst sich mit der internationalen Dienstleistungsindustrie, die hinter den Pauschalreisearrangements steckt, und den hoch mobilen migrantischen Arbeitskräften, die für die Gäste aus Indien letztlich das Erlebnis «Schweiz» garantieren. Dabei zeichnet sich nicht nur eine Umkehrung des Blickes ab, etwa aus der Perspektive eines boomenden urbanen Indiens auf eine museale, rustikale Schweiz. Es werden in Zukunft auch immer mehr indische Unternehmen gleich ihre eigene, indische Version von «Schweiz» an bieten. Im Gespräch mit Barbara Emmenegger wird am Beispiel der Stadt Luzern die Frage erörtert, wie sich Tourismus in die Stadtstruktur und in den städtischen Alltag eingeschrieben hat, wo es aktuell überhaupt zu einem Austausch zwischen Einheimischen und Gästen
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kommen kann, und was sich durch die zunehmende Globalisierung der Zielgruppen verändert hat. Der dritte Abschnitt des Heftes (high - low) handelt schliesslich von der im Feld des Tourismus besonders intensiv ausgetragenen Aus einandersetzung zwischen elitären und populären kulturellen Ansprüchen. Die jeweils sozial besser gestellten Gesellschaftsschichten wurden während den letzten 200 Jahren nie müde, sich vehement von der sogenannten Masse der Reisenden und den Praktiken der Touristen abzugrenzen. Alles was mit Massentourismus zu tun hat - touristische Orte, populäre Sehenswürdigkeiten, Hotel-Architektur und Spektakelkultur - wird aus einer vornehmlich bildungsbürgerlichen Perspektive abgewertet und kritisiert. Zu den leidenschafltichsten Kritiker/innen des Tourismus gehör- ten schon immer die Künstler/innen. Die Kunsthistorikerin Maura Goughlin stiess im Zusammenhang mit einem Aufenthalt von Cézanne am Lac d'Annecy diesbezüglich auf aufschlussreiche Details. Cézanne selbst und auch die Literatur, die später über seine Reisen geschrieben wurde, versuchten ganz offensichtlich zu vertuschen, dass sich der grosse Landschaftsmaler einzelnen seiner Motive auch «nur» als Tourist angenähert hatte. Immer wieder wurde berichtet, dass seine Frau hinter solchen flüchtigen Ablenkungen stecken würde. Cézanne verkörpert somit bis heute den Genius des künstlerisch aufgeklärten Reisenden, der jederzeit in der Lage war, eigene authentische Eindrücke zu generieren; eine Sou veränität und Überlegenheit der Wahrnehmung, welche sich an geblich von einer touristischen, oberflächlichen und selbstverständlich eher weiblich konnotierten Weise des Sehens und Rezipierens von Landschaften unterscheidet. Zeitgenössische Werke, die sich kritisch mit Tourismusthemen beschäftigen, greifen z.B. auffällig oft das Motiv der standardisierten Bilder auf, die von Touristen endlos reproduziert werden, und versuchen diese etwa durch Überaffirmation gewissermassen unschädlich zu machen. Andere karikieren das angeblich naive Ver gnügen der Masse an Fälschungen und billigen Inszenierungen oder prangern das mangelnde Gespür für die richtige Distinktion und fehlendes Insiderwissen an, beides Eigenschaften, die Touristen angeblich auszeichnen. Deutlich weniger kritisch reflektiert wird hingegen die eigene Rolle, die Künstler/innen auf der Suche nach neuen, unkonventionellen Orten und Attraktionen, als Trendsetter oder Location-Scouts in der Geschichte des Tourismus selber immer wieder spielten und bis heute spielen. Wir haben das komplizierte Verhältnis zwischen Kunst und Tourismus in einem For schungsprojekt untersucht und sind zum Schluss gekommen, dass touristische Erlebnisräume spannende zeitgenössische Kontexte für Kultur- und Kunstproduktion darstellen. Was es dabei allerdings zu bedenken gilt, wird im Gespräch mit der Künstlerin und Dozentin Nika Spalinger weiter ausgeführt. Mit dem Aspekt der weitgehend autonom und auf ihre Weise kreativ handelnden lokalen Akteure befasst sich der Kultur- und Architekturwissenschaftler, Künstler und Kurator Michael Zinganel in seinem Beitrag über die «Tiroler» Verhältnisse. Hinter den fröhlich wuchernden Assemblagen von Tiroler und alpiner Architektur einer
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Frühstückspension mit Wellnessanlage stehen in der Regel seit Generationen ansässige Familien. Sie haben sich im und mit dem Tourismus von Fremdenzimmer vermietenden Bergbauern zu Hotelunternehmer entwickelt, gerade auch dank einer eigensinnigen Strategie des Selbermachens, des kontinuierlichen Bastelns und der kleinen Anpassungen. Dass dabei keine Architekturikone oder Hochkultur entsteht ist nicht weiter überraschend. Trendsetzend ist die Kultur «made in Tyrol» dennoch geworden, vielleicht gerade weil sie eine Form von zeitgenössischer Populärkultur darstellt. Praktisch seit den Anfängen des Tourismus steht auch das Souvenir im Fokus der Kritik. Die Ethnologin Franziska Nyffenegger zeigt in ihrem Beitrag auf, dass es immer wieder ernsthafte Versuche gab, das gute und sinnvolle Souvenir zu fördern, das mit echter handwerk licher Qualität ausgestattet ist und von ausgebildeten Gestalter/ innen geschaffen wird. Durchsetzen liess sich dieser Anspruch aber nie, weil weder handwerkliche Qualität noch gute Form wirklich relevante Faktoren sind, wenn es um das kleine Moment des Erinnerns oder um ein Zeichen der Freundschaft geht. Auch die im und für den Tourismus entstandene Architektur wurde wegen ihrem Bezug zu Spektakel und Inszenierung immer wieder kritisiert, erst aus Kreisen des Denkmalschutzes und später von Fachleuten für moderne Architektur. Die spektakulären Hotelpaläste, die um die Jahrhundertwende im Stil von Schlössern oder gross bürgerlichen Stadthäusern in den Schweizer Alpen entstanden sind, wurden bis Mitte des 20. Jahrhunderts als stilistisch dekadente Bauten gesehen, die nicht der hiesigen Eigenart entsprächen. Die kul turellen Bezüge touristischer Architekturen wie der Hotelpaläste der Belle Époque oder der Jumbochalets der 1970er Jahre zu Inszenierungen von Weltausstellungen und weiter zurück zu den Parks und «Pleasure Grounds» des Adels in Renaissance und Barock mit ihren Kulissenarchitekturen und Schweizerhäusern konnten in der Architekturgeschichte lange nicht angemessen gewürdigt werden und in der Schweizer Architekturszene pflegt man bis heute eine Abneigung gegen historisierende Zitate und narrative Inszenierungen. Der Vorwurf lautet schnell: Disney World. Auf welchen Missverständnissen diese pauschale Verurteilung historischer Zitate und der Glaube an das Dogma einer wertfreien modernen Form möglicherweise basiert, wird in einem Gespräch mit dem Kunst- und Architekturhistoriker Stanislaus von Moos angesprochen. Die hier angesprochene kulturelle Dimension des Tourismus umfasst also mehr als bloss einige spektakuläre historische Phänomene und Erscheinungen und lässt sich auch nicht als Begleiterscheinung oder Nebeneffekt eines ständig wachsenden Reisemarktes abhandeln. Eine der zentralen Dynamiken bei der Umgestaltung und Neudefinition aktueller Kulturlandschaft ist die Transformation von Städten und Landschaften unter der Massgabe von Erlebnis- und Imageoptimierung. Die aus dem Tourismus bekannte Transformation von Alltagswelten in Freizeit- und Erlebniswelten findet auch fern von touristischen Hotspots statt. Touristische Formen des Kultur- und Erlebniskonsums prägen längst auch das tägliche Leben und führen somit auch zur Ausbildung von neuen Alltagskulturen. In diesem Sinne versteht sich auch die vorliegende Publikation als ein Beitrag,
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Tourismus und touristische Prozesse in erster Linie als eigenständige, sozial konstruierte und kulturell bedeutungsvolle Prozesse im Zentrum von Modernisierungs- und Globalisierungsdynamiken zu verstehen und kritisch zu reflektieren.
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Das immaterielle Kulturerbe als metakulturelle Produktion 1
Von Barbara Kirshenblatt-Gimblett Unberührbares Kulturerbe
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Unten auf der Seine gleiten derweilen ufoartige Schiffe vorbei. Auf riesigen, von Glaskuppeln überspannten XXL-Decks sitzen Hunderte von Zuschauer wie auf einer fahrenden Tribüne. Seitlich an den Schiffen angebrachte Scheinwerfer tauchen die Ufer vorübergehend in ein gleissendes Licht. Im Werbeflyer einer Reederei, der auf der Pont d'Iéna von Studenten in Matrosenuniform verteilt wird, heisst es dazu: «Discover the delight and magic of the ‹City of Lights› by night, gliding through the heart of Paris, to see monuments and bridges and with good luck one or the other hidden lovers on the romantic shore of river Seine!» In dem Moment erstrahlt der Turm in einem orangenen, warmen Licht, das die Struktur transparent erscheinen lässt. Oben an der Spitze wird ein Leuchtfeuer in Betrieb gesetzt. Ein heller Lichtstrahl beginnt kreisförmig über die Stadt zu streichen. Massen von Touristen überall auf den Terrassen, an der Seine und im Champ de Mars antworten mit einem Feuerwerk von Xenonblitzen, die von Zehntausenden von Handys, iPods und Kameras stammen. Peter Spillmann *1961, hat an der F+F Schule für experimentelle Gestaltung in Zürich freie Kunst studiert und ist Künstler, Kurator und Dozent. Spillmann lebt und arbeitet in Zürich und Berlin. Er unterrichtet und forscht an der Hochschule Luzern - Design & Kunst im Master of Arts in Fine Arts / Art in Public Spheres. Spillmann ist Mitbegrün der von verschiedenen selbstorganisierten Plattformen wie «Labor k3000» (1998) oder «CPKC Center for Post-Colonial Knowledge and Culture» (2008) und entwickelt in wechselnden interdisziplinären Zusammenhängen thematische Projekte und Ausstellungen wie «SwissMiniNature/Expoagricole» (Expo.02), «Be Creative!» (2002), «Backstage*Tourismus» (2004), «Panorama der Arbeit» (2007) oder «Top of Experience» (2008). Schwerpunkte in seiner Forschung und Kulturproduktion sind künstlerische Strategien der Raumerkundung und des Mappings, kulturelle Effekte von Globalisierung, Tourismus und Migration. Aktuelle Projekte sind u.a. www. this-was-tomorrow.net (2009) oder www.transculturalmodernism.org (2012). Publikationen (Auswahl): «TRANSIT MIGRATION» Forschungsgruppe (Hg.): «Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas.» (2007); «Backstage*Tours. Reisen in den touristischen Raum» (gemeinsam mit Michael Zinganel, 2004); «MoneyNations» (gemeinsam mit Marion von Osten, 2003).
1 Gustave Eiffel (unten links) auf der Spitze des Eiffelturms 1889. (Quelle: expositions.bnf.fr) 2 Blick vom Place du Trocadéro auf den Eiffelturm und das Champ de Mars (Foto: Peter Spillmann)
Seit dem Zweiten Weltkrieg hat die UNESCO, die Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Kultur, Wissenschaft und Kommunikation, eine Reihe von Initiativen zum Welterbe unterstützt, die ihren Anfang beim materiellen (beweglichen wie unbeweglichen) Kulturerbe nahm, und die dann zuerst zum Naturerbe und zuletzt zum immateriel len Kulturerbe fortschritt.2 Nachdem es ursprüng lich drei getrennte Erbelisten gab, haben neuere Debatten für ein gesteigertes Bewusstsein von der Willkürlichkeit der Kategorien und deren Be ziehungen untereinander gesorgt, so dass seit dem Jahr 2006 Objekte auf mehreren Listen gleichzeitig figurieren dürfen. Nach der Ausgangsdefinition wird materielles Erbe als «ein Monument, eine Gruppe von Baudenkmälern oder ein Ort von historischem, ästhetischem, archäologischem, natur wissenschaftlichem, ethnologischem oder anthro pologischem Wert» gefasst. Naturerbe wird dagegen definiert als «herausragende physikalische, bio logische oder geologische Landschaftseigenschaf ten; Lebensräume bedrohter Pflanzen- oder Tier arten und Gebiete, die aus wissenschaftlichen oder ästhetischen Gründen oder auch aus konservato rischen Erwägungen wertvoll sind». Die Definition von Naturerbe bezog sich ursprünglich auf Orte mit bestimmten Beschreibungsmerkmalen, von besonderer Schönheit oder mit irgendeinem ande ren Wert, sie mussten jedoch unberührt von menschlicher Präsenz, also Wildnis sein, doch die meisten Orte auf der Naturerbe-Liste – und darüber hinaus auch in der Welt im allgemeinen – sind auf irgendeine Weise von Menschen beeinflusst, und diese Sichtweise hat das Verständnis, das die UNESCO vom Naturerbe hat, stark verändert. Zugleich liefert der Begriff des Naturerbes, wenn er im Hinblick auf Ökologie, Umwelt und einen systemischen Ansatz im Umgang mit einem leben digen Wesen verstanden wird, ein mögliches Denkmodell, um das immaterielle Erbe als Totalität und nicht bloss als Bestandsliste zu denken sowie auch zur Berechnung des immateriellen Werts eines lebendigen Systems, sei es nun natürlich oder kulturell. Nach einigen Jahrzehnten der Auseinandersetzun gen um die angemessene Definition von «imma teriellem Erbe», das oft als «Folklore» bezeichnet wurde und noch immer wird, ist es insofern zu
einer wichtigen Veränderung gekommen, als dieses Erbe inzwischen nicht mehr nur «Meisterwerke» einschliesst, sondern auch Meister. Das früher übliche Modell der Folklore unterstützte Forscher und Institutionen, damit diese Aufzeichnungen verschwindender Traditionen dokumentieren und erhalten konnten. Das neueste Modell versucht stattdessen, eine lebendige, wenn auch gefährdete Tradition zu erhalten, indem in die Erhaltung der zur kulturellen Reproduktion notwendigen Bedin gungen investiert wird. Das hat zur Folge, dass sowohl den «Trägern/-innen» und «Übermittlern/innen» von Traditionen, als auch deren Habitus und Habitat Wert beigemessen wird. Immaterielles Erbe ist wie das materielle Erbe Kultur, wie Natur erbe ist es aber auch lebendig. Die Aufgabe besteht nun darin, das gesamte System als eine lebendige Einheit zu erhalten –und eben nicht bloss «immate rielle Artefakte» zu sammeln. Die ersten Bemühungen der UNESCO, ein Schutz instrument für das zu schaffen, was inzwischen «immaterielles Erbe» genannt wird, gehen auf das Jahr 1952 zurück. Die Schwerpunktsetzung auf rechtliche Begriffe wie intellektuelles Eigentum, Copyright, Trademark und Patent als Ausgangsbasis zum Schutz all dessen, was damals als Folklore bezeichnet wurde, erwies sich als Fehlschlag – denn Folklore ist ihrer Definition nach nicht die einmalige Hervorbringung eines Einzelnen; sie existiert vielmehr eher in Versionen und Varianten als in einer einzelnen, originalen und verbindlichen Form; im Allgemeinen wird sie performativ geschaffen und mündlich, als Gebrauch oder als Muster, überliefert, und nicht in materieller Form (durch Schreiben, Notation, Zeichnen, Fotografie oder sonstige Aufzeichnungsformen).3 In den 1980er Jahren unterschied man Rechtsfragen von Erhaltungsmassnahmen, im Jahr 1989 über nahm dann die UNESCO-Vollversammlung die Empfehlung zur Wahrung des kulturellen Erbes in Volkskunst und Brauchtum.4 Der auf den 16. Mai 2001 datierte Bericht über die vorläufige Studie zur Angemessenheit einer internationalen Regulierung des Schutzes von Volkskunst und Brauchtum durch ein neue Normen setzendes Instrument verschob die Festsetzungen des Dokuments von 1989 noch einmal erheblich. Zunächst konzent rierte er sich, statt die Rolle professioneller Reprä
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sentanten und Institutionen des Brauchtums bei der Dokumentierung und Bewahrung von Aufzeich nungen bedrohter Traditionen zu betonen, auf die Erhaltung der Traditionen selbst – durch Unter stützung derer, die sie praktizieren. Dies zog eine Schwerpunktverlagerung weg von Artefakten (Erzählungen, Liedern, Sitten und Gebräuchen) und hin zu Menschen (ausübende Künstler/innen, Kunsthandwerker/innen und Heiler/innen), zu ihrem Wissen und ihren Fertigkeiten. Unter dem Eindruck eines Verständnisses von Naturerbe als lebendigen Systemen und der japanischen Einrichtung des «lebenden Nationalschatzes», der schon im Jahr 1950 rechtliche Gültigkeit erlangte, anerkannte das Papier aus dem Jahr 2001 die Bedeutung einer Erweiterung des Geltungsbereiches für das, was als immaterielles Erbe bezeichnet wird und der Massnahmen zu dessen Schutz. Die Kontinuität des immateriellen Erbes sollte in der Folge nicht nur besonderes Augenmerk für Arte fakte erfordern, sondern vor allem für Personen sowie deren gesamten Habitus und Habitat, also deren Lebensraum und soziale Welt. Dementsprechend hat die UNESCO das immateri elle Erbe wie folgt definiert: Alle Formen tradi tioneller, auf Volks- oder Brauchtum gründender Kultur, also kollektive, aus einer bestimmten Gemeinschaft hervorgehende und auf Traditionen basierende Werke. Diese Hervorbringungen werden mündlich oder durch Gesten übertragen und werden in einem Prozess kollektiver Rekonstruk tion über einen bestimmten Zeitraum verändert. Dazu zählen mündliche Überlieferungen, Gebräu che, Sprachen, Musik, Tanz, Rituale, Feste, tradi tionelle Heilkünste und Kompendien, die kulinari schen Künste und alle möglichen mit den materiellen Aspekten der Kultur verknüpfte Fertigkeiten wie Werkzeuge, aber auch das spezifische Umfeld.5 Bei einem im März 2001 in Turin abgehaltenen Treffen wurde die Definition weiter verfeinert: Einbezogen wurden fortan auch die Lernprozesse nebst den dabei erworbenen Kenntnissen, Fertigkeiten und Kreativitätsformen, die diese beeinflussen und durch diese entwickelt werden, die von ihnen geschaffenen Produkte und die Ressourcen, die Räume und sonstige Aspekte des Gesellschafts- und Naturkontexts, derer sie zu ihrer Aufrechterhaltung bedürfen; diese Prozesse versorgen die lebendigen Gemeinschaften im Hinblick auf vorangegangene Generationen mit einem Gefühl für Kontinuität und spielen eine wichtige Rolle für deren kulturelle Identität wie für die Gewährleistung der kulturellen Vielfalt und Kreativität der Menschheit.6 Dieser holistische und konzeptuelle Versuch einer Definition des immateriellen Erbes wird begleitet durch eine Definition in Form einer Bestandsliste, einem Überbleibsel vorangegangener Versu che, mündliche Überlieferung und Brauchtum zu definieren: Die Gesamtheit der auf Überlieferung
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basierenden Hervorbringungen einer Kulturgemein schaft, die durch eine Gruppe oder durch Indivi duen ausgedrückt werden und insofern als Reflek tion der Erwartungshaltungen einer Gemeinschaft verstanden werden können, als sie deren kulturelle und gesellschaftliche Identität wiederspiegeln; ihre Normen und Werte werden mündlich, durch Nachahmung oder mit anderen Hilfsmitteln über liefert. Zu den anerkannten Formen zählen unter anderem Sprache, Literatur, Musik, Tanz, Spiele, Mythologie, Rituale, Gebräuche, Kunsthandwerke, sowie Architektur und andere Künste.7 An anderer Stelle im Handbuch zur Umsetzung der Welterbekonvention situieren Begriffe wie «traditi onell», «volkstümlich» oder «brauchtümlich» das mündlich überlieferte und immaterielle Erbe innerhalb einer impliziten kulturellen Hierarchie, die mit der Erläuterung des «Wozu und für wen?» explizit gemacht wird: «Für viele Bevölkerungen (vor allem für Minderheitengruppen und indigene Bevölkerungen) ist das immaterielle Erbe lebendige Quelle einer tief in der Geschichte verwurzelten Identität.»8 Neologismen wie «Erste Völker» («First Peoples», statt «Dritte Welt») und «les arts premiers» (statt «primitive Kunst») erhalten auf ähnliche Weise den Begriff der kulturellen Hierarchie, haben dabei aber Auswirkungen auf eine terminologische Neuordnung, wie man das ganz besonders deutlich am Beispiel der Neuorganisation der Pariser Mu seen und Sammlungen beobachten kann; dazu zählen die Auflösung des Musée des Arts Africains et Océaniens und des Musée national des Arts et Traditions Populaires, die Neuordnung der Samm lungen des Musée de l’Homme und die Schaffung zweier neuer Museen – des Musée du Quai Branly in Paris, das sich den «Künsten und Zivili sationen Afrikas, Asiens, Ozeaniens sowie Nordund Südamerikas» widmet, sowie des Musée des Civilisations de l’Europe et de la Méditerranée in Marseille. Seit April 2000 werden Glanzlichter aus den afrikanischen, ozeanischen und ameri kanischen Sammlungen, die schliesslich im Musée du Quai Branly ausgestellt werden sollen, erstmalig im Pavillon des Sessions des Louvre gezeigt, der zur Salle des arts premiers dieses Museums geworden ist.9 Die Präsenz dieser Werke im Louvre wird als lang erwartete Antwort auf die Frage gewertet, die der Kunstkritiker Félix Fénéon im Jahr 1920 stellte: «Iront-ils au Louvre?» («Werden sie schliesslich im Louvre enden?»)10 Solche Entwicklungen auf nationaler Ebene stehen in Einklang mit den Bemühungen der UNESCO, staatliche Verantwortliche dafür zu mobilisieren, «die zur Erhaltung des in ihrem Einflussbereich vorhandenen immateriellen Kulturerbes notwendi gen Massnahmen zu ergreifen». Diese Massnahmen zeigen deutlich die Unterschiede zwischen dem professionellen Unternehmen zur Sicherung
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des Erbes und dem Erbe, das gesichert werden soll. So sehr diese Massnahmen auch darauf abzie len, etwas bereits Existierendes zu sichern, ihre dramatischste Auswirkung liegt doch darin, die Fähigkeit zu etwas Neuem zu schaffen – einschlies slich einem international abgestimmten Begriff von Kulturerbe, kulturellen Bestandslisten, Kultur politiken, Dokumentation, Archiven, Forschungsin stitutionen und Ähnlichem. Kurz gesagt erfordert die Sicherung hochgradig spezialisierte Fertig keiten, die einer anderen Grössenordnung zugehö ren als die ebenso spezialisierten Fähigkeiten, die zur Aufführung eines Kutiyattam- oder BunrakuStücks oder eines georgischen polyphonen Gesangs benötigt werden. Dementsprechend besteht die Rolle der UNESCO darin, Führung und helfende Unterstützung anzubieten, um internationale Übereinkünfte und Formen der Zusammenarbeit zwischen den versammelten nationalen Repräsen tanten und Fachleuten zu ermöglichen und ihre moralische Autorität für den Konsensus in die Waagschale zu werfen, den diese im Laufe eines komplizierten und langwierigen Prozesses der Entscheidungen, Kompromisse und Berichte vereinbaren. Aus diesem Prozess entspringen Einig ungen, Empfehlungen, Beschlüsse und Bestim mungen. Die dabei entstehenden Vertragswerke, Konventionen und Bekanntmachungen rufen Rechte und Pflichten in Erinnerung, formulieren Richtlinien, machen Vorschläge für Normen bil dende und multilaterale Dokumente und rufen zur Bildung von Komitees auf. Die Komitees sollen Orientierungshilfe anbieten, Empfehlungen aus sprechen, sich für eine Verbesserung der Res sourcen einsetzen und Anträge auf Eintrag in die Bestandslisten, auf Einbeziehung in Anträge und auf internationale Unterstützung bearbeiten. Empfehlungen sollen auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene umgesetzt werden. Die beteiligten Staaten sollen die auf ihren jeweiligen Territorien vorhandenen Kulturgüter durch die Erstellung von Bestandslisten bestimmen und identifizieren. Sie sollen eine Kulturerbe-Politik formulieren und Instanzen schaffen, die diese Politik in die Wirklichkeit umsetzen. Es wird von ihnen erwartet, dass sie Institutionen aufbauen, die Hilfestellung bei der Erfassung und Dokumen tation der vorhandenen Kulturgüter und der Er mittlung der bestmöglichen Art ihrer Sicherung leisten, ausserdem sollen sie Fachleute zur Pflege des Kulturerbes ausbilden. Durch Wert setzende Instanzen wie die UNESCO-Liste sollen sie sich für Aufklärung, Dialogbereitschaft und Respekt ein setzen. DIE LISTE
Am 18. Mai 2001, nach jahrzehntelangen Debatten über Begrifflichkeiten, Definitionen, Zielsetzungen und Sicherungsmassnahmen für all das, was zuvor als «Volkskunst und Brauchtum» bezeichnet worden war – und bevor der Bericht über die vorläufige Studie zur Angemessenheit... den
UNESCO-Vorsitzenden vorgelegt wurde, liess die UNESCO endlich die ersten neunzehn «Meister werke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit» verkünden. Was macht das Wesen solcher Listen aus, und warum ist eine Liste letzten Endes das greifbarste Ergebnis jahrzehntelanger UNESCO-Sitzungen, -Formulierungsvorschläge, -Protokolle und -Empfehlungen? Einige der am Entwicklungsprozess der Initiative für das immateri elle Kulturerbe Beteiligten hatten ihre Hoffnungen eher auf kulturelle denn auf metakulturelle Ergebnisse gerichtet; sie wollten sich auf Aktionen konzentrieren, mit deren Hilfe sich lokale kulturelle Reproduktionen direkt unterstützen liessen statt sich der Erstellung eines metakulturellen Artefakts wie der Liste zu widmen. James Early, Leiter der Abteilung für Kulturerbe am Smithsonian Centre for Folklife and Cultural Heritage und Peter Seitel, Projektkoordinator für die UNESCO- und Smithsonian-Weltkonferenz berichteten von ihrer Enttäuschung darüber, dass sich «der institutionelle Wille der UNESCO auf die Übernahme des Meisterwerke-Programms als einziges Projekt im Rahmen einer neuen Konven tion zum immateriellen Kulturerbe konzentrierte», wodurch die Konvention unweigerlich instrumen talisiert würde, durch «Nationalregierungen, die nur an der Verkündung des Reichtums ihres Kultur erbes interessiert» sind, statt ihr Augenmerk auf die Kulturträger/innen selbst zu richten.11 Der Handlungsaufruf im Zuge der Verhandlungen beim Treffen der Smithsonian-Institutionen mit der UNESCO zur Bestandsicherung traditioneller Kulturen führt detailliert eine ganze Reihe von Hand lungsmöglichkeiten auf, die in Zusammenarbeit mit den und in Bezug auf die Kulturträger/innen aufgegriffen werden könnten.12 Dieser Handlungs aufruf, der durchaus die Wichtigkeit einer Verbesse rung des Zustands kultureller Güter anerkannte, liess es jedoch dabei nicht bewenden, und er befürwortete auch nicht ausdrücklich die Erstellung einer Liste von Meisterwerken des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit. Nicht nur ist jedes einzelne Wort in dieser Formu lierung hochgradig mit Bedeutung aufgeladen, die Formulierung selbst deutet darauf hin, dass es so etwas wie ein Erbe überhaupt gibt, und zwar noch vor den Definitionen, Auflistungen und Schutzmassnahmenkatalogen der UNESCO, nicht erst als deren Konsequenz. An anderer Stelle habe ich die Auffassung vertreten, dass es sich bei dem Erbe um einen Modus kultureller Produktion handelt, der dem Gefährdeten oder Veralteten eine zweite Chance als Ausstellung seiner selbst ge währt.13 Und in der Tat zählt zu den Kriterien der UNESCO bei der Bestimmung zum Meisterwerk des immateriellen Erbes die Lebendigkeit des betreffenden Phänomens: ist es wahrhaft lebendig, dann bedarf es keiner Schutzmassnahmen, ist es
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schon halb tot, dann werden auch die Massnahmen nicht mehr helfen.
Nô-Theater schon seit 1957 als immateriellen nationalen Kulturbesitz unter Schutz gestellt.
Orten und die Schaffung touristischer Reiserouten sowie künstlerische Festivals und Filme.
tät sei –, das die Möglichkeitsbedingung für das Gesamtunternehmen Weltkulturerbe bildet.
Im Einklang mit den genannten Kriterien anerkannte diese erste Liste mit neunzehn «Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit» Gemeinschaften und kulturelle Erscheinungsformen, die nicht auf der Liste des materiellen Kulturerbes vertreten waren, darunter Formen der Rede, der künstlerischen Aufführung, der Sprache sowie Lebensweisen indigener Bevöl kerungen und Minderheiten.14
Weil sie mit Höfen und staatlich finanzierten Tempeln verbundene Kulturformen auf die Liste zu lässt, sofern sie nur nicht europäisch sind, verlän gert die Liste des immateriellen Kulturerbes die Spaltung zwischen dem Westen und dem Rest der Welt und produziert auf diese Weise eine Phan tomliste immaterieller Erbgüter, eine Liste all dessen, was nicht indigen, nicht minoritär und nicht «nicht-westlich», dabei aber genauso immate riell ist.17
DAS KULTURERBE IST METAKULTURELL
Interventionen in das Kulturerbe sind Versuche, die Geschwindigkeit des Wandels zu bremsen. The Onion, in den Vereinigten Staaten eine weithin bekannte satirische Zeitung, hat einen Artikel mit folgender Überschrift veröffentlicht: «US-Ministe rium für Retrophänomene warnt: «Schon bald könnte uns die Vergangenheit ausgehen!»20 Der Artikel zitiert den zuständigen Minister Anson Williams wie folgt: «Wenn sich die gegenwärtigen Konsumraten für Retrophänomene ungehindert fortsetzen, könnten wir schon 2005 ohne jegliche Vergangenheit dastehen»; und weiter: «Wir sprechen hier über eine Krisensituation mit mögli cherweise verheerenden Folgen, in der unsere Gesellschaft unter Umständen bald nostalgische Gefühle für Ereignisse hegen wird, die noch gar nicht stattgefunden haben.» Zur Untermauerung dieser Vorhersagen präzisiert der Artikel, dass «die Natio nale Retro-Uhr derzeit das Jahr 1990 anzeigt und damit der Gegenwart um erschreckende 74% näher gerückt ist als dies noch vor zehn Jahren der Fall war, als sie noch auf 1969 stand.» Mit der Beschleu nigung der Retro-Uhr wird aus dem Leben fast so schnell Kulturerbe, dass es keine Chance mehr hat, gelebt zu werden – und dass das Erbe den gesamten Raum des Lebens ausfüllt.
Die Reaktionen auf die erste Bekanntgabe von «Meisterwerken» waren eher gemischt. In einem Artikel mit der Überschrift «Immaterial Civiliza tion», der im Atlantic Monthly erschien, zeigte sich Cullen Murphy, die zugleich auf die Kampagne des italienischen Politikers Alfonso Pecoraro Scanio zur Aufnahme der Pizza auf die Weltkultur erbe-Liste hinwies, von der UNESCO-Liste wenig beeindruckt: «Das sind sicherlich ehrenwerte Versuche. Doch insgesamt lässt einen das Ganze eher an die Programmfolge eines öffentlichrechtli chen Fernsehsenders um drei Uhr früh denken.» Weiter offerierte Murphy ihre eigenen Kandidaten für die Liste des Jahres 2003. Dazu zählten unter anderem die Notlüge, das Wochenende und die Passivform.15 Solche ironischen Stellungnahmen verweisen auf den Prozess, durch den Leben zu Kulturerbe wird und das Gleichzeitige (diejenigen in der Gegenwart, die für ihr Vergangensein ge schätzt werden) zum Zeitgenössischen (diejenigen in der Gegenwart, die sich auf ihre Vergangenheit als Erbe beziehen).16 Zwar erfüllen die Notlüge, das Wochenende und die Passivform kaum die Grundvoraussetzung, gefährdete Meisterwerke zu sein, doch erinnern uns solche Kommentare daran, dass man für das im materielle Erbe jeder beliebigen Gemeinschaft eintreten könnte (und dass dies noch nicht gesche hen ist), denn es gibt schlichtweg keine Gemein schaft ohne ein verkörpertes, mündlich, gestisch oder durch Beispiel überliefertes Wissen. Indem sie einen besonderen Ort bestimmt hat für diejenigen, die zunächst durch das Raster der beiden anderen Weltkulturerbe-Programme fielen, hat die UNESCO ein Programm für das immaterielle Kulturerbe geschaffen, das auf seine Art auch exklusiv ist (und nicht zur Gänze mit den erklärten Zielen in Ein klang steht). So stehen das Bolshoi-Ballett und die Metropolitan Opera nicht auf der Liste, und das werden sie wahrscheinlich auch nie, wohl aber das Nô-Theater, das keine minoritäre oder indigene Kulturform darstellt. Zu allen drei genannten gehört eine spezifische Berufsausbildung, sie verwenden Skripte, sind Erzeugnisse von Bildungskulturen und überliefern verkörpertes Wissen von einem Aufführenden zum nächsten. Zudem ist Japan auf den anderen Weltkulturerbe-Bestandslisten gut repräsentiert, und die japanische Regierung hat das
Die Weltkulturerbe-Listen entspringen aus Abläu fen, die ausgewählte Aspekte eines Erbes mit ortsspezifischer Herkunft zu einem translokalen Konsens-Erbe – zum Kulturerbe der Menschheit – umwidmen.Was sich um Anerkennung als Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit bewirbt, ist als Tradition definiert – also über einen Überlieferungsmodus (mündlich, gestisch, über das Beispiel) – doch auf das Weltkulturerbe trifft dies nicht zu. Als Totalität – als Erbe der gesamten Menschheit – ist es Eingriffen ausgesetzt, die dem fremd gegenüberste hen, was die einzelnen Meisterwerke überhaupt erst als solche qualifizierte. Das Weltkulturerbe ist in erster Linie eine Liste. Alles auf der Liste, wo auch immer sein vorheriger Kontext war, wird nun in eine Beziehung zu anderen Meisterwerken gesetzt. Die Liste ist der Kontext für alles in ihr Enthaltene.18 Die Liste ist zugleich die sichtbarste, am wenigsten kostenintensive und konventionellste Art, «etwas zu tun» – etwas Symbolisches, wohlgemerkt – für die vielen vernachlässigten Gemeinschaften und Traditionen. Symbolische Gesten wie die Liste messen dem Aufgelisteten Wert zu, ganz im Ein klang mit dem Prinzip, dass man nicht schützen kann, was man nicht wert schätzt. Die UNESCO setzt erhebliches – aus Sicht einiger am Prozess Beteiligter: übertriebenes – Vertrauen in die Macht der Wertschöpfung zum Zwecke der Revitalisie rung.19 Zusätzlich zu der von ihr geführten Liste wählt und fördert die UNESCO auch Anträge für verschiedene Programme und Projekte, wobei sie die besonderen Bedürfnisse so genannter Entwicklungs länder in Rechnung stellt. Bei solchen Projekten kann es sich um Dokumentationen handeln, sowohl die Erhaltung bestehender Archive als auch die Aufzeichnung mündlicher Überlieferungen; die Einrichtung von Forschungsinstitutionen und die Organisation wissenschaftlicher Expeditionen; Fachtagungen, Veröffentlichungen und audiovi suelle Produktionen; Bildungsprogramme; Kultur tourismus, wozu auch die Einrichtung von Museen und Ausstellungen zählt, die Restaurierung von
Während die Liste der Meisterwerke des mündli chen und immateriellen Erbes der Menschheit im buchstäblichen Sinne ein Text ist, bringen Festivals lebendige Performer dieses Kulturerbes vor ein Live-Publikum und stellen damit das Handeln derer in den Vordergrund, die die als schützenswert erachteten Traditionen zur Aufführung bringen. Im Unterschied zu anderen lebendigen Wesen wie Tieren oder Pflanzen sind Menschen nicht nur die Objekte kultureller Bestandssicherung, sondern auch deren Subjekte. Sie sind nicht nur die Träger und Übermittler von Kultur (diese Begriffe sind sehr unglücklich gewählt, ebenso wie der des «Meisterwerks« übrigens), sondern auch Handelnde innerhalb der Gesamtunternehmung »Kulturerbe». Was in den Protokollen des Kulturerbe-Projekts im Allgemeinen unerwähnt bleibt, ist ein mit Bewusstsein und Reflexivität begabtes Subjekt. Sie reden von kollektiver Schöpfung. Die Performer/ innen sind Träger/innen und Übermittler/innen von Traditionen, und das sind Begriffe, die einen an ein passives Medium, eine Leitung, ein Gefäss, an alles denken lassen, was ohne Eigensinn, Willen oder Subjektivität auskommt. «Lebendiges Archiv» und «Bibliothek» – in diesem Zusammenhang sind das geläufige Metaphern. In solchen Begrifflichkeiten hat das Recht einer Person, das zu tun, was sie tut, keinen Platz, allenfalls die Rolle, die sie bei der Inganghaltung der Kultur (für andere) spielen. Diesem Modell zufolge kommen und gehen die Menschen – einzig die Kultur bleibt, wird sie doch von einer Generation an die nächste übertragen. Doch alle Eingriffe in das Kulturerbe verändern – ebenso wie die globali sierten Druckverhältnisse, die sie konterkarieren sollen – die Beziehung der Menschen zu dem, was sie tun. Sie verändern das Verständnis, das die Menschen von ihrer Kultur und von sich selbst haben. Sie verändern die Grundlagen kultureller Produktion und Reproduktion. Veränderung ist der Kultur wesenhaft, und so bleiben alle Massnahmen, die der Erhaltung, Konservierung, Sicherung und Dauerhaftmachung kultureller Praktiken dienen, zwischen dem Einfrieren der betreffenden Praxis und der Anerkennung des zutiefst prozess haften Wesens der Kultur gefangen. Von zentraler Bedeutung für das Metakulturelle des Kulturerbes ist der Zeitfaktor. Das Asynchronlaufen der Uhren von Historie, Erbe und Habitus und die je eigenen Zeitlichkeiten von Dingen, Personen und Ereignissen produzieren, wie bereits erwähnt, eine Spannung zwischen dem Zeitgenös sischen und dem Gleichzeitigen, sie bewirken eine Verwechslung von Vergänglichkeit und Ver schwinden, und ein Paradox – nämlich dass der Besitz des Kulturerbes Bedingung der Moderni-
«Afrika verliert eine Bibliothek, wenn ein alter Mann stirbt.» So ein Zitat nach Hampaté Bâ. Es ist so auf der Startseite der UNESCO-Website zum immateriellen Kulturerbe zu lesen. Zwar wird hier die einzelne Person affirmiert, doch führt die Bibliotheksmetapher zu einer Verwechslung von Archiv und Repertoire. Und das ist eine besonders wichtige Unterscheidung, wenn es um ein Ver ständnis von immateriellem Erbe in der Form von Wissen und Praxis geht.21 Nach Diana Taylor ist das Repertoire immer verkörpert und tritt immer über Performanz, in der Aktion, im Tun in Erschei nung. Das Repertoire wird über die Performanz weitertradiert. Darin liegt der Unterschied zur Aufzeichnung und Konservierung des Repertoires als archivalische Dokumentation. Beim Repertoire geht es um das verkörperte Wissen und die gesell schaftlichen Verhältnisse, die an seiner Herstellung, Umsetzung, Übertragung und Reproduktion be teiligt sind. Daraus folgt, dass immaterielles Kultur erbe ganz besonders leicht verletzlich ist, wenn man der UNESCO folgt, gerade aufgrund seiner Immaterialität, obwohl dies die historischen Aufzeichnungen nicht unbedingt bestätigen. Zwar ist die heutige Situation eine ganz andere, doch kann man trotzdem sagen, dass die australischen Aborigines ihr «immaterielles Erbe» mehr als 30‘000 Jahre lang ohne jedwede kulturpolitische Unterstützung lebendig gehalten haben. Im Gegen satz zum materiellen Erbe, das im Museum ge schützt aufbewahrt wird, besteht das immaterielle Erbe aus kulturellen Erscheinungsformen (Kennt
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nisse, Fertigkeiten, Performanz), die untrennbar an Personen gebunden sind. Es ist nicht möglich– oder nicht so leicht –, solche Erscheinungsformen als Statthalter für Personen zu behandeln, selbst wenn Aufzeichnungstechniken zur Verfügung stehen, mit deren Hilfe sich die Aufführung vom Auffüh renden separieren lässt und die das Repertoire dem Archiv anheimgeben. Es gibt durchaus eine umfängliche Literatur zur Kulturerbe-Industrie, wobei sich viele Titel mit der Politik des Erbes befassen,22 doch hat man sich bislang weit weniger mit dieser Unternehmung als einem metakulturellen Phänomen eigenen Rechts auseinandergesetzt. Der grosse Druck zur Fest schreibung metakultureller Operationen, zur Schaffung universeller Standards, verunklärt den hi storisch und kulturell spezifischen Charakter von Politiken und Praktiken um das Kulturerbe. Ist denn, wenn es um das materielle Erbe geht, das Ziel, ein Objekt in seinen ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen, um die Intention seines Schöp fers zu würdigen? Geht es darum, ein Objekt in makelloser Vollkommenheit, vom Zugriff der Zeit unberührt zu präsentieren? Soll das Objekt oder der Ort als ein Palimpsest aufgefasst werden, indem man so weitgehend wie möglich Hinweise auf den historischen Prozess festhält? Soll man visuell zwischen dem Ursprungsmaterial und dem unter scheiden können, was an Konservierungs- und Rekonstruktionsmassnahmen und zu dem Zweck erfolgt ist, die Wiederherstellung umkehrbar zu lassen? Oder ist es angemessener, das materielle Objekt als verzichtbare Grösse zu betrachten? 23 So lange es noch Menschen gibt, die wissen, wie man den Schrein baut, ist es unnötig, diesen in einer seiner Erscheinungsformen zu konservieren; notwendig dagegen ist es, die Kontinuität des Wissens und der Fertigkeiten und zudem die Bedingungen zur Herstellung der Objekte zu gewährleisten. Die Form bleibt erhalten, nicht aber der Stoff, der ersetzt werden kann. Schliesslich ist der Besitz an Kulturerbe –im Gegensatz zu der durch das Kulturerbe abgesicherten Lebensweise – ein Instrument der Modernisierung und ein Kennzeichen der Moderne, insbesondere dann, wenn es ein Museum betrifft: «Unter den heutigen Bedingungen keine Museen zu haben, ist gleichbedeutend mit dem Eingeständnis, dass man sich unterhalb der minimalen Zivilisationsan forderungen an einen modernen Staat bewegt.»24 Das Festhalten an überkommenen Lebensweisen mag ökonomisch nicht machbar sein und durchaus in Widerspruch zu Wirtschaftsentwicklung und nationalen Ideologien stehen, die Valorisierung jener Lebensweisen als Kulturerbe dagegen (und die Integration des Kulturerbes in die Ökonomien des Kulturtourismus) ist ökonomisch machbar, steht in Einklang mit der ökonomischen Entwicklungstheo rie und lässt sich durchaus mit nationalen Ideolo gien kultureller Einzigartigkeit und Modernität ver-
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einbaren. Von entscheidender Bedeutung für diesen Prozess ist die Ökonomie des Kulturerbes als eine moderne Ökonomie. Darum mag man das Kulturerbe durchaus der zu sichernden Kultur vor dem Erbe (kulturelle Praktiken vor deren Bezeichnung als Kulturerbe) vorziehen. Barbara Kirshenblatt-Gimblett lehrt Performance Studies an der Tisch School of the Arts der New York University, wo sie seit mehr als einem Jahrzehnt dem Department of Performance vorsteht. Sie hat an der University of California (Berkeley) Anglistik sowie an der University of Indiana Folkloristik / Volkskunde studiert und ihr Studium im Jahr 1972 mit der Promotion abgeschlossen. Die Themen ihrer Seminare erstrecken sich von der Ästhetik des Alltagslebens über Geschichte und Kultur der Weltausstellungen, theatrale und performative Aspekte des Museums, touristische Produktionsformen, den Zusammenhang von Esskultur und Performanz bis hin zu performativen, folkloristischen und ethnografischen Aspekten jüdischer Kulturen. Besonders bekannt wurde sie durch ihr interdisziplinäres Engagement in Judaistik, Museologie und Tourismusforschung. Zurzeit arbeitet sie gemeinsam mit Jeffrey Shandler an der Zusammenstellung einer Working Group on Jews, Religion, and Media am Center for Religion and Media der New York University.
Übersetzung aus dem Englischen: Clemens Krümmel Anmerkungen 1 Dieser Text ist ein Auszug aus meinem Aufsatz «World Heritage and Cultural Economics», in: Ivan Karp und Corinne Kratz (Hgg.), Museum Frictions – Public Cultures / Global Transformations und wird hier mit Erlaubnis der Herausgeber/innen wieder abgedruckt. Das zugrundeliegende Forschungsprojekt wurde von der Rockefeller Foundation unterstützt. 2 Über die Kulturerbe-Initiative der UNESCO wurden bereits verschie dene historische Darstellungen veröffentlicht. Für eine besonders gedankenvolle Darstellung vgl. Jan Turtinen, «Globalising Heritage»: On UNESCO, SCORE-Rapportserie, 12, 2000. 3 Die WIPO (World Intellectual Property Organization) ist darum bemüht, sich dieser Probleme anzunehmen, ebenso Organisationen wie das Secretariat of the Pacific Community im neukaledonischen Nouméa. Vgl. deren Veröffentlichung Regional Framework for the Protection of Traditional Knowledge and Expressions of Culture aus dem Jahr 2002. 4 UNESCO, Recommendation on the Safeguarding of Traditional Culture and Folklore, beschlossen von der Vollversammlung bei ihrer 25. Sitzung am 16. November 1989. Vgl. portal.unesco.org/en/ev. php-URL_ID=13141&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html 5 UNESCO, Intangible Heritage (Vgl. portal.unesco.org/en/ev.php-URL_ ID=34325&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html; letzter Update 20. Juni 2007). Diese Formulierung gleicht derjenigen der UNESCO-Empfehlung von 1989 (vgl. Anm. 5). 6 Vgl. UNESCO, Report on the Preliminary Study on the Advisability of Regulating Internationally, through a New Standard-setting Instru ment, the Protection of Traditional Culture and Folklore, 161. Sitzung des UNESCO-Exekutivausschusses, 161 EX/15, 16. Mai 2001, Paris (whc.unesco.org/uploads/activities/documents/activity-496-2.pdf). 7 UNESCO, Recommendation, a.a.O. (vgl. Anm. 5) 8 Vgl. Musée du Quai Branly (www.quaibranly.fr) sowie Le Projet (Musée de Civilisations de l’Europe et de la Méditerranée (www. musee-europemediterranee.org/projet.html). 9 Vgl. Pressematerial, «Inauguration du pavillon des Sessions, Palais du Louvre», April 2000, Ministère de l’éducation Nationale, de la Recher che et de la Technologie (online nicht mehr abrufbar). 10 Félix Fénéon u.a., Iront-ils au Louvre?: Enquête sur des arts lointains (1920), Reprint, Toulouse 2000. 11 James Early und Peter Seitel, «UNESCO Meeting in Rio: Steps toward a Convention», in: Smithsonian Talk Story, Nr. 21, Frühjahr 2002, S. 13. 12 Peter Seitel (Hg.), Safeguarding Traditional Cultures. A Global Assessment oft he 1989 UNESCO Recommendation on the Safeguar ding of Traditional Culture and Folklore, Washington, D.C., Center for Folklife and Cultural Heritage, Smithsonian Institution 2001. 13 Vgl. Barbara Kirshenblatt-Gimblett, «Destination Museum», in: Destination Culture: Tourism, Museums, and Heritage“, S. 131-176, Berkeley 1998. 14 Vgl. Peter J.M. Nas, «Masterpieces of Oral and Intangible Culture: Reflections on the UNESCO World Heritage List», in: Current Anthropology, Bd. 43, Nr. 1, S. 139-148. 15 Cullen Murphy, «Immaterial Civilization», in: The Atlantic Monthly, Bd. 288, Nr. 2, 2001, S. 20-22. Diese Geste erinnert an Horace Miners klassischen Aufsatz «Body Ritual among the Nacirema», in: American Anthropologist, Bd. 58, Nr. 3, 1956, S. 503-507. «Nacirema» ist natürlich das Wort «American», rückwärts gelesen. 16 Ich übernehme hier eine Unterscheidung, die Johannes Fabian in «Time and the Other. How Anthropology Makes Its Object», New York: Columbia University Press, 1983, eingeführt hat. 17 Gute Absichten führen zu unbeabsichtigten Verzerrungen, die auch im Zusammenhang der US-amerikanischen Kunstförderung bekannt sind, wo das kulturelle Feld so aufgeteilt wird, dass westliche klassische und zeitgenössische Kunst über Kategorien wie Tanz,
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Musik, Theater, Oper, Musiktheater, Literatur sowie Design und «Visual Arts» (entspricht ungefähr dem Begriff der «bildenden Künste») gefördert wird. Aus der Perspektive des National Endow ment for the Arts fällt alles andere unter die Kategorien Folklore, traditionelle Künste oder multidisziplinäre Künste, wozu auch «interdisciplinary work deeply rooted in traditional or folk forms» gehört, «that incorporates a contemporary aesthetic, theme, or interpretation» (die entsprechende Quelle auf der Website des NEA, www.nea.gov, ist inzwischen nicht mehr abrufbar). Beim New York State Council for the Arts (www.nysca.org) lauten die entsprechenden Sparten: Folk Arts («living cultural heritage of folk art») und Special Arts Services (Unterstützung für «professional arts activities» in den afrokaribischen, latino-hispanischen und asiatisch-pazifischen Regionen). 18 Zur Liste als Instrument historischer Bestandssicherung vgl. Mark J. Schuster, Making a List and Checking It Twice. The List as a Tool of Historic Preservation, CPC (Cultural Policy Center at the University of Chicago), Working Paper 14, 2002. 19 Dies ist die Sprachregelung der «Consolidated Preliminary Draft Convention for the Safeguarding of Intangible Cultural Heritage», Paris, UNESCO-Hauptquartier, 2.-14. Juni 2003. 20 «U.S. Dept. of Retro Warns: ‚We May Be Running out of Past’», in: The Onion, Bd. 32, Nr. 14, 2000 (http://www.theonion.com/articles/ us-dept-of-retro-warns-we-may-be-running-out-of-pa,873/) 21 Vgl. Diana Taylor, «Acts of Transfer», in: The Archive and the Repertoire: Performing Cultural Memory in the Americas, Durham: Duke University Press, 2003. 22 Vgl. etwa David Lowenthal, The Heritage Crusade and the Spoils of History, London / New York: Penguin Books, Viking, 1997 und Pierre Nora und Lawrence D. Kritzman (Hgg.), Realms of Memory: Rethinking the French Past, New York: Columbia University Press, 1996-1998. 23 Vgl. Mike Pearson und Michael Shanks, Theatre / Archeology Disciplinary Dialogues, London: Routledge, 2001. 24 Kenneth Hudson und Ann Nicholls: The Dictionary of Museums and Living Displays, New York, NY: Stockton Press, 1985.
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1 «UNESCO-Welterbe» wartet im Bahnhof von Chur mit einem Regionalexpress auf die Fahrgäste nach St.Moritz (Foto: Hans De Rond) 2 Lichtshow von Gerry Hofstetter am Landwasserviadukt nach der feierlichen Übergabe des UNESCO-Weltkulturerbe-Labels, 20.9.2008 (© RhB) 3 Infoplakat in der Gemeinde Guttannen zur UNESCO-Welterbe Region Schweizer Alpen Jungfrau-Aletsch (Quelle: www.jungfrauzeitung.ch)
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Kultur, Tourismus und Soziokulturelle Animation Zur Transformation einer Region am Beispiel des Klangwegs Toggenburg Von Reto Stäheli Das Toggenburg, eine Talschaft an den Oberläufen der Flüsse Thur und Necker und zwischen Chur firsten und Säntis gelegen, ist in den letzten Jahrzehnten mit einer für den ländlichen Raum der Schweiz typischen Entwicklung konfrontiert. Abwanderung, Überalterung der Bevölkerung, wenig Arbeitsplätze sowie suboptimale Verkehrs erschliessung stellen für die Region eine Herausfor derung dar. Flächenmässig umfasst das Toggenburg ein Fünftel des Kantons St.Gallen. Die Bevöl ker-ung – im Jahre 2010 rund 45‘000 Einwohner - nahm in den letzten 15 Jahren um rund 3 Prozent ab, diese Tendenz setzt sich in einigen eher abge legenen Gemeinden fort. Die Steuerkraft der Region liegt deutlich unter dem kantonalen Durchschnitt. Einziges periurbanes Zentrum im Toggenburg ist die Gemeinde Wattwil, welche durch den Rickenpass und -tunnel mit dem Linthgebiet verbun den ist und somit nicht nur im Einflussbereich von St. Gallen, sondern auch von Zürich steht. Die beiden im Süden des Toggenburgs gelegenen Gemeinden Alt St. Johann und Wildhaus sind aufgrund ihrer Lage stark vom Tourismus geprägt, erscheinen jedoch wegen ihrer bescheidenen Grösse (weniger als 100›000 Hotel-Logiernächte pro Jahr) nicht als alpine Tourismuszentren. Im peri pheren ländlichen Raum bilden die beiden Gemein den Ebnat-Kappel und Nesslau-Krummenau ein Kleinzentrum. Tourismus im Toggenburg
Was den Tourismus angeht, liegen die Ressourcen des Toggenburgs in der spezifischen Einzigartigkeit von Natur, der Kulturlandschaft und den davon abgeleiteten Möglichkeiten für Freizeiterlebnisse und Erholung. Gemäss Beritelli hat das Toggenburg von der Boomphase des Binnentourismus in den 1960er und 1970er Jahren profitiert1. Gerade mit dem Wintersporttourismus konnte das Obertoggen burg eine «Industrialisierungsphase» erleben, welche vor allem im Beherbergungs- und Verpfle gungssektor zu Kapazitätsaufstockungen geführt hat, die heute nicht mehr genügend ausgelastet sind. Allgemeine Gründe dafür sind der demogra phische und gesellschaftliche Wandel des Heim marktes, der Ausbau und der bessere Zugang zu grösseren Tourismusdestinationen in den Alpenre
gionen (Graubünden, Wallis, Tirol, Vorarlberg) sowie das Fehlen von genügend starken und diffe renzierenden Attraktionspunkten mit Erlebnischa rakter. Der Tourismus im Toggenburg setzte dem nach im Marketing in den letzten Jahren vor allem auf Naturerlebnisse und zielte auf Binnentourismus – vor allem auf Familien und Sportbegeisterte. Lange Zeit fokussierte die Tourismuswerbung auf Sportler/innen wie Skisprung-Olympiasieger Simon Ammann, Schwingerkönig Jörg Abderhalden oder den ehemaligen Skistar Maria Walliser als Imageträger. Durch den geringen Internationalisierungsgrad der Gäste (ca. 30%) ist das Toggenburg stark von diesem Binnentourismus abhängig. An Schönwet terwochenenden bilden sich wegen der vielen Tagesausflügler durch den motorisierten Verkehr lange Kolonnen durch das Tal. Die geringe Preis spreizung des Logiernächteangebots weist gemäss Beritelli zudem darauf hin, dass aufgrund des homogenen Angebots die Zahlungsbereitschaft der Gäste ungenügend ausgeschöpft werden kann und die angebots- und nachfrageseitige Positio nierung und Profilierung der Destination sicher noch zu optimieren ist. Bund und Kanton haben in den letzten Jahren erhebliche Anstrengungen unternommen, die Situ ation im ländlichen Raum und somit auch im Toggenburg zu verbessern. Zum Beispiel unter stützte das Volkswirtschaftsdepartement des Bundes das Toggenburg mit Tourismus-Know-how, KMU-Förderung, Raumplanung sowie in der Land- und Forstwirtschaft. Bereits in früheren Jahren wurde das Vernetzungsprojekt «Toggenburg in Bewegung» durch die sogenannten «Regioplus»Projekte des Bundes unterstützt. Dieses Impuls programm des SECO für ländliche Regionen leistete auch einen wesentlichen Beitrag zur Institutionali sierung des Kulturprojektes Klangwelt Toggenburg. Zurzeit werden mit den Initiativen rund um das Klanghaus – einem Teilprojekt von Klangwelt sowie mit der möglichen Wahl eines Leadhotels «neue Leuchttürme» für das Toggenburg identifi ziert und diskutiert. Kulturtourismus stellt für das Toggenburg Neuland dar. Damit soll das Tal ein modernes Profil erhalten und einen touristischen Relaunch erleben.
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Bäuerliche Kultur
Was die Kultur angeht, schöpft das Toggenburg aus einem äussert reichen Schatz an kulturgeschicht lichem Wissen, was sich an vielen Gegenständen bzw. Handlungen aufzeigen lässt. Man staunt immer wieder über die weitverzweigten Vernetz ungen der bäuerlichen Kulturerscheinungen. Im historischen Kontext betrachtet, war nach Kirchgra ber2 vermutlich das Grundthema des 17. Jahr hunderts – der konfessionelle Konflikt zwischen dem protestantische Toggenburg und dem Katholi zismus – ausschlaggebend dafür, dass sich eine spezifische soziokulturelle Identität bilden konnte, die Ein-fluss auf alle Geschäfte des bürgerlichen Lebens - zum Beispiel auf die verschiedenen Bausubstanzen und/oder Alltagshandlungen - aus übte. Die Wogen dieses Konflikts glätteten sich erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als das Toggenburg bis zum Einmarsch der Franzosen eine eigentliche Kulturblüte erleben durfte. Dank dem Chronisten und Schriftsteller Ulrich Bräker (17351798) lässt sich diese Verbindung zwischen Glau ben und Politik autobiographisch nachverfolgen und beobachten, wie sich die soziokulturelle Identi tät der Region in dieser Zeit entwickelt hat. Die Bedeutung von Bräker liegt vor allem auch darin, dass mit ihm jemand aus einer Volksschicht zu Wort kommt, von der es sonst keine eigenen Auf zeichnungen gibt. Aus seinen Aufzeichnungen geht hervor, wie sich die typischen Strickbau-Bauern häuser in ihrer Konstruktion in enger Verbindung zum Glauben begründen lassen. Auch das Phänomen der Toggenburger Hausorgeln während des Pietismus datiert aus dieser Zeit. Im 19. Jahrhun dert orientierte sich die bäuerliche Volkskultur in den Bemalungen der Schränke und Truhen oder bei der Ausstattung der Tracht vor allem an den französischen Vorbildern. Aus diesem Fundus von bäuerlicher Kulturgeschichte schöpfend, sind in den letzten Jahren verschiedenste Kulturvereine entstanden, zum Beispiel Vereine, die sich der musikalischen Tradition des Toggenburgs verbun den fühlen (Hackbrett, Toggenburger Hausorgel, Halszither etc.) oder die sich mit Bausubstanz oder Malerei im Toggenburg auseinandersetzen. Zur Entstehung und Institutionalisierung von Klangweg und Klangwelt Toggenburg
Klangwelt Toggenburg mit seinen verschiedenen Teilprojekten gilt heute als Vorzeigeprojekt einer nachhaltigen Regionalentwicklung im ländli chen Raum. Nach der Jahrtausendwende wurde mit der Idee Klangwelt Toggenburg die lebendige Musiktradition (Naturjodel, Hackbrett, Schellen, Talerbecken, Instrumentenbauer und -handwerk, Alpsegen etc.) zum Ausgangspunkt einer Strategie gemacht, die der oben geschilderten nachteili gen Entwicklung entgegenwirken sollte. Hauptinitiant war der einheimische Musiker, Lehrer, und langjährige Kantonsrat Peter Roth. Die Entdeckung und Inszenierung der Bewohnerschaft des Toggenburgs als Trägerin einer ursprünglichen und
lebendigen Musikkultur geschieht in einem Mo ment, in dem Volksmusik in der Schweiz durch eine jün-gere avantgardistische Musikszene (z.B. durch Stimmhorn, Hujässler oder Hans Känel) generell eine Aufwertung erfährt. Es gelang dem Initianten in der Gründungsphase, das Projekt Klangwelt auf vier Pfeiler zu bauen: Mit der Unterstützung von Kulturmobil der Kultur stiftung Pro Helvetia, einem ehemaligen soziokultu rellen Impuls- und Animationsprojekt der Kultur stiftung, wurde der Verein Klangweg gegründet. Später folgten die Vereine Klangfestival, Klangkurse und Klanghaus. Das Klangfestival «Naturstimmen» wechselt seither im zweijährigen Rhythmus mit dem Festival «Alpentöne» in Altdorf ab und beschäftigt sich mit neueren musikalischen Grenz überschreitungen in der Volksmusik, das Festival im Toggenburg insbesondere mit Naturstimmen bzw. -tönen. Der Verein Klangkurse stellt jedes Jahr ein Kursprogramm zum Thema zusammen und der Verein Klanghaus setzte sich zum Ziel, am Schwendisee oberhalb Unterwasser ein Klanghaus mit internationaler Ausstrahlung zu bauen. Mit der Anstellung eines Geschäftsführers wurden die vier Vereine später unter dem Dach «Klangwelt» zusammengelegt. Diese angepasste Struktur bot Raum für weitere Projekte wie etwa die Klang schmiede in Alt St. Johann.3 Die Institutionalisierung von Klangwelt wurde von Beginn weg von einem eigenen professionellen Marketing begleitet – diese Öffentlichkeitsarbeit von Klangwelt unterschied sich anfänglich wesent lich von den Marketing-Aktivitäten von Toggenburg Tourismus. Durch die professionelle Inszenierung einer global ausgerichteten «Klangwelt» konnte ein neues, überregionales Zielpublikum angesprochen und angezogen werden. Ein Newsletter und das Klangblatt berichten laufend über die neusten Angebote und Entwicklungen. Seit 2009 besteht ein Förderkonzept des Kantons St. Gallen, das unter Einbezug des Marketingplans für die Klangwelt und der Destinationsstrategie von Toggenburg Tourismus das Vorgehen zur Entwicklung der Hotellerie- und Parahotellerie strukturen im Toggenburg definiert. Das Konzept sieht vor, die Befähigung von Betrie ben voranzutreiben, so dass sich diese den Leit projektinitiativen (Klangwelt) im Toggenburg erfolgreich anschliessen können. Offen bleibt die Frage, wie sich die Bewohner/innen des Toggen burgs gegenüber dieser zielgerichteten Ökonomisie rungsstrategie positionieren, wie weit sich die «bäuerlichen Kulturschaffenden» öffnen und sich für diese international ausgerichteten Marketing ziele einspannen lassen. Der Klangweg und seine Ziele
Auch die Idee zu einem Klangweg – einem Erleb niswanderweg mit Klangstationen – ist im Kontext von Klangwelt entstanden. Grundgedanke war es, dass Besucher/innen dieses Wanderweges verschie dene Klang-Installationen bespielen und auf den
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wetterfesten Instrumenten ihre eigene Musik machen könnten. Die Instrumente sollten grössten teils von lokalen Instrumentenbauern bzw. Gewer betreibenden hergestellt werden. Anfänglich gab es Widerstand aus der lokalen Bevölkerung, und die Verantwortlichen der Bahnen in Unterwasser und Wildhaus stellten Ziele, Nutzen und Funktion des Konzeptes Klangweg grundsätzlich in Frage. Die Ziele des Projekts Klangweg wurden 2002 vom Verein Klangweg in Zusammenarbeit mit dem von Pro Helvetia finanzierten soziokulturellen Projekt Kulturmobil formuliert. Kulturmobil wurde vom Initianten Peter Roth angefragt, diese Idee Klangweg in der Pionierphase soziokulturell zu begleiten und zu unterstützen. Das Hauptziel4 bestand «im Aufbau und Erstellung eines Weges mit Klangobjekten im Obertoggenburg und dem Austausch von lokal verwurzelter Musiktradition mit zeitgenössischem Musikschaf fen». Davon abgeleitet wurden wirtschaftliche und ökologische Ziele: «Das Projekt Klangweg trägt dazu bei, die Bekannt heit und Attraktivität der touristischen Destination Toggenburg zu stärken und damit eine erhöhte Wertschöpfung in Hotellerie und Gastgewerbe zu gewährleisten. Natur und Landschaft sollen im Rahmen des naturnahen Tourismus erhalten, gepflegt und aufgewertet werden». Als soziokulturelle Zielsetzung wurde formuliert: «An der Gestaltung des Klangweges sind diverse Gruppen und Einzelpersonen aus der Region Toggenburg aktiv beteiligt. Der Verein Klangweg stellt eine Plattform für das regionale Kulturschaf fen dar und fördert die Zusammenarbeit zwischen Laien und professionellen Kulturschaffenden, insbesondere im Bereich Musik und Instrumentenbau. Es wird die Förderung der Verständigung unter der Bevölkerung, insbesondere auch des Dialoges zwischen verschiedenen Kulturen, Generatio nen, Geschlechter etc. angestrebt». Und schliesslich wurden auch künstlerische Zielsetzungen umschrieben: «Die Klangobjekte entsprechen hohen musikali schen und ästhetischen Kriterien. Für die Beurtei lung der Objekte sind beispielsweise folgende Kriterien vorgesehen: Qualität, Innovation, Nach haltigkeit, gesellschaftliche Relevanz, Verträglich keit in der Landschaft, Partizipation der lokalen Bevölkerung, Interdisziplinarität, Professionalität, Originalität etc. Der Klangweg wurde schliesslich zwischen 2002 und 2006 in Etappen realisiert und jedes Jahr durch neue attraktive Objekte erweitert. Die Besucherzah len stiegen parallel dazu kontinuierlich an. Zehn Jahre nach Ausformulierung der Projekt-Ziele lässt sich rückblickend beurteilen, welche der Ziele erreicht wurden, was das Projekt bewirkt hat und welche Schlussfolgerungen daraus zu ziehen sind. Aus ökonomischer Perspektive wurden die ge setzten Ziele tendenziell übertroffen. Die Bahnen konnten über den Klangweg ca. ab Sommer 2005
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zwischen 20 und 25% mehr Umsatz generieren und damit ihre Auslastung bedeutend erhöhen. Auch die Hotellerie profitierte, wenn auch in geringerem Ausmass. Die Bahnen und auch Toggenburg Tou rismus nutzen den Klangweg intensiv als attraktives Marketinginstrument, vor allem für die Zielgruppe Familien. Aus landschaftsästhetischer Sicht sind die Objekte gut in die Landschaft integriert, der Wanderweg wurde naturschonend angelegt und verläuft fast ausschliesslich entlang bereits be stehender Routen. Die Lautstärke der Instrumente unterscheidet sich kaum von einem sommerlichalltäglichen Schellengebimmel auf einer Alpweide. Die ökologische Bilanz des Klangwegs – z.B. die zusätzlichen Autofahrten ins Toggenburg oder die Verschmutzung des Klangwegs durch Abfälle – wurde nicht evaluiert. Bei den soziokulturellen Zielsetzungen denkt man vor allem an Demokratisierung bzw. soziale Ko häsion als zentrale gesellschaftliche Aufgabe, die Animatorinnen und Animatoren allgemein zu erfüllen haben. Bei der Konzipierung des Klang wegs wurde die lokale Bevölkerung mehrmals eingeladen, ihre Bedürfnisse und Anliegen einzu bringen. Das Ziel der Zusammenarbeit zwischen Laien und professionellen lokalen Kulturschaffen den, insbesondere in den Bereichen Musik und Instrumentenbau, konnte so eingeleitet und durch verschiedene Rahmenveranstaltungen weiter gefördert werden. Die genannten gesellschaftlichen Ziele (Verständi gung unter der Bevölkerung, insbesondere des Dialoges zwischen verschiedenen Kulturen, z.B. zwischen Einheimischen und Auswärtigen, zwischen Generationen, zwischen Geschlechtern etc.) wurden vor allem in der Anfangsphase explizit angestrebt und umgesetzt. Es waren jedoch Ziele, die nach Beendigung des Engagements der soziokulturellen Animation im Projekt Klang weg nicht prioritär weiterverfolgt wurden. Es ist weiter schwierig zu beurteilen, ob die künst lerischen Zielsetzungen im Klangweg erreicht wurden. In der Praxis des Klangwegs wurde der bildende Künstler Leo Holenstein für die ästhetische, der Musiker Peter Roth für die musikalische Beurteilung der Objekte beigezogen, später über
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nahm der Künstler und Musiker Lukas Rohner die künstlerische Leitung des Klangwegs. Die besondere Herausforderung für die Beurteilen den lag darin, im Spannungsfeld zwischen den Ansprüchen der Animation im Hinblick auf die lokale soziokulturelle Identität der Bevölkerung, den Anteilen der ökonomischen und ökologischen Vorgaben des Vereins Klangweg sowie den eigenen ästhetischen und klanglichen Ambitionen zu entscheiden, welche Objekte künstlerisch am überzeugendsten waren. Es ist offenkundig, dass hier Kompromisslösungen gefunden werden mussten. Konfliktlinien entstanden in der Aus einandersetzung rund um Entscheidungen, in denen Kunstschaffende für den Klangweg oder für Rahmenveranstaltungen im Rahmen der Projektent wicklung berücksichtigt bzw. nicht berücksichtigt wurden. Unter anderen bestimmten folgende Fragen den Diskurs: Welche bekannten «Starkünstler» würden das Projekt vorantreiben und eine für das Projekt wichtige Breitenwirkung entwickeln? Welchen anregenden, aber vielleicht tendenziell provokati ven Kunstschaffenden sollten Chancen für Auftritte eingeräumt werden und welche Wirkungen sollten diese Interventionen in der Bevölkerung haben? Welche Seilschaften aus dem kulturellen Netzwerk der Initianten sollten berücksichtigt werden? Welche gesellschaftlichen Ziele müssten in den Rahmenveranstaltungen angestrebt werden? Nach dem Ausscheiden von Kulturmobil (Pro Helvetia) gab es keine soziokulturelle Animationsinstanz mehr. Diese Aufgabe wurde wie erwähnt der Gemeinde bzw. den Verantwortlichen von Klangwelt überlassen.
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Das Spannungsfeld von Animation und Kunst
Die unterschiedlichen Positionen und Haltungen der Animation im Gegensatz z.B. zu Kunst (oder Ökonomie), die unterschiedlichen Standpunkte und Zielsetzungen können zu Unvereinbarkeiten führen. Die Animation strebt mit einem Projekt gesellschaftspolitische Ziele an und initiiert partizipative Prozesse mit Gruppen, während die Kunst zum Ziel hat, einen Anspruch auf höchste künstlerische Qualität einzulösen sowie
eine individuelle Autorschaft möglichst zu be wahren. Während die Animation einigermassen klare Vorstellungen von der gesellschaftspoliti schen Wirkung haben muss, die über ihre (Kultur-) Projekte gemäss ihrem institutionellen Auftrag erzielt werden soll, so wissen Kunstschaffende um die Unberechenbarkeit der Kunst. Deren Qualität besteht gerade darin, dass sie etwas Neues, noch nie Dagewesenes schafft, dessen Wirkung nicht im Vornherein abzuschätzen ist. Das Selbstverständnis von Kunstschaffenden, sich nicht für nicht selbst gewählte Ziele instrumentalisieren zu lassen, das auf dem Anspruch beruht, autonom und aus einer individuellen und künstlerischen Notwendig keit heraus Kunstwerke zu entwickeln, gerät mit der Auftragssituation, wie sie zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Klangweg gegeben war, in Widerspruch. Ein formal konsequent ästhetisch denkender Künstler war und wäre wohl nie bereit, in seiner Kunst aufgrund politischer oder soziokultureller «Sachzwänge» inhaltliche Kompromisse einzuge hen. So betrachtet ist die (eigene) Ästhetik für Künstler/innen nur sehr bedingt verhandelbar. Von Kunstschaffenden wird argumentiert, dass sich Qualitätskriterien «professioneller» Kunst nicht mit Zielsetzungen von soziokulturellen Projekten vereinbaren lassen. Gemäss dem Publizisten Hermann Glaser könnte man gegen diese konsequent ästhetische Position von Kunstschaffenden argumentieren, dass Sozio kultur die Essenz von Kultur ausmacht.5 Kultur ohne Soziokultur sei eine vom Wesentlichen entkernte Kultur. Ein Projekt wie der Klangweg sollte – gemäss diesem gesellschaftspolitischen Verständnis – in der Tendenz im Prozess seiner Erstellung immer möglichst viele soziokulturelle Elemente aufweisen, zum Beispiel eine gute Durch mischung der Generationen, der Geschlechter und/oder der Bildungsschichten. Dies sowohl im Publikum als auch bei den Akteuren, die Klanginstrumente entwerfen, oder bei den Akteuren, die das Projekt leiten. Künstlerische Qualität und gesellschaftliche Relevanz sind nach dieser Sicht weise nicht per se Gegensätze. Animation kann – so verstanden – auch eine Methode sein, möglichst vielfältige Ergebnisse zu erzielen. Organisatorisch bedienten sich Klangweg und auch Klangwelt zunehmend der Methoden des Kultur managements. Die freiwillige Arbeit wurde durch Arbeit mit Entschädigung (Sitzungsgelder) abgelöst, betriebswirtschaftliche Fragestellungen und die Weiterentwicklung der eigenen Institution mit einer Geschäftsleitung bildeten ein Hauptgewicht der weiteren professionellen Aktivitäten. Es ist offensichtlich, dass beispielsweise das Tourismusmarketing bis heute breitenwirksame Zeichen setzt, die nur von einem Teil der Bevölkerung mitgetragen werden. Exponenten einer bäuerlichen Alltagskultur versuchen entsprechend, sich von einer tendenziell hochkulturell überformten Volks-
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kultur abzugrenzen und zwischen Schein (Marke tingkommunikation über die sogenannte «authen tische Volkskultur») und Sein (eigentliche lokale Kulturtradition) einen eigenständigen Weg zu finden. Ressourcen von Migrantinnen und Migranten, Frauen und Jugendlichen werden ferner in Regio nalentwicklungsprojekten im Allgemeinen wenig berücksichtigt. Diese Integrationsaufgabe wird von den Verantwortlichen der Gemeinden kaum im Zusammenhang mit Chancen in einem Kultur projekt wahrgenommen, sondern als «Problem» der Sozialen Arbeit zugewiesen. Kulturprojekte mit gesellschaftlichen Zielsetzungen beinhalten jedoch in der Regel Bildungsergebnisse, die zum Wohlbe finden breiter Bevölkerungskreise beitragen. Fazit und Ausblick: Wandel von Strategien
Während in den 1980er Jahren, in der Vermark tungsphase von «Tourismus und Sport», die bäuerliche Kultur bestenfalls als authentische Kulisse gebraucht wurde, ist bei Klangwelt am Ende der Jahrtausendwende die ländliche Kultur als eigentli che «Quelle» in Anspruch genommen worden. So wurde beispielsweise das bäuerliche Jodeln und Singen im Tal professionell aufgegriffen, in An gebotskonzepte umgegossen und vermarktet. Man kann sich fragen, ob sich die bäuerliche Kultur wirklich als einzige Ressource im Tal angeboten hatte. Unter dem Stichwort kulturelle Diversität könnte man sich durchaus auch vorstellen, sich mit dem Verschwinden der Industrialisierung bzw. der Arbeiterkultur in der Region zu beschäftigen. Diese fallen bekanntlich mit der Endrunde des Fordismus zusammen, der wiederum mit dem Ende des klassischen Massentourismus in Verbindung gebracht werden könnte. So hatten die Textilarbeit im Toggenburg, insbesondere die Web- und Stickerei tradition, aber auch die Handwerksbetriebe und die Gastronomie einige Akteure mit MigrationsHintergrund ins Tal gebracht. So gesehen könnte unter «Kultur im Toggenburg» eine Vielzahl von attraktiven Themen angeboten werden, die letztlich ebenfalls zum Ausgangspunkt einer neuen Strategie werden könnten. Sie spielen jedoch in den aktuelleren Überlegungen von Förderkonzepten der Regionalentwicklung kaum eine Rolle. Eine der grössten Ressourcen des Toggenburgs sind die vielen Handwerksbetriebe und das grosse fachmännische Know-How der Mitarbeitenden dieser Betriebe bzw. des Gewerbes. Eine interdiszipli näre Zusammenarbeit von Architekten, Designern, Künstlern, Handwerkern und sonstigen interess ierten Personen aus der Bevölkerung, in Verbin dung mit dem Wissen um historische Zusammen hänge der Gegend und auch im Wissen um die vielen Naturschönheiten der Gegend, könnte ein neues Bewusstsein einer regionalen Baukunst hervorbringen, wie es beispielsweise im Vorarlberg bereits relativ verbreitet vorkommt.
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Dies könnte auch für das Toggenburg als gutes Beispiel dienen, wie die Entwicklung der Region unter Einbezug gesellschaftlicher Ziele produktiv fortschreiten und weit über die Gegend hinaus strahlen könnte. Analog zu den Anstrengungen der Tourismusförderung – etwa der Schulung von Gastronomiebetrieben – könnte man sich die Initiierung eines solchen «Interaktionsraums» auch zum Thema Gesellschaft, Handwerk und Baukunst vorstellen. Natürlich müssten die Bedürfnisse der lokalen Beteiligten in Vorgesprächen eruiert werden. Eine solche interdisziplinäre Bildungsund Kulturinitiative müsste ferner vom Kanton finanziell mitgetragen werden. So entwickelte der Südtiroler Künstler und Sozio loge Hans Glauber, der einen Diskurs über Werte, Kultur und Lebensstile im Tirol initiierte, mit seinen Toblacher Gesprächen einen weiten Begriff von Schönheit, der mittelfristig auch für das Toggenburg eine Orientierung darstellen könnte: «Die Schönheit des rechten Masses, des Unterlas sens, des Weniger, des behutsamen Umgangs mit den Ressourcen, aber auch die Schönheit der ökologischen und kulturellen Vielfalt der Eigenart, der wiedergefundenen lokalen Identität und die Schönheit des postindustriellen und solaren Zeitalters sind Ausprägungen einer Schönheit, die mit einem zukunftsfähigen Leben Hand in Hand gehen».6
Reto Stäheli ist Projektleiter und Dozent am Institut für Soziokul-
turelle Entwicklung (ISE), Hochschule Luzern – Soziale Arbeit. Studium der Ethnologie an der Universität Zürich, Ausbildung zum Supervisor und Organisationsberater (BSO), MAS Kulturmanagement Universität Basel. Langjähriger Soziokultureller Animator/Projektleiter in Kulturmo bil der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, Freiberufliche Tätigkeiten (Kulturkonzepte, Beratung kultureller Institutionen, Konzeption und Organisation von Kulturanlässen, Bildungstagen etc.) Publikationen (Auswahl): «Transformationen – Das Verhältnis von Soziokultureller Animation zu Kultur und Kunst«, in: Soziokulturelle Animation (Bernard Wandeler, Hrsg.). Luzern: Interact Verlag, 2010; »Jugendkulturen haben grosses kreatives Potential» in: Schulblatt Nidwalden 2/2010 (Erzie hungsdirektion des Kanton Nidwalden, Hrsg.); «Kultur und Aufbauhilfe in Südosteuropa«, in: Integrale Projektmethodik (Alex Willener, Hrsg.). Luzern, Interact Verlag, 2007; »Luthern» in: Kultur in Bewegung (Pro Helvetia, Hrsg.). Zürich: Chronos Verlag, 2001. Beetz, S., Brauer, K., Neu, C.: Handwörterbuch zur ländlichen Gesell schaft in Deutschland. Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2005. Beritelli Pietro, Isabelle Engeler, Stephan Reinhold, Impulsprogramm für die Beherbergung im Toggenburg. HSG St. Gallen, 2009. Glaser, Hermann, Soziokultur und Kultur. Kulturpolitische Mitteilungen (Nr. 121), Bonn, 2008 p. 50–52. Glauber Hans (Hrsg.), Langsamer, weniger, besser, schöner: 15 Jahre Toblacher Gespräche: Bausteine für die Zukunft, Ökom Verlag München, 2006 Kirchgraber, Jost, Kunst der Möbelmalerei, hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte, Baden, 2011 Kirchgraber, Jost ,Das bäuerliche Toggenburger Haus und seine Kultur. VGS Verlagsgenossenschaft, St. Gallen, 1990. Stäheli, Reto. (2010). Transformationen – Das Verhältnis von Soziokultu reller Animation zu Kultur und Kunst, in: Bernard Wandeler (Hrsg.), Soziokulturelle Animation. Interact Verlag Luzern, 2010, p. 226-262. Bettina Strobel, Dorit Sterzing, Alexandra Sann, Niedrigschwellige Familienbildung im ländlichen Raum. DJI-Reihe München, 2009, p.25ff.
1 Beritelli Pietro, Isabelle Engeler, Stephan Reinhold, (2009) Impulspro
gramm für die Beherbergung im Toggenburg, HSG St. Gallen
2 Kirchgraber, Jost, Das bäuerliche Toggenburger Haus und seine Kultur,
Sich einem Thema zu nähern, heisst zu versuchen, der Komplexität des Gegenstandes, die sich in der Vielfalt der Bezüge und Verschränkungen artiku liert, annähernd gerecht zu werden. Die Schnittmenge der kulturellen Begegnungen beim Klangweg führt zu einem offenen Interaktions raum, in dem sich viele kulturelle Akteure berüh ren und Wandel bewirken. Von seinen Bewohner/ -innen, also von innen her, wird das Toggenburg als geographischer bzw. territorialer Raum mit einer eigenen relativ stabilen soziokulturellen Identität erkannt und definiert, während in der Aussensicht durch Kulturwissenschaft, Kunst und soziokultureller Animation die Dynamik interagierender Konstellationen unter den Lebensbedingungen einer globalisierten Welt im Vordergrund beobach tet wird. Am Beispiel von Klangwelt lässt sich aufzeigen, wie alte durch neue soziale Räume abgelöst werden, wie «Kultur» mit seinen ökonomisch, historisch und sozial legitimen Feldern vermehrt das Mass und die Grösse dieser Schnittmengen definiert. Dieser Wandel im Toggenburg von «Tourismus und Sport» hin zu «Kultur und Tourismus» birgt die Gefahr der Instrumentalisierung von Menschen und ihren Kulturhandlungen, bietet aber auch die Chance, neue Interaktionsräume zu aktuellen Themen zu erschliessen bzw. auszugestalten.
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VGS Verlagsgenossenschaft, St. Gallen 1990 Ders., Kunst und Möbelmalerei, hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte, Baden 2011 weitere Informationen siehe www.klangwelt.ch Quelle: Konzept Klangweg, Kulturmobil Pro Helvetia 2002 Glaser, Hermann, Soziokultur und Kultur. Kulturpolitische Mitteilun gen, 2008 (Nr. 121), S. 50–52. Bonn , 2008 Glauber Hans (Hrsg.), 2006, p.3
1–3 Unterwegs auf dem Klangweg Toggenburg in Alt St. Johann (Fotos: Nicole Wangeler)
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In der Mitte Überlegungen zum aktuellen Kultur- und Geschichtstourismus Berlins Von Marion von Osten
Im März 2011 wurden 72‘000 Flaschen Bier der Marke «Efes» aus der Türkei nach Deutschland in die KW Institute for Contemporary Art in Berlin Mitte transportiert. Die mit Bierflaschen gefüllten Kartons wurden zu einer Pyramide mit gleichmässi gen Stufen gestapelt. Die Skulptur aus Bierkästen konnte von den Ausstellungsbesuchern/-innen bestiegen, besetzt und getrunken werden. Zurück blieb eine «Ruine aus Bierkartons, gebettet auf Glasscherben». Mit dem Ausstellungstitel «The Recovery of Discovery» und einem UNESCO-Logo auf der Einladungskarte warf der französische Künstler Cyprien Gaillard die Frage auf, welche Geschichtsbilder durch Musealisierungskonzepte in Berlin aktuell produziert werden. Die Arbeit nahm Bezug auf die Import-Export-Relationen, die mit der Ausgrabung des Pergamonaltars, dem Bau des Museums bis zum Masterplan Museumsinsel 2015 sowie deren Spektakelkulturen einher gehen. Die Installation verweist auf den Zusammen hang von Kulturtourismus und Konsum und das Branding Berlins als hippe Kunstmetropole. Ist Gaillards «Ruine» – da ein Kunstwerk – auch schützenswert und musealisierbar oder handelt es sich letztendlich nur um den Müll einer Eröff nungsparty? Kultur ist nach dem Mauerfall 1989 zur zentralen Ressource des Berliner Städtemarketings geworden. Aus einer Studie von 2009 geht hervor, dass sich der Anteil der Museumsbesucher/innen unter den Stadttouristen/-innen in den letzten zehn Jahren vervielfacht habe1. Schlangen stehen vor den Museen, temporären Ausstellungen wie vor dem Reichstagsgebäude. Die Zusammenführung der Sammlungen aus Ost- und Westberlin und der Wiederaufbau der Museumsinsel in Berlin Mitte spielen dabei eine wesentliche Rolle für den Berliner Städtetourismus. Die hoch verschuldete Stadt liess sich dies rund 233 Millionen Euro kosten. Schon 1990 wurde in einem Konzept der Staatlichen Museen zu Berlin das Ziel formuliert, auf der Museumsinsel die Zusammenführung und gemeinsame Präsentation aller archäologischen Sammlungen zu verfolgen. Im Jahr 1998 wurde die Planungsgruppe Museumsinsel gebildet. Unter der Federführung von «David Chipperfield Ar
chitects» wurden in der Folge unterschiedliche Architekturbüros beauftragt, Sanierungs- und Nutzungsprojekte für die Einzelhäuser zu entwi ckeln. 1999 stellte die UNESCO die Museumsinsel Berlin als Weltkulturerbe unter ihren Schutz. Auf der knapp einen Quadratkilometer grossen Insel in der Spree sollen in Zukunft «in einer Tempelstadt der Kunst und Kultur über 600’000 Jahre Menschheitsgeschichte» präsentiert werden – so der Informationstext für das Projekt Masterplan Museumsinsel 20152. Unter der Leitung des Architekturbüros Oswald Mathias Ungers wird auch das Pergamonmuseum abschnittsweise saniert und vergrössert, jene touristische Attraktion, auf die sich Cyprien Gaillard in seiner Arbeit in den KW Institute for Contemporary Art bezieht. Die neue Museumsanlage ist als Dreiflügelanlage konzipiert, in der die Antikensammlung, das Vorderasiatische Museum und das Museum für Islami sche Kunst untergebracht sind. Der Pergamonaltar, das Markttor von Milet, das Ischtar-Tor mit der Prozessionsstrasse von Babylon und die MschattaFassade werden in einem Museum vereint, das die unterschiedlichen Sammlungen räumlich und thematisch im Erdgeschoss durch eine «Archäologi sche Promenade» miteinander verknüpft. Laut Website Preussischer Kulturbesitz soll so «das inhaltliche Band, das die Kulturen der antiken abendländischen Welt verbindet», für Ausstellungsbesucher/innen erfahrbar gemacht werden.3 Diese Neuschreibung von Geschichte ist auch Gegenstand der Arbeit «The Recovery of Discovery» von Cyprien Gaillard. Sie verweist auf die in der archäologischen Promenade an der Spree unterbeleuchte ten oder ausgeblendeten geopolitischen und koloni algeschichtlichen Relationen. Pergamon war eine antike griechische Stadt nahe der Westküste Kleinasiens. Heute heisst sie Ber gama und liegt in der Türkei. Seit 1936 gibt es dort ein Archäologisches Museum, das heute die Funde der Ausgrabungen des antiken Stadtensembles aufnimmt. Ein Grossteil der Ausgrabungen von Bergama wurde bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs in das speziell für den Zweck in Berlin errichtete Pergamonmuseum verschickt und nur ein kleiner Teil kam in das im Jahr 1891 eröffnete
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Archäologische Museum nach Istanbul. Der selbst ernannte «Entdecker» des Pergamonfrieses war Carl Humann, ein Eisenbahningenieur, der als junger Mann beim Bau einer Bahnstrecke im Ruhrgebiet beteiligt war, bevor er die Bauakademie in Berlin besuchte, wo er nach der Antike zeichnen lernte. 1861 reiste Humann nach Konstantinopel, um für die osmanische Regierung Projekte wie die detaillierte Kartierung Palästinas (seit dem 16. Jahrhundert Teil des Osmanischen Reiches) oder des östlichen Balkans vorzunehmen. Da er schon an Ausgrabungen auf der Insel Samos teilgenom men hatte, konnte er in Bergama mit Unterstützung einer kleinen Expedition zwei Fragmente eines Frieses ausfindig machen, die zur Begutachtung nach Berlin geschickt wurden.4 Der Direktor der Abteilung für antike Skulpturen an den Königli chen Museen zu Berlin, der Archäologe Alexander Conze, veranlasste die gross angelegten Ausgrab ungen, bei denen Teile des Zeus-Altars und einige Skulpturen gefunden wurden. Durch eine Überein kunft mit der osmanischen Regierung konnten die Funde aus den Grabungen von Pergamon über Hamburg nach Berlin abtransportiert werden.5 Die Bedeutung der Grabungen für den deutschen Nationalstaat war allerdings alles andere als eine rein wissenschaftlich-archäologische. Bereits in seiner ersten, aber auch in der zweiten Version (1901-1909, resp. zwischen 1910 und 1930) war das Pergamonmuseum in Berlin mit dem Zweck erbaut worden, in Berlin mit dem Parthenon-Fries des Londoner British Museum konkurrieren zu kön nen.6 Museumsbauten und Sammlungsaktivitäten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sind vor dem Hintergrund gezielter Identitätsstiftung der imperialen europäischen Kulturnationen zu lesen. Die frühe Aufklärung hatte die Antike bereits als ideale Gesellschaftsform imaginiert. Mit deren Wieder entdeckung wurde die Geschichte Europas als «Wiege der Menschheit» mit den antiken Hochkul turen als Ursprung neu geschrieben. Seit dem 18. Jahrhundert unternahmen europäische Althisto riker und Orientalisten Studienreisen zu den antiken Städten Italiens, Griechenlands und Klein asiens und brachten eine Art Frühform des Touris mus hervor. Antike Stätten wurden aufgesucht, gezeichnet und wieder kopiert. Eine Antikensehn sucht hatte es auch schon in der Renaissance und im Barock gegeben, aber als ein deutsches Ideal realisierte sie sich im Kontext der Nationalstaatsbildung und der ästhetischen Bewegung des Klassi zismus. Die Antike wurde zur Grundlage der Winckelmannschen Kunstgeschichtsschreibung, zum Kanon der Ausbildung an europäischen Kunst- und Bauakademien sowie der Lehre und Forschung an der Humboldt-Universität in Berlin.7 Die zwischenstaatlichen Vereinbarungen und damit verbundenen Transferleistungen zwischen dem Preussischen und dem Osmanischen Reich reichten zudem vom Abtransport des Pergamonaltars über die Militärschulung durch preussische Offiziere
(sogenannte Militärmissionen) bis hin zu Bau- und Ingenieursleistungen und Finanzinvestitionen. Durch den Berliner Kongress 1878, die preussi schen Militärmissionen sowie die Beteiligung am Bau der Bagdadbahn, war das deutsche Reich zu einem zentralen politischen Partner für den osmanischen Sultan geworden.8 Die Bagdadbahn, geplant vom deutschen Eisenbahningenieur Wil helm Pressel für den Sultan Abdülhamid II., war das Konkurrenzprojekt zu britischen und russischen Infrastrukturprojekten wie dem Suez kanal und Eisenbahnprojekten im Iran. Das Projekt liess aber nicht nur Deutschland und die Türkei, sondern auch Grossbritannien, Frankreich und Russland zusammenrücken. Diese Allianzen, die zur Ausweitung von Einflusszonen oder territoriale Besetzungen im Balkan, Nordafrika und dem Nahen Osten führten, waren ein massgeblicher Faktor, der zum Ausbruch des Ersten Weltkrie ges führen sollte.9 Der Ausbau von Strassen und Schienen ermöglichte neben dem Abtransport von Bodenschätzen auch die Beschleunigung von Truppenverschiebungen. Dies beförderte zugleich die territoriale Expansion der Kolonialmächte wie auch die damit einhergehende Reisetätigkeit als frühe Formen des Kulturtourismus.10 Babylon
«Bei meinem ersten Aufenthalt in Babylon am 3. und 4. Juni 1897 und bei meinem zweiten Besuche vom 29. bis 31. Dezember 1897 hatte ich viele Bruchstücke emaillierter Ziegelreliefs gesehen, von denen ich einige mit nach Berlin nahm. Die eigenartige Schönheit und die kunsthistorische Wichtigkeit dieser Stücke (...) trugen mit zu dem Entschluss bei, die Hauptstadt des babylonischen Weltreiches auszugraben», schreibt der Archäologe Robert Koldewey in einem seiner Briefe.11 Nach dem Mythos gehörte das von ihm ausgegrabene IschtarTor als Teil der babylonischen Stadtmauern zu den sieben Weltwundern der Antike. Auch in diesem Fall waren die Berliner Museen mit der osmani schen Altertümerverwaltung übereingekommen, die Fundstücke zur «sachgemäßen Behandlung und Zusammensetzung» an den Kupfergraben in Berlin zu verschiffen. Solche aussergewöhnlichen Vereinbarungen waren allerdings nur möglich, weil der Nahe Osten osmanisches Kolonialgebiet war. So konnte auch das im Jahr 744 unweit der heutigen Hauptstadt Jordaniens erbaute Wüstenschloss von Mschatta nur deshalb zum Geschenk des Sultans Abdülha mid II. an Kaiser Wilhelm II. in Berlin werden, weil Jordanien zu diesem Zeitpunkt unter osmanischer Herrschaft stand. Weder eine antike griechische Stadtarchitektur noch ein mesopotamisches Stadt tor oder ein jordanisches Wüstenschloss schienen für die osmanische Selbstinszenierung von ge nügend symbolischer Bedeutung zu sein, als dass man es nicht hätte verschenken, abtragen oder verschiffen lassen können. Für die nationalistische Selbstinszenierung des deutschen Reiches als Ort
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der abendländischen Hochkultur waren die archäo logischen Funde hingegen begehrte Requisiten. Koldeweys Grabungen endeten 1917 mit dem Einmarsch britischer Truppen in Bagdad.12 Im Zeitalter von Imperialismus und Kolonialismus waren Archäologie, moderne Ingenieurswissenschaften, militärstrategische Überlegungen und die Disziplin der Bau- und Kunstgeschichte untrennbar mitein ander verschränkt. Strassen- und Eisenbahnbau, Antikensehnsucht, Orientreisen und Ausgrabungen waren so konstitutiv für die Moderne.13 Ob die Bewerbung für die Anerkennung der Berliner Museumsinsel als Weltkulturerbe die imperia listischen Hintergründe der preussischen Samm lungsgeschichte im Vorfeld des Ersten Weltkrieges zum Thema gemacht hat, ist fraglich. In ihrer Reinszenierung im 21.Jahrhundert werden sie nicht nur ausgeblendet, sondern neu geschrieben.
Acropolis
Seit September 2011 wird vor dem Pergamonmu seum in einer temporären Rotunde ein Panorama des antiken Pergamon gezeigt, mit dem die histori sche Stadt in spätrömischer Zeit szenisch und akustisch vom «Kreuzberger Künstler» Yadegar Asisi nachgebildet wird. Das Pergamon-Panorama soll – wie es in der Presseankündigung heisst – zum Highlight des laufenden Ausstellungsjahres werden. Ein Podest in der Mitte des Panoramas dient den Besuchern als Aussichtsplattform und verschafft Überblick. Bevor Panoramadarstellungen im 19. Jahrhundert zu einem populären Bildmittel wurden, waren sie bereits als eine geographische Darstellungsform neben Karte, Relief und Profil in Verwendung. Mit der Popularisierung des Panoramas Ende des 19. Jahrhunderts wird der Betrachterstandpunkt in das Zentrum, in die Mitte einer 360°-Darstellung, verschoben. Das Panorama als eine populärkulturelle Inszenie rung des 19. Jahrhunderts passt sich ohne Probleme ein in die Bild- und Museumspolitiken des 21. Jahrhunderts. Es reiht sich ein in die Berliner Schau-architekturen, die sich als «Schaustel len» statt als Baustellen in Szene setzen und als raumgreifende Prospekte für geplante Grossprojekte aufgestellt werden, wie zum Beispiel die Humboldt-Box, die das Humboldt-Forum populär machen soll: «Die Humboldt-Box ist ein Informationszentrum auf Zeit für das Projekt HumboldtForum», in dem auf zwei Ausstellungsetagen «spannend gestaltete Themenmodule» gezeigt werden, «die rund um den Globus führen».14 Die im Juni 2011 eröffnete Humboldt-Box oder die auf Stoff gedruckte Berliner Schlossfassade, ver deutlichen die Politik der neuen Berliner Mitte. Letztere, die Stofffassade, blieb solange hängen, bis mit einem Bundestagsbeschluss trotz Bürgerpro teste der Abriss des Palasts der Republik und die Rekonstruktion der Berliner Schlossfassade ent
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schieden werden konnte. Zum Berliner Stadt schloss hört man von offizieller Seite allerdings wenig zu dessen problematischer Symbolkraft in der Geschichte des deutschen Obrigkeitsstaates. Für die umstrittene Rekonstruktion der Gebäude hülle wurde nach langen Verhandlungen eine Nutzung gefunden: Neben Teilen der Zentral- und Landesbibliothek und den wissenschaftlichen Sammlungen der Humboldt-Universität sollen hier unter dem Label «Humboldt-Forum» die Samm lungen aussereuropäischer Kunst und Kultur der Staatlichen Museen zu Berlin vereint werden ein weiteres Konzept des vor allem auf das wach sende Segment des Kulturtourismus ausgerichteten Masterplans 2015, der derart neo-konservative Setzungen befördert. Die antiken, islamischen und abendländischen Kulturen werden nun auf der Museumsinsel durch eine «Archäologische Prome nade» zur «Wiege Europas» verbunden, um ihnen kontrapunktisch die «aussereuropäischen» Samm lungen im Humboldt-Forum gegenüberzustellen. Mit den Sammlungen des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst sollen laut Initiatoren im geplanten Humboldt-Forum in Zukunft nun «grosse Menschheitsthemen» verhan delt werden.15 Die ersten Sammlungen des Ethnologischen Muse ums stammen aus dem Kunst- und Raritäten kabinett der brandenburgischen Kurfürsten des 17. Jahrhunderts. Aus der kurbrandenburgischen Marine unter dem Kurfürsten Friedrich Wilhelm (1640-1688) ging die «Brandenburgisch-Afrikanische Companie (BAC)» hervor, der auch ein Otto Friedrich von der Groeben diente, die für 30 Jahre das brandenburgische Monopol für den Handel in Westafrika mit Pfeffer, Elfenbein, Gold und Sklaven hatte sowie das Recht, eigene Stützpunkte auf der karibischen Insel St. Thomas oder auf Mauretanien zu errichten. Aus der ersten kurfürstlichen Sammlung von «Raritäten aus fernen Erdteilen» ging «die Königlich Preussische Kunstkammer» hervor, die ab 1829 «Ethnographische Sammlung» genannt wurde, Mitte des 19. Jahrhunderts ins Neue Museum auf die Muse umsinsel umzog und 1886 als Museum für Völker kunde ein eigenes Gebäude nahe dem Potsdamer Platz bezieht. Zur gleichen Zeit beginnt das deutsche Kaiserreich, Ansprüche auf sogenannte Schutzgebiete in Teilen des heutigen Tansania, Ruanda, Burundi, Mosam bik, Namibia, Togo, Ghana, Kamerun, Nigeria, Tschad, Kongo, Gabun, Kenia, Somalia und Südafrika zu erwerben, gefolgt von Kolonien in Südost asien, in Papua-Neuguinea, den Salomonen, den Marshall- und Palauinseln, Mikronesien, Samoa und China. Die meisten Gebiete werden mit dem Eintritt in den Ersten Weltkrieg 1914 oder nach diesem im Jahr 1919 an andere europäische Koloni almächte abgetreten. 1920 wird das Reichskolonialamt zwar aufgelöst, 1924 aber als eine Kolonial abteilung im Auswärtigen Amt wieder eingerichtet,
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1934 gefolgt vom Kolonialpolitischen Amt unter den Nationalsozialisten mit der «Gleichschaltung» der Kolonialverbände im Reichskolonialbund und der Einrichtung eines Kolonialpresseamtes. Bis 1940 finden Kolonialausstellungen in Chemnitz, Köln, Wiesbaden, Nürnberg, Freiburg, Eisenach, Königsberg und Meersburg statt. Von den National sozialisten werden eine Reihe von Kolonialfilmen in Auftrag gegeben, wie: «Die Reiter von DeutschOstafrika» (1934), «Kongo Express» (1939), «Carl Peters» (1941). Die kollektive Amnesie, die mit dem Versäumnis einhergeht, die Berliner Sammlungsgeschichte in keinster Weise im Kontext des deutschen Nationa lismus, Imperialismus und seiner Kolonialge schichte öffentlich zu diskutieren, blieb von Intel lektuellen und Künstlern/-innen nicht unkommentiert. Im Jahr 2009 schrieb die Gruppe Alexan dertechnik zur Ankündigung einer öffentliche Protestveranstaltung: «Alle bisherigen Verlautbarungen der Federführenden lassen erkennen, dass es bei dem Humboldt-Forum nicht um eine Reflexion der Gewalt geht, die im Zuge des Kolonialismus von Europa aus auf den Rest der Welt ausgeübt wurde. Vielmehr wird Andersheit ontologisiert, die zur Souveränitäts- und Kosmopolitismusdemonstration der Ausstellernation dient. [...] Ausgerechnet in einem solchen Zusammenhang (Berliner Schloss) sollen nun ‹Kulturschätze› aus aller Welt zur Demonstration von Weltoffenheit der selbsternannten ‹Kulturnation› dienen. Eine derartige Rekontextualisierung an diesem symbolisch aufgeladenen Ort in direkter Nachbarschaft zur Museumsinsel mit ihren Sammlungen ‹klassischer Hochkulturen› nennen wir eine Instrumentalisierung nichteuropäischer Künste und Kulturen.» 16 Necropolis
Schau ich abends aus dem Fenster meiner Kreuz berger Wohnung, sehe ich einen Strom junger Hostelbewohner/innen und frisch Zugezogener mit Bierflaschen in der Hand über die Oberbaumbrücke ziehen. Manche Nacht lässt mich der Lärm der auf dem Asphalt zerschellenden Flaschen nicht schlafen. Tagsüber schlendern Berlin-Besucher/ innen aus aller Welt durch den Kiez und bestaunen Multikulti, gehen indisch essen und besuchen das letzte Fragment der Mauer auf der anderen Spree uferseite. Zum 50. Jahrestag des Mauerbaus wird in einer Ausstellung im öffentlichen Raum daran erinnert, dass hier vor 1989 Kinder, die am Ufer auf der Kreuzberger Seite spielten, und Menschen, die von der Friedrichshainer Seite in den Westen zu flüchten versuchten, wegen unklarer Zustän digkeiten in der Spree ertranken. Den Berlintouris ten wird auf Schautafeln vermittelt, dass die U-Bahn am Schlesischen Tor endete und dieser Teil der Stadt ein Dead End, eine Sackgasse war. Was dies für den Stadtteil bedeutete, wird nicht erzählt. Kaum ein Westberliner wollte nach 1961, nachdem es Grenzgebiet wurde, hierherziehen. Die Stadtre
gierung hat in den sechziger Jahren den Zuzug von Arbeiter/innen – vor allem aus der Türkei – in sektorengrenznahe Stadtviertel wie Kreuzberg 36 oder den Wedding gefördert. Nach Kreuzberg kamen auch Studenten, Marxisten, Hippies, Punks und Autonome aus Westeuropa und den USA. Auf Grund der Wohnlage und ihren niedrigen Mietpreisen konnte sich auf der Westberliner Insel ein alternativer Lebensraum entwickeln. Junge Berliner und zugezogene Männer aus Westdeutschland waren bis 1989 von der Pflicht ausgenommen, ihren Kriegsdienst absolvieren zu müssen. Dieser Sonderstatus Westberlins war einerseits Effekt des Mau erbaus, andererseits einem (bis heute) fehlenden Friedensvertrag geschuldet. Die Gedenktafeln erinnern nicht daran. Sie erinnern auch weder an die Internationale Bauausstellung in den 1980er Jahren, welche den Görlitzer Park und neue Mo delle für den sozialen Wohnungsbau hervorbrachte, noch an die Hausbesetzungen, die Teil der MauerGeschichte sind. Durch die kürzliche Umbenennung der Uferstrasse (Gröbenufer) an der Spree durch die zivilgesell schaftliche Initiative «Berliner Entwicklungspoliti scher Ratschlag» weiss ich nun, dass in diese 1891 angelegte Uferstrasse 1895 eine Anlegestelle für Ausflugsschiffe integriert worden war, woraufhin sie fortan «Gröbenufer» genannt wurde.17 Otto Friedrich von der Groeben hatte 1683 als Leiter einer Westafrika-Expedition im Auftrag des Grossen Kurfürsten die brandenburgische Kolonie Gross Friedrichsburg im heutigen Ghana gegründet, von wo aus über 30‘000 afrikanische Menschen zur Sklavenarbeit in die Karibik und nach Europa verschifft wurden, unter ihnen viele, die den Transport oder die Sklaverei nicht überlebten.18 Die zivilge sellschaftliche Initiative «Berliner Entwicklungspo litischer Ratschlag» konnte nach langwierigen politischen und medialen Auseinandersetzungen eine Umbenennung der Strasse von Gröbenufer in May-Ayim-Ufer durchsetzen. May Ayim war Dichterin und Aktivistin der Afrodeutschen Bewe gung.19 Die Zusammenhänge zwischen kolonialer Herr schaft und heutigen Globalbeziehungen sichtbar zu machen ist zu einem gesellschaftlich umkämpften Feld geworden, in dem gerade kleine zivilgesell schaftliche Organisationen und künstlerische Interventionen an Bedeutung gewonnen haben. Aus der Stadtteilarbeit und der Bewegung der Ge schichtswerkstätten der 1970er Jahre sind Initiati ven hervorgegangen, die den städtischen Raum als Ort der Geschichtsschreibung verstehen und mit mobilen Ausstellungen direkt vor Ort intervenie ren. Heute ist dies aber auch – nicht nur in Kreuz berg-Friedrichshain – Teil einer Vermittlungsstrate gie der offiziellen Stadt- und Staatspolitik geworden, die wesentlich zum boomenden Kulturtouris mus beiträgt. Parallel dazu sind in der zeitgenössi schen Kunst historische Bezüge – wie etwa in Cyprien Gaillards Arbeit und anderen - zum Mate
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rial künstlerischer Intervention geworden. Diese Entwicklungen sind im Kontext der Historisie rungswelle zu verorten, an der Stadtteilinitiativen, Stadt- und Staatsregierungen beteiligt sind und in deren Rahmen die gesamte Stadt zur Ausstel lung, zu einem «Living Museum» wird. Allen voran steht in dieser Entwicklung die UNESCO und ihr «Weltkulturerbe»-Programm, das seit 1972 aktiv ist und heute ganze städtebauliche Ensembles oder gar kulturelle Praktiken unter «Schutz» stellt: Von der Bauhaus-Architektur in Tel Avivs Innenstadt über Berlins Museumsinsel bis zum Sound am Platz Djemaa el Fna in Marrakesch werden Orte zu lebenden Museen. Da mit dem Label Weltkulturoder Weltnaturerbe ein grosser touristischer Mehr wert einhergeht, konkurrieren weltweit Städte und Regionen darum, ihr «Welterbe» als schützens wert labeln zu lassen. Durch diese Historisierungsund Musealisierungstendenz der letzten 30 Jahre ist die Frage, wer Geschichte schreibt und was beschrieben wird, was geschützt und was zerstört wird, zu einem antagonistischen Feld geworden. In ihm werden zunehmend heftigere Auseinander setzungen zwischen hegemonialen und marginalen Erzählungen und Akteuren geführt und geführt werden müssen. Marion von Osten ist Künstlerin, Autorin und Ausstellungsmacherin.
Gründungsmitglied von Labor k3000 Zürich, kpD (kleines postfordisti sches Drama) und CPKC (Center für Post-Colonial Knowledge and Culture), Berlin. Von 2006-2012 Professorin an der Akademie der Künste Wien. Von 1999-2006 Professorin und Forscherin am Institut für Theorie der Gestaltung und Kunst an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich. Von 1996-98 Kuratorin an der Shedhalle Zürich; Publikationen (Auswahl): «Colonial Modern» (mit Tom Avermate & Serhat Karakayali), 2010; «Das Erziehungsbild» (mit Tom Holert), 2010; «Projekt Migration» (mit Kölnischer Kunstverein et al), 2005; «Norm der Abweichung, T:G 04», 2003, «MoneyNations» (mit Peter Spillmann), 2003; «Das Phantom sucht seinen Mörder. Ein Reader zur Kulturalisierung der Ökonomie», (mit Justin Hoffmann), 1999. Dieser Text basiert auf einem Katalogbeitrag zur Ausstellung «The Recovery of Discovery» von Cyprien Gaillard in KW Contemporary Art Berlin, 2011.
1 Marion Schlag: Berlin baut auf Kulturtourismus, 22. Oktober 2009.
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Siehe: http://www.ahgz.de/regional-und-lokal/berlin-baut-auf-kultur tourismus,200012169348.html Letzter Zugriff 22.5.2012 Siehe: http://www.museumsinsel-berlin.de/ Letzter Zugriff 22.5.2012 Siehe http://www.preussischer-kulturbesitz.de/deutsch/projekte/ museumsinsel.php?navid=50 / Letzter Zugriff 21.7.2012 Geheimes Staatsarchiv Preussischer Kulturbesitz, TA I HA Rep. 89 Nr. 14456 Bl. 191-196. Vgl. Max Kunze, Der Pergamonaltar. Seine Geschichte, Entdeckung und Rekonstruktion, Mainz 1995.; Eleonore Dörner, Friedrich Karl, Von Pergamon zum Nemrud Dag. Die archäologischen Entdeckungen Carl Humanns, Mainz [1989] 1991 Wolf-Dieter Heilmeyer (Hg.), Der Pergamonaltar. Die neue Präsenta tion nach Restaurierung des Telephosfrieses, Berlin/Tübingen 1997. Vgl. Hartmut Böhme, Georg Toepfer (Hg.), Transformationen antiker Wissenschaften (Transformationen der Antike, Bd. 15) Berlin/New York 2010.; Horst Bredekamp, Antikensehnsucht und Maschinen glaube. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin 1993. Der Bau der Strecke fand unter massgeblicher Beteiligung des Baukonzerns Philipp Holzmann AG, der Friedrich Krupp AG, Borsig, Cail, Hanomag, Henschel und Maffei statt. Siehe: Johann Manzenrei ter: Die Bagdadbahn als Beispiel für die Entstehung des Finanzimperi alismus in Europa (1872–1903). Bochum 1982 (Bochumer historische Studien, Neuere Geschichte, 2). Vgl. Mehmet Beşirli, Die europäische Finanzkontrolle im Osmani schen Reich der Zeit von 1908 bis 1914. Die Rivalitäten der britischen, französischen und deutschen Hochfinanz und der Diplomatie vor dem ersten Weltkrieg am Beispiel der türkischen Staatsanleihen und der Bagdadbahn, Berlin 1999.; H. S. W. Corrigan, German-Turkish Relations and the Outbreak of War in 1914: A Re-Assessment, in: Past and Present 36, April 1967, S. 144-152.; Dirk van Laak, Imperiale Infrastruktur. Deutsche Planungen für eine Erschliessung Afrikas 1880 bis 1960, Paderborn 2004. ;
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Shereen Khairallah, Railways in the Middle East 1856-1948: Political and Economic Background, Beirut 1991. 10 Siehe: Benno Bickel: Mit Agatha Christie durch die Schluchten des Taurus. Die Bagdadbahn im Spiegel der Literatur und des Reisebe richts. in: Jürgen Franzke (Hrsg.): Bagdadbahn und Hedjazbahn. Deutsche Eisenbahngeschichte im Vorderen Orient, Nürnberg 2003. S. 120–124. Diese Reisetätigkeit beinhaltete vor allem Bildungs- und Forschungsreisen. Schon im 19. Jahrhundert sendeten Professoren der École des Beaux-Arts in Paris ganze Generationen von Studierenden in den mediterranen Raum, um dort nicht nur die antiken Stätten, sondern auch die unterschiedlichen Bauweisen und Baustile zu kartieren. Diese orientalistische Fixierung auf mediterrane, arabische und asiatische Baukulturen schloss dabei nicht nur Herrschaftsarchi tektur mit ein, sondern auch profane Bauensembles und vernakuläre Bauten, die einen massgeblichen Einfluss auf den Modernismus haben sollten. Bildungs- und Forschungsreisen nach Nord-Afrika und den Nahen Osten prägten so einerseits die Formensprache der «weissen Kuben», andererseits, wie der Künstler Kader Attia anhand Le Corbusiers Reise nach Algerien zeigt, auch das Verständnis von modernem Städtebau. 1911 hatte der junge Le Corbusier, wie viele andere vor ihm, mit einer klassischen Grand Tour nach Italien, Griechenland und Kleinasien seine Reisetätigkeit und vernakuläre Stadtforschung begonnen. Siehe: Kader Attia, Signs of Reappropria tion, in: Colonial Modern. Aesthetics of the Past. Rebellions for the Future, hg. v. Tom Avermaete, Serhat Karakayali, Marion von Osten, London 2010.; Bernd Nicolai, Anna Minta (Hg.), Modernity and Early Cultures. Reconsidering non western references for modern architecture in a cross-cultural perspective (Neue Berner Schriften zur Kunst, Bd. 12), Bern 2011. 11 Robert Koldewey, Die Tempel von Babylon und Borsippa: nach den Ausgrabungen durch die Deutsche Orient-Gesellschaft, (Ausgrabun gen der Deutschen Orient-Gesellschaft in Babylon, Bd. 1), Leipzig 1911, S.36. 12 In den von den USA mit Beteiligung von NATO Mitgliedsstaaten geführten Irakkriegen 1990/91 und 2003 wurde immer wieder auch die Angst um die Museumsbestände im Irakmuseum, um «das Erbe der Menschheit», laut. Das heutige Nationalmuseum des Irak in Bagdad wurde 2009 für einen Tag wiedereröffnet. Der Wiederaufbau wurde zu einem transnationalen Vorhaben von hohem politischem Rang unter Beteiligung der Vereinten Nationen. 13 Vgl.Edward Said, Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht, Frankfurt am Main, 1994. Koldewey gilt nicht nur als der massgebliche Archäologe für die Ausgrabungen der Ziegelfragmente der Wände des Ischtar-Tors und der davor liegenden Prozessionsstrasse, die auch heute noch in Berlin am Kupfergraben steht, sondern auch als Begründer der modernen historischen Bauforschung. Er war eng mit dem Leiter der Hamburger Kunsthalle Alfred Lichtwark im Austausch, der massgeblich an der Durchsetzung der modernen Kunst in Deutschland beteiligt war. 14 Siehe: http://www.humboldt-box.com/; Letzter Zugriff 22.5.2012 15 Siehe: http://www.humboldt-forum.de/ http://berliner-schloss.de/ Letzter Zugriff 22.5.2012 16 Siehe: http://www.humboldtforum.info/ Letzter Zugriff 22.5.2012 17 Hans-Jürgen Mende (Hg.), Lexikon ‹Alle Berliner Strassen und Plätze› – Von der Gründung bis zur Gegenwart, Band 2, Berlin 1998, S. 145. 18 Vgl. Ulrich van der Heyden, Rote Adler an Afrikas Küste. Die brandenburgisch-preussische Kolonie Grossfriedrichsburg in Westafrika [1993], Berlin 2001 19 Vgl. May Ayim, Die afro-deutsche Minderheit [1997], in: AfrikaBil der. Studien zu Rassismus in Deutschland, hg. v. Susan Arndt, Münster 2001, S. 71-86.; Hannes Loh, 20 Jahre ‹Afrodeutsch›. Ein Exkurs über Sprache, Hiphop und Verantwortung, auf: http://www. intro.de/kuenstler/interviews/23013581/20-jahre-afrodeutsch-einexkurs-ueber-sprache-hiphop-und-verantwortung, 19. Februar 2003.
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Strandenburg
T ropica l Isl a n ds u n d die K o l o n i s i e r u n g d e s Sp r e e wa l d e s Von Jochen Becker Mit «In Staub mit allen Feinden Brandenburgs» endet das Theaterstück Prinz von Homburg. Der Berliner Dichter Heinrich von Kleist, der sich 1811 am Wannsee aus Liebe erschoss, kennzeichnet so die Wüste rund um die Grossstadt. Staubiger Boden, Streusandbüchse, No-go-Area für Auslän der1, so heisst es aus der Metropole, als wäre dort die Brandenburger Variante des Italo-Western ausgestellt. Hier wurde nahezu alles in den Heidesand gesetzt. Nicht nur im übertragenen Sinn: Grossflughafen Jüterborg, Lausitz-Ring (später EuroSpeedway), Landesentwicklungsgesellschaft Brandenburg, Chipfabrik und nun First Solar in Frankfurt/Oder oder die Fertigung von CargoLifter genannten Lastenzeppelinen – sie alle sind nur einige der gross angelegten Pleiteprojekte, mit der die bran denburgische Landesregierung ihre längst revidierte dezentrale Entwicklungspolitik in Beton giessen liess. Und auch das Tropical Islands, zukunftsge wandt gleich mit einem nach Filialen rufenden Plural-s ausgestattet, ist keineswegs gesichert. «Ein Traum, was sonst?», antwortet Obrist Kottwitz. Prinz Friedrich Arthur von Homburg wird ohn mächtig. Brand in Brandenburg
«Blühst du, Zukunftszeit, / uns nach bittrem Leid?» aus: Lausitzhymne, die inoffizielle Hymne der Region Die Tropical Islands liegen eine Regional-ExpressStunde vom monumental-neuen Berliner Haupt bahnhof entfernt. Schon Minuten vor der Ankunft kann man den Hangar sehen. Die Bahnsteige der Haltestelle Brand – ich war erstmals parallel zur Fussball-WM 2006 dort – wurden gerade renoviert, doch der Bahnhof wirkt dauerhaft geschlossen. Die einst für die Holzabfuhr errichtete Station steht mitten im Wald. Ein kostenloser Bus wartet halbstündlich auf Transfergäste. Über die neue Brücke, die Tropical Islands mit der nahen Autobahn Richtung Berlin, Dresden und Schlesien verbindet, führt eine gerade Piste bis zur Abzweigung. Hier war einmal militärisches Sperrgebiet, zuletzt sowjetisch regiertes No-goAreal. Insofern ist hier durch privatwirtschaftliche Initiative nach über siebzig Jahren wieder allgemein zugänglicher Raum entstanden. Tropical Islands versprechen inmitten von Wäldern und Seen eine zweite Natur «ohne Schliesszeiten», jedoch gegen Eintrittsgeld. Die ehemalige CargoLifter-Montagehalle für den Riesenzeppelin steht inmitten eines gewaltigen, aus
dem Wald frei geschlagenen Areals. Hier war seit 1938 ein Flughafen angesiedelt: Erst «Flugzeug führerschule», dann Standort für Transportflug zeuge und Jägerstaffeln im Zweiten Weltkrieg und ab 1945 grösster Militärflughafen der DDR, der vor allem der sowjetischen Armee zu dienen hatte. Ein für den Massenbetrieb weiträumig angelegtes Zufahrtssystem mit Parkplätzen führt zum hinter der Halle verborgenen Eingang. Am Waldrand lassen sich künstliche Hügel erkennen, mit Gras überwachsene Bunker für die Militärjets. Die doppelten Landebahnen verschwinden Richtung Bahnlinie hinter einer Geländewölbung. Ansonsten ist das ehemalige Militärgelände blank geräumt von den sogenannten Altlasten. Hierfür ist das Land Brandenburg schon ein erstes Mal in Vorleistung getreten und hat – als die Rote Armee den Besatzungsstatus auflöste und nach Osten in die bröckelnde Staatengemeinschaft GUS abzog – von Munitionsresten über Schrott bis zu Kero sintanks eine Menge weggeschafft. Geschichtslos wirkt die dekontaminierte Gegend, da deren Ent stehung aus dem Kalten Krieg sich kaum mehr ablesen lässt. Das Tropical-Islands-Entrée wirkt erst einmal merkwürdig banal: die Vorhalle ein leeres Feld, dann ein verlassener Infostand zum Spreewald, das alte Modell der CargoLifter-Halle, ein paar Sitzgelegenheiten. Beim Umkleiden spricht neben mir eine Familie polnisch – oder ist es das slawische Sor bisch, das noch einige Menschen in der Lausitz beherrschen? Wie weit reicht eigentlich das Einzugsgebiet? Die Grenze zu Polen ist ja nicht weit. In den Presseankündigungen wurde der Billigflug hafen Berlin-Schönefeld als Frequenz-bringer für Tropical Islands imaginiert und somit das Einzugs gebiet auf easyJet-Destinationen ausgeweitet. In der Realität aber scheinen die Besucher/innen an den Wochenenden, Brückentagen und zur Ferien zeit aus Berlin, Brandenburg und Sachsen zu kommen. Es fällt zu Beginn nicht leicht, sich in der Halle zu orientieren. Man muss schon eine grosse Runde um den mit allerlei tropischen Gewächsen bestück ten Hügel in der Mitte machen, um schliesslich in die Umkleide darunter zu verschwinden, die mit ihrer kargen Ausstattung und den metallenen Reihen der über 6‘000 Schränke wie ein Parkhaus oder die Datenzentrale einer Bank wirkt. Dann geht es durch ein Schultreppenhaus einen Stock höher, von wo die Empore den Blick auf den grossen See öffnet.
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Hier endet das Schwimmbad meiner Jugend und geht in ein Erlebnisbad über – nur alles etwas grösser als üblich. Gleich verirren wir uns im Tropenwald, dessen Weg in Windungen gelegt ist, damit er auf einen Kilometer Länge kommt. Es zirpt und kreischt etwas verhalten aus Lautsprechern, und auch die Sprink ler der automatischen Bewässerungsanlage kann man gut erkennen. Von hier aus waren im Sommer 2006 noch die Erweiterungs-Bauarbeiten beim Eingang zu sehen, wo eine Saunalandschaft mit Wellness-Angeboten und Kinderspielbereich entstehen sollte. Im Jahre 2005 hatte das Land Brandenburg hierfür einen zusätzlichen Förderbe trag von 15 Millionen Euro bereitgestellt.
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Unterer Spreewald
«Die erste Generation arbeitet sich tot, die zweite leidet Not, die dritte findet Brot.» Spruch aus der Zeit der Kolonisierung des Spree waldes Brandenburg ist sandig, aber mancherorts auch ein Sumpf, der erst trockengelegt werden musste. Die grossen Besiedlungswerke der Könige Friedrich Wilhelm I. und seines Nachfolgers Friedrich der Grosse haben im 17. und 18. Jahrhundert das Land mit Kanälen trockenlegen lassen. Die planmässige Kolonisierung sollte der dünn besiedelten Gegend Bedeutung verschaffen, hatte man doch erkannt,
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dass nicht nur die Eroberung immer neuer Terrains, sondern auch «die Zahl der Untertanen den Reich tum des Staates ausmachen», so Friedrich II. Neben des Spreewalds wurde der Oderbruch sowie in der Prignitz und im Havelland kolonisiert. Die «Volkszahl des Landes durch Ansiedlung von Ausländern zu erhöhen», forderte schon der Vater Friedrich Wilhelm aus dem Hause Hohenzollern und liess französische Hugenotten, Schweizer, Niederländer, Juden, Sachsen, Schlesier oder Böhmen anwerben: «Menschen halte ich vor den grössten Reichtum.» Gegen «Freyheiten, Privile gien, Geld und andere Notwendigkeiten» sollten sie die «friedliche Eroberung neuer Dörfer» voran treiben: Brandenburg wurde zur staatlich verordne ten To-go-Area. Dies stiess bei den bisher dort Lebenden, die im Unterschied zu den Neusiedlern keine Begünsti gungen erhielten, nicht immer auf Gegenliebe. Anfangs kamen die Neusiedler und Abenteurer in eine wüste Gegend, so dass viele schon bald um kehrten. Sie hausten in Bretterbuden, das Land war unerschlossen, ähnelte einem Urwald, und es fehlten Wege sowie Brücken. Andererseits suchte die lokale Bevölkerung – trotz Verbot – hier eben falls neues Land und siedelte heimlich. Nur wenn es gelang, über Nacht ein Haus zu errichten, wurde es von den «königlichen Förstern» nicht wieder abgerissen.2 Entzündet brachten Kienspäne oder getrocknete Quappen – eine besonders ölige Fischsorte – etwas Licht in die Stuben. Die sandige Heide war schon bebaut, so dass nur mehr die sumpfigen Spreetäler und der wildge wachsene staatliche Forst als Siedlungsfläche blieben. Die Pionierarbeit in den Spreewäldern war mit extremer körperlicher Arbeit verbunden. So mussten die Areale gerodet, Blockhäuser als grobe Behausung errichtet und gegenüber dem Hochwas ser erhöhte Ackerplätze errichtet werden. Erst im 19. Jahrhundert gab es ein System aus Wegen und Brücken; bis dahin balancierte man über quer gelegte Baumstämme oder schipperte Vieh und Gut mit den nun touristisch genutzten Spreewaldkäh nen heran. Da alles herangeschafft werden musste, waren die Spreewald-Siedler weitgehend auf Selbstversorgung angewiesen. Auch an Schulbe
such war nicht zu denken, einerseits wegen der weiten Wege, aber auch, weil die Arbeitskraft der Kinder gebraucht wurde. Friedrich Wilhelm I. machte sich deshalb grosse Sorgen um «seine ungebildeten Kinder» und liess zahlreiche Schulen bauen. Hier sollten die Kinder zu Preussen erzogen werden. Bei der Eröffnung in Brand sprach der Landesmi nister für Wirtschaft die Hoffnung aus, dass Tropi cal Islands das Reiseland Brandenburg international bekannt mache. Radelt man die ehemalige Militärtrasse weiter entlang der leer stehenden Wohngebäude bis zur anderen Seite des vormals
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abgesperrten Areals hinaus nach Krausnitz, so ist der Untere Spreewald nicht mehr weit. Zu Zeiten eingeschränkter Reisemöglichkeiten mach ten die Bürger der DDR hier Ersatz-Urlaub. Der Teufel habe, so die Sage, die Gewässer dort geschaffen: «Er pflügte mit zwei schwarzen Ochsen und lautem Gebrüll. Das ging schwer, die Ochsen kamen nicht so recht vom Fleck. Da nahm der Teufel seine Mütze und warf sie vor Wut nach den Ochsen. Die sprangen vor Schreck kreuz und quer – darum ist die Spree heute so krumm und so stark verzweigt.»3 Die hier deltaartig mäandernde Spree wurde zum Fischen und als Transportweg, im Mittelalter auch zur Anlage von Wassermühlen und Hammerwerken genutzt. Oft zweimal im Jahr traten der Fluss und somit auch dessen zahllosen Verästelungen über die Ufer und überschwemmten weite Teile. Mit der zunehmenden Nutzung des inneren Spreewaldes entstand deshalb im Laufe von zwei Jahrhunderten ein dichtes Netz von Kanälen und befestigten Gräben. Soweit erforderlich, wurden Stichkanäle als Verbindungswasseradern zur wirtschaftlichen Erschliessung des Landes geschaffen. Nassböden wurden beseitigt und die schwer zugänglichen Wälder aufgelockert, um die hydrologischen Bedingungen zu verbessern. Heute besteht der Spree wald nur mehr aus 40 Prozent Wald und immerhin 60 Prozent Wiesen und Felder. In den 1930er Jahren wurden über 100 Wehr- und Stauanlagen gebaut, angeordnet in sogenannten Staugürteln. Zur gleichen Zeit begannen die Spree wäldner, durch den Bau von Hochwasserschutz deichen und Umflutern grosse Areale aus der ursprünglichen Überflutungsfläche auszugliedern und sie intensiv landwirtschaftlich zu nutzen. Diese den Poldern in den Niederlanden vergleich baren Massnahmen wurden in der DDR bis in die 1980er Jahre fortgesetzt. Südlich des Spreewalds entstanden durch die Anlage grosser Braunkohle-Fördergruben seit den 1930er Jahren weitere tiefe Eingriffe in der Land schaft und ihren Wasserwegen. Für den Aufschluss der Tagebaue wurden über 500 Orte bzw. Ortsteile abgebaggert, ein Grossteil davon mit sorbischer Bevölkerung. Nun lässt sich diese Schufterei als Freizeitspass erleben: Die Internationale Bauausstellung SEE 4 füllt geflutete Braunkohlegruben zu einer weitläufig arrangierten Wasserlandschaft auf. Auch der Spreewald und die Wasserwege mit einer Gesamtlänge von fast 1‘600 Kilometern sind verwuchertes Ergebnis harter Arbeit: Wo früher Holz geflösst wurde, sind nun Ausflügler auf den zahlreichen von Gondolieri vorangeschobenen Spreewaldkähnen oder per Paddelboot unterwegs. Das Biosphären reservat Spreewald wird durch Re-Naturierung von Auen, Mooren und Fliessgewässern künstlich aufrechterhalten. Bis 2013 sind über 100 Massnah men für knapp 7 Millionen Euro geplant. Musste früher die Natur gebändigt werden, soll sie jetzt in
einem weiteren Schritt wieder in ihre vermeintliche Ursprungsgestalt zurückverwandelt werden. Waren früher die unberechenbaren Hochwasser das grösste Problem, ist es nunmehr der Wasser mangel. In den 1960er bis 1980er Jahren wurden zur Trockenlegung der Lausitzer Braunkohlen gruben grosse Mengen Grundwasser abgepumpt und über die Spree abgeleitet. Die Gruben des stillgelegten Tagebaus werden zurzeit zu touristischen Landschaften umgewandelt und mit Wasser auf gefüllt, das wiederum aus der Spree abgezweigt wird. Das neue Lausitzer Seengebiet verändert den Wasserhaushalt der gesamten Region auf Dauer. Durch die Staugürtel können die Wasserstände zwar weitgehend gehalten werden, so dass die Touristen den Wassermangel kaum bemerken. Aber vor allem in Trockenzeiten gehen die Fliessgeschwindigkei ten stark zurück, die vormals für die natürliche Reinigung der Gewässer gesorgt hatten. Heute sorgen dreizehn Stauwärter dafür, dass die Wasser stände an den Wehren gewährleistet sind. Selbst der einstige Fischreichtum – die Quappe als typi sche Fliessgewässerfischart war vor 100 Jahren billiger als Brot – muss heute durch zusätzlichen Fischbesatz gestützt werden. Touristisches Zentrum des Unterspreewaldes ist die Gemeinde Schlepzig.5 Der Ortsname stammt aus dem Wendischen «Sloupisti» und bedeutet Pfahl, da die ersten Behausungen auf Pfählen errichtet wurden. Zweisprachige Ortseingangsschilder und Wegweiser markieren, dass hier einmal sorbisch (wendisch) gesprochen wurde. Im Zuge der hoch mittelalterlichen Ostsiedlung wurde das sorbisch/ wendische Siedlungsgebiet fest in das Deutsche Reich integriert. Der kolonisierte Osten Branden burgs – die Hohenzollern siedelten zwischen 1680 und 1780 gezielt deutsch sprechende Bevölker ungen an – sollte als Puffer zu den slawischen Regionen dienen, während sich die wendische Bevölkerung vor den «Preussen» in die unfruchtbaren Sand- und Sumpfebenen von Spree und Dahme flüchtete. Hier ist Brandenburg inneres Ausland, das zumin dest noch im 16. Jahrhundert exterritorial auftrat. Die deutschen Herren verordneten Sprachverbote und Beschränkungen für den Einzug in Städte, schufen eine Gettoisierung in Gestalt von «Wenden gassen» und verboten den Beitritt von Sorben in Zünfte. Martin Luther sprach gar abfällig über «die schlechteste aller Nationen». Mit der Industriali sierung nach 1871 schwand die sorbische Sprache, die als Zeichen für Rückständigkeit und Armut galt.6 Deutsche Tropen
«… und dass die tropische Sonne in Brand niemals untergehe» Brandenburgs Ministerpräsident Platzeck zur Eröffnung von Tropical Islands
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Die von Landschaftsplanern gesetzten «Palmen auf Heidesand» im Tropical Islands und der «Spree wald-Dschungel» sind so künstlich wie die Wirt schaftswunderzone Dubai mit ihren palmenförmig aufgeschütteten Inseln vor der Küste. Die Tropen im häufig bitterkalten Brandenburg verschwenden ebenso Energie wie die Skipisten7 in der arabischen Wüste. Während es im schwülheissen Sommer in Dubai ohne künstliche Paradiese nicht auszuhal ten ist, bleibt der Winter in Ostdeutschland ohne Schutzhülle schwer erträglich. Wer das Echte sucht, ist hier fehl am Platz: «In der Lausitz wird die Landschaft nicht geschützt und bewahrt, sondern neu gemacht»8, heisst es über die ausgedehnte und mit Kanälen verknüpfte Seenplatte im ehemaligen Braunkohle-Gebiet südlich des Spreewaldes. Zur Eröffnung von Tropical Islands, kurz vor Weihnachten, wünschten der von der Geschäftsfüh rung zurückgetretene Investor Colin Au sowie Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck Tropical Islands, dass die tropische Sonne in Brand niemals unterginge. Schon Kaiser Wilhelm II. wollte dem deutschen Reich mittels Kolonien einen «Platz an der Sonne» verschaffen. Colin Au selbst verfasste zum Auftakt von Tropical Islands eine ganz erstaunliche Revue: Sein ‹Ruf der Südsee› führt durch die Inselwelt zwischen Samoa und Fidschi� und reicht von der Besiedlung der Inseln bis hin zur Kolonialzeit. Diese Tanzshow der Kolonisierung im Spreewald unweit der alten Kolonialmetropole Berlin ist nicht ohne Ironie, besiedelte doch das Deutsche Reich nicht nur den Spreewald, sondern später auch Teile der Südsee. So war (West-)Samoa, dem Au jeden dritten Tanz der «grössten Polynesien-Show Europas» widmete, von 1899 bis 1919 im Kolonialbesitz des Deutschen Reichs. Die Inselgruppe im Südpazifik war Schauplatz eines Machtkampfs zwischen den Kolonialmächten des Nordens. Zwischen 1839 und 1861 wurden im Königreich Samoa amerikanische, britische und deutsche Konsulate eröffnet. Für die seit 1865 angelegten deutschen Kokosplantagen importierten die Deutschen chinesische und melanesische Arbeitskräfte. 1878/79 schlossen die USA, Deutsch land und Grossbritannien Handelsverträge mit dem Königreich, und 1884 besetzen deutsche Marinesoldaten die westsamoische Hafenstadt Apia. 1888 widersetzten sich von den USA mit Waffen versorgte Aufständische den deutschen Truppen. Nur ein Hurrikan, der 1889 die Kriegsschiffe von Grossbritannien, Deutschland und den USA vor den Samoa-Inseln zerstörte, verhinderte einen Krieg zwischen den Kolonialmächten. Mit der Samoa-Akte von Berlin wurden die langjährigen Machtkämpfe beigelegt, und es entstand ein formal unabhängiges Königreich unter einer gemeinsamen Verwaltung der drei Mächte. 1899 einigte man sich auf die Abschaffung der Monarchie und die Zweiteilung der Inselgruppe zwischen Deutschland und Amerika. Grossbritan
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nien verzichtete im Samoa-Vertrag auf alle Rechte, wurde aber durch andere pazifische Inseln wie Tonga oder Teile der Salomonen entschädigt. West-Samoa (hauptsächlich die Inseln Sawaii und Upolu) galt nun als deutsches Schutzgebiet «Deutsch-Samoa». 1919 verlor das Deutsche Reich alle seine Kolonien und zog sich somit auch aus dem Südpazifik zurück. Heute leben noch etwa 5‘000 Ausländer in Samoa, was etwa dem Anteil zur Kolonialzeit (damals etwa 24‘000 Samoaner, ca. 300 Deutsche und 300 andere Ausländer) ent spricht. Das «Beste der Tropen», wie es im Pressetext von Tropical Islands heisst, hat also zumindest zum Auftakt eine ganz aussergewöhnliche Geschichtsre ferenz eingebaut. Und das in einem Land, das sich seiner kolonialen Taten kaum mehr gewahr ist. Natürlich passt das am Ende auch alles nicht mehr auf eine Postkarte aus dem Merchandising-Shop, die «Liebe Grüsse aus Strandenburg» wünscht. Jochen Becker arbeitet als Autor, Dozent und Kurator in Berlin. Er
war Mitbegründer von BüroBert. Becker ist Mitherausgeber von «Copyshop - Kunstpraxis & politische Öffentlichkeit» (Edition ID-Archiv, 1993), «geld.beat.synthetik - Abwer ten (bio)technologischer Annahmen» (Edition ID-Archiv, 1996) «Baustop. randstadt,- #1» (Hg. NGBK Berlin, 1999). Herausgeber von «BIGNES? – Grösse zählt, Image/Politik, Städtisches Handeln» (b_books, 2001, Kooperation Internationale Kurzfilmtage Oberhausen). Gemeinsam mit Stephan Lanz «Metropolen» (2001) sowie die metroZo nes-Buchreihe «Space//Troubles» (2003), «Hier Entsteht» (2004), «Self Service City: Istanbul» (2005), «City of COOP: Buenos Aires/Rio de Janeiro» (2004), «Kabul/Teheran 1979ff» (2006), «Architektur auf Zeit» (2006), «Verhandlungssache Mexiko Stadt» (2008) und «Funk the City» (2008). 2009 Gründung der Buchreihe «metroZones/media» mit den geplanten Titeln «Made in Nollywood», «Staging Kabul», «EuroMaps» und «Roaming Around». 2011/2012 Projektreihe «Global Prayers - Erlö sung und Befreiung in der Stadt» zu neuen religiösen Bewegungen in den Metropolen. Ausstellungen, Konferenz und Publikation u.a. NGBK und Haus der Kulturen der Welt Berlin. 1 Halbe, Deutschlands größter Soldatenfriedhof, liegt zwei Bahnstatio
nen vor Brand und war regelmäßig Aufmarschort für Neonazis. Brandenburg wird, wie auch andere Regionen Ostdeutschlands, von People of Colour als No-go-Area bezeichnet. Statistiken zeigen, dass gewalttätiger Rassismus verbreitet ist. 2 Diese brandenburgischen «Nachtschnellschüsse» erinnern an die Gecekondus von Istanbul, den «über Nacht gebauten» illegalen Hüttensiedlungen der 1950er Jahre. Siehe auch Orhan Esen/Stephan Lanz (Hg)‚ Self Service City: Istanbul, metroZones 4, Berlin 2005. 3 www.iba-see.de 4 «Lausitzring EuroSpeedway – Motorsport in der Lausitz ca. 60 km (auch Pleite heisst es auf der Homepage von Schlepzig recht offen. In Waldow jenseits der Autobahn kann man alternativ in Gokarts den «SpreeWaldRing» bezwingen. 5 Im Sorben/Wenden-Gesetz des Landes Brandenburg von 1994 heisst es: «Die sorbische Sprache, insbesondere das Niedersorbische, ist zu schätzen und zu fördern. Der Gebrauch der sorbischen Sprache ist frei.» 6 Als weitere Touristenattraktion der Lausitz kann man im «Snowtropo lis» bei Senftenberg ebenfalls rund ums Jahr Indoor-Ski fahren. 7 «Skaten, Tauchen, Jetski fahren oder mit dem Geländewagen über Abraumhalden heizen: Das Niederlausitzer Revier südlich des Spreewaldes ist ein gigantischer Freizeitpark. Auf dem ehemaligen Tagebau-Gelände entsteht die grösste künstliche Seenkette Europas.» Spiegel Online, 19.7.2006. 8 «Fidschis» lautete in der DDR das Schimpfwort für vietnamesische Kontraktarbeiter, welche die Industrie der 1970er Jahre zu unterstüt zen hatten. Die rassistische Bezeichnung ist weiterhin in Gebrauch.
1/2 Blick in «Europas grösste tropische Urlaubswelt» in einem ehemaligen Luftschiffhangar (Quelle: www.tropical-islands.de)
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Zur Insel machen
At t r a k t o r e n e i n e s globa lisiert en Tou rism us Von Elke Krasny Dieser Essay beruht auf drei aufeinander aufbauen den Überlegungen. Erstens: Historisch beruhen Monumente auf Isolation. Zweitens: Aus Monu menten werden unter den ökonomisierten Bedin gungen der Global Cities Landmarks, die mittels Stararchitektur auf Singularität, Ikonizität und Isolation setzen. Drittens: Aus der gezielten Verbin dung der beiden genannten Strategien resultiert die Museumsinsel. Diese drei Konfigurationen Monument, Landmark und Museumsinsel werden von mir als Raum- und als Denkfigur begriffen. Dadurch werden für die Analyse ihrer öffentlichen Wirkung ihre städtebau lichen und repräsentativen Dimensionen als Ausdruck von ideengeschichtlichen, kulturellen und touristischen Zusammenhängen bedeutsam. In drei Abschnitten Monumente isolieren, Landmarks singularisieren und Museumsinseln attrahieren gehe ich diesen entworfenen Verbindungslinien zwischen Monumenten, Landmarks und Museums inseln nach. Monumente isolieren
Monumente stehen für sich. Sie müssen für sich stehen, um ihre räumliche und symbolische Wir kung entfalten zu können. Die raumpolitische Verpflichtung von Monumenten ist es, Zeugnis abzulegen. Sie müssen wirken, im Hier und Heute, aus jener Zeit kommend, die die Zeit ihrer Errich tung ist und die sie so in sich gespeichert haben, dass die zeitliche Distanz lesbar bleibt, ihre Wir kung sich über die Zeit mit Bedeutungen weiter auflädt. Monumente arbeiten mit ihren Erinne rungswerten, um einen Begriff des österreichischen Kunsthistorikers und Vertreters der Wiener Schule der Kunstgeschichte, Alois Riegl, zu verwenden. Diese Arbeit der Monumente muss durch die Betrachtenden für sie geleistet werden. Dieser notwen dige Raum für die Betrachter/innen, in dem die Monumente ihre Wirkung in die räumliche Nähe durch phyische Imposanz und die zeitliche Ferne durch symbolische Bedeutungsaufladung entfalten, verlangt nach einer leer bleibenden Zone um diese. In diese Zone, die freigehalten werden muss, sind die Menschen, die Öffentlichkeit, die den Auftrag der Monumente, wahrgenommen zu werden, erfüllen, räumlich projiziert. Städtebaulich ist die Öffentlichkeit durch die Leerzone, die Monu mente umgibt, eingeplant. Monumente müssen artikulieren, für wen sie stehen. Dieser durch ihre monumentale Präsenz
verkörperte Auftrag besteht darin, symbolisch und politisch aus der Gegenwart, in der sie errichtet worden sind, in diese zu wirken, aber auch weiter hin aus der vergangenen Gegenwart in die Zukunft, in die Zeit derer, die als Öffentlichkeit erst kommen werden. Diese Mehrzeitigkeit der Monumente markiert die Positionierung von Monumenten. Sie stehen auf Erinnerungsposten. Damit sie diesen Posten halten können, muss mit ästhetischen Strategien operiert werden, die ihrer Demontage vor beugen. Aus diesem Grund wahren Monumente Sicherheits abstand. Um aus ihrer Zeit herauszuragen, müssen sie räumlich überragend werden, ihren Kontext bestimmen und sich von diesem lösen, um nicht in diesem aufzugehen oder unterzugehen. Städtebau lich müssen sich Monumente isolieren. Das wirk same Überdauern der Monumente beruht auf ihrer Isolation von der Umgebung. Monumente sind herausragend. Nimmt man die semantische wie physische Dimension des Heraus ragens wörtlich, so unterstreicht das Herausragende der Monumente ihre Isolation von der Umgebung. Betrachten wir dieses Wort genauer, so teilt isolie ren uns mit, dass es in sich das Wort Insel, «isola», transportiert. Aus dem französischen Verb «isoler» wurde Ende des 18. Jahrhunderts das deutsche Zeitwort «isolieren». «Isolare», italienisch, und «isoler», französisch, bedeutet im Grunde genom men nichts anderes als «zur Insel machen». Das italienische «isolare» bringt dies deutlich zum Ausdruck. Das Substantiv der Insel, «isola», wird zum Verb, zur Aktivität, des «isolare», des «ZurInsel-Machens». Und genau diese städtebauliche und ästhetische Strategie ist es, auf die bei der Konzeption und Errichtung von Monumenten gesetzt wurde: sie wurden zur Insel gemacht. Zur Insel gemacht, setzen Monumente auf strategischen Wirkungsabstand. Landmarks singularisieren
Verfolgen wir die eingeführten Strategien des Monumentalen und des Isolierenden als raumpoli tische Vorgangsweisen der Produktion urbaner Attraktoren in die jüngere und jüngste Vergangen heit, so treten an die Stelle der einstigen Monu mente die Landmarks. Kulturelle Landmark-Archi tekturen setzen auf den Bilbao-Effekt von Frank Gehrys 1997 fertiggestelltem Guggenheim Museum in einer urbanen Problemzone in der spanischen Stadt Bilbao, die mit dem Transformationsprozess ins Postindustrielle schwer zu kämpfen hatte und
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sich als touristische Destination erfinden musste. Gleiches gilt bis hin zu jüngst fertiggestellten Museumsneubauten, die noch demselben Muster der Aufwertung, des Spektakulären und des Ikoni schen verpflichtet sind wie das MAXXI von Zaha Hadid in Rom. Die Repositionierung Roms als Massentourismusmetropole, die durch eine Mit telinks-Regierung in den 1990er Jahren erfolgte, vereinigt die Merkmale der Globalisierung und des Städtewettbewerbs, die in der kulturellen Repositionierung als zeitgenössische Metropole auf Landmark-Architektur setzt. Diese Landmark-Ar chitekturen wirken als isolierte ikonische Zeichen und setzen darauf, nicht nur für die touristischen Besucher/innen, sondern auch für die lokale Bevölkerung lesbar zu sein. Darin zeigt sich, wie die Transformation des Monumentalen zu Land marks zwar die raumpolitische Strategie des Isolierens, des Zur-Insel-Machens, beibehält, ästhetisch jedoch nicht wie historische Monumente als Zeichen der spezifischen lokalen Geschichte und ortsspezifischen Erinnerungsproduktion stehen, sondern als globalisierte Zeichenkulturen, die als Ikonen isoliert von jeglicher Kontextspezifi zität ihren eigenen Kontext erzeugen und diesen auf den jeweiligen Standort projizieren. Diese Stararchitekturinseln, die den Rest der Städte über strahlen, um identitär auf sich selbst zurückzuver weisen, sollen jene Identität hervorbringen, die als Standortmarkierung im globalen Städtewettbe werb für das Einzigartige zu bürgen vermag. Sie reagieren nicht auf ihren Kontext, sondern erzeugen durch dessen Negation ihren eigenen Kontext. Sie schaffen jene mediale und realräumliche Öffent lichkeit, die sie für ihre Wirksamkeit brauchen. Wie wir gesehen haben, verbindet sich das Isolie rende mit dem Ikonischen, das Monumentale mit dem Globalen. Die neuen Monumente der Land marks wirken insulär. Sie sind als Monumente einer globalisierten Gegenwart zu begreifen, die die Städte transurban affiziert und effektiviert, dabei jedoch nicht über die spezifische erinnerungspoliti sche Dimension des Lokalen der Monumente in ihrer ästhetischen Dimension des Gebauten verfügt. Die immer noch notwendige Lokalspezifik der Landmark-Architekturen, die die notwendige Distinktionslogik im internationalen Städtewettbewerb auszeichnet, verlagert sich in die kulturelle Produk tion, die im Inneren dieser neuen Museen stattfin det. Zum einen zirkulieren globalisierte Ausstel lungsproduktionen, die der Vergleichbarkeit innerhalb der Konkurrenz zwischen Städten folgen, zum anderen wird durchaus der lokale Bezug zur Ressource für Ausstellungsideen und Programme, was der Differenzierbarkeit zwischen Städten als touristische Destinationen folgt. Globale Städte – der Begriff der Global City wurde in den 1990er Jahren von der Stadtsoziologin Saskia Sassen in die Diskussion eingeführt – sind nicht mehr nur globale wirtschaftliche Zentren, also Städte der Finanzmärkte und der ausdifferenzierten
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transnationalen Wirtschaftsdienstleistungen, sondern auch Städte, die es vermögen, im internationa len städtischen Konkurrenzkampf als globale kulturelle Zentren massentouristischer Attraktivität zu bestehen, wofür Landmark-Museumsarchitekturen entscheidend sind. Museumsinseln attrahieren
Betrachten wir nun diese beiden Strategien gemein sam, das Zur-Insel-Machen und das Museum-Be herbergen, so gelangen wir zu ihrer Verbindung: die Museumsinsel. So ist die Berliner Museumsinsel, die bereits mit dem Bau des Alten Museums 1830 begonnen, jedoch erst um 1870 als Museumsinsel bezeichnet wurde, heute einer der touristischen Attraktoren Berlins, der seit 1999 unter UNESCO Weltkultur erbe-Schutz steht. Auch real existierende Inseln setzen auf Museen, um sich neu zu erfinden und eine auf Tourismus abzielende Überlebensstrategie zu entwickeln. Viele kleinere zu Japan gehörende Inseln haben mit dem Phänomen der Überalterung und des Bevölkerungs schwundes zu kämpfen, da sie keine ökonomischen Überlebensperspektiven mehr bieten. Hatte Bilbao mit den Problemen der Postindustriali sierung zu kämpfen und suchte diese durch Starar chitektur zu lösen, so setzte die japanische Insel Naoshima, traditionell vom Fischfang lebend, ungefähr zeitgleich auf die Strategie ihrer Neuerfindung als Museumsinsel. «Benesse Art Site Naoshima is the collective name for art activities conducted by Benesse Holdings, Inc. and Naoshima Fukutake Art Museum Foundation on the islands of Naoshima, Teshima, and Inujima in the Seto Inland Sea to build a relationship of mutual growth between art and the region that provides it with a setting, in order to make a positive contribution to the local community.»1 Bereits in den 1980er Jahren lud die Benesse Corporation den japanischen Stararchitekten Tadao Ando ein, unter der ortsspezifischen Thematik Natur und Kunst die Entwicklung für die Insel zu konzipieren. In einer späteren Phase wurden Hotelzimmer in das Museum integriert: das Muse umshotel. Eine traditionsaufgeladene Stadt wie Wien erfand sich an zentraler innerstädtischer Tourismuslage neu durch die Verbindung der längsten geschlosse nen Barockfassade der Stadt (Fischer von Erlachs kaiserliche Hofstallungen, fertiggestellt 1723) mit der zeitgenössischen Architektur der in das Areal implementierten Museumsbauten von Ortner & Ortner (1990 – 2001). Die so entstandene Museums insel, die sich nach aussen städtebaulich isoliert und nach innen als geschlossenes Raumpanorama funktioniert, verbindet kulturelle Nutzungen mit der Schaffung eines als öffentlich empfundenen Raums des Freizeitaufenthalts. Touristische Nut zungen und lokale Nutzungen beginnen in eins zu fallen. Die lokalen Benutzer/innen verwenden
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den Ort wie einen touristischen Ort, die Touristen/ innen verwenden den Ort wie einen alltäglichen Ort. Daraus können wir schliessen, dass die Logik eines solchen Ortes bereits global eingeübt ist und zum kulturellen Standardrepertoire einer mit Freizeit und Geld ausgestatteten Klasse gehört. Die Übergangszone vor dem Museumsquartier ist jenes urbane Zwischenland zwischen Verkehrsachse und imperialem Wien der kaiserlichen Museen (Kunst historisches und Naturhistorisches Museum sowie Hofburg), das ähnlich dem Heldenplatz ein Ort für jugendkulturelle und informelle Nutzungen wie Sitzen, Sprechen, Loungen oder Skateboarden ist. Das Museumsquartier als Museumsinsel erzeugte sich als Kontext, der in die Stadt wirkt und über die Stadt hinaus. Die weltweit als spektakulärste gehandelte, noch in Bau befindliche Museumsinsel ist die rund 27 Quadratkilometer grosse Insel Saadiyat. «Von der Tourism Development & Investment Company werden auf Saadiyat bis zum Jahr 2018 in relativ aufgelockerter Bauweise etwa 29 Hotels mit über 7‘000 Zimmern, darunter ein 7-Sterne Hotel, 8‘000 Villen und 38‘000 Apartments sowie zahlreiche Tourismus-, Freizeit- und Versorgungseinrichtungen errichtet.»2 Diese Insel dient dem Tourismus, als dessen zentrale Räume sich das Museum und das Hotel herauskristallisieren.
verleiht, kann den neu entstehenden Museen als Garant globaler Kompatibilität mit dem System Museum anhaften. (…) Das Maritime Museum wird von Tadao Ando entworfen, das Theaterzentrum von Zaha Hadid und das Sheikh Zayed National Museum von Sir Norman Foster.»3 Die Namen der Architekten, die die Museumsneu bauten als globale Brands des Ikonischen positio nieren, bürgen für deren touristische Attraktivität. Die Architektennamen sind es, die GlobalismusSingularismus garantieren. Diese Stararchitekturna men gehen ebenso in Serie wie die Museen, die sie errichten. Die Serialität erzeugt den Singularis mus-Globalismus der zeitgenössischen Architektur produktion der Ikonen. Auf Saʿadiyat wird es einen zweiten Louvre geben, geplant von Jean Nouvel, und eine Neuauflage des Guggenheim, wieder mit Frank Gehry. «Das kulturelle Reservoir der Welt wird zum System des Franchising. Die Einzigartigkeit wird durch ein System der Proliferation von auf der Welt Vorhandenem gesteigert. Das, was internationale Marken längst erkannt haben, dass ihr Wiedererkennungseffekt die Menschen zu kommunizierenden und konsumierenden Weltbürgern werden lässt, durchdringt zunehmend die Landschaft der Museen. (…) In diesen Museumsketten oder dem Beginn einer Museumskette, wie im Fall des Louvre, markiert sich der Genius Globi.»4 Isolieren. Singularisieren. Attrahieren
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Die vertrauten Namen wie Louvre oder Guggenheim machen aus den Orten Schauplätze von Museums brands. Die Distinktion liegt in der Vergleichbar keit. Das Neue muss auf das Traditionelle aufbauen und dieses ins Licht der Stararchitektur tauchen. So die Attraktionslogik. Diese Orte der Neu-Zeit wie die in Bau befindliche Museumsinsel versichern sich der Zeit des kompetenten Verfügens über eine lange Vergangenheit, die im Museum gespeichert ist. «Die entstehenden Museen auf der Museumsinsel Saadiyat, deren Fertigstellung bis zum Jahr 2018 projektiert ist, bedienen sich der Figur der Zeit. Die Zeit, die in vielen anderen Orten in das Museale als Konfiguration investiert worden ist, kann frei gesetzt werden, um sich als insuläres Ereignis der Tourismuskulturindustrie zu ereignen. Die Zeit des Gewordenseins, die dem Museum seine Kredibilität
Hatten sich die Monumente in ihrer Zeit städtebau lich isoliert, um öffentlich zu wirken und die Zeiten zu überdauern, so waren sie gleichzeitig die re präsentativen Speicher des Erinnerungswürdigen. Monumente erzeugten räumlich den Kontext, für den sie semantisch und symbolisch einstehen. Monumente verweisen auf die abwesende Ge schichte, die sie in der Erinnerung halten. Land marks befreien sich von der Verpflichtung des Verweises auf den Kontext, sie radikalisieren die Verweigerung des spezifischen Kontexts, der Reaktion auf die Gegebenheiten und begreifen sich als Zeitspeicher ihrer Selbst. Sie verweisen nicht auf ein abwesendes Aussen, auf die Repräsentation hegemonialer Geschichtstraditionen, sondern auf sich selbst. Landmarks operieren als selbstreferenti elle Zeichen, als ikonische Isolatoren, die ihren eigenen Kontext produzieren. Sie stehen für sich und halten Sicherheitsabstand zur Realumgebung. Ihnen vergleichbar sind andere Ikonen an anderen Orten. In Beziehung setzen sie sich zu diesen anderen Stararchitektur-Inseln, die miteinander als System des globalisierten Tourismus der Attrak toren funktionieren. Landmarks singularisieren, um sich vor Ort spezifisch unvergleichlich und globalisiert vergleichlich zu machen. Museumsin seln verbinden diese beiden Logiken, die der monumental-isolierenden repräsentativen Zeitspei cherung als kulturelle Gedächtnismaschinen mit der singularisierenden Stararchitektur des Ikoni schen. Aus dieser Verbindung entsteht die Muse
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umsinsel, die das Isolierte betretbar, bewohnbar, konsumierbar, erlebbar macht. Die Museums-Insel isoliert, singularisiert und attrahiert. «Indem die Insel zum idyllischen Gegenbild zu Problemen des festen Landes aufsteigt, zeigt sie sich als bewältigbarer Raum. Die Dimensionen des Insulären sind zugleich leicht fasslich und beeindruckend. Inseln betonen ihre verdichtete Vielfalt auf engem Raum, die sich als Erlebnisressource in ihrer Ausschöpfbarkeit bestätigt. Das Insuläre ist bewältigbar. Das trifft den touristischen Nerv in Zeiten von Ressourcenknappheit, Zeitwohlstand und dem Damoklesschwert der Krise. Eskapismus ist insulär. In einer Epoche, in der die Knappheit von Ressourcen den Ausblick auf die Zukunft bestimmt, zelebrieren künstliche Inseln ihre eigene Möglichkeit als eindeutiges Potenzial der Potenzierung: jeder Zentimeter Strand, der in Dubai gewonnen wird, zählt für die touristischen Nutzer wie die Developer gleichermassen. Der Singularismus-Globalismus der Gegenwart findet seinen gebauten Ausdruck im selbstbehaupteten Insulären. In der Hypermoderne haben die Bilder das Laufen längst intus, können es getrost hinter sich lassen und blasen sich Richtung Dreidimensionalität als bleibender Still, als gefroren gebaute Momentaufnahme auf. Die Hypermoderne feiert im Insulären die Fortsetzung des Spekakels mit sich ständig übersteigernden Mitteln und bleibt dabei, die Postmoderne umschiffend, immer noch rückgebunden an manche Konfigurationen der Moderne. Fortschrittsgläubigkeit und Rationalität der Massen produktion gehen Hand in Hand mit dem Wirtschaftsliberalismus. Westliche Stützpfeiler des Wertekatalogs der Moderne wie Autonomie, Emanzipation, Individualismus und Säkularisierung sind zwischen postkolonialer Kritik und polyzentrischer Weltverfasstheit in neue Hybridallianzen eingetreten, in der die Ökonomie die langen Schatten ihrer eigenen Freiheit auf das verbrieft erscheinende Recht auf globalisierte Unterhaltungskultur wirft. In den Inseln erscheinen Zeitfenster des akzelerierten Ausstiegs aus den von Zwiespalt und Dichotomie zerklüfteten Welt zwischen Globalisierungsgewinnern und Globalisierungsverlierern, zwischen Existenzminimum und Existenzmaximum.»5 Zur Insel gemacht, können die Landmarks auf einer ihnen gewidmeten Insel, wie auf Saʿadiyat, alle ihre Kontexte bestimmen und sich als Globalisie rungsikonen (mit all ihren positiven wie negativen Konnotationen) in Szene setzen und zur Schau stellen. «Like the International Style, the global styles of Rogers, Foster, Piano and others often feature heroic engineering, and once again technology is seen as a virtue, a power, in its own right, as though it were a fetish to ward away the unsavory aspects of the very modernity of which it is part. (This new Prometheanism was bucked up, not knocked out, by the attacks of September 11).»6 Die
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Nachwirkungen des September 11 im Zusammen hang mit der Singularität und Ikonizität lassen sich raum- wie ideengeschichtlich zwischen spektaku lärer Technologiezelebrierung und paranoischem Sicherheitstraum(a) einordnen. «Nach den Attentaten des September 11 verfolgte das Sicherheitstrauma die Architekturproduktion. Zum Phantasma gesteigert wird es zur Hybris des mit Sicherheit Machbaren. Auf der Insel kann man sich der Welt wieder sicher sein, denn dort war die Welt immer schon eine andere. Auf dem Inselstaatstadt Utopia, den Thomas Morus im Jahr 1516 entwarf, herrschte eine Art Kommunismus. Heutige Inseln lassen das U-Topische hinter sich und landen im Hyperrealen. Dieses ist immer zu buchen.»7 Elke Krasny ist Senior Lecturer an der Akademie der bildenden Künste Wien; Kuratorin und Projektkünstlerin; 2011 Visiting Curator, Hongkong Community Museum Project; 2011 Visiting Artist SFU Audain Gallery Vancouver; 2012 Visiting Scholar Canadian Center for Architecture; Publikationen (Auswahl): «Architektur beginnt im Kopf. The Making of Architecture», (hrsg. Architekturzentrum Wien), Birkhäuser Verlag Basel, 2008; «Stadt und Frauen. Eine andere Topographie von Wien», Metro Verlag Wien, 2008; «Urbanografien. Stadtforschung in Kunst, Architektur und Theorie» (hrsg. mit Irene Nierhaus, Reimer Verlag, Berlin, 2008; «Aufbruch in die Nähe. Wien Lerchenfelderstrasse», (hrsg. mit Angela Heide), turia+kant, Wien 2010; «Hands-on Urbanism 1850-2012. The Right to Green», (hrsg. Architekturzentrum Wien), MCCM Creations, Hongkong 2012
Hal Foster: The Art-Architecture Complex, London New York Verso 2011 Saskia Sassen: The Global City: New York, London, Tokyo, Princeton University Press 2001 Anne E. Wilkens/Patrick Ramponi/Helge Wendt (Hg.): Inseln und Archipele. Kulturelle Figuren des Insularen zwischen Isolation und Entgrenzung, Bielefeld Transcript Verlag 2011 1 http://www.benesse-artsite.jp/en/benessehouse-museum/index.html 2 http://de.wikipedia.org/wiki/Saadiyat 3 Elke Krasny: Das Insuläre. Von den Strategien hypermoderner
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Raumproduktion, in: Anne E. Wilkens/Patrick Ramponi/Helge Wendt (Hg.): Inseln und Archipele. Kulturelle Figuren des Insularen zwischen Isolation und Entgrenzung, Bielefeld Transcript Verlag 2011, S. 194 f. aaO, 192 f. Elke Krasny, a.a.O., S. 188 Hal Foster: The Art-Architecture Complex, London New York Verso 2011, S. IX Elke Krasny, a.a.O., S. 207
1 Visualisierung der zukünftigen Museumsinsel von Abu Dhabi (Foto: DPA)
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Von Schweizer Dörfchen und « e d l e n W i l d e n» K u lt u r e l l e Id e n t i tät i m W e c h s e l s p i e l zw ischen In n en- u n d Aussensich t Wa lt er L eimgru ber im Ge spr äch mi t Pe t er Spil l m a n n Kulturelle Identität im Kontext von Tourismus entwickelt sich vordergründig gesehen erstmal in einem scheinbar einfach zu fassenden Spannungsfeld zwischen innen und aussen: Die klassische Kritik der 1960er Jahre am Tourismus lautete denn auch, dass westliche Touristen Kulturimperialisten sind und mit ihren Wertvorstellungen, ihrem Verhalten, der Art der Bekleidung oder dem freizügigen Um gang mit Sexualität etc. lokale, kulturelle Mili eus stören oder auf Dauer sogar zerstören. Schaut man auf die Pionierzeit des Tourismus in der Schweiz, so könnte man auch hier ähnliche kultur- und vor allem auch klassenbedingte Konflikte etwa zwischen den zugereisten gross bürgerlichen Gästen aus London und Paris und der Bevölkerung der Alpentäler ausmachen. Walter Leimgruber Es ist nicht so, dass das getrennte Welten sind, weil innen und aussen schon seit eh und je in enger Verbin dung stehen. Die Vorstellung, dass der Tourismus in etwas hineinkommt, was es vorher nur als innen gibt, stimmt in der Regel nicht. Wenn wir die Schweiz an schauen, dann ist der Kontakt bis ins hinterste Bergdorf seit langer Zeit da. Was als lokale Kultur daherkommt ist das Resultat eines langen Entwicklungsprozes ses, welcher nicht immer nur lokal gewesen ist, sondern von ganz unterschiedlichen Kräften geprägt ist, die im Tal mitgewirkt haben. Das sind immer auch äussere Kräfte: das ist der Handel, die Religion, die sich ändert, alle die durchs Tal ziehen, schliess lich auch der Tourismus. Man muss sich immer anschauen, wie sich das gemeinsam entwickelt hat. Peter Spillmann Tourismusanbieter arbeiten ja vorwie gend mit Bildern, erzählen Geschichten, wollen bei potentiellen Kunden spezifische Imagina tionen anrufen und Begehren wecken. Die Tatsache, dass damit immer auch ein Stück Kultur mitproduziert wird, dass bestimmte Vor stellungen von «fremden» Orten bestätigt oder herausgefordert werden, Klischees und Vor urteile in Umlauf gebracht oder aufgefrischt werden und so eine moderne Produktion natio naler Bilder im globalen Rahmen betrieben wird, scheint nicht so wichtig zu sein. Walter Leimgruber Natürlich wird der Sog oder die Kraft von aussen viel stärker, wenn der Tourismus zum wichtigsten Wirtschaftsfak Peter Spillmann
tor einer Region wird. Aber auch dann muss man sich genau ansehen, was die Einheimischen damit machen. Diese sind immer Teil des Ganzen und gestalten den Prozess mit, in welcher Form auch immer. Am Beispiel des Schweizer Tourismus kann man seit dem 18. Jahrhundert dieses Wechselspiel zwischen Innensichten und Aussensichten sehen. Es ist aber oft nicht ganz einfach festzustellen, wem man welche Sichten zuweisen kann, wer was bewirkt und wer was übernommen hat. Die Grenzen sind nicht klar. Überspitzt könnte man sagen, dass die ganze moderne Selbstsicht der Schweiz, das, was traditionelle Schweizerische Kultur heisst, auch durch die Auseinander setzung mit dem Tourismus entstanden ist. All die Elemente, die heute betont werden, sind eng verbunden mit dem Aufkommen des Adels- und Bürgertourismus im 18. Jahrhundert. Das Unspunnenfest war kein Fest für die Einheimischen, das war für das städtische Bürgertum und die Zugereisten. Und dabei wurden viele Elemente wieder aufgegriffen, welche eigentlich schon verschwunden waren, wie beispielsweise das Alphorn. Das heisst, seit jener Zeit gibt es dieses Wechselspiel, und darauf basiert im Grunde die «wahre» Schweizer Volkskultur. Peter Spillmann Wir sind in unserer Forschung auch mehrmals auf dieses wechselseitige Austausch verhältnis gestossen, als wir uns mit der Aus senwahrnehmung der Schweiz beschäftigt haben. Wir haben dann die provokative These formuliert, dass die Schweiz als Nation im Grunde im Tourismus erfunden wurde. Walter Leimgruber Das Spannende an der Ent wicklung der Nationen, insbesondere im 19. Jahrhundert, ist, dass es immer ein Wechselspiel ist. Wohin steuert eine Nation? Das war in der Schweiz im 19. Jahrhundert ein langer und komplizierter Prozess, eine Suche nach einem eigenen Selbstverständnis, nach einer eigenen Identität, die primär nicht von touristischen Überlegungen geprägt war, wo aber ein dauernder Austausch stattgefunden hat. Gerade das 19. Jahrhundert hat diesen Austausch intensiviert.
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Am Beispiel Lötschental, dem aus volks kundlicher Sicht am besten untersuchten Tal der Schweiz, wird das komplexe Zusammenspiel schön sichtbar. Die ersten Volkskundler kamen zu Beginn des 20. Jahrhunderts ins Tal und nahmen die Fastnacht unter die Lupe, welche damals vielfältiger war als heute. Damals gab es verschiedene Formen der Verkleidung und auch ein Fasnachtstheater, die For scher waren aber vor allem von den Larven fasziniert und zwar von den Tschäggätä, von den wilden, unheimlichen geschnitz ten Masken. Sie waren auf der Suche nach Mythen, die möglichst weit zurück liegen, am liebsten aus heidnischer Zeit stammen sollten und so unverändert wie möglich überliefert worden waren. Die Einheimischen merkten bald, dass es da ein spezielles Interesse gibt, Museen kauften ihnen Masken zu guten Preisen ab, und deswegen wurden diese auch vermehrt produziert. Sie wurden künstlich gealtert, weil alte Masken gefragt waren. Und schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahmen zugewanderte Künstler vermehrt Einfluss auf die Gestaltung der Masken, sie wurden damit noch kreativer und wilder. An der Landesausstellung 1939 wur den diese Masken dann als ein Inbegriff der Schweizerischen alpinen Kultur ausge stellt, und somit zum wertvollen musealen Kulturgut. Das kann man in vielen Regio nen sehen. Der Kulturchef von Appenzell Innerhoden, der selbst Volkskundler ist, sagt, dass man die heimische Kultur ohne die Wechselwirkung mit dem Tourismus gar nicht verstehen kann. Das ist eine komplexe Mischung von Interaktionen zwi schen innen und aussen, welche dann schliesslich das Bild von Kultur abgibt, welches am Ende als echt und authentisch begriffen und verkauft wird. Peter Spillmann Sie sehen im Tourismus also eher eine Beschleunigung des kulturellen Austausches. Aber ist nicht der touristische Blick längst zum Mass aller kulturellen Dinge geworden? Kann etwas, was dem touristischen Blick nicht ent spricht, in Zukunft überhaupt noch als Kultur wahrgenommen werden? Walter Leimgruber Man kann sagen, dass die Form der Kultur, wie sie der Tourismus gerne hätte, besonders in jenen Regionen zum Tragen kommt, wo keine andere Möglichkeit vorhanden war, um Geld zu verdienen. Dieses Problem haben Basel oder Zürich weniger. Basel hat auch die Fastnacht, aber diese wurde nie so stark touristisch genutzt, weil daneben auch eine Industrie vorhanden war. Deshalb war in diesem Gebiet das Wechselspiel zwischen Tourismus und Kultur nicht so intensiv.
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In armen Regionen herrschte riesiger Abwanderungsdruck, das vergisst man gerne. Dort wurde natürlich die Möglichkeit genutzt, die Leute mit dem Vorhandenen – wie Masken, Jodeln, einen Trachtentanz vorzeigen – zu faszinieren, um Geld zu verdienen. Es entstanden Vorlieben, die dann fokussiert und ausgebaut wurden, und weniger beliebte Dinge gerieten eher in den Hintergrund. Das war eine willkom mene Möglichkeit, Geld zu verdienen und Leute dort zu behalten. Das Nasenrümpfen, das man wegen gewis sen Darbietungen hin und wieder sieht, finde ich deswegen nicht berechtigt, weil ja gewisse Regionen nur so überleben konn ten. Die Alpentäler wären sonst sicher noch viel leerer geworden, die Einheimischen wären nicht geblieben, und es gäbe heute kaum Infrastruktur zum Skifahren und so weiter. Peter Spillmann Heute ist die Frage des kulturellen Austauschs für den Tourismus ja besonders im Bezug auf die neuen Märkte wieder inter essant. Zum Beispiel Asien. Schweiz Tourismus bewirbt dort die Reisedestination seit einigen Jahren mit dem Claim «get natural». Hochglanz bilder von intakten alpinen Landschaften oder mittelalterlichen Städten auf tiefrotem Grund vermitteln das Bild einer traditionell ländlichen und historischen Schweiz. Das Logo in Gestalt einer Edelweissblüte, oft in Kombination mit mehreren Qs von Qualitätszertifikaten, soll die Idee einer hochqualitativen, reinen Schweiz zusätzlich auf den Punkt bringen. Walter Leimgruber Man kann auch hier die historische Parallele anschauen. Wenn die Adeligen im 18. Jahrhundert in die Alpen täler ziehen und dort die «edlen, von der städtischen Zivilisation unverdorbenen Wilden» besuchen, –– dann sind wir heute nicht so weit davon entfernt. Wenn man sich die Entwicklung in Indien oder China vorstellt, z.B. eine durchschnittliche, chinesische Boomstadt mit 8 - 9 Millionen Einwohnern, wo die Modernisierung in unglaublichem Tempo forciert wird, dann passiert natürlich bei den Chinesen/-innen oder Indern/-innen nun genau dasselbe, was damals in den europäischen Städten passiert ist: Sie suchen Sehnsuchts- und Projektionsräume, denn bei ihnen ver schwinden diese in einem enormen Tempo. Wenn dort Bilder von unberührten Land schaften ohne Wolkenkratzer, ohne Ver kehrschaos, ohne stinkende Luft, dafür mit sauberen Gewässern angeboten werden, stösst das auf riesiges Interesse. Dass das ein einseitiges Bild des Landes ist, welches in vielerlei Hinsicht gar nicht stimmt, ist uns allen bewusst.
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Und so werden die Erwartungen und Imaginationen der neuen Gäste sicher auch bald einen sichtbaren Einfluss auf die Ausgestal tung von Stadträumen und Landschaften haben, ähnlich wie damals die Erwartungen britischer Touristen erfüllt wurden und ihre Wünsche in die Landschaft oder in die Architektur einge flossen sind. In der Schweiz gibt es zurzeit einen Trend zur Essentialisierung, zur klaren Form und zum reinen Material, was auch immer gleich mit Luxus in Verbindung gebracht wird, mit etwas, was rar ist. Das sieht man z.B. an der neuen Architektur, die im Moment im alpinen Raum Einzug hält. Diese Entwicklung dürfte ja gewis sermassen schon eine Reaktion auf neue Erwar tungen sein und macht in einer globalen Pers pektive irgendwie auch mehr Sinn als in einer nationalen. Die Schweiz als eine Art reiner, essentieller Ort, exklusiv für einige wenige, die es sich leisten können... Walter Leimgruber Ich glaube, was da zum Ausdruck kommt, ist, dass die Verfügbarkeit von Natur zu einer Art Luxusprodukt geworden ist. Natur wird immer unwahr scheinlicher. Wir haben global gesehen eine Entwicklung, in welcher viele Räume, die vor zwei, drei Jahrzehnten noch von Natur geprägt waren, heute intensiv genutzt werden. Das ist fast überall im asiatischen Raum sehr stark spürbar. Damit verbunden ist das Bewusstsein, dass Natur etwas Wertvolles ist, was nicht mehr selbstver ständlich ist, aufwändig gepflegt werden muss oder verschwindet. Mit technischen Mitteln gelingt es anderer seits, die extremsten Natursituationen erlebbar zu machen, ohne kalte Füsse zu kriegen, ohne nass zu werden, ohne zu frieren und ohne zu verdursten. Das Wech selspiel zwischen Natur und Luxus ist extrem spannend. Da kann man etwas, das der arme Bergler in seinem Alltag als selbstverständlich ansieht, für viel Geld verkaufen. Das zeigt, wie weit wir von der Existenz des armen Berglers entfernt sind. Heute ist man bereit, viel Geld auszugeben, um einen Landschaftsausschnitt zu geniessen, welcher früher selbstver ständlich für jedermann zu sehen war. Man kann sagen: Je weniger Menschen eine Tätigkeit im natürlichen Setting ausüben, desto grösser wird die Sehnsucht nach diesem Setting. Peter Spillmann Während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierten technische Errun genschaften, Schiffe, atemberaubend steil in den Berg gelegte Zahnradbahnen, kühne Viadukte und breite, moderne Autostrassen die Plakate der Verkehrs-Vereine und Fremdenzentralen. Schauen wir zurück in die 1920er- und 1930er Jahre, sehen wir, dass die Technik im Zentrum Peter Spillmann
der Bildwelten über die Schweiz gestanden hat, so etwa auch in Hans Ernis LandiBild, wo rurale und urbane Volksbräuche mit technischen Errungenschaften und Monumenten kombiniert wurden. Davon ist in den heutigen Bildwelten über die Schweiz nicht mehr viel sichtbar. Es sind eher wieder die alten Klischees aus der Folklorekiste: Alpöhis, Kühe, Käse und Edelweiss, allenfalls etwas aufgepeppt oder gebrochen durch einen Hauch von Fashion und Ironie. Was könnte das für das quasi offizielle kulturelle Selbstverständnis der Schweiz bedeu ten? Walter Leimgruber Die Frage ist, ob dies nur einem touristischen Blick entspricht. In der Schweiz herrscht ja eine antiurbane Grund haltung, die nicht nur durch den Tourismus alleine zu Stande gekommen ist. Wenn Schweizer Landschaften gezeigt werden, dann nicht die Chemieindustrie von Basel oder die Agglomerationslandschaft von Zürich, die Orte, wo die meisten Leute des Landes effektiv wohnen. Es werden alpine Landschaften abgebildet. Die nationale Identität läuft über Bilder, die viel Ähnlich keit mit den touristischen Bildern haben und die mit politischen Werten wie Ursprünglichkeit, direkte Demokratie, Gemeinschaft, Föderalismus, Freiheit, etc. aufgeladen wurden. Diese Bilder sind schon relativ alt und stehen in einer Wechselwir kung mit den Idealen der Aufklärung: Idealbilder, welche auf bestimmte Regionen projiziert wurden und in der Schweiz ganz besonders nutzbar gemacht werden konnten. Die Konstruktion einer nationalen Identität in der Schweiz ist anders gelaufen als in anderen europäischen Ländern. Es gab nicht eine Geschichte, eine Sprache, eine Kultur. Es gab von Anfang an mehrere Sprachen, und die verschiedenen Regionen haben sich jahrhundertelang gegenseitig bekriegt - die Konstruktion einer einheitli chen Nation war relativ schwierig. Da diente die Landschaft als Ersatz. Es ent stand der Mythos von den Alpen, welche einen ganz bestimmten Menschenschlag hervorgebracht haben, den wortkargen, aufrichtigen Bergler, der für eine ehrliche, gerade Haltung und Politik steht. Noch heute haben es Politiker, welche dies verkörpern, einfacher als jene, die den urbanen, intellektuellen Typ darstellen. Das kommt weniger gut an. Von daher gesehen kann man sich wieder die Frage stellen: wurde mit dieser Haltung das Bild des Tourismus geprägt oder hat der Tourismus dieses Bild geprägt? Aus verschiedenen Gründen ist das Bild der Natur und der Landschaft ins Zentrum gerückt und zu einem wesentlichen Element der nationa
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len Identität geworden. Deswegen fällt es Schweiz Tourismus bis heute leicht, diese Bilder zu verwenden. Ein weiterer interessanter Punkt ist, warum Technik nicht mehr so fasziniert wie früher. Wenn wir die Anfänge in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts anschauen, als der moderne Schweizerische Nationalstaat entstanden ist, sehen wir, dass ungefähr das passierte, was heute in China und Indien geschieht. Die Gesellschaft befand sich in einem totalen Umbruch. Es fand eine rasche Urbanisierung und Industriali sierung statt, die Schweiz war eines der frühen industrialisierten Länder in Europa, war exportorientiert, damals noch nicht ganz global, aber immerhin stand sie beinahe weltweit im Markt. Die Schweiz erlebte eine starke Migration, nicht nur von Menschen, die abwanderten, weil sie in der Schweiz keine Zukunft mehr sahen, sondern auch von den Bergen in die Täler. Es fand eine gesellschaftliche und soziale Umwandlung statt, die wirklich schnell, rasant und teilweise auch brutal war und die Landschaft veränderte.
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Mit der Zeit finden wir weniger positive Bilder der modernen Entwicklung, diese machte zunehmend Angst, das Vertraute ging verloren. Als Gegenentwurf entstanden daher die Bilder vom «Schweizer Dörfchen» als Idealheimat. Das lässt sich gut anhand der Landes- und Weltausstel lungen aufzeigen. Dort ist das Dörfchen als Motiv und real gebautes Ausstellungs idyll regelmässig präsent. Um den rasanten Wandel durchzustehen, brauchte es einen kulturellen Halt, und dieser wurde in Form der Bergidylle kreiert. Das Motiv des Dörfchens tauchte in der Folge immer zusammen mit dem Motiv des Berges auf. Das Dörfchen an der Landesausstellung 1896 in Genf z.B. wurde mit Hilfe moderns ter Mittel mit einem künstlichen Fels und einem Wasserfall ausgestattet und mit echten Kühen im Vordergrund belebt, um einen möglichst authentischen Eindruck der Bergidylle zu erwecken.
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Der grosse, rasante Wandel, der aus einer Agrargesellschaft eine Industriegesellschaft machte, war im Umfeld des ersten Welt krieges vorbei. Die ganz grossen Einschnitte waren gelaufen, die neuen Strukturen waren sichtbar, das Verkehrsnetz stand. Man hatte sich an diese modernen Ele mente der Landschaft gewöhnt. Dann kam meiner Meinung nach eine Phase, in welcher die Begeisterung für Strassen und Technik etc. ausgelebt werden konnte, denn man hatte das Gefühl, die Symbiose zwi schen Ursprünglichkeit und Fortschritt gefunden zu haben. Es folgte eine Zeit des Optimismus, die überzeugt war: Tech nik plus Natur gleich perfektes Leben. Diese Phase war in den 1970er Jahren zu Ende. Die ersten Grenzen des Wachstums wurden wahrgenommen, die ersten öko logischen Probleme tauchten auf, man realisierte, dass die Superlösungen be trächtliche Nebenwirkungen haben. Diese Skepsis verschärfte sich in den letzten zwei, drei Jahrzehnten stark, weil mit der Globalisierung – ähnlich wie Ende des 19. Jahrhunderts – wieder ein neuer Ent wicklungsschritt stattfindet. Jetzt ist das Ende der Industriegesellschaft erreicht. Zum ersten Mal seit einem knappen Jahrhundert hegen wir grundle gende Zweifel, dass der Fortschritt etwas nützt. Das hat natürlich nicht nur mit der Globalisierung zu tun, sondern auch damit, dass diese nur von bestimmten Kräften beherrscht wird. Man kann sagen, es ist der Markt, der Neoliberalismus, welcher vieles, was im 20. Jahrhundert selbstverständlich war, auflöst. Die Schweiz hat ein System der Aushandlung perfek tioniert, in welchem sich alle zusammeset zen, miteinander sprechen und einen Kompromiss suchen, wobei jeder einen Schritt macht, so dass am Schluss eine Lösung da ist, die für alle stimmt. Jetzt stellt sich heraus, dass die Welt überhaupt nicht so funktioniert, dass da ganz andere Kräfte wirken. Konsens interessiert über haupt nicht, jeder will das Maximum für sich, holt soviel raus wie möglich; und wer nicht in der Lage ist, Gegendruck zu geben, verliert. Das ist ein Denken, welches die Schweiz zutiefst verunsichert. Ich glaube, dass diese Entwicklung dazu geführt hat, dass die Suche nach den idylli schen Orten wieder wichtiger geworden ist. Eigentlich ist es eine Art Wellness, der vom Stress, den der erneute gesellschaftliche Wandel mit sich bringt, befreien soll. Wenn wir ein Stück Natur sehen, in dem sich der gesellschaftliche Druck nicht abbildet, dann geht es uns gut.
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Gibt es in Zukunft noch etwas, was man ausserhalb der touristischen Wahrnehmung als Kultur wahrnehmen kann? Ich frage das auch in Bezug auf Konzepte einer Cultural Heritage Politik, die ja fast zwangsläufig eine Art Normierung bedeuten, was überhaupt als Kultur gelten soll oder darf und den Rest als nicht unterstützenswert deklassieren. Es geht auch da immer noch um das Interaktions- und Austauschverhältnis, aber es ist ja doch eine neue Kraft, die wirkt. Walter Leimgruber Es ist bestimmt eine ganz starke Kraft. Wer ein UNESCO-Label hat, der zieht die Touristen in Scharen an, und das führt in der Regel zu viel Geld. Ich bin dennoch optimistisch, weil es daneben immer noch andere Dinge gibt. Machen wir wieder einen historischen Vergleich. Was im 19. Jahrhundert als Kultur angeschaut wurde, war bestimmt durch einen bürgerli chen Blick: Theater, Literatur, Musik etc. Was aber durch die technischen Entwick lungen neu entstanden ist, die medialen Kulturformen anfangs des 20. Jahrhunderts, mit dem Grammophon, mit dem Kino, mit dem Radio, das wurde ja anfangs nicht als Kultur wahrgenommen, das war besten falls Unterhaltung für die Unterschicht. Ins Kino ging man als gehobener Bürger nicht, nur die Arbeiter und die Ungebildeten sassen am Sonntagnachmittag für 20 Rappen in den dunklen Sälen. Heute würde niemand mehr sagen, Kino sei nicht Kultur. Ich glaube, mit dem Wandel sind immer wieder kulturelle Entwicklungen verbun den, die wir nicht kontrollieren können. Es entstehen neue Bedürfnisse und daraus neue Formen, wie man sein Leben lebt und gestaltet, wie im weitesten Sinne Kultur entsteht. Mit der Globalisierung entstehen zwangs läufig ebenfalls neue Kulturformen, die sich ganz anders verbreiten als ältere, z.B. in der Musik, aber auch spezifische migranti sche und transkulturelle Kulturpraxen. Diese werden nicht einfach zum Kulturerbe - sie scheinen momentan sogar weitgehend ausserhalb des Rasters der UNESCO-Kon vention zu liegen. Und das Zelebrieren des Anerkannten und allgemein Akzeptier ten wird immer auch die Suche nach Neuem, Innovativem, Provozierendem auslösen. Man muss solche Phänomene anschauen, sie analysieren, sich damit auseinandersetzen, aber man darf sich nicht dauernd dem Gedanken hingeben, dass alles kaputt gehe und nur das eine gefördert werde und das andere nicht. Die Dominanz des touristischen Blicks wird früher oder später dazu führen, dass sich viele zu wehren beginnen, weil sie merken, dass es
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nur eine Seite von ihnen abdeckt und ihrem Leben nicht gerecht wird, ähnlich wie in den letzten hundert Jahren Schwingen und Jodeln nicht zur Kultur der städtischen Unter- und Mittelschich ten geworden sind. Deren Vorlieben wie Kino, moderne Tanz- und Musikformen, Fussball etc. wurden nicht zu einer Art kulturellem Erbe der Schweiz und haben sich dennoch als Teil unseres Alltags etabliert. Ich glaube daran, dass die Leute die Kraft haben, den durchaus vorhande nen und starken Zwängen immer wieder etwas Eigenes entgegenzusetzen. Walter Leimgruber *1959, Leiter Seminar für Kulturwissen
schaft und Europäische Ethnologie der Universität Basel. Studium der Geschichte, Geographie und Volkskunde. Promotion 1990, Habilitation 2001, Forschungs- und Lehraufenthalte in Boston, Washington, Paris, Berlin, Wien und Marburg. Publikationen (Auswahl): «Kulturanthropologie. Ein Arbeitsbuch» ( erscheint 2013); «Ewigi Liäbi. Singen bleibt popular», 2009; «Was Akten bewirken können. Integra tions- und Ausschlussprozesse eines Verwaltungsvor gangs», 2008; «Goldene Jahre. Zur Geschichte der Schweiz seit 1945», 1999.
1 Schweizerische Landesausstellung Genf 1896: Souvenir du Village Suisse - Danses des enfants en costumes nationaux. (Foto: Fred Boissonnas)
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Indien in der Schweiz: Engelberg als global-lokale Kontaktzone von Sybille Frank Dünne Schuhe schlittern über das Eis. Schneebälle fliegen. Entzückte Schreie sind zu hören, sobald die indischen Touristinnen und Touristen die gefurchten Bahnen entdeckt haben, auf denen man einige Meter talwärts über den Schnee rutschen kann. Saris flattern im Wind, Fotohandys werden in Position gebracht. Eine SMS ins ferne Zuhause vom 3‘200 Meter hohen Gipfel des Titlis in der Zentralschweiz gehört zum touristischen Pflicht programm. Danach versammeln sich die indischen Reisenden zum Lunch im indischen Gruppenres taurant der Bergstation. Etwa drei Stunden haben die indischen Gäste während ihrer Europa-Pauschalrundreise auf dem Gipfel des Titlis Aufenthalt. Das ist mehr Freizeit als etwa in London oder Paris.1 Doch für die indi schen Reisenden ist nicht etwa Paris, sondern eben der Titlis der Inbegriff von Liebe und Romantik und somit der Höhepunkt einer jeden Europarund reise .2 «The global Indian holidaymaker has arrived and is now a force to be reckoned with»3 – so fasst der indische Europareisen-Marktführer SOTC die jüngsten Machtverschiebungen auf dem Feld des internationalen Tourismus zusammen. Bis vor kurzem führten touristische Reiserouten fast ausschliesslich vom globalen Westen in Destinatio nen des Ostens und Südens der Welt – sofern die Angehörigen «des Westens» sich nicht untereinan der besuchten. In den letzten Jahren aber sind durch die Ausweitung und Verbilligung von Reise angeboten einerseits und durch den wirtschaftli chen Aufschwung in Teilen des globalen Ostens und Südens andererseits Reisen in westliche Destinationen für immer mehr Menschen aus dem früheren so genannten «Rest der Welt»4 erschwing lich und zu einem attraktiven Statussymbol ge worden. Mit der Präsenz dieser neuen, hierzulande als ‹exotisch› empfundenen Touristengruppen in westlichen Dörfern und Städten sind neue global-lokale Kontaktzonen entstanden, in denen eingeübte Rollenmuster zwischen Reisenden und Bereisten aufgebrochen und traditionelle kulturelle Wissensbestände herausgefordert werden. Dieser Beitrag untersucht den noch jungen indi schen Pauschaltourismus in die Schweiz. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf den wechselseiti gen Imaginationen von Gästen und Gastgeber/innen. Grundlage der folgenden Ausführungen sind ethnographische Vor-Ort-Beobachtungen und Interviews mit Einheimischen, Reisenden und Dienstleistenden, die im Jahr 2011 durchgeführt wurden. Zunächst werde ich die Frage beantwor
ten: Was führt die indischen Touristen und Touris tinnen in die Schweiz? Bollywood und die Schweiz
Der Grund für das grosse Interesse der Inderinnen und Inder an der Schweiz sind indische Bolly wood-Filme. Die florierende kommerzielle Bolly wood-Filmindustrie produziert inzwischen bis zu 1‘000 Filme pro Jahr – das ist weit mehr als Hollywood�. Die Filme sollen in erster Linie unter halten, das heisst Spass und Spannung bieten, aber auch grosse Gefühle bedienen, die Sehnsüchte der Menschen aufgreifen und Konflikte zwischen Moderne und Tradition bearbeiten helfen, die die indische Gesellschaft enorm beschäftigen. Seit den achtziger Jahren werden diese Konflikte vor allem am Beispiel der «Neudefinition von Heirat, Liebe, Familie und Partnerschaft» durchexerziert5 – mit Erfolg, was Besucherzahlen von bis zu drei Milliarden Menschen pro Film belegen. Wegen der in der indischen Gesellschaft noch immer vorherrschenden strengen Moralvorstellun gen dürfen die Regisseure in den Filmen allerdings keine Liebeszenen zeigen. Daher behelfen sie sich mit romantischen Song-and-Dance-Einlagen.6 Hierbei handelt es sich um aufwändig inszenierte, musikclipartige Einspielungen, die in einer Art Traumsequenz die filmische Handlung unterbre chen und von denen es pro Film mindestens sechs geben muss7. In diesen Szenen singt und tanzt ein sich verzweifelt liebendes Paar vorzugsweise vor einer idyllischen Berglandschaft, in der sich seine Träume von Nähe und Erotik erfüllen. Die Szenen sind nicht an Zeit und Raum gebunden, d.h. es werden unvermittelt Kostüme und Orte gewech selt, und nicht selten fängt es plötzlich an zu stürmen oder zu regnen, so dass die Kleidung der Darstellerinnen und Darsteller verführerisch an ihren Körpern klebt.8 Bis in die 1960er Jahre waren die Bergwiesen des schneebedeckten Kaschmir-Gebirges, ein prominen ter Sehnsuchtsort in der indischen Mythologie,9 der bevorzugte Drehort für besagte Song-and-DanceClips. Als dort wegen des Konflikts mit Pakistan jedoch keine Drehs mehr möglich und auch andere nordindische Bergregionen bereits «abgefilmt» zu sein schienen10, machten sich die Bollywood-Pro duzenten auf die Suche nach Alternativen. Die Wahl fiel aufgrund ihrer landschaftlichen Ähnlich keit mit dem Kaschmir auf die Schweiz. Auf diese Weise entstanden im Berner Oberland und in den Zentralschweizer Alpen seit den 1960er Jahren
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zahlreiche Song-and-Dance-Szenen für Filme, die bis heute zu den grössten Bollywood-Blockbustern zählen. In den 1990er Jahren begannen auch «reale» Filmsequenzen in der Schweizer Bergwelt zu spielen, so zum Beispiel etwa ein Drittel der Hand lung des 1995 produzierten Films «Dilwale Dulha nia Le Jayenge» («Wer zuerst kommt, kriegt die Braut») mit Shah Rukh Khan. «Idyllische Bilder von singenden Bollywood-Stars vor friedlich widerkäuenden Alpenkühen und schneebedeckten Gipfeln»11 machten die Schweiz quasi über Nacht zum Paradies, zum Garanten für Sonne, Ruhe, Ordnung, Naturverbundenheit und Glück. Auch wenn die indischen Filmcrews mittlerweile neue Drehorte in Osteuropa, Neu seeland oder auch den Vereinigten Arabischen Emiraten für sich erschlossen haben, ist die Popula rität der Schweiz als ein «Disneyland der Liebe» ungebrochen.12 Entsprechend träumen viele Inderinnen und Inder davon, einmal in ihrem Leben die Schweiz zu bereisen – und eine immer grössere Zahl kann sich die weite Reise nach Europa auch leisten. In Europa gilt der indische Markt als einer der vielversprechendsten touristischen Zukunftsmärkte überhaupt. Die mehr als eine Milliarde Inderinnen und Inder stellen ca. 17 Prozent der Weltbevölke rung; bislang kann sich aber nur etwa ein Prozent von ihnen eine Auslandreise leisten.13 Die Wachs tumsmöglichkeiten sind also enorm und angesichts des anhaltenden Wirtschaftsbooms in Indien, der eine aufstrebende Mittelschicht hervorgebracht hat, auch realistisch. Da die indischen Gäste überdies «zu den kaufkräftigsten Touristen in der Schweiz zählen»,14 hat das traditionelle, aber zuletzt von Tourismusflauten gebeutelte Reiseland Schweiz ein gewisses Interesse daran entwickelt, die filmin duzierten Erwartungen der indischen Gäste zu erfüllen. Engelberg als Shooting Star des indischen Tourismus
Das beliebteste Reiseziel indischer Touristinnen und Touristen in der Schweiz ist das pittoreske Zentralschweizer Bergstädtchen Engelberg. Die 4‘300 Einwohnerinnen und Einwohner zählende politi sche Gemeinde liegt auf 1‘000 Metern Höhe in einem weiten Hochtal am Fusse des schon erwähn ten Berges Titlis.15 Tourismus hat in Engelberg eine lange Tradition: Der Ort wird schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts von Touristen/-innen frequen tiert. Inzwischen werden 76 Prozent der Wirt schaftsleistung der Gemeinde durch den Fremden verkehr erbracht; 90 Prozent der Einheimischen leben vom Tourismus.16 In der Hochsaison logieren in Engelberg mehr als 9 000 Gäste. Das sind doppelt so viele Gäste wie Einwohner/innen. Wieso aber mauserte sich gerade das kleine Engel berg zum indischen Tourismus-Shooting Star? Hierfür zeichnet ein spektakulärer Deal verantwort lich, den die lokale Bergbahngesellschaft Titlisbah nen 1998 mit dem renommierten Schweizer Reise
veranstalter Kuoni einfädelte. Kuoni hatte wenige Jahre zuvor den grössten indischen Reiseveran stalter SOTC gekauft und war auf der Suche nach einem Schweizer Unterbringungsort für seine indischen Europa-Pauschalrundreisenden17. Die Titlisbahnen wiederum hatten von der Einwohner gemeinde Engelberg gerade das prächtige, 1905 erbaute, aber seit Jahren leer stehende Engelberger Grand Hotel Terrace Palace in Pacht übernommen. Titlisbahnen und Kuoni einigten sich darauf, dass Kuoni sämtliche Schweizer Übernachtungen der indischen Europa-Rundreisenden im Terrace einbuchte, während Engelberg und die Titlisbahnen zusagten, dem Ort im Sommer 1999 den Beinamen «Indian Village» zu verleihen.18 Schon im ersten Jahr nach seiner Wiederinbetrieb nahme konnte das Terrace 34‘000 Übernachtungen von indischen Gästen vermelden.19 Im letzten Jahr logierten bereits 72‘000 Inder und Inderinnen in Engelberg.20 Damit macht allein diese Reise gruppe übers Jahr gerechnet inzwischen ein Fünftel aller Übernachtungen in der Gemeinde aus. Längst haben sich neben dem Terrace etliche weitere Hotels auf die indischen Gäste spezialisiert. Die indischen Touristinnen und Touristen starten ihre Europareise meist in London und bleiben durch schnittlich drei bis vier Tage in der Schweiz. Von Mai bis September – also in den Monaten, in denen die indischen Gäste vor Ort sind – werden Reisende aus anderen Kulturkreisen vom Terrace allerdings nicht mehr aufgenommen, da sich der Hotelbetrieb dann ganz an den Bedürfnissen der indischen Reisenden orientiert. Über der Rezeption des alten Grand Hotels zeigt eine Uhr die Mumbaier Zeit, für das Wohlbefinden der Gäste sorgen neben indischem Servicepersonal ein indischer DJ sowie zahlreiche indische Köche. Die Essenszutaten und das Kochgeschirr werden direkt aus Indien angeliefert. Die indischen Mahlzeiten werden an Tischen eingenommen, die einer ganzen Grossfa milie Platz bieten, in der Lobby wird kostenloser Chai-Tee serviert. Von Gästen und Gastgebenden: Wechselseitige Imaginationen
Interessiert man sich für die Geschichten, die die indischen Reisenden über Engelberg bzw. die Engelberger/innen über die indischen Gäste erzäh len, so stellt man fest, dass der Kulturkontakt zwischen den indischen Reisenden und den Einhei mischen von relativ stabilen wechselseitigen Imaginationen geprägt ist – auch wenn die ersten indischen Pauschalreisenden bereits vor fast 15 Jahren in Engelberg ankamen. Die Inder/innen bringen in der Regel kein spezifi sches Bild von Engelberg mit. In den berühmten Bollywood-Produktionen spielt Engelberg – anders als beispielsweise Luzern – keine bezeichnende, geschweige denn eine je bezeichnete Rolle. Gefilmt wurde lediglich auf den Bergwiesen in der Um gebung des Ortes oder direkt auf dem Titlis. Nichts destotrotz haben die Inder/innen an ihren Aufent
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halt in Engelberg die konkrete Erwartung, dort «die Schweiz» erleben zu können. Und da die Bolly wood-Produktionen die Schweiz als perfektes indisches Filmparadies zeigen21, liegt die inzwi schen vielfach nachlesbare Folgerung nahe, dass die Inderinnen und Inder von Engelberg erwarten, ein idyllischer, blitzsauberer Schweizer Ort in pastoraler Landschaft zu sein, der möglichst viel Ähnlichkeit mit der mythisch verklärten nordindi schen Bergwelt aufweist. Die genannten Punkte haben – auch eingedenk der indischen Rundumbetreuung der Pauschalrei senden vor Ort – zu der einhelligen Diagnose geführt, dass die indischen Gäste in Engelberg ein «home away from home» zu erfahren wünschen.22 Diese Aussage mag nicht an sich falsch sein, ist sie doch beispielsweise ein recht häufiger empiri scher Befund in Bezug auf die Bedürfnisse von Pauschalreisenden. Interessant ist aber, dass diese Diagnose im Fall der indischen Pauschaltouristen/innen einen diskursiven Raum eröffnet hat, der bestimmte Reaktionen auf Seiten der Gastgebenden nahezulegen und zu legitimieren scheint. Hat sich die darin versteckte Erzählung «Die Inderinnen und Inder lassen sich auf uns nicht ein» erst einmal durchgesetzt, ist der Weg für Erzählun gen geebnet, die das «home away from home»-Ar gument zum Fluchtpunkt haben. Sie gehören längst zum alltäglichen Wissensbestand der Engelberger/-innen und können sogar in überregionalen Presseberichten nachgelesen werden. Beklagt wird in ihnen wahlweise die als unangemessen empfun dene laute Kommunikationsweise der indischen Gäste, ihre Gewohnheit, um Waren zu feilschen, ihre Vorliebe, in öffentlichen Gemeinschaftsräumen barfuss zu laufen oder ihre Hygienegewohnheiten im Sanitärbereich. Am häufigsten aber wird die Geschichte mit dem Bunsenbrenner erzählt. Sie berichtet, dass indische Grossfamilien in ihren Zim mern vielfach Campingkocher aufgestellt hätten, um dort die gewohnten heimischen Curries zuzube reiten. Eine direkte Quelle dieser Erzählung liess sich nicht in Erfahrung bringen; meine Interview partner/innen gaben auf Nachfrage einhellig an, lediglich jemanden zu kennen (der jemanden kannte), der oder die einen solchen Vorfall direkt beobachtet haben wollte. Wann und wo sich die Geschichte genau zugetragen haben sollte, liess sich ebensowenig rekonstruieren wie eine Klärung der Frage möglich war, warum die Familien dies – trotz indischer Rumdum-Verpflegung – zu tun gepflegt hätten. Engelberg: Ein «Indian Village»?
Die genannten Erzählungen mögen sich auch deshalb so hartnäckig halten, weil die indischen Touristinnen und Touristen während der SchweizEtappe ihrer Europa-Rundreise tatsächlich kaum Gelegenheit haben, Engelberg näher zu besichtigen. Vom oberhalb des Ortes gelegenen Terrace werden Tagesausflüge mit Bussen unternommen, natürlich auf den Titlis, aber auch auf das Jungfraujoch
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oder in Städte wie Luzern und Zürich.23 Entspre chend wenig Zeit bleibt den indischen Gästen, zwischen der Rückkehr der Busse und dem Abend essen im Hotel noch einen Bummel hinunter ins Dorf zu machen, und entsprechend knapp fallen die spontanen Kulturkontakte im öffentlichen Raum auch aus. Spaziert man durch Engelbergs Innenstadtbereich, so stellt man aber fest, dass sich in den Schaufens tern viele Artikel finden, die von den indischen Reisenden besonders gerne nachgefragt werden, und dass das Service- und Verkaufspersonal inzwi schen geschult wurde, um auf das Kaufverhalten der indischen Gäste professionell (und erwartungs konform) zu reagieren. Schilder mit Hinweisen wie «No bargaining!» finden sich nur in wenigen Schaufenstern. Im Gegenteil sind die meisten Einzelhändler/innen darum bemüht, sich auf die Ferienkultur24 der zahlungskräftigen neuen Touris tengruppe einzustellen – durchaus mit Erfolg. Allen praktischen und faktischen Annäherungen zum Trotz sind die lokalen und überlokalen Dis kurse über die indischen Gäste jedoch traditionel len Wissensbeständen verhaftet geblieben. Mit «traditionell» meine ich die von Autoren wie Stuart Hall25 oder Edward Said26 sorgfältig rekonst ruierten, in der Kolonialzeit wurzelnden, aber dennoch bis heute wirkmächtigen eurozentristi schen Denkmuster, die «den Westen» als den Höhepunkt der Zivilisation feiern und den «Rest der Welt» an seinem Massstab messen. Aus diesem Kontext stammt unser durch die oben beschriebe nen Anekdoten zuverlässig aufrufbares (Alltags-) Wissen, dass laute Kommunikation, Feilschen, Barfusslaufen und Kochen auf offenem Feuer in Hotelzimmern «primitiv» und «unzivilisiert» sei. Dass die oben genannten Verhaltensweisen zu nächst einmal nur «anders», also lediglich uns bislang fremde Ausdrucksweisen von sozialem Zusammenhalt, kommunikativer Kompetenz oder offen dargebotener Heimeligkeit sein könnten, kommt den Berichterstattenden nicht in den Sinn. Selbst die Unerfahrenheit der fliessendes Wasser im Sanitärbereich gewohnten Inder/innen mit westli chen Toiletten, die Toilettenpapier zur Säuberung vorsehen, wird als Ausweis von «Unzivilisiertheit» betrachtet. Dabei hatte der deutsche Soziologe Norbert Elias die Irritation der Inder/innen ob der hiesigen Hygienegewohnheiten schon vor achtzig Jahren als völlig nachvollziehbares Problem einer «zivilisierteren», da mit höheren Scham- und Peinlichkeitsschwellen ausgestatteten (indischen) Kultur – die die Säuberung von Hand tabuisiert – mit vergleichsweise laxeren (westlichen) Hygiene standards interpretiert.27 Während die Inderinnen und Inder sich also anschicken, den globalen Westen in der Rolle zu bedienender Gäste zu erobern, scheint den auf die Rolle der Dienstleistenden und Berichtenden verwiesenen Vertreter/innen der westlichen Kultur nichts anderes übrig zu bleiben, als auf die be schriebenen Machtverschiebungen im Feld des
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Tourismus mit einer Orientalisierung der indischen Reisenden zu reagieren.28 Dies mag zwar dabei helfen, die aus den Fugen geratene (Welt-)Ordnung auf dem Feld des Tourismus nun wenigstens diskursiv wiederherzustellen. Unter diesem Diskurs drohen jedoch sowohl das Wissen der indischen Reisenden zu verschwinden, dass die Schweiz nicht Indien - also «home» - ist, als auch die enor men Anpassungsleistungen, die die kleine Ge meinde Engelberg in Form von Personalschulun gen, kulinarischen Neuausrichtungen und baulichen Investitionen (zum Beispiel in die Umgestal tung von Bädern) in den letzten Jahren in vielstim miger Weise erbracht hat. Sybille Frank Dr. phil., *1972 in Elmshorn/Deutschland, ist Junior-
professorin für Stadt- und Regionalsoziologie an der Technischen Universität Berlin. Sybille Frank studierte Soziologie, Literaturwissenschaft und Geschichte an der Universität Bielefeld, der University of Glasgow und der Freien Universität Berlin. Von 2000 bis 2003 Arbeit sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) in einem deutsch-israelischen Forschungsprojekt; von 2003 bis 2011 wissenschaft liche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Technischen Universität Darmstadt und schließlich im interdisziplinären Darmstädter Stadtfor schungs-Schwerpunkt «Eigenlogik der Städte» beschäftigt. 2011/2012 vertrat sie die Professur für Soziologie des Raums an der Goethe-Univer sität Frankfurt. Seit 2011 leitet Sybille Frank gemeinsam mit Helmuth Berking das an der Technischen Universität Darmstadt angesiedelte Forschungsprojekt «Die Inszenierung des Ganzen. Stadtmarketing und die Eigenlogik der Städte». Publikationen (Auswahl): «Der Mauer um die Wette gedenken. Die Formation einer Heritage-Industrie am Berliner Checkpoint Charlie» (Campus 2009); «Stadium Worlds. Football, Space and the Built Environment» (Hrsg., Routledge 2010, mit Silke Steets); «Turn Over. Cultural Turns in der Soziologie» (Hrsg., Campus 2010, mit Jochen Schwenk). Ascheraden, Alexandra von. 2007. Bollywood in Switzerland. Der Arbeitsmarkt, 6, 20–25. Dwyer, Rachel. 2002. Landschaft der Liebe: Die indischen Mittelschich ten, die romantische Liebe und das Konsumdenken. In Alexandra Schneider (Hrsg.), Bollywood: Das indische Kino und die Schweiz, 97–105. Zürich: Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich. Elias, Norbert. 1976 [orig. 1939]. Über den Prozess der Zivilisation: Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bde. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Follath, Erich. 2006. Big Bang Bollywood. Der Spiegel, Hamburg, 3. Juni. Gasser, Hans. 2011. Das Alpen-Delhi. Online: http://hansgasser.de/ reportagen_alpen_engelberg. Abgerufen am 27. März. Hall, Stuart. 1994 [orig. 1992]. Der Westen und der Rest: Diskurs und Macht. In Ders., Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften, 2, 137-179. Hamburg: Das Argument. Hall, Stuart & Gieben, Bram. 1992. The west and the rest: Discourse and power. In Stuart Hall & Bram Gieben (Hrsg.), Formations of Moder nity, 275–320. Cambridge: Polity Press. Höchli, Alex. 1990. Engelberg, Schweiz. Engelberg: Verlag Buchhandlung Alexander Höchli-Délèze. Keller, Urs. 2005. Indische Touristen in der Schweiz. Internationales Asienforum, 3–4, 279–288. Keller, Urs, Backhaus, Ulrich & Elsasser, Hans. 2002. Bollywood und der indische Tourismus in der Schweiz. Tourismus Journal, 3, 383–396. Said, Edward. 2010 [orig. 1978]. Orientalismus. Frankfurt am Main: Fischer. Schneider, Alexandra. 2005. Die Schweiz im Hindi-Mainstream-Kino: Ein «Disneyland der Liebe». Internationales Asienforum, 3–4, 265–278. Schneider, Alexandra. 2002. «Home Away From Home» oder Warum die Schweiz im indischen Kino (k)eine Rolle spielt. In: Dies. (Hrsg.), Bollywood. Das indische Kino und die Schweiz, 136–145. Zürich: Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich. Shedde, Meenakshi. 2002. Die Schweiz: Ein Disneyland der Liebe. In Alexandra Schneider (Hrsg.), Bollywood: Das indische Kino und die Schweiz, 9–19. Zürich: Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich. Stauber, Rahel. 2000. Tourismus: Die Invasion der «neuen Japaner». Beobachter, 21. Thiem, Marion. 2001. Tourismus und kulturelle Identität. Aus Politik und Zeitgeschichte, B47, 27–32. Wenner, Dorothee. 2003. Happy End in Switzerland: Warum indische Bollywood-Filme in der Schweiz spielen, In: Ute Hoffmann (Hrsg.), Reflexionen der kulturellen Globalisierung: Interkulturelle Begegnun gen und ihre Folgen, 127–140. Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. World Tourism Organization (Hrsg.). 2011. Compendium of Tourism Statistics: Data 2005-2009. Madrid: World Tourism Organization.
1 Vgl. Gasser 2011 2 Vgl. Wenner 2003 3 http://www.superbrandsindia.com/images/brand_pdf/consumer_3rd_
edition/SOTC.pdf, abgerufen am 2. April 2012.
4 «The West and the rest», vgl. Hall/Gieben 1992 5 Wenner 2003: 131 6 a.a.O.: 135 7 Vgl. Schneider 2002; Shedde 2002 8 Schneider, 2005: 267 9 Follat 2006 10 Dwyer 2002; Schneider 2005 11 Dwyer, 2002: 98 12 Ascheraden 2007: 25 13 Dwyer 2002: 98; Ascheraden 2007: 23 14 World Tourism Organization 2011: 179 15 Keller/Backhaus/Elsasser 2002: 389 16 http://www.gde-engelberg.ch/dl.php/de/0civ5-xmpdcc/6477_bevlke
rungsstatistik_2011_gesamt.pdf, abgerufen am 2. April 2012.
17 http://www.gde-engelberg.ch/de/portrait/gemeindeinzahlen,
abgerufen am 2. April 2012.
18 Vgl. Keller 2005 19 http://www.twai-canada.com/site/sotc.html, abgerufen am 2. April
2012.
20 Vgl. Stauber 2000 21 http://www.migrosmagazin.ch/leben/reisen/artikel/k%C3%A4ptn22 23 24 25 26 27 28
iglu-und-die-inder, abgerufen am 2. April 2012. Vgl. Schneider 2005 Keller/Backhaus/Elsasser 2002: 391, Schneider 2002: 139 Keller, 2005: 283 Vgl. Thiem 2001 Vgl. Hall 1994 Vgl. Said 2010 Vgl. Elias 1976
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Hotspot Engelberg Kreuzungspunkt von Migranten/-innen und Touristen/-innen von Angela Sanders Im Vordergrund dieses Beitrages über indische Reisende und Arbeiter/innen im touristischen Dienst leistungsbereich stehen einerseits die sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Austauschpro zesse, die im Umfeld des globalisierten Tourismus stattfinden. Im Weiteren soll der jeweils spezifische kulturelle Raum, der durch diese Prozesse gebildet und geprägt wird, beleuchtet werden. Im Mittelpunkt des Interesses steht die internatio nale Dienstleistungsindustrie, insbesondere die migrantischen Arbeitnehmenden aus Indien, welche auf den Hinterbühnen des Tourismus die Fäden für einen reibungslosen Ablauf zusam menhalten, sprich, das touristische Erlebnis «Schweiz» garantieren. Tourismus und Migration
Die heutige Tourismusforschung ist fast unumgäng lich mit dem Phänomen der Migration konfrontiert, geht es doch in touristischen Settings in erster Linie darum, dem Gast während seines Aufenthal tes ein touristisches Erlebnis, in unserem Fall das Erlebnis «Schweiz», zu garantieren und dafür eine speziell geschaffene Infrastruktur bereitzu stellen, die zumeist durch einen saisonal befristeten und hochmobilen Personalbestand bewirtschaftet wird. Trotzdem wurden Tourismus- und Migrationsfor schung oftmals getrennt voneinander konzipiert und betrieben. Die Kulturwissenschaftlerin Ramona Lenz weist darauf hin, dass sich zwar beide For schungszweige explizit mit Mobilität auseinander setzen, beide jedoch – trotz des mobilen und durchaus vergleichbaren Forschungsgegenstandes – weitgehend dem Ideal der Sesshaftigkeit verhaf tet bleiben1. Lenz macht dabei auf künstlerische Projekte zum Thema «Migration und Tourismus» aufmerksam, die eine Art Vorreiterrolle bilden, da sie sich jeweils mit verschiedenen Mobilitätsfor men, deren Repräsentation und dem Verwischen von Grenzen zwischen den Kategorien ‹tourist› und ‹migrant› beschäftigen.2 Auch im Bereich der Medienberichterstattung werden die Themenfelder «Migration» und «Tou rismus» voneinander getrennt und diskursiv sehr unterschiedlich vermittelt: Während im Touris musbereich der Diskurs über nationale Erfolgsge schichten der Schweizer Touristiker dominiert, welche allen Krisen3 zum Trotz auch in der dies jährigen Saison wieder ihre Betten in den Alpen
füllen konnten, wird «Migration» in den Medien zusehends mit einer scheinbar mangelhaften Integration von Ausländern in die sogenannte Mehrheitsgesellschaft und den daherrührenden Problemen gleichgesetzt. Der ökonomische Nutzen durch die Arbeitskraft der Migranten für den Schweizer Tourismus, welcher mit seinen jährli chen Einnahmen von rund 15,6 Milliarden4 als einer der wichtigsten und beständigsten Wirt schaftszweige der Schweiz gilt, wird kaum reflek tiert, und dies obschon Tourismus als ein äusserst konjunkturabhängiger Sektor massgeblich von flexiblen migrantischen Personalbeständen und einer liberalen Arbeitsmarktpolitik abhängig ist. Tourismus steht somit in einem interessanten Wechselverhältnis zum Themenfeld der Migration. In der touristischen Ökonomie wird eine grosse Bandbreite von «low-» zu «high-skilled» Migran ten/-innen mit unterschiedlichem Aufenthalts status beschäftigt, und Mobilitäten in Tourismus und Migration werden durch kulturelle und soziale Vielschichtigkeiten geprägt, die sich überschneiden und durchkreuzen. Bereits im frühen 20. Jahrhundert wurde Tourismus als treibender Motor und eine Art Heilmittel im Zusammenhang mit den Schweizer Bergregionen gesehen, das den Bewohner/innen die Migration in die industriellen Zentren ersparte und die ökono mische Entwicklung vorangetrieben hat. Kulturelle Globalisierung und das touristische Bild der «Schweiz »
Im Forschungsprojekt «Und plötzlich China! – Das Setting ‹Schweiz› im globalisierten Tourismus»5 sind wir davon ausgegangen, dass touristische Destinationen kulturelle Settings bilden, die durch historische, individuelle und mediale Imaginatio nen geformt und durch die Partizipation unter schiedlichster Akteure ständig wieder neu ausge handelt und transformiert werden. Akteure aus Tourismus und Migration sind an diesen komple xen kulturellen Austauschprozessen nicht nur beteiligt, sondern bilden eine treibende Kraft der kulturellen Globalisierung, welche im Sinne Arun Appadurais (ungleiche) ‹global flows› von Bildern, Kapital, Menschen, Ideen und Ideologien darstellt.6 Das Image und der Raum einer Destination wird also nicht bloss durch die Tourismus-Experten kreiert, sondern vielmehr auch durch die Quintes
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senz aller Imaginationen, Wahrnehmungen, Begeg nungen, historischen Anekdoten, Geschichten und persönlichen Erfahrungen, welche die Akteure mit einem Ort verbinden. Bilder, die das ‹typisch Schweizerische› präsentieren, sind das Ergebnis von Interaktionen lokaler Akteure mit dem Blick der Reisenden; es sind sowohl nationale als auch touristische Bilder7. In diesem Sinne müssen auch ‹typische› Schweizbilder – etwa eine wilde, romantische Berglandschaft verbunden mit der Vorstellung eines urtümlichen freiheitsliebenden Volkes – auf die Bilder ausländischer Bergsteiger, hauptsächlich der Briten, zurückgeführt werden, die den ‹Alpin Tourism› im 19. Jahrhundert initiier ten und das alpine Panorama feierten.8 Das touristische Setting Engelberg wurde bereits vor gut einem Jahrhundert rege besucht: Frühe Touristen kamen einerseits aufgrund des bekannten Klosters, einer bekannten Benediktinerabtei, andererseits wegen des populären Sanatoriums. Als später Wintersportaktivitäten unter den Gästen immer beliebter wurden, baute man in Engelberg mehr und mehr vornehme Hotels, sogenannte Grand Hotels, welche sich mit dem allgemeinen Aufschwung der Bautätigkeiten in den 1880er Jahren zu einem neuen Hoteltyp entwickelten. Diese ‹Schlösser des Grossbürgertums› erhielten pres tigeträchtige Namen wie etwa ‹Europäischer Hof›, ‹Royal› oder ‹Crystal›, die auf Exklusivität für eine «gehobene Klientel» verweisen.9 Im Zentrum meines Interesses steht das ein wenig über dem Dorf situierte ‹Grand Hotel Terrace Palace›, das eine exklusive Aussicht über das Tal und die Alpen bietet und während der Belle Époque von einer internationalen wohlhabenden Elite besucht wurde, welche die kosmopolitische Stimmung in tou ristischen Räumen schätzte. In diesem Sinne konstituiert und formiert sich der touristische Raum rund um das ‹Hotel Terrace› in Vergangenheit und Gegenwart durch eine Vielzahl von Pfaden und Begegnungen unterschied licher sozialer Akteure: Frühe Alpinisten, Mitglie der der europäischen Bourgeoisie, Bauern, religiöse Gruppen, lokale Unternehmer, migrantische Ar beitskräfte, Manager und heutzutage auch asiati sche Touristen gehören dazu. Curry, Chai und Cricket
Tatsächlich bilden seit über zehn Jahren die indi schen Reisenden eine der am stärksten expan dierenden Touristengruppen in der Schweiz - sie wurden in den vergangenen Jahren zunehmend wichtiger für die Tourismusindustrie.10 Es ist heute ein offenes Geheimnis, dass die in den Schweizer Bergen gedrehten Bollywood-Sequenzen als Gratis werbung in Indien nachhaltig gewirkt und Tau sende von indischen Gästen in die Zentralschweiz geführt haben, bedient sich doch die Begehrensbzw. Sehnsuchtsproduktion im Film ähnlicher Bilder wie der Tourismus. Natürlich haben die meisten touristischen Anbieter diesen «Nebenef fekt» des Kinos erst spät mitbekommen.
Obwohl der indische Tourismus in der Schweiz bereits Ende 1990er Jahren seinen Anfang nahm, begann der Wettbewerb zwischen den verschiede nen Destinationen um die indischen Gäste erst vor ein paar Jahren: Schweizer Zeitungen titelten 2007 «Interlaken entdeckt Indien», berichteten über eine authentische «Indian Dinner Cruise» auf dem Brienzersee11 und schrieben «Luzern bear beitet Indien aktiv».12 Der wohl herausragendste Event, um den wachsenden indischen Tourismus markt zu stimulieren, wurde jedoch von Jung fraujoch Railways organisiert und übertraf jegliche touristische Performance; auf beinahe 3500 Meter auf dem Gipfel des Jungfraujochs fand 2009 das erste Cricket Turnier statt13. Eingeladen waren der legendäre ‹Indian Cricket Club› sowie ein britisches Team. Interessant wird beim Vergleich der konkurrieren den Tourismusdestinationen, dass asiatische Touristengruppen auch an Orten absteigen, die abseits der touristischen Hotspots gelegen sind.14 So fallen unter die zwanzig von chinesischen Gästen meistbesuchten Orte in der Schweiz Vororte Zürichs wie Rümlang oder Opfikon. Das ist insofern keine wirkliche Überraschung, wenn man dem Diskurs über indische Touristen in den Schweizer Medien folgt. Enthusiastische Schlagzei len wie «Hurra, die Inder kommen!»15 in den 1990er Jahren wurden bald von einem vermeintlich «schlechten Ruf», der den indischen Touristen vorauseilte und welchen die Medien über die Jahre gezielt auszubeuten wussten, abgelöst. Noch 2010 lässt eine Schweizer Tageszeitung verlauten, dass es jetzt in «Luzern, der touristischen Hauptstadt der Schweiz,» um Grundsätzliches gehe: «In einigen Hotels ist eine ganze Kaste von Gästen nicht mehr erwünscht: die Inder.»16 Viele Luzerner Hotels scheinen deshalb keine indischen Touristengrup pen aufzunehmen und verpassen damit den Anschluss an ein wichtiges Kundensegment. Aber auch Touristiker aus exklusiven Hotspots wie Davos oder Zermatt behalten sich lieber die oberen, kaufkräftigeren Touristensegmente vor anstatt die Gruppenreisenden. Gleichzeitig kritisieren sie, dass in der Umgebung von Zürich und Luzern Über nachtung, Verpflegung oder auch Bergbahnfahrten zu Dumpingpreisen und Sonderkonditionen angeboten würden und so das «Image der Schweiz zerstört» würde17. Unterdessen übernachten auch indische Pauschalreisende bei ihrer Ankunft in der Schweiz oft in der Agglomeration von Zürich, verköstigen sich in authentischen indischen Res taurants im Luzerner ‹Babelquartier› – welches als «typisches Ausländerquartier» gilt - und verbringen ihren drei- bis viertägigen Kurzurlaub in der Schweiz zumeist im kleinen Dorf Engelberg, das ungefähr eine einstündige Busfahrt von Luzern entfernt liegt.18 Backstage: Learn and Earn
Hier hatte das ‹Grand Hotel Terrace› über mehrere Jahre leer gestanden. Heute werden während des
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Winters vorwiegend junge Snowboarder beherbergt, und in der Sommersaison von Mai bis September richtet sich das Hotel speziell auf indische Grup penreisen aus. Die originale indische Küche wird durch ein indisches Gourmet-Gastrounternehmen gewährleistet, das dafür jedes Jahr mindestens sieben verschiedene Gourmet-Köche aus unter schiedlichen Regionen Indiens kommen lässt, die auf die Bräuche und zum Teil vegetarischen Essens regeln der indischen Reisenden spezialisiert sind. Nach einer Exkursion auf den Titlis oder nach Luzern warten die allabendliche Bollywood-Disco oder eine Karaoke-Show auf die indischen Fami lien. Animiert werden sie von einem Tour Guide, der im ‹Hotel Terrace‘ auf seinen Transfer nach London wartet, wo er schliesslich wieder eine neue Touristengruppe in Empfang nimmt und durch Europa begleitet. Mobilität stellt für den Grossteil der Arbeitnehmen den im ‹Hotel Terrace› nicht die Ausnahme, son dern die Norm dar - ihre individuellen Migrations projekte sind zumeist mit Transnationalisierungsprozessen moderner Gesellschaften verwoben. Während meiner Anwesenheit im ‹Hotel Terrace› lernte ich Personen aus über acht unterschiedlichen Nationen kennen, angefangen bei der Reinungs fachfrau aus Portugal, die heimlich ihre Tochter in die Schweiz holen musste, da man ihr dafür keine Erlaubnis gab, über den kurdisch-irakischen Asylbewerber, der aufgrund seiner politischen Probleme in der Heimat hofft, dass sein Antrag von den Schweizer Behörden positiv beantwortet wird, bis zu tamilischen Flüchtlingen, die im hotel eigenen Spezialitäten-Restaurant «Chandra» als (indische) Kellner arbeiten sowie den indischen Tour Guides und Köchen, welche alle im ‹Hotel Terrace› logieren. Das indische Catering-Unternehmen rekrutiert die indischen Gourmet-Köche sowohl für das Restau rant «Chandra» im ‹Hotel Terrace› wie für die Restaurants der unterschiedlichen Seilbahnstatio nen als auch für die mobilen Küchen, die den Touristengruppen bis zum Rheinfall an der deut schen Grenze folgen und ihnen nach ihrer Boots fahrt auf dem Rhein Chai und kleine Gerichte anbieten. Für diese «spezialisierten Dienstleistun gen» stellt das Bundesamt für Migration Kurz aufenthaltsbewilligungen aus, die den indischen Arbeitnehmenden je nach ihrem jeweiligen Arbeits vertrag den Aufenthalt für bis zu sechs Monaten erlauben. Die Bewilligungen für sogenannte Dritt staatenangehörige werden nur erteilt «wenn deren Anstellung einem gesamtwirtschaftlichen Interesse entspricht».19 Ähnlich wie die Tour Guides, arbeiten die Köche während ihrem fünfmonatigen Aufenthalt in der Schweiz täglich von fünf Uhr morgens bis elf Uhr nachts. Während meiner Feldforschung zeigt mir ein Koch bei einer der Seilbahnstationen die diversen Ge richte und erklärt mir auf meine Frage, wieviel er verdiene:
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«They are, they are paying the staff depends on their experience, depends on their project, so I am in this project like that. How the project will go, that’s how my salary will be decided. It is basically learn and earn, you know?» (…) Mobilität, Vertragsarbeit und die Tatsache, dass soziale Beziehungen über räumliche und geographi sche Distanzen gelebt werden, sind für viele Men schen, die entlang den Routen des indischen Tourismus arbeiten, zum Alltag geworden: sei es für die italienischen und tschechischen Busfahrer, die die Touristen durch ganz Europa chauffieren, oder für die ukrainische Crew, die Schiffsausflüge auf dem Vierwaldstättersee durchführt. Ein Blick «backstage» auf die touristischen Hinter bühnen zeigt, dass die Zuständigkeiten und An stellungsbedingungen im ‹Hotel Terrace› verwischt werden: Das Hotel gehört dem Dorf Engelberg, die Bergbahngesellschaft bewirtschaftet es zwar, aber vor Ort managen die zwei indischen Unter nehmen das Geschäft; ältere, bereits pensionierte Männer arbeiten als Repräsentanten der Firmen und üben als informelle Supervisoren Kontrolle aus, indem sie die Qualität des Essens bewerten oder abends die Einkünfte der mobilen Küchen zählen und zudem behaupten, sie würden diese Arbeiten aus «Freundschaft» verrichten. Es entsteht der Eindruck, als ob in dieser Grauzone des globalisierten Tourismus ein Billiglohnland in die Schweizer Alpen transferiert würde, ähnlich wie bei Outsourcing-Prozessen. ‹Hotel Terrace›, wo noch immer eine Brise der Belle Époque weht, erinnert an ein altes Kreuzfahrtschiff, welches eher unbeholfen durch einen extra-legalen Ozean navigiert. An Bord befindet sich die internationale Crew, die flexibel auf Konjunkturschwankungen und Nachfrage reagiert. Mit dem indischen Tourismus in Engelberg wurde ebenso ein «transnationales Set» von Insider-Ar beitsmethoden, Regeln, Bewilligungen und ein Hierarchiesystem mitgeliefert, ähnlich wie man sie auch in Grenzgebieten oder Transitzonen antrifft. Das Geschehen ist temporären und zum Teil will kürlichen Bedingungen ausgesetzt und von aussen nicht leicht durchschaubar. Das Niedrighalten der Kosten hat jedoch auch den positiven Effekt, dass das Reisen im «Package-Angebot» günstiger und demnach auch demokratischer geworden ist. Picknick im transitorischen Raum
Auch das Hotel übernimmt eine Art Transitfunk tion. Die indischen Gäste sind entweder ganz früh morgens oder spät abends im Hotel zu sehen, so dass die drei Gruppen, die zumindest temporär unter dem Dach des ‹Hotel Terrace› wohnen, nur am Rande in Kontakt kommen: Die indischen Angestellten und Touristen sowie Mitarbeiter aus der Schweiz oder aus Europa und die lokale Be völkerung. Dies erklärt vermutlich auch, warum stereotype Vorstellungen so lange erhalten bleiben. Ein Tour Guide, der mir in seiner Mittagspause im Bergbahnrestaurant Trübsee ein kurzes Inter
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view gab, sieht die Position indischer Reisenden folgendermassen: «(they are) still trying to learn, to understand what Western life is». Neben den unzähligen komplizierten Problemen wie Visa-Ange legenheiten oder dem Einhalten des Reisezeitplans, welche die Tour Guides täglich zu lösen haben, weist er mich darauf hin, dass die Reisenden «immer noch als Inder oder als Asiaten behandelt würden» («still ill treated or dominated as Indians or as Asians...» ). Die Touristen würden dies nicht verstehen. Sie seien in den Ferien, oder wie er es erklärt: «they are on picnics». Die indischen Touristen möchten ihre Reise genies sen im «heaven alike» Engelberg, und ihre Faszi nation für die Schweiz beruht in erster Linie auf der ästhetischen Kulisse. Dies wird auch in den unzähligen Hindi Filmszenen deutlich, in welchen die pittoreske Landschaft der Schweiz abgebildet wird. Die Handlung der Filme spielt jedoch meist nicht in der realen Landschaft der Schweiz, es handelt sich vielmehr um eine metaphorische imaginäre Landschaft, einen exotischen Schauplatz für die Bollywood-spezifischen Tanz- und Gesangs einlagen. Die Schweiz erscheint als Projektionsfläche, als Schauplatz eines verbesserten indischen Alltags.20 Es erstaunt deshalb nicht, dass das schweizerischindische Reiseunternehmen in seinem Reisekatalog in einer blumigen Bollywoodsprache die Schweiz bewirbt: «The extreme beauty of Switzerland is unsettling. Wild, untamed Alps flood the senses and pure snow-caressed air enters the body. Speechless and unable to think, there’s a primordial sense of the eternal; the heart begins to stir. Tinkling cowbells recede into dreaminess, before a meadow full of Edelweiss startles you awake. Here the Alps tinkle with cowbells, knives are souvenirs, and chocolate is perfect. Switzerland is so idyllic, you tend to forget they have banks, too.» Es ist schwierig, diesen Text der realen Welt zuzu ordnen. Er beschreibt viel eher die Kreation eines Ortes, der nie da war… Viele Texte zu Tourismus basieren auf der Narration der «Zerstörung»: da Touristen «fremde» Konzepte importieren und lokale Traditionen mit der An kunft von Touristen zur alltäglichen Massenware werden, scheint es, als würde Tourismus lokale Systeme kontaminieren und zu «trouble in para dise» führen. Das mag für gewisse Regionen in der Welt zutreffen. Im Falle des indischen Tourismus in der Schweiz ist der touristische Blick21 jedoch ortlos geworden. Das Begehren nach intensivem Erleben genügt seiner eigenen Authentizität auch ohne äussere Simulation des «Authentischen».22 Im Prozess der Mobilität reisen die indischen Räume mit den Touristen mit und bestätigen ihre Imagination. Indische Touristen ziehen nicht los, um authenti sches Wissen vor Ort zu entdecken, wie es einige Zeit vor ihnen europäische Wissenschaftler taten. Vielmehr hat sich durch ihre Präsenz in Engelberg
ein neuer Raum formiert, welcher sich ständig neu entfaltet und verändert. So hat beispielsweise der indische Besitzer des Gourmetfood-Unterneh mens in Engelberg sein eigenes Hotel gekauft, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis es ihm andere gleich tun… So hat sich im globalisierten Tourismus von heute durchaus die klassische Blickrichtung – ursprüng lich aus dem ‹entwickelten› Zentrum Europas auf den ‹exotischen Süden› gerichtet – umgekehrt. Wie ein Tour Guide stolz betonte: «People of the so-called ‹Orient› will even come in greater numbers to Europe». In diesem Sinne können wir durchaus davon ausgehen, dass touristische Destinatio nen oder deren «Image» keine fixe Bedeutung haben, sondern dass der touristische Raum ständi ger Transformation ausgesetzt ist. Die indischen Touristen und Migranten/-innen scheinen jedoch für diese Veränderungen sowie für das Zusammen spiel von konstruierten Erfahrungen in touristi schen Destinationen bestens vorbereitet zu sein. Angela Sanders *1974 in Zürich. Seit 2011 Doktorandin am Swiss Forum for Migration and Population Studies (SFM), Neuchâtel, assoziierte wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theorie (ith), ein Forschungsinstitut der Zürcher Hochschule der Künste. Studium der Ethnologie, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte und Filmwissenschaft an der Universität Zürich und der University of Edinburgh Master of Art in Public Sphere (MAPS), Hochschule Luzern – Kunst & Design SNF-Promotionsstipendium im Rahmen des Marie-Heim-Vögtlin-Programms (2011-2013) Publikationenen (Auswahl): »Titlis, Terrace, Truebsee: A Troubled Paradise? – Indian Tourism in the Swiss Alps». In: Jill Scott et al. (Hg.): Transdiscourse 2. Turbulent Societies. Springer Wien, erscheint 2012; »Itineraries within the Spanish-Moroccan borderlands”. In: do not exist: europe, woman, digital medium, Claudia Reiche, Andrea Sick (Hg.), Bremen Juli 2008; »Contested Space. Zürich - Berlin - Tokyo. Ein Essay über die temporäre Aneignung von öffentlichen Räumen». In: Der Raum der Stadt, Jürgen Krusche, Japanisch-Deutsches Zentrum Berlin (Hg.), Mai 2008.
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Au feina n der zu u n d a n eina n der vor bei – A spekt e ein er gegenseitigen B e e i n f l u s s u n g z w e i e r Pa r a l l e lw e lt e n
Neue Luzerner Zeitung, 30. März 2007, «Luzern bearbeitet Indien aktiv» Bilanz, Zürich, 8. Juni 2007, «Touristen aus China: Billigpreisland Schweiz» Cash, Zürich, 21. Mai 1999, «Hurra, die Inder kommen!» Migros Magazin, Zürich, 6. Februar 2012, «Käpt’n Iglu und die Inder» Tages Anzeiger Zürich, 19. Juni 2010, «Mit dem Gaskocher ins Luxus hotel» Webseiten Bundesamt für Migration http://www.bfm.admin.ch/content/bfm/de/home/dokumentation/ medienmitteilungen/2011/ref_2011-11-233.html Bundesamt für Statistik http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/10/01/pan.html Gourmetindia Luzern http://www.gourmindialuzern.com/about-gourmindia.html Longines Cricketplayers Jungfraujoch http://www.longines.fr/events/2009/Longines-legendary-cricket-play ers-Jungfraujoch Institut für Theorie (ith), ein Forschungsinstitut der Zürcher Hochschule der Künste http://www.ith-z.ch/forschung
B a r b a r a Em m en egger im Ge spr äch mi t Pe t er Spil l m a n n
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1–4 Betrieb rund um einen mobilen Verpflegungsstand von GourmIndia (Fotos: Angela Sanders)
In Luzern hat sich der Tourismus in den vergangenen 200 Jahren ganz offensichtlich in die Struktur der Stadt eingeschrieben, und die im Tourismus geschaffenen sozialen Ver hältnisse aus dem 19. Jahrhundert sind immer noch ablesbar. Reiche Gäste stiegen in den grossen Hotels am See oder auf den Hügeln ab, an sonnenexponierter Lage und mit Panorama blick in die Alpen. Bescheidene Häuschen für Dienstboten und Kutscher lagen dagegen in schattiger und feuchter Lage hinter dem Gütsch versteckt am damaligen Stadtrand – man findet sie noch heute im Bereich der Basler- und Bernstrasse. Barbara Emmenegger Die eingeschriebene Ge schichte des Tourismus lässt sich auch in den öffentlichen Räumen der Stadt ablesen. Da gibt es ja zum einen die wunderbare Seepromenade, die durch die Hotels selbst vom Verkehr geschützt ist und bis heute als ein wichtiger öffentlicher Raum in Luzern intensiv von verschiedensten Menschen genutzt wird - zum Spazieren und Flanieren bei schönem Wetter über Mittag oder am Wochenende. Peter Spillmann Wobei letzteres wohl für die Luzerner Dienstboten nicht galt. Sie mussten früher wohl ausschliesslich die Strasse an der Rückseite der Hotels benutzen, um zu ihrem Arbeitsplatz zu gelangen. Barbara Emmenegger Ja, interessant ist jedoch, dass die Luzerner und Luzernerinnen sich die schönen touristischen Orte wie zum Beispiel die Seepromenade oder das Reussufer in der Altstadt immer auch selbst zu eigen machen und sie nicht ganz dem Tourismus überlassen. Grundsätzlich – und das ist ja auch sehr schön in Luzern zu beobachten – hat sich die Nutzung und Aneignung öffentlicher Räume im Laufe des letzten Jahrhunderts stark verändert, demokratisiert. Seepromenaden und Parks, wie zum Beispiel das Arboretum in Zürich, galten ursprünglich als Flanier meilen des gehobenen Bürgertums - heute werden sie von den breiten Massen intensiv genutzt und geschätzt. Dies täuscht jedoch nicht darüber hinweg, dass öffentli che Räume auch heute immer noch Orte des Ausschlusses bestimmter Gruppen sind. Peter Spillmann Jedenfalls ist interessant, dass die Promenade am See, die perfekt die Idee des bürgerlichen Öffentlichkeitsbegriffs des 19. Peter Spillmann
1 Vgl. Lenz 2010: 80 2 Vgl. Lenz 2010: 81-96 und die von ihr erwähnten künstlerischen
Arbeiten unter anderem von Lisl Ponger (Passagen, 1996), Michael Zinganel et al. (Saisonstadt, 2006), Spillmann und Zinganel (Backstage*Tourismus, 2004) sowie Christoph Oertli (no sunday no monday, 2004). 3 Vgl. «Dem Schweizer Tourismus steht das Schlimmste noch bevor», NZZ 12.7.2009; «Eurokrise in den Alpen», NZZ 17.7.2011; «Schwei zer Tourismus kämpft gegen ein Ungeheuer», NZZ 31.10.2011 4 Vgl. Bundesamt für Statistik 2011, http://www.bfs.admin.ch/bfs/ portal/de/index/themen/10/01/pan.html 5 Das Forschungsprojekt war 2006/07 am Institut für Theorie (ith) der Zürcher Hochschule der Künste angesiedelt, vgl. dazu http://www. ith-z.ch/forschung 6 Vgl. Appadurai 1996 7 Vgl. Spillmann 2007 8 Vgl. Gyr 2010 9 Vgl. Spillmann 2007 10 Gemäss einem ehemaligen Mitarbeiter der Schweizer Vertretung in Mumbai, stellt es ein «Ding der praktischen Unmöglichkeit» dar, alle Visumsanträge zu begutachten. Aus diesem Grund wird «der ganze Visumsprozess ausgelagert» an eine private Firma, welche die Tochterfirma von Kuoni betreibt und die Visa-Anträge für Schweizer Vertretungen vorkontrolliert. 11 Berner Zeitung, 22. März 2007, «Schweizer Touristiker entdecken Indien. Indische Sitten für Anfänger» 12 Neue Luzerner Zeitung, 30. März 2007, «Luzern bearbeitet Indien aktiv» 13 Vgl. http://www.longines.fr/events/2009/Longines-legendary-cricketplayers-Jungfraujoch 14 Bilanz, 08.06.2007, «Touristen aus China: Billigpreisland Schweiz» 15 Cash, 21. Mai 1999, «Hurra die Inder kommen!» 16 Tages Anzeiger Zürich, 19. Juni 2010, «Mit dem Gaskocher ins Luxushotel» 17 Bilanz, 8. Juni 2007, «Touristen aus China: Billigpreisland Schweiz» 18 Vgl. dazu auch den Beitrag von Sybille Frank «Indien in der Schweiz - Engelberg als global-lokale Kontaktzone» in diesem Heft 19 Vgl. http://www.bfm.admin.ch/content/bfm/de/home/dokumenta tion/medienmitteilungen/2011/ref_2011-11-233.html 20 Vgl. Schneider 2002 21 Urry und Sheller 2004 22 Spillmann 2007
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Jahrhunderts verräumlicht, indem sie ein Ort war, wo die neue Klasse flanierte, sich zeigte, sich gegenseitig begutachtete und über familiäre, politische und kulturelle Grenzen hinweg in einen Austausch trat, dass dieser Ort bis heute Raum für die Öffentlichkeit schafft. Demgegenüber schreibt sich der aktuelle Touris mus, beispielsweise das für Luzern spezifische Segment von Pauschaltouristen aus Asien, ganz anders in die Stadt ein. Er produziert im Grunde keine Öffentlichkeit mehr. Barbara Emmenegger Der Schwanenplatz und der Löwenplatz wären an sich prominente städtische Plätze, die zurzeit jedoch völlig dem Bustourismus geopfert werden. Für den intensiven Personenumschlag und die zahlreichen Hin- und Wegfahrten von Bussen werden beide Plätze zu Verkehrs drehkreuzen degradiert – so wie übrigens auch der Bahnhofplatz, der völlig vom öffentlichen Verkehr beansprucht und vom Individualverkehr umzingelt wird. Alle diese Plätze könnten auch ganz anders genutzt werden. Als Tore zur Stadt oder als Treffpunkte könnten sie grosszügige Flä chen anbieten. Die Stadt bekäme an diesen Stellen einen ganz andern Charakter. Diese Plätze könnten den Bahnhof, die Altstadt und den See mit seinem Landschaftspano rama in Szene setzen. Am Löwenplatz fällt auf, dass die für Luzern interessanten Nutzungen, etwa die kulturellen Institutio nen im Bourbaki-Panorama, völlig nach innen gerichtet sind. Aussen sind eigent lich nur noch Uhren präsent. Peter Spillmann Wie wirken denn spezifisch touristi sche Nutzungen, wie man sie in Luzern beobach ten kann, auf den Alltag und die Handlungen der übrigen Stadtbenutzer und -benutzerinnen zurück? Barbara Emmenegger Die Gruppenreisenden, die ja zahlenmässig mit Abstand die grösste Gruppe von Touristen und Touristinnen in Luzern bilden, bewegen sich nur in einem sehr engen Umfeld: ihre Präsenz beschränkt sich auf den Schwanenplatz, das Seeufer, den Raum zwischen dem Löwendenkmal und dem Löwenplatz mit vielleicht noch einem Abstecher ans Reussufer und über die Kapellbrücke. Wohl trägt diese Masse an Menschen indirekt vielleicht zu einem gewissen grossstädtischen Flair bei, weil dadurch die Orte sehr frequentiert sind. Ich wage aber zu behaupten, dass
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diese in sich geschlossenen, grossen Gruppen von den Luzernern und Luzernerinnen schlichtweg ignoriert und nicht mehr wahrgenommen werden. Zu einem eigentli chen Austausch zwischen Gästen aus verschiedenen Nationen und Bewohnern/innen von Luzern kommt es kaum. Viel leicht wird man mal gebeten, ein Gruppen foto zu schiessen, aber man wird dabei kaum erfahren, wo jemand her kommt, was die Gäste beruflich tun, was ihre kulturel len Vorlieben oder gar politischen An sichten sind. Dazu fehlt eine gemeinsame Situation und Zeit. Der Zeitdruck der Gruppenreisen muss gross sein.
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Es ist bekannt, dass in Reisearrange ments für Gäste aus Indien oder China, die beispielsweise in elf Tagen acht europäische Länder besuchen, für die Schweiz durchschnitt lich 1,2 Tage eingerechnet werden. Für Luzern bleiben so rund 50 Minuten übrig! Barbara Emmenegger Die verfügbare Zeit und die Masse an Touristen machen ja den grossen Unterschied zum Tourismus von vor hundert Jahren aus. Die Umstellung nach der grossen Tourismuskrise auf den Mas sentourismus war auch für die Luzerner Öffentlichkeit recht einschneidend. Früher blieben Gäste viel länger hier, logierten in den Hotels und bereisten die Gegend, hatten Zeit, sich Museen und Sehenswür digkeiten anzuschauen und in lokalen Restaurants essen zu gehen. Ab den 1970er und1980er Jahren waren es vermehrt japanische und später koreanische Grup pen, die - wie heute die Gäste aus Indien und China - nur schnell über die Kapellbrü cke und durch die Stadt rannten. Darüber hat man sich erst auch sehr lustig gemacht, doch heute werden sie – so scheint mir praktisch übersehen. Ich denke, dass sich Luzern längst an den Massentourismus gewöhnt hat und ihn bis zu einem gewissen Grad ignoriert. Trotz dem scheint der Stolz auf das touristische Erbe aber nach wie vor vorhanden. Peter Spillmann Verschiedene prominente Orte wie der Schwanenplatz, Löwenplatz, Europaplatz sind Peter Spillmann
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durch die Überlagerung von unterschiedlichen Nutzungen geprägt. Die Touristen bilden dabei nur eine Akteursgruppe. Was bedeutet das für den städtischen Raum? Sind diese Orte also quasi übernutzt? Barbara Emmenegger Die Verwendung des Begriffs «Übernutzung» in Zusammenhang mit öffentlichen Räumen finde ich sehr proble matisch. Städte buhlen im Benchmarking um Aufmerksamkeit. Öffentliche Räume sind dabei ein wesentlicher Faktor im Ranking, sie werden herausgepützelt und aufgewertet, kommerzialisiert und bewor ben. Entsprechend, und dies ist ja dann auch ein Zeichen des Erfolgs, werden die Räume auch genutzt. Von Übernutzung wird oft dann gesprochen, wenn gewisse Gruppen von Menschen oder Formen der Aneignung öffentlicher Räume nicht erwünscht sind. Die Rede von Übernutzung ist im Grunde eine politisch korrektere, aber verdeckte Forderung nach Ausgren zung. Auch Littering ist oftmals nur das Ergebnis einer intensiven Nutzung des öffentlichen Raumes. Sich überlagernde Nutzungen in öffentlichen Räumen sind üblich, überall zu beobachten und werden in Zukunft zunehmen. Öffentliche Räume und deren Unterhalt müssen entsprechend dynamisch sein und darauf reagieren können. Speziell ist vielleicht, dass der Tourismus in Luzern an bestimmten Orten eine praktisch berührungsfreie eigene Nutzungsebene bildet. Der mit der Infra struktur für den Massentourismus belastete Teil des Schwanenplatzes zwischen Buche rer und Gübelin ist nur noch reiner Um schlagplatz und wird so zu einer Art «Nicht-Ort» im Sinne von Marc Augé. Das macht es Einheimischen vielleicht auch einfacher, diese Orte auszublenden. Peter Spillmann Zu einem Austausch, zu Kontakten zwischen den verschiedenen Nutzergruppen kommt es offensichtlich nicht. Könnte das z.B. durch eine andere, «bessere» Gestaltung geändert werden? Barbara Emmenegger Zuerst stellt sich die Frage, was Austausch bedeutet und welche Formen von Austausch zwischen unterschied lichen Gruppen denn sinnvoll wären. Wir haben in unseren Forschungsarbeiten zu öffentlichen Räumen beobachtet, dass die einzelnen Gruppen, trotz räumlicher Nähe, gerne unter sich bleiben, als eine wichtige Form von Distinktion. Wir haben aber auch beobachtet, dass zwischen den Gruppen sehr wohl Interaktion statt findet, ob dies nun mit kleinsten Gesten, Blicken oder Abgrenzungsmanövern geschieht oder schlicht durch die Tatsache der Anwesenheit der anderen. Die Formen von Nutzung und Aneignung öffentli
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cher Räume sind oft sehr kreativ und von der ursprünglichen Gestaltung keinesfalls so vorgesehen. Zum Beispiel ein schöner Mittag an der Seepromenade – das ist doch fantastisch, wo sich die Leute überall hinsetzen, wo sie sogar noch ein kleines Plätzli für ein Nickerchen finden, wo geturtelt und geschäkert wird. Gestaltung hinkt meist weit hinter sozialen Praktiken zurück. Es wird zwar immer wieder ver sucht, mit Hilfe von Planung und gestalteri schen Massnahmen spezifische Nutzungen zu fördern, andere zu verhindern oder zu unterdrücken. Tatsache ist aber, dass kaum vorauszusehen ist, was die Nutzer/ innen in einem spezifischen öffentlichen Raum tun und lassen werden. Sie tun, was sie wollen. Peter Spillmann Shopping und Konsum scheint ein gemeinsames Merkmal zu sein, das Touristen und Touristinnen mit andern Nutzergruppen teilen, wobei die Formen des Konsums und die «begehrten Produkte» offensichtlich variieren. Barbara Emmenegger Ich denke, es gibt Parallel welten, was die Nutzung öffentlicher Räume, aber auch den Konsum betrifft. Zum einen hat sich die Altstadt von Luzern ja, wie in allen Städten Europas zu beob achten ist, hin zu einem globalen ShoppingCenter entwickelt. Ob ich in Barcelona, Rom oder in der Luzerner Altstadt einkau fen gehe, überall habe ich die beruhigende Gewissheit, die bekannten Läden mit den bekannten Labels vorzufinden. Das macht die Innenstädte ja so schrecklich langwei lig. Lokale und touristische Konsumenten/-innen treffen sich hier wohl alleweil. Dann gibt es aber auch immer einige spezifische Läden, die sich ganz auf den Tourismus einstellen; Uhrenläden wie Bucherer und Gübelin, die ihre Dienstleis tungen ganz auf den asiatischen Massen tourismus ausrichten, oder Bally, der auch im tiefsten Winter ein grosses Angebot an Sommerschuhen führt, um den globalen Jahreszeiten gerecht zu werden. Es existie ren also mitten in der Stadt an verschie denen Stellen eigentliche Parallelwelten, die ökonomisch und vermutlich auch kulturell nur für Touristen funktionieren. Peter Spillmann Auch die Situation rund um das Löwendenkmal stellt eine solche Parallelwelt dar. Barbara Emmenegger Ja, die Situation hier erin nert in erstaunlicher Weise an einen verges senen Hinterhof. Der Anlage wirkt so, als hätte die Stadt überhaupt kein Interesse an diesem Ort. Immerhin ist es im Kontrast zum dröhnenden Verkehr dem See entlang und auf dem Löwenplatz hier ruhig. Der Ort wirkt nahezu kontemplativ, was ja wiede
rum die positive Seite einer fast vergesse nen Ecke wäre. Peter Spillmann Das Löwendenkmal von Luzern ist tat sächlich das meistbesuchte Monument der Schweiz. Millionen von Touristen pilgern hier vorbei. Die drei Minuten Fotoshooting vor dem sterbenden Löwen sind quasi der kulturelle Ankerpunkt eines Schweizbesuchs. Hier wird für einen Moment greifbar, wo man ist, in Europa, in der Schweiz. Das ist vergleichbar mit dem Eiffelturm in Paris. Barbara Emmenegger Haben die vielen Besucher und Besucherinnen eigentlich überhaupt eine Ahnung, was das Denkmal bedeutet? Es steht ja für eine komplexe, aus heutiger Perspektive fast unschweizerisch anmu tende historische Begebenheit; Söldner, die den französischen König gegen die Revolu tion mit ihrem Leben verteidigen! Peter Spillmann Es steht somit für das Ende der alten Eidgenossenschaft und des Söldnerwesens, was ja ein wichtiger Teil der Innerschweizer Kultur darstellte und viele Familien reich, aber auch immer wieder unglücklich machte. Viel leicht braucht Tourismus genau solche kulturel len Orte, die eigentlich Leerstellen darstellen, denen sich niemand mehr so richtig verpflichtet fühlt, an denen niemand mehr hängt, über denen aber – für Gäste aus allen Teilen der Welt sofort verständlich – der melancholische Hauch von Geschichte schwebt.
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Das würde bedeuten, mög lichst keine Auseinandersetzung mit dem Reiseland! Von daher ist das Löwen denkmal ideal. Bei 50 Minuten Aufenthalt in Luzern, inklusive Uhrenkauf und Panoramafoto, bietet der Ort dramaturgisch die perfekte Abwechslung. Ein ganz we sentlicher Aspekt des Reisens in Gruppen ist ja sicher auch der Austausch untereinan der, den Spass, den man zusammen hat, aber auch das eine oder andere ernsthaftere Gespräch über Sorgen und Alltag, die man zuhause zurückgelassen hat. Peter Spillmann Ich denke auch, dass im klassischen Ferntourismus der Austausch mit einer andern Kultur gar nicht stattfinden kann. Im besten Falle beginnt unter dem Ansturm von Eindrü Barbara Emmenegger
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cken aus einer vielleicht exotisch anmutenden anderen Realität eine kritische Befragung der eigenen kulturellen Identität. Der Grad der dabei erfahrenen Verunsicherung wird später in der Erinnerung bestenfalls mit der Intensität des Reiseerlebnisses korrelieren. Barbara Emmenegger was wiederum bedeutet, dass der Ort, wo das stattfindet, fast egal wird. Das dürfte mit ein Grund sein, wieso Touristen und Touristinnen in der Regel eine hohe Toleranzgrenze aufweisen, was die Orte und Räume anbelangt, in denen sie sich die meiste Zeit aufhalten müssen. Die Situation auf dem Schwanenplatz gleicht ja gewissermassen der Situation im Transit bereich eines Flughafens: Herumstehen, warten, eine Uhr einkaufen, eine Zwischen verpflegung zu sich nehmen, ausruhen, ein paar Fotos schiessen... Am Ende sieht der Platz ja auch genauso aus wie ein Terminal. Peter Spillmann Das scheint mir ein ganz zentraler Punkt zu sein, dass Tourismus an den Schau plätzen, wo er stattfindet, eigene kulturelle Realitäten hervorbringt, die als Parallelwelten neben dem Alltag funktionieren und nicht selten wie als spektakuläre Ufos aus fernen Welten in Erscheinung treten. Daran hat sich seit dem ersten Auftauchen der Grand Hotel-Raumschif fen auf den grünen Wiesen der Innerschweiz wenig verändert – auch wenn es heute rentabler zu sein scheint, die Traumwelten in die arabi sche Wüste oder in Gestalt von Kreuzfahrtschif fen gleich auf die hohe See zu bauen... Doch ein ganz spezieller kultureller Antagonis mus des aktuellen Tourismus in Luzern ist sicher folgender: Der Tourismus hat die Stadt geformt und geprägt, hat vieles von dem her vorgebracht, was heute auch «Luzerner und Luzernerinnen» als Teil einer eigenen kulturel len Identität wahrnehmen. Die Touristen und Touristinnen jedoch werden heute in einer Art Kanal aus Klischees an dieser Geschichte vorbeigeschleust, ohne davon viel mitzubekommen. Barbara Emmenegger studierte Soziologie, Philosophie und
Publizistikwissenschaft an der Universität Zürich. Seit 2006 ist sie Dozentin und Projektleiterin am Institut für Sozio kulturelle Entwicklung im Zentrum für Stadt- und Regional entwicklung der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit. Barbara Emmenegger hat sich auf Themen der Stadt- und Raumsoziologie und auf sozialräumliche Entwicklungspro zesse spezialisiert. Wissenschaftliche Arbeiten und Veröffent lichungen zu Genderstudies und Körperpolitik sowie zu raum- und stadtsoziologischen Themen. Mit der Publikation «anmachen – platzanweisen», erschienen 2000 im Haupt Verlag, Bern, wurde ein vom Nationalfonds unterstütztes Forschungsprojekt zu sexueller Belästigung in der höheren Ausbildung abgeschlossen. Die neuste Publikation in Zusammenarbeit mit Monika Litscher gilt «Perspektiven zu öffentlichen Räumen. Theoretische und praxisbezogene Beiträge aus der Stadtforschung», erschienen im Interact Verlag Luzern.
1 Schwanenplatz Luzern 2 Old Swiss House Luzern (Fotos: Peter Spillmann)
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Tourist wider Willen Cézanne in den Alpen Von Maura Coughlin Die Beziehung der späteren Landschaftsbilder des französische Malers Paul Cézanne zu seiner Hei matregion, der Provence, ist schon oft als lang währende und tief verwurzelte Meditation über einen Provinzort gefeiert worden (Kallmyer 2003; Conisbee u. Coutagne 2006). Im Gegensatz zu den nomadischen Reisen seines Zeitgenossen Paul Gauguin haben Cézannes Werke kaum je den Gedanken aufkommen lassen, in ihm einen touris tischen Künstler zu erblicken, womit gesagt würde, er habe sich zu seiner Landschaft wie ein Aus senstehender verhalten. Doch im Sommer des Jahres 1896 fertigte Cézanne während eines Urlaubs im französischen Alpendorf Talloires ein Gemälde aus genau dieser Perspektive heraus an. Anders als viele seiner Spätwerke, die nach seinem Tod aufgegeben, unvollendet oder auch unvollendbar in seinem Atelier blieben, sollte er dieses Bild recht schnell als in ausreichendem Masse «verwirklicht» erachten, um es signieren und seinem Kunsthändler Ambrose Vollard zum Verkauf zu schicken. Das «Lac d’Annecy» betitelte Bild (1896) wurde vermutlich vom Grundstück eben jenes Hotels aus gemalt, das Cézanne in jenem Sommer in Talloires bewohnte. Wenn man sich nun diesen Einzelfall anschaut, stellt sich die Frage, worum es geht, wenn man Cézanne von der Position der lokalen Autorität des Landschaftsbewohners zu der eines Touris ten verlagert, der die Landschaft nur auf der Durch reise wahrnimmt und sie durch den bereits vorgegebene Rahmen des Touristischen hindurch konsumiert?
1896 Forderungen Hortenses und ihres Sohnes Paul nach, und die drei verbrachten zwei Monate in der Ortschaft Talloires an den Ufern des Lac d’Annecy, in einem wohlausgestatteten Hotel, das in einer vormaligen Benediktinerabtei unterge bracht war. Obwohl die Cézanne-Literatur keinen Mangel an bösen kleinen Geschichten über die Überredungskünste seiner Frau kennt, handelte es sich bei diesem Ausflug wohl kaum um eine weibliche Laune, denn ein Arzt in Vichy hatte dem diabeteskranken Künstler diese Ruhekur eigens verschrieben. Der vorliegende Aufsatz vertritt die These, dass der touristische Kontext dieses Werks wohlfeile Tar nung durch biografische Anekdoten wie diese erfuhr, beruht doch Cézannes Ruf als maskulines, modernistisches Genie – zumindest teilweise – auf der Auffassung, künstlerische Formen des Reisens und Wahrnehmens stellen einen anerkann ten Wert an sich dar, wohingegen der Konsum von Orten, wie er von Touristen praktiziert wird, lediglich eine unauthentische, triviale und darum wertlose, massenkulturelle Form sei, die folglich meist Angehörigen des weiblichen Geschlechts zuzuschreiben sei (Huyssen, 1986). Von zentraler Bedeutung für die biografische Erzählung über Cézannes Beziehung zu diesem besonderen Ort, dem Lac d’Annecy, ist eine affirmative Performanz dieser «authentisch» maskulinen Identität, die als Gegensatz zu den «unechten» touristischen Wünschen Hortenses und anderer Touristinnen an diesem Ort produziert wird.
Zwar scheint es sich bei Cézannes 35 Jahre währen der malerischer Auseinandersetzung mit der Provence um das Musterbeispiel der Verbundenheit eines Malers mit seiner Herkunftslandschaft zu handeln, doch berichten seine Briefe der letzten Jahre von vielen Wanderschaften, reiste er doch rastlos von Aix-en-Provence in Mietateliers und für lange Aufenthalte nach Paris, in die Normandie und in die Gegend um Fontainebleau. Er lebte oft getrennt von seiner Frau, Hortense Fiquet: sie stammte aus der östlichen Region des Jura, doch war später zur Wahlpariserin geworden. Ihr Wunsch, richtige Familienurlaube zu nehmen, statt ein erdverbundenes Leben in Cézannes Pro vence-Heimat zu führen, war durch ihre Identifika tion mit der bürgerlichen Metropolenkultur und deren touristischen Gewohnheitsmustern des Naturkonsums beeinflusst (Green 1990; Bernard 1978). Cézanne beschwerte sich bekanntermassen einmal über die Vorlieben seiner Frau, denn sie mochte «nichts ausser der Schweiz und Limonade» (Sidlauskas). So gab er denn im Sommer des Jahres
Zur Zeit von Cézannes Ankunft en famille, war das Ufer des Lac d’Annecy bereits ein wohlfrequen tierter Ort, der die Erholungsmöglichkeiten von See- und Berglandschaft bot, und darüber hinaus die heilkräftigen Mineralquellem von Aix-lesBains und Chambéry. Für manchen nervenkranken Symbolisten bildeten Orte wie dieser die typische Naturfantasie des Städters (Hirsh, 2004: 157). Cézanne bot Talloires, in klarem Kontrast zur trockenen Mittelmeerlandschaft der Provence, ein vollkommen anderes Ortsgefühl: die Alpenregion des Départements Haute-Savoie hat mit ihren üppigen Almen, ertragreichen Obstgärten, dicht bewachsenen Wiesen und dramatisch emporstre benden Felsengipfeln ein sattes Farberlebnis zu bieten. Das war genau die Art Landschaft, bei deren Darstellungen viele Franzosen an nationalistische Ortsmythologien schweizerischer oder deut scher Herkunft dachten. Cézanne schreibt aus Talloires über seine Rastlosigkeit, und darüber, wie gleichgültig ihm dieser Ort im ästhetischen Sinn sei: «Als ich in Aix war, hatte ich das Gefühl, ich
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sollte anderswo sein, doch jetzt, da ich hier bin, denke ich mit Bedauern an Aix zurück. Das Leben gewinnt für mich langsam eine geradezu begräb nishafte Eintönigkeit...» Weiter schreibt er: «Um meine Langeweile zu mildern, male ich; das macht keinen besonderen Spass, doch der See mit den grossen Anhöhen rundum, man spricht von Höhen um die 2000 Meter, ist gut, nicht so gut wie die Region, aus der wir kommen, aber wirklich tatsäch lich und ohne Übertreibung sehr schön. Wenn man jedoch da unten geboren wurde, ist das alles dahin – nichts anderes hat irgendeine Bedeutung» (Re wald, 1976: 250-252). Seinem jugendlichen Freund Joachim Gasquet beschreibt er die schmale Mitte des Sees als eine Szenerie, die «sich besonders für
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die Linienübungen des jungen englischen Fräuleins eignet. Natürlich ist das immer noch Natur, jedoch eine Art Natur, wie wir sie in den Reiseskizzen büchern junger Damen zu sehen gelernt haben.» (Rewald, 1976: 250). Untrüglich wird, wann immer «Lac d’Annecy» katalogisiert oder sonstwie in der Cézanne-Literatur erwähnt wird, diese chauvi nistische Episode wiederholt.Und doch ist diese Stichelei in all ihrer Geringschätzigkeit auf faszinie rende Weise verdichtet, um sie ein wenig auf zuschlüsseln: Linearität hat einen schalen Beige schmack von Akademismus, und das amateurhafte Zeichnen trägt fremdländische und weibliche Züge. Waren da in diesem Sommer 1896 auch junge Engländerinnen zugegen? Der britische Alpen tourismus war seit dem späten 18. Jahrhundert sehr angewachsen; die Besucher fühlten sich von den Bergpässen und Gipfeln, den Mineralbädern und Dampferpartien unwiderstehlich angezogen. Entsprechend nahm die Anzahl kostspieliger Alpenunterkünfte zu. Eisenbahnlinien, die sich bis Annecy an der französisch-schweizerischen Grenze erstreckten, wurden weitaus schneller als die innerschweizerischen fertiggestellt (Bernard, 1978: 94-95). Die Ferienorte in den Alpen, vormals Stationen auf der Grand Tour nordeuropäischer Künstler wie J.M.W. Turner, konkurrierten mit Städten wie Dieppe an der Küste der Normandie um die Gunst der Touristen. Am Mittelmeer, wo in einstmals verschlafenen Fischernestern Luxusherbergen und
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Privatpaläste aus dem Boden gestampft wurden, erfand man während der Dritten Republik eigens den Begriff «Côte d’Azur». Selbst Aix-en-Provence, Cézannes Heimatstadt, verwandelte sich in einen begehrten Sommertreffpunkt internationaler Reisender (Bernard, 1978). Die produktförmige Aufbe reitung und damit auch Demokratisierung des massenhaften Reiseverkehrs durch Thomas Cook liess ab dem Jahr 1850 die britischen Touristen in Scharen den Kontinent bereisen. Als Reaktion auf den schnell wachsenden Tourismusmarkt versuchten sich einige Einzelne von der Herden mentalität abzusetzen, indem sie der langen Ver weildauer und dem sesshaften Zusammenleben an einem Ort, wie es in den Künstlerkolonien prakti ziert wurde, nacheiferten (Bernard, 1978). Der Literaturhistoriker James Buzard deutet dies als eine performative Geste einiger (selbsternannter) «Anti-Touristen», durch die Natur in der höher bewerteten künstlerischen Weise als das Bemühen um eine «bedeutungsvolle und langanhaltende Kontaktaufnahme mit dem besuchten Ort konsu miert werden sollte.» (1993: 28, 121). In den 1890er Jahren veröffentlichten zahlreiche viktorianische Ladys illustrierte Reiseberichte, in denen jeweils die persönliche Identifikation mit dem Ort beschrieben wurde (Domosh, Seager, 145). Die bemerkenswerte Fotografin Lily Bristow be gleitete den britischen Alpinisten Fred Mummery auf einigen seiner gewagtesten Bergtouren: ihre Bilder wurden im Jahr 1895 in seinem Buch «My Climbs in the Alps and Caucasus» veröffentlicht. Im gleichen Sinne wie Cézannes abschätzige Bemerkung über die Alpenskizzen reisender Damen aus England liess der undankbare Mummery die gehässige Bemerkung fallen, dass «alle Berge damit geschlagen scheinen, drei Phasen durchlaufen zu müssen: Unerreichbarer Gipfel – Schwierigster Aufstieg der gesamten Alpen –Ausflusgziel für eine Lady» (160). Vor ein paar Jahren durchforschte ich bei einem Aufenthalt in Talloires (auch ich eine Touristin wider Willen) das Departementsarchiv in Annecy nach Zeichnungen von jungen englischen Frauen jener Art, die Cézanne mit seiner Bemerkung herabgesetzt hatte, um nachvollziehen zu können, wie sie eigentlich Natur «sehen gelernt» hatten. Ich fand einige Beispiele anonymer Amateurzeich nungen vom See, darunter auch Ansichten des Château de Duingt. Englischsprachige Amateur künstler/innen wurden in ihrer Wahrnehmung von Natur durch populäre Zeichenanleitungen wie James Duffield Hardings (1797-1863) «Sketches at Home and Abroad» (London 1836) angewiesen, der ihnen nahelegte, sich Alpenorte auszusuchen, wo es Gewässer, Berge und mittelalterliche Architektur gab. Die von zahlreichen Amateurkünstler/innen angefertigten Zeichnungen, wie etwa diese Ansicht des Château de Duingt am Lac d’Annecy, ermög lichten die perfekte Verbindung des Historischen und des Malerischen. Die auf britische Kunst spezialisierte Historikerin Ann Bermingham betont
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in ihrer rezenten Studie «Learning to Draw» (2000: 126), dass diese Handbücher einer stetig wach senden britischen Öffentlichkeit von Amateuren (darunter auch Frauen und Kindern) die Komposi tion und zeichnerische Anlage von Landschafts bildern beibrachten. Wie schon die Demokratisierung des Reisens bedeutete auch die massenhafte Vermarktung von Landschaftsbildern an Amateur konsumenten für Cézanne, wie es seine Briefe erkennen lassen und seine Biografen wiederholt haben, einen unbequemen Kontrast. Genau der auch von Cézanne gewählte Blick (wenn auch nicht die exakt gleiche Position am Seeufer) über den Lac d’Annecy auf das Château de Duingt nimmt eine prominente Stelle in dem französischen Reisetext «Nice et Savoie: sites pittoresques» (Paris, 1864) ein. Solcherlei illustrierte Reiseführer ent standen in Frankreich ab den 1820er Jahren mas senhaft, sie verzeichneten und kommentierten die Provinzen und Provinzkulturen des Landes (Abé lès, 1993; Gerson, 1996). Gemäss einem genau festgelegten Text-Bild-Verhältnis begleitet diese gerahmte Ansicht Textbeschreibungen der Topografie und der Bewohner/innen des Provence-Departe ments Alpes-Maritimes und der Alpen-Departe mente Savoie und Haute-Savoie. Indem er von der zeigenden, im Vordergrund liegenden Figur zur pittoresken Ansicht des Schlosses von der Seeseite aus dirigiert wird, bekommen die Betrachtenden in didaktischer Absicht einen erstmals erreichbaren und neuerdings französischen Ort gezeigt, denn die in der Überschrift des Textes genannten Regio nen waren soeben erst dem modernen französi schen Staat beigetreten. Aus diesem Grund wurde der See, vormals Privatbesitz des Hauses Savoyen, erst nach seiner Übertragung an Frankreich für die Öffentlichkeit zugänglich. Nach der Vereinigung wurden Eisenbahnstrecken nach Annecy ausgebaut, wodurch es mit dem restlichen Frankreich ver bunden und dann 1866 für den Tourismus geöffnet wurde. Wie die Reiseführer, die das Departement Haute-Savoie für «französisch» erklären, entwirft die touristische Praxis die Nation und vollzieht, vermittelt und etabliert sowohl lokal als auch national die Bedeutung des Orts (MacCannel 1976). Sechs Jahre vor Cézannes Besuch druckte «Le Figaro» einen Artikel des Dichters und rustikalen Romanciers André Theuriet ab; im Titel fragte er «Connaissez-vous Talloires?» («Kennen Sie Tallo ires?») Solche Werbemassnahmen auf nationaler Ebene machten aus dem Dorf am See ein beliebtes Sommerurlaubsziel für Franzosen und auch für andere Touristen, lag es doch nur zehn Zugstunden von Paris entfernt, und Theuriet machten sie zur lokalen Berühmtheit. Ein im frühen 20. Jahrhundert von Albert Besnard gestaltetes Plakat wiederholt die romantische Formulierung des früheren Reise berichts, indem es die Aufmerksamkeit auf das spezifische Architekturmotiv des Schlosses am anderen Seeufer lenkt und den Betrachter erneut
in einer panoramischen Autoritätsposition über dem See platziert. In diesem Fall haben sich die Landschaftsbetrachtenden von rauen Landstrassen fahrern in gut gekleidete Touristen, einen Mann und eine Frau mit Wanderstöcken, verwandelt. Die Postkartenfotografen der Jahrhundertwende eigneten sich von der Landschaftsmalerei die rahmenden Verfahrensweisen des Pittoresken und des Erhabenen an: die daraus geschaffenen Ansich ten werden wie die illustrierten Reiseführer, die ihnen vorangingen, Teil des performativen Vollzugs dieser neuen Ecke Frankreichs sowie der Behauptung, dass diese würdig sei, ins Bild gesetzt zu werden (Duval, 1978). Viele dieser Ansichten zeigen Touristen, und dadurch werden sie zur Landschaft gemacht, in der man physisch verweilen und visuell am Spektakel teilhaben soll. Nimmt man ihm die in seinen Briefen aus Talloires durchklingende Langeweile ab, dann hat sich Cézanne dieser Landschaft eben nicht mit begieri gem, «frischem Blick» genähert, den Lucy Lippard als Grundelement touristischer Beschreibungen benennt (Lippard 1999: 2). Cézanne war ganz betont kein Maler der «Touristenfalle», wie sie etwa in den 1860er Jahren zu den Lieblingsmotiven Monets an der Küste der Normandie zählten (Herbert 1994). Wie Pierre Bourdieu beobachtet, setzen sich viele Intellektuelle von bürgerlichen Touristen ab, indem sie gegenüber der «organisierten, mit Hinweisschil dern ausgestatteten, kultivierten Natur», die im Rahmen der Massenkultur des Tourismus angebo ten wird, einer unbevölkerten, «natürlichen Natur» den Vorzug geben (Urry, 1990: 89). Die Tilgung der Spuren anderer Touristen und sonstiger men schlicher Einwirkungen (ausser dem alten Schloss und der Andeutung eines abgeernteten Feldes am Berghang) minderte Cézannes widersprüchliche Komplizenschaft mit dem Tourismus im Allgemei nen und dessen Panoramalust im Besonderen. Der Literaturkritiker Andreas Huyssen (1986: 50) vertritt die Auffassung, dass «das Gendern einer minderwertigen Massenkultur als weiblich mit dem Entstehen einer männlichen Mystik in der Moderne Hand in Hand geht.» Huyssen führt weiter aus, dass «das Problem nicht in dem Wunsch besteht, zwischen Formen von Hochkunst auf der einen und depravierten Formen der Massenkultur und deren Vereinnahmungen zu differenzieren. Problematisch ist vielmehr, dass alles Entwertete feminin gegen dert wird.» Obwohl die Nähe des Tourismus zum Massenkulturellen von vielen seiner ihm wohl gesonnenen modernistischen Biografen aus solchen geschlechtsspezifischen Gründen wirkungsvoll versteckt gehalten, verleugnet oder gemieden wird, würde ich hinzufügen wollen, dass Cézannes Bild zudem unvermeidlich an der visuellen Reterritoria lisierung des Haute-Savoie als französischer Land schaft mitwirkt.
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Bedeutungsvoll für diese Diskussion der Künstler biografie und ihrer Ortsverbundenheiten ist eine weitere Art des Reisens, die man nicht als Touris mus bezeichnen kann: viele Kunsthistoriker haben bemerkt, dass Cézannes Darstellung des Château de Duingt einige Ähnlichkeit mit Werken aufweist, die Gustave Courbet in seinem Schweizer Exil geschaffen hat. Der aus der Franche-Comté stam mende Arbeiter-Maler Courbet war in Cézannes Frühzeit in Paris ein Vorbild gewesen, dem er nacheiferte, indem er seinen Provinzakzent künst lich verstärkte, seine ungehobelten Umgangsformen geradezu zur Schau stellte und sich weigerte, sich im Stil eines bürgerlichen Dandys zu kleiden. Von Courbet eignete er sich auch eine willentlich grobe Malweise an, das «Aufspachteln» von Farbe mit einem Palettenmesser, das er praktizierte wie ein Maurer, der Mörtel verstreicht. Als Stilhom mage war das sowohl strategisch provinziell und emphatisch maskulin: der junge Cézanne nannte das seine «manière couillard», seinen «draufgänge rischen» Malstil (Gowing, 10). Courbet und seine Assistenten malten vielleicht deshalb an die zwanzig Fassungen des Château de Chillon am Genfersee, weil ihn die Geschichte seines berühmtesten Bewohners, des politischen Gefangenen François Bonivard (1530-36), stark an sein eigenes politisches Geschick nach den Zeiten der Unbesonnenheit während der Pariser Commune erinnerte. Doch lässt sich der Kontext des Tourismus keinesfalls ausschliessen, waren sie doch höchstwahrscheinlich für den Verkauf an Touristen gemalt und hatten zweifelsohne etwas mit Adolf Brauns bekannter Fotografie dieses Orts zu tun. Ebenso von einiger Bedeutung für Lac d’Annecy besitzt auch Courbets letztes und unvoll endetes Alpenpanorama mit den Dents du Midi (1874-77). Hier gelang es Courbet, seine Sehnsucht nach seinem Heimatgebiet umzusetzen; er sollte nie wieder in die Franche-Comté zurückkehren, die weit jenseits der unüberquerbaren blauen Alpen dieses Bildes lag. Courbet war nicht im Gefängnis, und ebenso wenig war Cézannes Urlaub in Talloires ein Exil. Eine vage Spur dieser beiden früheren Alpendramen mag sich in Cézannes Motivwahl eingeschlichen haben, die ihn während jener Wochen seines Aufenthalts am See beschäftigte. Das biografische Verhältnis von Cézannes Ort zu seinem Bild hat zu einigen ärgerlichen und allzu durchsichtigen Vermutungen über das Gemälde geführt. Françoise Cachin etwa erklärt, der Ort Talloires selbst sei «bei all seiner Schönheit eigent lich stickig und dumpf» (1996: 416). Im Vergleich zu den Gemälden, die Firmin Salabert (1811-1895), ein auf Ansichten der Region spezialisierte Maler des mittleren 19. Jahrhunderts, vom See angefertigt hat, wird ganz klar, dass Cézannes später entstandene Landschaftsansicht mit grosser Sorgfalt ausgesucht und orchestriert war. Bei seinen zahlrei chen Fassungen der Bucht von Marseilles, die in
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den 1870er und 1880er Jahren entstanden, hatte er oftmals Ansichten eines Gewässer aus einer erhöh ten Perspektive gemalt. Doch in diesem Fall han delte es sich bei der klaustrophobischen oder einengenden Wirkung des Bildes «Lac d’Annecy» um eine absichtliche künstlerische Entscheidung, bei der einer erhöhten Sichtlinie gerade aus dem Weg gegangen wurde: dem so oft von Touristen in Talloires gewählten Blickpunkt. Es bedarf kaum der Erwähnung, dass Cézanne als Bergmaler berühmt ist und dieses Gemälde tatsäch lich einige der formalen Problemstellungen auf weist, die ihn ab Mitte der 1880er Jahre bei seinen Gemälden vom Montagne Sainte-Victoire beschäf tigten (z.B. Rewald 1996, Nr. 511). Doch bei seinen Bildern aus dem Innern von Wäldern, von Fluss ufern und Steinbrüchen, allesamt Werke, die er mit nur wenigen Jahren Abstand von seiner Reise nach Talloires schuf (Rewald 1996, Nr. 726, 763-766), lässt sich anstelle langer Fernperspektiven eine eindeutige Vorliebe für niedrig angelegte Blickpunkte ausmachen. In diesen Spätwerken zeichnet sich die Landschaft, statt sich nur anmutig zu erstrecken oder passiv ausstellen zu lassen, oftmals auf un konventionelle Weise undeutlich ab, dreht sich oder hängt morbid da, wodurch Sichtlinien formal blockiert, zunichte gemacht oder ausgelöscht werden. Wie bei diesen zu den genannten in Beziehung stehenden Werke der 1890er Jahre dreht sich die kompositorische Vignette um einen Dreh- und Angelpunkt: in diesem Fall ist es das Château, das das Bildzentrum besetzt. Wie bei den zur gleichen Zeit entstandenen Fluss szenen seines Freundes Claude Monet, der Giverny 1894 besucht hatte, interessiert sich Cézanne hier für eine Landschaft, deren dünn besiedelte Stille und meditative Ruhe der des sehr frühen Morgen grauens entspricht (Callen, 2001). Zu dieser Tages zeit, bevor sich die Sonne über den Bergen erhebt, die sich hinter dem Maler auf der TalloiresSeite des Sees befunden hätten, streckt sich die Spiegelung des Château de Duingt nach Osten hin über die blaue Wasserfläche und fixiert die Körper position des Betrachters magnetisch wie eine Kompassnadel. Statt das Auge in der Linearpers pektive oder dem schwebenden panoramischen Schauspiel einer Vogelperspektive zu fixieren, scheint Cézanne seinem Betrachter eine bodenstän dige, somatische, körperbezogene Erfahrung zu bereiten. Wenn dasselbe Motiv aus einem höheren Blickwin kel auf dem gegenüberliegenden Berg gesehen wird, kann man ganz klar sehen, dass das Schloss auf einer langgestreckten Halbinsel steht, deren Spitze sich unter Wasser weit in den See hinein fortsetzt; Cézannes Komposition gelingt es, das entfernte Ufer abzuflachen und zu komprimieren, sodass es näher beim Betrachter gehalten wird. Er malt einen Baum hinein, um die Gipfelkette und den Himmel ab zuteilen, und so erreicht er den Eindruck einer intimen, einsamen Seherfahrung. Indem er seine Kom-
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position auf ein so gut wiedererkennbares Architekturmotiv konzentriert, trägt er nicht so sehr zur Perpetuierung einer pittoresken Sehweise bei, sondern überträgt darauf die ihm eigene ästhetische Strukturierung: er wertet die Sichtweise als antitouristische auf und erschafft sie neu als echten Cézanne. Obwohl diese Motivwahl eine touristische Sicht weise wieder aufgreift, die kollektiv und traditio nell für darstellenswert befunden wurde, erschafft sie Cézanne als einsame Begegnung wieder, wobei er das Ich als primären Betrachter vorgibt, der eine echte und viszerale Ortserfahrung hat (Crouch, 2003). Nach dieser Umsetzung ist das Bildproblem gelöst, das Bild wird im folgenden Jahr verkauft. Es ist vielsagend, dass der Wahrnehmungsphilo soph Maurice Merleau-Ponty (1945) just dieses Werk wählt, um seine Auffassung von Cézannes phänomenologisch v erkörpertem und in hohem Masse individualistischem Bemühen um die richtige malerische Umsetzung seiner optischen Eindrücke zu illustrieren. Der Urlaub am Lac d’Annecy war nur eine Erschei nungsform grossstädtischen Naturkonsums. Der Widerstand gegen diesen gesellschaftlichen Kontext (sowohl von Seiten des Künstlers als auch derer, die für die Konstruktion der provenzalischen, männlichen, modernistischen Mystik des Künstlers verantwortlich zeichnen) hat sich auf die binäre Unterscheidung zwischen «gültiger» Hoch kunst und «unechter» Massenkultur gegründet, den feminisierten Touristen, dem der (wenn auch wider Willen) authentische modernistische Rei sende (Huyssen, 1996: 50-53; Buzard, 1993: 80) widersteht. Das heisst, dass die Trivialisierung von Cézannes Reise ausserhalb der Provence durch das Abqualifizieren als weibliche Laune Hortenses und die Herabsetzung einer kurzfristig zu Ruhm gekommenen französischen Landschaft als Stoff für die Zeichenhefte junger Britinnen einerseits dazu dienen soll, Cézannes Treue zu seiner Heimatland schaft zu stützen und andererseits seine maskuline, künstlerische Einzigartigkeit abzusegnen. Die frühere regionalistische Haltung wurde von einem zuvor zitierten Briefpartner Cézannes vertreten, der später als sein Biograf zu Ruhm kommen sollte: der provenzalische Nationalist Joachim Gasquet. In seiner 1920 veröffentlichten fantasievoll ausge schmückten Lebensbeschreibung lässt Gasquet Cézannes Bemerkungen über Talloires grosse Bedeutung zukommen, um die nostalgische und melodramatische provenzalische Erdverbundenheit des Künstlers nachzuweisen (Gasquet, 1991; Kear, 2002; Sidlauskas, 2004). Wenn er seinen kurzfristi gen Touristenstatus als unfreiwillig oder zufällig, seine Auseinandersetzung mit dem Ort als unau thentisch – oder bestenfalls kompensatorisch – lesen will, so folgt er einem engstirnig nationalis tischen und regionalistischen Drang, Cézanne im zeitlosen Boden der Provence und in einer moder nistischen Erzählung zu verwurzeln, die seine
Form des Sehens von uns, dem ganzen Rest, abset zen will. Maura Coughlin born 1967, Associate Professor of Visual Studies, Department of Literary and Cultural Studies, Bryant University, Smithfield RI, United States. Education: Ph.D. 2001, History of Art, Institute of Fine Arts, New York University: M.A. 1994, History of Art, Tufts University Selected Publications: »Celtic Cultural Politics: Monuments and Mortality in Nineteenth-century Brittany” essay in volume on Mysticism, Myth, and Celtic Nationalism (Edited by Shelley Trower) Routledge, forthcoming 2013. »Sites of Absence and Presence: Tourism and the Morbid Material Culture of Death in Brittany,” In the proposed volume Staging Violent Death: The Dark Performances of Thanatourism. Ed. Brigitte Sion. In the series, "Enactments," an imprint of Seagull Press, directed by RIchard Schechner, University Professor and Professor of Performance Studies at NYU. Forthcoming 2012. »Place Myths of the Breton Landscape” Essay in exhibition catalog Representing France: Paintings and Photographs, 1839-1875. Eds. April Watson and Simon Kelly, St. Louis Museum of art and the Nelson-Atkins Museum, Kansas City, 2013.
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Kunst und Tourismus Zeitgenössische Kunst im t ou r ist ischen R au m N ik a Spa l inger im Ge spr äch mi t Pe t er Spil l m a n n Im Rahmen des Forschungsprojekts Kunst & Tourismus1 haben wir unter anderem verschiedene Kategorien von Kunst identi fiziert, die in vornehmlich ländlichen Touris musdestinationen eine Rolle spielen. Die Formate von »Kunsteinsätzen” im touristi schen Raum sind sehr unterschiedlich und vielfältig, die Grenzen zwischen Kunst, Event und Marketing oft fliessend. Unterschiedliche Erwartungshaltungen von Akteuren und deren Beziehungen untereinander – die mitunter stark von gegenseitigen Missverständnis sen geprägt sind – machen Vergleiche zwi schen unterschiedlichen Projekten auf den ersten Blick schwierig. Nika Spalinger Ja in unserer Forschung haben wir zunächst recherchiert, was es über haupt alles so gibt. Dabei mussten wir als erstes die klassische Brille abnehmen, um uns wirklich auf eine Vielfalt von Kunstformen einlassen zu können. Wir stiessen auf zahlreiche Skulpturenausstel lungen, Skulpturen- oder auch Themen wege, permanent installiert oder perio disch wiederkehrend, mit etablierten Kunstschaffenden wie in den SkulpturenAusstellungen von Bex2 im waadtländi schen Chablais und Môtiers3 im Val de Travers. Dann gab es etliche Ausstellun gen von lokalen Kunstschaffenden, teilweise auch stark kunsthandwerklich ausgerichtete. Es gibt Hotels mit Kunst werken oder mit von Kunstschaffenden gestalteten Zimmern, solche von berühm ten Architekten wie the hotel4 von Jean Nouvel in Luzern oder andere, die sich für Kunstschaffende aus der Schweiz engagieren wie das Arte Hotel Bregaglia5 in Promontogno oder das Hotel Teufel hof 6 in Basel. Wir stiessen natürlich auf Kunst am Bau oder Wandmalereien jeglicher Art – etwa die Farbsäulen Culur von Gottfried Honegger7 an der Stau mauer in Maloya oder das mit 2›750m2 weltweit flächenmässig grösste Gemälde Mélisande von Pierre Mettraux an der Grimsel-Staumauer8. Peter Spillmann Eine wichtige Kategorie waren dabei ja auch Events oder Aufführungen, Formen von populärer Kultur, die im urbanen Kunst kontext einen eher schweren Stand hätten. Nika Spalinger Ja, Beispiele sind die Platzierung von 1000 ‚Müllmenschen’ durch den deutschen Aktionskünstler HA Schult am Matterhorn 2003�, oder die aufwändige Peter Spillmann
jährliche Aufführung von Hannibal auf dem Rettenbachgletscher bei Sölden9. Dieses Maschinentheater, eine Koproduk tion von Sölden, Red Bull und Lawine Torrent, feierte 2011 sein 10-jähriges Jubiläum. Auf 3‘000 Metern über Meer werden hier alle Register gezogen: 18 Pistenbullies als Elefanten, 120 lokale Skiläufer als Armee, Helikopter, Düsenjä ger, Fallschirmspringer, Flugakrobaten, Lichteffekte, Projektionen und natürlich viel Sound. Peter Spillmann Unser zentraler Forschungsgegen stand waren künstlerische oder kunstnahe Ausdrucksformen und Performanztechniken in touristischen Erlebniswelten, die dabei jeweils verwendeten Kunstbegriffe und die unterschiedlichen Motivationen und Motive der Beteiligten. Wir fokussierten demnach stärker auf jene Aspekte, die sich unabhängig von formalen und kontextspezifischen Krite rien vergleichen lassen, so z.B. auf die jeweils spezifische Akteurs-Konstellation. Besonders aufgefallen ist uns das Phänomen Heinz Julen in Zermatt, wo der künstlerisch, gestalte rische Anspruch und die mediale Resonanz, welche Julen als «schräge Figur» hat, auf den ersten Blick stark auseinanderlaufen. Nika Spalinger Heinz Julen verkörpert im Grunde viel von dem, was auch andere Künst ler-Stars darstellen: Er sieht gut aus, ist charmant und traut sich einiges zu. Er ist Autodidakt, und seine Stärke ist, mit Sensibilität für Materialien und Lichtfüh rung atmosphärisch dichte Raumgestal tungen und Design-Objekte zu schaffen, mit einfach verständlicher, theatralischer, oft beinahe sakraler Wirkung. Das Sak rale, die Spiritualität ist dem Walliser Katholiken auch in seiner Kunst wichtig. Julen konnte dank seiner lokalen Ver ankerung in Zermatt und seinem Kommu nikationstalent ein internationales Netzwerk knüpfen. Zu reden gab vor allem das ‚Into-Hotel’10, ein zentral im Dorf gelegenes an einen Felsen gebautes, von ihm in allen Details durchgestaltetes Hotel, welches er im Auftrag des USM Haller-Erben Alexander Schärer, mit dem er damals befreundet war, realisieren konnte. Into-Hotel wurde im Februar 2000 eröffnet, aber schon nach sieben Wochen aufgrund von Geldstreitigkeiten und Baumängeln durch den Auftraggeber wieder geschlossen. All die fantastischen
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Einrichtungen des Künstlers - wie z.B. ein mobiles Cheminée - erwiesen sich als wenig betriebstauglich, wurden entfernt und das Hotel in der Folge vollständig neu gebaut. Der Skandal bescherte Julen immerhin zahlreiche Presseartikel, internationale Einladungen und Aufträge als Designer. Bei den erfolgreicheren Nachfolgeprojekten hat er sich jeweils auch professionell beraten lassen. Julen hat übrigens auch vielen anderen Kunst schaffenden in seiner Kunstgalerie� eine Plattform geboten. Künstler wie er, oder auch Wetz11 und Chantal Michel12 legen im Grunde grossen Wert darauf, ihr Publikum aus eigener Kraft und ausserhalb von Kunstinstitutionen zu gewin nen. Julen kann wohl nur in Bezug auf seine künstlerischen Ambitionen im Kunstkontext als «schräg» bezeichnet werden. Peter Spillmann Ein zentrales Merkmal lokaler künstlerischer Figuren scheint die Improvisa tion und das Basteln zu sein. Wie lässt sich das in der aktuellen Kunstlandschaft verorten? Nika Spalinger Mir scheint der Ausdruck «Basteln» zu abschätzig, ich spreche lieber von «Amateuren». Es gibt viele Arbeiten von quasi autodidakten Kunstschaffenden im touristischen Kontext, die oft hand werklich besser gemacht sind als «be wusst gebasteltes» aus der hippen Kunst szene. Der Unterschied ist, dass Kunstschaffende, die keine Kunstschule be sucht haben, die Codes nicht kennen, die für die Positionierung einer Arbeit im Kunstkontext wichtig sind und insofern aus Überzeugung und nicht aus Berech nung «basteln». Aber aus der Ferne zum Kunstbetrieb entstehen oft auch erfri schende und originelle Gestaltungen. Die Fähigkeit, künstlerische Setzungen nicht nur gefühlsmässig sondern auch analy tisch und theoretisch begründen zu können, ist aber sicher von Vorteil, will sich jemand in einem internationaleren Kontext positionieren. Peter Spillmann Eine weitere Kategorie von Kunst, auf die wir im touristischen Kontext selbstverständlich auch gestossen sind, sind Land marks oder «Signal-Architecture», also einma lige, auffällige, möglichst von berühmten Künstlern/-innen oder Architekten/-innen stammende Werke oder Gebäude. Diese Form des Kultureinsatzes scheint ja immer noch die sicherste Strategie zu sein, um in den Medien Furore zu machen, sich ins Gespräch zu bringen und langfristig Gäste zu generieren. Nika Spalinger Touristische Destinationen sind abhängig von Bildern, die im Kopf hängenbleiben. Architektur kann das wohl am besten leisten. Während es in
dem von uns untersuchten Raum kaum neuere Kunstwerke gibt, die sich als Postkartensujets eignen – eine Ausnahme ist vielleicht der Tinguely-Brunnen in Basel – gibt es doch zahlreiche Gebäude, die Aufmerksamkeit erregt haben, etwa das KKL von Jean Nouvel in Luzern oder das Botta-Bad in Tschuggen/Arosa und natürlich die Monte Rosa-Hütte bei Zermatt. Die Postkartentauglichkeit ist der Lackmustest für Architektur und Kunst, die auch die Bedürfnisse des Tourismusmarketing erfüllen! Peter Spillmann Eine zentrale Rolle bei der Initiie rung und Auswahl von künstlerischen Projek ten oder Kulturangeboten im touristischen Kontext spielen ja offensichtlich lokale Ak teurs-Netzwerke. Welche typischen Akteure spielen da eine Rolle und ergeben sich z.B. Zusammenhänge zwischen bestimmten Formaten und der Konstellation von Akteuren, die dahinter stecken? Nika Spalinger Akteure im touristischen Raum müssen vielseitig, flexibel und erfin dungsreich sein, um Touristen anzulo cken und ihren ständig wechselnden Bedürfnissen gerecht zu werden. Gerade in Wintersportdestinationen gibt es ausserdem viele Erfahrungen mit dem auf die Beine stellen von grösseren Events. Für das Zustandekommen von Kunstpro jekten wiederum sind oft einzelne, lokale Figuren und ihre persönliche Leiden schaft entscheidend. Sei das ein lokaler Künstler wie Heinz Julen in Zermatt oder ein engagierter Lehrer wie Pierre André Delachaud im Beispiel der Freiluftaus stellung Art en plein air in Môtiers oder ein designaffiner Hotelier mit einem befreundeten Regisseur in Sölden. Durch enge lokale Netzwerke, Verwandtschaft oder Bekanntschaften seit der Schulzeit und tägliche Kontakte, wie sie in einem Dorf üblich sind, lassen sich auch grös sere und ungewöhnliche Projekte schnel ler realisieren. Bewilligungen sind einfach zu erhalten, und auch die Finan zierung lässt sich lokal schneller organi sieren, wenn mal einzelne wichtige Entscheidungsträger von einer Idee überzeugt sind. Peter Spillmann Andererseits gibt’s ja in den unter suchten ländlichen touristischen Destinationen auch Initiativen, die mit ihren Projek ten definitiv einen professionelleren oder längerfristigeren Anspruch haben. Ich denke etwa an das Zentrum für Gegenwartskunst Nairs13 im Unterengadin, oder an Ausstellun gen wie die auf der Belalp14. Dabei fällt aber auf, dass hier einerseits immer wieder Akteure aus der Stadt eine entscheidende Rolle spie len, sich andererseits solche Projekte aber auch
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bewusst an ein nicht touristisches Fachpubli kum oder an «Einheimische» richten. Nika Spalinger Projekte, die man auch in der Kunstszene wahrnimmt, sind oft von aussen initiiert und deshalb auch aus städtischer Perspektive interessant, sind aber oft auch einmalig oder haben zu mindest keinen langen Atem. Sie ziehen zwar externe Besucher/innen an, sind aber oft lokal eher schlecht verankert. Zugereiste Künstler/innen und das Kunstpublikum bleiben unter sich, und das was hier an Kunst oder Kultur gezeigt wird, wird von der lokalen Bevölkerung auch oft ignoriert. Das Zentrum für Gegenwartskunst in Nairs/Scuol ist im Gegensatz dazu ein gutes Beispiel einer Initiative, die zwar von aussen kommt, aber mittlerweile lokal verankert ist. Das funktioniert, weil der Leiter, der Künstler Christoph Rösch, zwar aus der Stadt nach Sent gezogen ist, dort aber seit Jahren integriert ist und sich kontinuierlich für Kultur engagiert. Oft sind die entschei denden Akteure auch Leute, die aus einer ländlichen Gegend in die Stadt gezogen sind und dann mit entsprechendem Know-how und Beziehungsnetzen wieder aufs Land zurückkehren – die können beide Welten besser verbinden. Ich denke, eine gute Mischung aus Ansässigen, Zugewanderten und immer wiederkeh renden Gästen ist wichtig. Peter Spillmann Beispiel eines «Hochkulturtrans fers» vom Weltmarkt in die Region ist z.B. das Hotel Castell in Zuoz15. Kann in der «Provinz» überhaupt gute Kunst entstehen oder bräuchten wir evtl. andere Kriterien, um regionale kulturelle und künstlerische Praxen zu bewerten, Kriterien die sich nicht unbe dingt nach globalen High Art Massstäben messen lassen? Das war ja im Grunde eine der Thesen des Forschungsprojekts. In welche Richtung könnten diese Kriterien gehen? Nika Spalinger Die Frage könnte vielleicht auch gekoppelt werden an die Frage, was denn guten Tourismus ausmacht. Christoph Hennig vertritt in «Reiselust» die These, dass Tourismus den Platz einnimmt, den früher Feste einnahmen. Diese struktu rierten und belebten den Jahresrhythmus und boten immer wieder Gelegenheit für ausseralltägliche Erlebnisse. Die These besagt auch, dass es beim Reisen meist weniger darum gehe, wirklich etwas Neues zu erleben, sondern viel mehr darum, das Bild, die Imagination, die jeder Reise vorausgeht, im realen Raum wieder anzutreffen. Die Wiederer kennung eines bekannten Bildes ist ein zentrales Element im Tourismus! Ein wichtiges Kriterium für Kunst im touristi
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schen Kontext könnte demzufolge sein, wie sie sich zu den Imaginationen der Reisenden verhält, erwartete Bilder bestätigt, verstärkt oder unterwandert und inwiefern sie dazu beiträgt, ausserall tägliche Erfahrungen zu ermöglichen oder zu vermitteln. Ein anderes wichtiges Motiv im Touris mus ist, den eigenen Körper intensiver oder bewusster wahrzunehmen. Für die einen geschieht dies über Aktionis mus, für die anderen über Entspannung. Ein weiteres Kriterium für die Beurtei lung von Kunst könnte deshalb sein, inwiefern sie dazu beiträgt, Räume oder Orte zu gestalten, die einen bewussteren oder intensiveren Umgang mit dem eigenen Körper ermöglichen oder fördern. Ein dritter wichtiger Aspekt beim Urlaub machen ist der Wunsch, eine andere als die gewohnte soziale Rolle zu spielen. Das entsprechende Kriterium für Kunst könnte heissen, inwiefern sie Rollen spiele und Begegnungen unterschied lichster Art fördert und ermöglicht. Aber solche Kriterien tendieren in Rich tung Dienstleistungs-Kunst und dabei droht das wichtigste Potential von Kunst verlustig zu gehen: ihrer Eigenständigkeit und ihre reflektive Widerständigkeit. Es gilt also erst immer zu klären, aus welchem Selbstverständnis heraus Kunst gemacht werden soll, ob aus einer eher kritischen und reflektierten Haltung heraus oder aus einer Art unkritischen Dienstleistungs-Haltung. Peter Spillmann Schaut man sich die Region des Oberengadins an, zeichnet sich eine Entwick lung ab, die vielleicht jegliche Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie obsolet werden lässt. Das weiter oben erwähnte Hotel Castell, der Art Master St. Moriz16 und der angeblich geplante Think-Tank der Galeristin Elena Ochoa Foster, der Frau von Sir Norman Foster, wären schon drei von zahlreichen weiteren Projekten, die mit marktkonformen Kunstbegriffen und riesigen Geldsummen ausgestattet, aus dem Engadin mittelfristig eine Art alpine Museumsinsel machen könn ten, eine Form der Turbo-Kulturalisierung, die mit dem Immobilienboom und der Refeu dalisierung der Destination St. Moritz einher geht. Weltbekannte Kunst und Kultur sorgen in einschlägigen Kreisen für Furore (so erschien z.B. in der New York Times kürzlich ein langer Artikel zum «Art Valley Engadin»), produ zieren Ausschluss und lassen die Höchstpreise in den immer knapper werdenden Hotelzim mern am Ende sogar gerechtfertigt erscheinen. Diese Entwicklung ist aber kulturell letztlich uninteressant, weil sie dazu führt, dass ich an jedem dieser renommierten Orte der Welt
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immer nur noch auf dieselben Artikel dersel ben Luxuslabels und auf Kunstwerke dersel ben Künstler stossen werde. Nika Spalinger Ein Phänomen, das Boris Groys in seinem Artikel «Die Stadt in ihrer touristischen Reproduzierbarkeit» schil dert und das sich, wie dein Beispiel zeigt, nicht auf die Städte beschränkt. Groys beschreibt, wie Städte in touristischer Ausrichtung einer rückwärtsgewandten Entwicklung folgen und wie sich gleich zeitig Dinge, Bilder, Zeichen, Architektur und Design aus den unterschiedlichen Kulturen global immer schneller bewe gen, schneller als die Touristen selbst. So entsteht für diese der Eindruck, dass weltweit dasselbe zu sehen ist und dass lokale Besonderheiten, Differenzen und Identitäten verschwinden. Nach Groys verschwinden diese jedoch nicht, son dern sie beginnen zu reisen wie die Touristen und reproduzieren sich welt weit in Windeseile, einer globalen Markt logik folgend. Peter Spillmann Okay, das trifft sicher auf einer phänomenologischen Ebene zu, wenn man sich die Ergebnisse der Dynamik einer kultu rellen Globalisierung anschaut. Ich würde auch nicht für eine rein lokale Kultur oder gar Kunst plädieren wollen. Was ich kritisiere ist eher die Art, wie hier Kunst als Argument – vielleicht könnte man sogar sagen: Geschäfts modell – verwendet wird. Ich sehe da im Gegensatz zu stärker lokal oder von Kunstund Kulturschaffenden getragenen Initiativen oder auch zu Projekten, die von Laien ausge hen, kein reales Engagement für Kultur, sondern vor allem ein Profilierungsinteresse. Nika Spalinger Hier stellt sich die Frage, welche Rolle Kunstschaffende im Kontext von Kulturalisierungsprozessen im touristi schen Kontext spielen. Ich bin mir nicht so sicher, ob sich viele Kunstschaffende dieser Prozesse überhaupt bewusst sind und inwiefern sie sie innerhalb ihrer Arbeit reflektieren. Es könnte als weiteres Kriterium für interessante Kunst im touristischen Kontext angeführt werden: Wen oder was repräsentiert die Kunst, und wie tut sie das? Eine künstlerische Arbeit, die listig und provokativ mit diesen Themen umgeht ist das neue Stadtsymbol für Romanshorn «Moc-Moc» des Künstlerduos ComCom17. ComCom tritt mit seinem ambivalenten Kunstwerk in der Gemeinde Romanshorn einen lebhaften partizipativen Aushand lungsprozess los, der sich um die Frage von Identität, Authentizität und Vermark tung ihrer Stadt dreht. Peter Spillmann Ein ganz anderes Beispiel eines Projektes, das mit diesen Fragen auch ganz
listig umgeht, ist das Aquarellhappening Tux, ein von Künstlern um Christian Stock ini tiiertes Projekt, das nach dem Prinzip «Artist in residence» funktioniert. Künstler/innen verbringen im Sommer bis zu 14 Tage in Hintertux. Mitten in den funktionslosen, leeren und überdimensioniert wirkenden Infra strukturen einer stillgelegten Winterdestina tion untersuchen sie malend, zeichnend, fotografierend, filmend oder schreibend die kulturellen Gegebenheiten vor Ort. Der Anlass ist als «Sommerfrischeübung für Künstler/ innen gedacht, die ihre gewohnten städtischen Wege kurzzeitig verlassen, um sie in den Bergen künstlerisch fortzusetzen»18. Das Projekt fordert die üblichen Distinktionsreflexe urbaner Kunsteliten heraus, verführt zur ernsthaften, analytischen Auseinandersetzung mit den vielleicht vordergründig hässlichen Widersprüchen einer von Globalisierung und touristischem Fortschritt geprägten Realität. Es greift dabei auch ironisch Vorstellungen auf, die mit der Rolle verbunden sind, welche Künstler/innen bereits historisch, bei der Erfindung und Entwicklung des Tourismus als Produzenten/-innen und Vermittler/innen von Bildern begehrenswerter Landschaften und Orte gespielt haben. Nika Spalinger Der touristische Raum ist für zeitgenössische Kunstschaffende ein interessanter Raum, weil er viele für unser Verständnis von Kultur brisante Schnitt stellen aufweist und doch - wie die Kunst auch - für die meisten nur ein ausserall täglicher und temporärer Schauplatz ist. Ich denke etwa an Schnittstellen zwi schen imaginären und realen Räumen, zwischen Hochkultur und populärer Kultur, zwischen Stadt und Land, Natur und Technik, Freizeit und Arbeit, Luxus und Prekariat, Fremdheit und Vertraut heit, Tradition und Innovation etc. Peter Spillmann Ja, das war ebenfalls eine zentrale Erkenntnis unseres Forschungsprojekts, dass der touristische Raum im Grunde ein sehr zeitgemässer, aktueller Raum ist und gerade deshalb auch einen spannenden Kontext für aktuelle künstlerische Praxis darstellt. Er kann z.B. als eine Art Laboratorium aufgefasst werden, wo die Effekte der Modernisierung und Globalisierung sowohl in der Landschaft, im Raum und in der Architektur, als auch in den spezifischen soziokulturellen Aus tauschverhältnissen zwischen Reisenden, Bereisten und migrantischen Arbeitskräften besonders augenfällig werden. Nika Spalinger Tourismus muss ja auch immer vor der Tatsache reflektiert werden, dass mittlerweile über 50% der Weltbevölke rung in Städten lebt. Verbleibende Land schaften werden auf Grund der Freizeit bedürfnisse all dieser Städter/innen
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«kolonialisiert» und in aufwändig gestal tete Wellness-, Wasser- oder Ferienwelten transformiert. Die zum Betrieb solcher Erlebniswelten im Hintergrund notwen dige immense Arbeit und die zahlreichen damit verbundenen Service- und Dienst leistungen sind oft schlecht bezahlt und werden migrantischen Angestellten überlassen. So entsteht ein spannungs reiches soziokulturelles Klima zwischen Touristen, ausländischen Angestellten und Einheimischen. In Bezug auf diese Thematik sind auch ganz unterschiedliche künstlerische Ansätze und Positionen denkbar. Es gibt z.B. Projekte mit einem eher ethnogra phisch-beobachtenden Ansatz wie jene von Angela Sanders oder Flavia Cavie zel19, die unterschiedliche Dienstleister/ innen rund um den globalen Tourismus in Engelberg untersucht haben. Oder Projekte mit einem eher partizipativen Ansatz wie das Walliser Projekt Heritage revisited/Patrimone Revisité20 wo eine künstlerische Arbeit in gemeinsamer Auseinandersetzung mit der Dorfbevölkerung und deren zahlreichen kleinen PrivatSammlungen entsteht. Die Ausstellung wird zum Vehikel für eine Reflexion über das Verhältnis der eigenen Kultur zur Kultur der zahlreichen ebenfalls im Dorf ansässigen Portugiesen, die als touristi sche Dienstleister ins Wallis gekommen sind. Das könnte ein weiteres Kriterium für «gute» Kunst im touristischen Kontext sein: Inwiefern diese dem komplexen soziokulturellen Gefüge des Kontexts gerecht wird. Prof. Nika Spalinger , *1958, Lehre, Forschung HSLU, D&K
(BA, MA), Schwerpunkt Kunst im öffentlichen Raum an den Schnittstellen von sozialer und künstlerischer Interaktion, Interkultur, Tourismus und Religion. Ausbildungen: HSLU,D&K, HEAD Genf (1983-89), Phd-Programm Szenographie HDKZ/Uni Wien (07-09). Projekte: Hochschule Luzern – Desing & Kunst: Entwicklung, Leitung (02-07) Pilotklasse MAPS (Master in Arts in Public Spheres). Initiierung, Leitung Projekte Kunst&Tourismus (05),«Holyspace, Holyways»(08-12). Aktuelle Publikation: Silvia Henke, Nika Spalinger, Isabelle Zürcher (Hrg): «Kunst und Religion im postsäkulären Zeitalter – ein Kritischer Reader, Transcript Verlag Berlin, 2012. Web: http://holy.kunstforschungluzern.ch
1 Das Forschungsprojekt Kunst &Tourismus - Produktions- und Rezep-
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tionsbedingungen zeitgenössischer Kunst in touristischen Erlebnis räumen fand 2006/2007 als Kooperation der Hochschule Luzern – Design & Kunst mit dem Institut für Tourismuswirtschaft (ITW) der Hochschule Luzern - Wirtschaft und dem Institut für Gebäudelehre der Architekturfakultät der TU Graz statt. Bex&Arts siehe http://www.bexarts.ch/2011/a-propos Letzter Aufruf: 6.6.2012 Môtiers, Art en plein air siehe http://www.artmotiers.ch/de/ motiers-2011/geschichte.htm, Letzter Aufruf: 6.6.2012 the hotel von Jean Nouvel in Luzern, siehe http://www.the-hotel.ch/ deutsch/03_hotel/html/index.htm, Letzter Aufruf: 6.6.2012 Arte Hotel Bregaglia, Promontogno siehe http://www.artehotelbregag lia.ch/hotel-bregaglia.html, Letzter Aufruf: 6.6.2012 Hotel Teufelhof, Basel, siehe http://www.teufelhof.com/de/teufelhof/ philosophie.html, Letzter Aufruf: 6.6.2012 Farbsäulen Culur von Gottfried Honegger, siehe http://de.wikipedia. org/wiki/Culur, Letzter Aufruf: 6.6.2012
8 Mélisande von Pierre Mettraux, Grimsel-Staumauer 2007, siehe http://
de.wikipedia.org/w/index. php?title=Datei:Staumauer_R%C3%A4terichsbodensee_2008.JPG&file timestamp=20080720200058, Letzter Aufruf: 6.6.2012 9 Müllmenschen des deutschen Aktionskünstlers HA Schult am Matterhorn 2003 siehe http://www.swissart.ch/en/news_archive_ar ticle.php?myeditid=443&langindex=de, Letzter Aufruf: 6.6.2012 10 Maschinentheater Hannibal auf dem Rettenbachgletscher bei Sölden, siehe http://www.soelden.com/hannibal, Letzter Aufruf: 6.6.2012 11 Into-Hotel von Heinz Julen in Zermatt, siehe http://www.heinzjulen. com/aff_produit.php?ref_produit=11&rubrique=1&debut=0&id_ template=A1 Letzter Aufruf: 6.6.2012 12 Vernissage, Bar, Club, Cinema, Galerie in Zermatt von Heinz Julen, siehe http://www.vernissage-zermatt.ch/ Letzter Aufruf: 6.6.2012 13 Werner Alois Zihlmann alias Wetz, siehe http://de.wikipedia.org/ wiki/Wetz_%28K%C3%BCnstler%29 Letzter Aufruf: 6.6.2012 14 Chantal Michel, Medienkünstlerin, siehe www.chantalmichel.ch/ Letzter Aufruf: 6.6.2012 15 Zentrum für Gegenwartskunst Nairs, siehe http://nairs.ch/ Letzter Aufruf: 6.6.2012 16 Beyond the timberline Projekt auf der Belalp der ECAV, siehe http:// btline.wordpress.com/ www.ecav.ch/maps/ Letzter Aufruf: 6.6.2012 17 Hotel Castell in Zuoz, siehe http://www.hotelcastell.ch/ Letzter Aufruf: 6.6.2012 18 Art Master St. Moriz, siehe http://www.stmoritzartmasters.com und Engadin Art Talks (Initianten: Hans Ulrich Obrist, Beatirix Ruf, Christina Bechtler) siehe http://www.engadin-art-talks.ch/, Letzter Aufruf: 6.6.2012 19 Moc-Moc von Com Com in Romanshorn, siehe http://www.mocmoc. ch/ Letzter Aufruf: 6.6.2012 20 Siehe http://www.tux.at/events/aquarellhappening-tux.html Letzter Aufruf: 17.7.2012, Letzter Aufruf: 6.6.2012 21 Amazing Europe (2007), ein Videoessay über die indische Sehnsucht nach «Schweiz» von Angela Sanders oder Mount of India von Flavia Caviezel im Rahmen der Ausstellung Top of Experience in der Kunsthalle Luzern 2008, siehe http://www.hslu.ch/ design-kunst/d-forschung-entwicklung/d-kunst_und_oeffentlichkeit/ d-top_of_experience_ausstellung.htm, Letzter Aufruf: 6.6.2012 22 Un patrimoine revisité: entre sauvegarde et création documentaire, ein Forschungsprojekt von Sibylle Omlin, Alain Antille, Leah Anderson, Jean-François Blanc, Samuel Dématraz, Christophe Fellay, Jaouadi Nejib, Paul Walter, Ecole Cantonale d’Art du Valais, ECAVSierre, siehe http://www.ecav.ch/recherche/r/projets-de recherche/un-patrimoine-revisite.html und http://www.patrimoinere visite.ch/, Letzte Aufrufe: 6.6.2012
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Alpenpop Projektkultur hybrider alpiner Erlebniswelten Von Michael Zinganel Im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung stehen eigenständige Kunstformen oder kunstnahe kulturelle Produktionen, die direkt aus dem sozia len Feld touristischer Dienstleistungskultur her vorgegangen sind. Die Fallbeispiele stammen dabei aus hochalpinen Tourismusregionen, die sich nicht exklusiven Zielgruppen, sondern einem breiten Mittelstand verschrieben haben. Ich werde mich zuerst anhand konkreter Beispiele mit den spezifischen Projektkulturen auseinan dersetzen, deren Erfolg – so unsere These – mass geblich von der spezifischen Akteurskonstellation aller am Projekt Beteiligten abhängig ist, dem Verhältnis zwischen Initiatoren, Produzenten, Finanziers und dem Publikum. In einem zweiten Abschnitt werde ich die pragmatischen Reaktionen auf die sich verändernde Nachfrage von aussen analysieren, wie sie in touristischen Dienstleis tungskulturen vorherrschen. Diese wirken sich sowohl auf den hybriden Charakter einzelner Akteure aus, als auch auf die Formen kultureller Produktionen, die diese hervorbringen, ob in alpiner Popkultur oder populärer Freizeit-Architektur, beide wichtige Bestandteile der Inszenierung und des Sets in alpinen Erlebnislandschaften. Die lokalen Unternehmer sind dabei sowohl den Traditionen der Familie und Dorfgemeinschaft verpflichtet, als auch ihren Gästen. Dabei sind es nicht nur die globalen Urlaubserfahrungen der Gäste, durch die die hochalpinen Tourismusregio nen einem Wettbewerb mit ausseralpinen Desti nationen ausgesetzt werden, sondern auch die Reiseerfahrungen der Dienstleistenden selbst und deren Ehrgeiz, immerzu neue Attraktionen zu implementieren, die den eigenen Modernisierungs grad unterstreichen. Im dritten Abschnitt zeige ich am Beispiel einer Marketingkampagne, wie das zunehmende Selbstbewusstsein der Akteure die Lust an selbstbestimmter Zeichensetzung regelrecht beflügelt: wobei die Gestaltungselemente aus einem globalen Repertoire willkürlich kombiniert und nur in der hochalpinen Erlebnislandschaft zusam mengeführt werden. Kunstproduktion zwischen Gestalttherapie und karnevalesker Überschreitung
«Hannibals Überquerung der Alpen» ist ein seit 2001 jährlich wiederkehrendes ‹Volksschauspiel› zum Abschluss der Wintersaison, bei dem neben professionellen Darstellern auch an die 300 Personen aus der Tiroler Tourismusgemeinde Sölden im Ötztal mitwirken. In einer Mischung aus
Maschinentheater und Rockoper vor der impo santen Kulisse des Rettenbachgletschers wird auf fast 3’000 Meter über Meer die Alpenüberquerung des karthagischen Feldherrn Hannibal im Jahre 218 v. Chr. nachgestellt.� Das Projekt ist eine Kopro duktion der Gemeinde Sölden, Red Bull und Lawine Torrèn.1 In einer alpinen Tourismusdestination stellen die Bergbahnen nicht nur den bedeutendsten Arbeit geber, sondern vielfach auch die einzige ökono misch potente Institution dar, die im Stande ist, grössere Kulturprojekte zu realisieren. So war es in Sölden im Ötztal nicht der örtliche Kulturverein sondern Jack Falkner, der junge Direktor der Berg bahnen AG, der nach dem Studium der Betriebs wirtschaft und Praxisjahren in anderen Wirtschafts betrieben von seinem Vater das Management übernommen hatte – und mit seinem Antritt als Mana ger auch ein Zeichen der kulturellen Moderni sierung setzen wollte: mit einem werbewirksamen, kulturellen Event, der einen Bezug zur Kultur vor Ort aufweisen und sich dabei signifikant von Veranstaltungen in Konkurrenzdestinationen unterscheiden sollte. Alpine Volksmusik erschien ihm nicht zeitgemäss, ernste Musik ohne kulturelle Basis im Dorf, Live-Rockkonzerte am Gletscher standen ausser Diskussion, weil solche bereits von anderen Gemeinden wie etwa Ischgl erfolgreich zur Markenbildung eingesetzt wurden. Er beauftragte mit der Konzeption nicht etwa eine professionelle, ortsfremde Musik- oder TheaterAgentur, sondern den aus Sölden stammende Skilehrer Ernst Lorenzi, der bislang die werbewirk samen Sportgrossveranstaltungen in der Tourismus-Destination organisiert hatte, z.B. das Snow board Opening, den Alpinen Ski-Weltcup, den Ötztaler Radmarathon oder eine Bergetappe der Deutschland Radrundfahrt, und der daher auf ein breites soziales Netzwerk von kompetenten Event profis und bewährten einsatzfreudigen Mitarbei tenden aus der Talschaft zurückgreifen konnte. Über Lorenzis exzellente Beziehungen zu den Sponsoren seiner Sportevents erfolgte der Kontakt zur Kunstszene: Didi Mateschitz, in Salzburg lebender Mit-Eigentümer des Energy Drinks Red Bull, der sich mit Extrem-Sport Sponsoring und Berichter stattung weltweit einen Namen gemacht hatte, empfahl den ebenfalls in Salzburg lebenden autodi dakten Maschinen- und Tanz-Theater-Regisseur Hubert Lepka. Das Ergebnis spiegelt die sozialen Netzwerke und Kompetenzen dieser vier Hauptakteure: Hannibals
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Elefanten werden von den Pistenfahrzeugen der Bergbahnen Sölden dargestellt, das Fussvolk der Karthager von den Skilehrern der Region, die leichte Kavallerie der Römer von Motocross-Renn fahrern, Götter und Dämonen erscheinen als Paraglider, Speed Kiter und Fallschirmspringer aus den von Red Bull gesponserten Extremsport-Clubs, und Didi Mateschitz’ gute Kontakte ermöglichten selbst Einsätze von Heeres-Hubschraubern. Die freiwillige Feuerwehr und die lokalen Bergrettungs dienste werden für die Bauten aus Schnee sowie für die Beleuchtung des Gletschers durch Pyrotech nik und sogar für dramaturgisch eingesetzte Lawi nen-Sprengungen aufgeboten. Hubert Lepka selbst bringt sein Team an Schauspielern/-innen, Tänzern/-innen und Medienexperten/-innen ein. Dieses Massenschauspiel mit unzähligen Maschi nen setzt einen immensen Aufwand an Technik und Logistik voraus, vor allem, weil es nur einmal jährlich aufgeführt wird. Weil Menschen und Maschinen parallel zum laufenden Betrieb der Tourismusanlagen überlastet wären, kann kaum geprobt werden. Um die Dramaturgie auf der riesigen Freiluft-Spielfläche des Gletschers unter Kontrolle zu halten, wird daher auf Erzählstimme, martialische Musik, spektakuläre Effekte und Grossbildprojektionen gesetzt. Kommerziell betrachtet, war das aufwändige Spektakel vorerst ein Misserfolg. Trotz enormer Pro duktions-Kosten und Marketing-Anstrengungen lockten die angebotenen Packages anfangs kaum einen zusätzlichen Gast nach Sölden – von den hunderten Freunden und Verwandten der Pro jektbeteiligten abgesehen. Und auch vom etablier ten Kulturbetrieb und den kulturellen Eliten in Österreich wurde die Inszenierung jahrelang völlig ignoriert. Erst 2005 Jahr erschien zum ersten Mal eine Kritik im Feuilleton der renommierten Tages zeitung «Der Standard», in der zumindest der grosse Aufwand gewürdigt, Dramaturgie und Inszenierung aber verrissen wurden. Aus rein kommerziellen Motiven oder marketing technischen Überlegungen hätte das Spektakel spätestens nach dem dritten Versuch abgesagt werden müssen. Die Seilbahnbetriebe und Red Bull konnten und wollten sich die Fortsetzung der alljährlichen Inszenierung aber weiterhin leisten. Diese Hartnäckigkeit mag zum einen in einer Trotzreaktion gegenüber den akademischen Eliten begründet sein, zum anderen aber wohl auch in der Erkenntnis der wirklichen Bedeutung dieses Ereignisses: Es bietet vor allem der eigenen Bevöl kerung Anknüpfungspunkte zur Identifikation mit dem Ort und mit der eigenen Funktion als Dienst leister. Hier können die Akteure einer Sport-EventDestination alle Register ziehen, die sie im Laufe ihres erfolgreichen Aufstiegs vom Bauerndorf zur Ski- und Party-Hochburg zu bedienen gelernt haben. Und nicht zu vergessen: die Inszenierung ist der letzte grosse Kraftakt am letzten Tag einer mehrere Monate langen, harten Wintersaison, sie ist das gemeinsame Fest zum Saisonabschluss, ein
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karnevalesker Exzess, vergleichbar einem vorchrist lichen Brauchtum, mit dem die letzten Touristen/innen aus dem Dorf getrieben werden.
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skulpturen sind längst ein etabliertes Sub-Sujet gehobener Hobbykunstkurse. In den kleinteiligen Schaufenstern zwischen anderen Waren konnten die Arbeiten ihren Hobbykunstcharakter auch kaum ablegen. Aber in den aufgeräumten ausladenden Hotel-Lobbys konnten die Schwemmholz-Skulptu ren so beeindruckende Ausmasse annehmen, dass sie es bezüglich ihrer formalen Ausgestaltung und Inszenierung durchaus mit Kunstinstallationen aufnehmen konnten. Ein karger, abstrahierter Kreis aus nichts als Schwemmholzstücken mit 4 Metern Durchmesser, am Boden ausgelegt, würde im White Cube einer angesehenen Kunstinstitution von der Mehrzahl der Besucher/innen nicht mehr für einen Adventskranz, sondern unzweifelhaft für ein distinktives Meisterwerk der Land Art oder Arte Povera gehalten werden.3
musiker aus Wien, München und Hamburg mit in der Band, die als Touristen nach Tirol gekommen, und als Lifestyle-Migranten geblieben waren. Dieses Open Air-Konzert auf einer Wiese vor ihrer Heimatgemeinde im Zillertal sollte sich zur alljährlichen Pilgerstätte für ihre Fans entwickeln, zu einer Art Woodstock der Alpen, bei dem allerdings nur eine einzige Band mit einer Vielzahl unterschiedlichster Songs auftrat. Die Wahl des Bandnamens «Zillertaler Schürzenjä ger» mag 1973 bei den damals erst knapp über 20-jährigen Musikern noch in jeder Hinsicht affirmativ gemeint gewesen sein: Stolz auf die Herkunft, das Genre sowie auf den Sexappeal, der den Musikern zugeschrieben wurde. Rückwirkend betrachtet, liesse sich die Wahl aber auch ironisch interpretieren: wer in einer vormals ruralen, durch den rasant anwachsenden Massentourismus jedoch zunehmend urbanisierten Region wie den Tiroler Alpen aufgewachsen ist, weiss sehr wohl auch um die zunehmende Sexualisierung der touristi schen Sehnsuchtsproduktion, wie sie nicht nur im Heimatfilmen der 1960er und 1970er Jahre zum Subgenre wurde, sondern eben auch im täglichen Geschäft mit aussertäglichen Erfahrungen. Er weiss aber auch, dass der Sex-Appeal der Rolling Stones bei einem internationalen Publikum ungleich stärker ankommt als jener einer alpinen Volksmusikcombo – und wer sich die Auftritte der Band aufmerksam ansieht, erkennt, dass die Stones ihr grosses Vorbild sind.
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Solche hybride Identitäten finden wir nicht nur in der alpinen Populärmusik, sondern auch in der alpinen Hotellerie, die nicht nur in ihrem Dienst leistungsangebot und folglich in ihrem Interieur vielfältige und vieldeutige Zeichen setzt, sondern auch im Aussenbereich, als einzelne Bauwerke und Ensembles, die sich durch ständige Zu- und Anbauten zu baulichen und städtebaulichen Wucherungen ausgewachsen sind. Die radikal touristifizierten, vormals bäuerlich geprägten Bergdörfer der Tiroler Alpen repräsentieren gewissermassen andere Aggregatszustände der «Zillertaler Schürzenjäger» und DJ Ötzis: sie sind gebaute Manifestationen einer ständigen Transfor mation und Modernisierung, eines kontinuierli chem Weiterbastelns und Anpassens: zum einen an die wechselnde Nachfrage des urbanen Publikums und zum anderen an den wechselnden Selbstdar stellungsbedarf mehrerer Generationen derselben Betreiberfamilie, denen jeder Erbe verpflichtet ist. Spätestens in den 1980er Jahren, als die alpinen Ferienregionen im Sommer zunehmend Gäste an die neuen Pauschalflugdestinationen verloren, wurde klar, dass man selbst in den hintersten Tälern einem globalen Verdrängungswettbewerb ausgesetzt war. Die vielfältigen Reiserfahrungen an anderen Destinationen setzten die alpinen Frei zeitperipherien nicht nur mit inneralpinen, son dern auch mit ausseralpinen Destinationen einem verschärften Wettbewerb aus. Bei den dabei not
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Die kunstnahen kulturellen Äusserungen aus der touristischen Erlebnislandschaft können aber auch bei weitem stiller ausfallen. Im August 2005 setzte ein schweres Hochwasser ganze Dorfteile des Ferienorts Engelberg unter Wasser, zerstörte Geschäfte, Restaurants, Hotellobbys und WellnessAnlagen, die oft erst kurz zuvor in den Unterge schossen eingebaut worden waren. Schliesslich riss die Engelberger Aa alle Zufahrtsverbindungen ins Hochtal weg. Bis eine Notstrasse errichtet werden konnte, war der Ort für Wochen von der Aussen welt abgeschnitten und nur noch zu Fuss oder per Helikopter erreichbar. Im Herbst lud die Dorfgemeinschaft Engelberg, eine Vereinigung engagierter Einheimischer,2 alle Hotelbetreiber, Geschäftsleute, Lehrer/innen und Pri vatpersonen ein, aus dem reichlich vorhandenen Schwemmholz Dekorationen und Kunst für Schau fenster und Eingangshallen zu kreieren und so zur Verarbeitung des gemeinsam Erlebten beizutra gen. Schwemmholz-Dekorationen wurden in diesem Jahr auch zum Motto für die Adventsde koration. Die schönsten Dekorationen und Skulptu ren wurden schliesslich prämiert. Was ursprünglich als Gestalttherapie zur Bewälti gung der Traumata nach der Naturkatastrophe entstand, wurde zu einem Set identitätsstiftender Erinnerungs-Zeichen für die eigene Bevölkerung und die Stammgäste, die am Leid teilhatten. Gleich zeitig entwickelten sich die Schwemmholzskulp turen aber auch zu einem einheitlichen Corporate Design, das durch die Katastrophe seiner Glaub würdigkeit sicher sein konnte, durch sie gewisser massen authentifiziert wurde. Die Schwemmholz skulpturen sollten fortan die Schaufenster und Eingangszonen in der Destination schmücken. Engelbergs dramatische Erfahrung mit dem Hoch wasser stellt jedoch keineswegs ein Einzelschicksal dar und die Schwemmholzskulpturen sind kein ortsspezifisches Unikum. Nicht nur in den Alpen werden viele Gemeinden wiederholt von Über schwemmungen heimgesucht, und Schwemmholz
Hybride Akteure aus alpiner Pop-Musik und alpinem Pop-Tourismus
Nicht nur die Akteurskonstellationen und Motive in kulturellen Produktionen, die direkt im tou ristischen Erlebnisraum entstehen oder entstanden, sind sehr vielschichtig – mitunter sind auch die dabei beteiligten einzelnen Akteure hybride Identi täten, die im touristischen Dienstleistungsgewerbe gelernt haben, auf Nachfrage von aussen pragmatisch zu reagieren und dabei trotzdem versuchen, Markierungen der eigenen Identität zu setzen. Die Band «Die Zillertaler Schürzenjäger» beispiels weise wurde im Jahr 1973 von Peter Steinlechner (geb. 1951), Alfred Eberharter (geb. 1953) und Willy Kröll (geb. 1949) aus dem Zillertal gegründet. 1987, nach 14 Jahren Karriere als traditionelle Live-Tanzmusikkapelle, hatten die Zillertaler Schürzenjäger mit einer Coverversion von Ronnys «Sierra Madre del Sur», einem romantischen Schlager in spanischer Sprache, ihren ersten Hit. 1992 folgte der «Zillertaler Hochzeitsmarsch», der von der Tiroler Volksmusikpflege als Missbrauch kulturellen Erbes diffamiert wurde. Den kommerzi ell grössten Erfolg hatten sie aber mit dem rockigen Album «Träume sind stärker», zu dessen Tournee-Abschluss 1996 etwa 100‘000 Besucher kamen. Zu diesem Zeitpunkt spielten schon längst Profi-
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wendigen «Nachrüstungen» in Bezug auf Qualität und Quantität des Dienstleistungsangebotes und den dafür nötigen baulichen Infrastrukturen wurden die Betreiber nun gezwungen, sich an allen potentiellen Mitbewerbern eines sich globalisierenden Marktes zu orientieren. Sie standen nicht nur in Konkurrenz mit dem Nachbarort und dem angrenzenden Tal, sondern auch mit den Seychellen und den Malediven. Daher nutzten nun auch die alpinen Unternehmerfamilien die Schliesszeiten ihrer Betriebe für Recherchereisen zu ihren alpinen und ausseralpinen Mitbewerbern, um danach ihre Inspirationen Stück für Stück, in kleinen Umbauetappen in den kurzen Phasen der Nebensaisonen in ihren Agglomerationen zu implementieren. Inzwischen sind die Bauten jener Tiroler Unterneh merfamilien, die es sich leisten konnten oder die ausreichend kreditwürdig erschienen, bedeutend angewachsen: Die immer grösser werdenden Raumvolumen wurden zuerst unter Satteldachland schaften gepackt, nach der Wiederentdeckung der Grandhotels mit Mansardendächern ergänzt (unter denen sich auch Klimazentralen verbergen liessen) und nach der Romantikwelle mit Türmchen ver sehen, die sich zudem zur Tarnung von Liftaufbau
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ten eigneten. Hallenbäder wurden durch Wellness-Oasen oder Wellnesslandschaften abgelöst, die finnische Sauna vom türkischen Hammam, aus Zimmern wurden Junior-Suiten mit Designer möbeln und offenen Kaminen, die nun die gigantischen alpinen Dachlandschaften perforieren. Wenn das bewährte Gesamtbild einer alpinen bäuerlichen Kultur aber wegen der schieren Grösse der Bauwerke aus dem Blickwinkel der Gäste zu verschwinden drohte, wurden signifikante Zeichen auf Augenhöhe und daher ins Sichtfeld der Gäste heruntergesetzt: wie etwa die mächtigen Giebel, die nun als Hotelvordach dupliziert wurden. Familien wappen wurden auf die modernen Glasschiebetü ren des Windfangs montiert. Authentische Almhüt ten wurden abgebaut, ihre patinierten Materialien dienen nun als Bauelemente von Hotellobby, Bar oder Wellnesszone.
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Die notwendigen Erweiterungen betrafen aber nicht nur die Hotels, sondern auch die gesamte Erlebnis landschaft: Dabei haben sich die Tiroler und Tirolerinnen mittlerweile zu anerkannten Spezialisten entwickelt, die das Bergsport-Erlebnis bei Tag und das «dörfliche» Après-Ski-Erlebnis bei Nacht mit den allermodernsten Freizeit- und Entertain ment-Architekturen in eine hybride Populärkultur verwandelt haben. Ischgl und Sölden positionierten sich erfolgreich als Ibiza, Mallorca oder Mykonos der Alpen. Die alpine Erlebnislandschaft bietet an allen Ecken Orte, an denen die spezifische Schwellensituation und eine kritische soziale Dichte automatisch eine gesteigerte Aufmerksamkeit produzieren. Der ganze Berg, das interaktive Sport- und Kommunika tionsgerät, wird ebenso zur Bühne wie der Park platz oder die Warteschlange vor dem Lift. Beson ders exemplarisch sind die Freiluftdiskotheken vor Gipfellokalen oder Mittelstationen, in denen die Gäste sich dazu animieren lassen, samt Skischuhen auf einer solide gebauten Theke zu tanzen und nicht selten in karnevalesker Überschreitung des «Table Dance» zum echten Striptease zu wechseln. Hier kommt es zu einer Zurschaustellung von Frivolität, die im urbanen Kontext der Quellregion nur «Professionellen» vorbehalten ist. Mit Hilfe künstlicher Snowboardlandschaften und ephemerer Eventarchitekturen verdichten die lokalen Gestaltenden die andernfalls zu weitläufi gen Sportareale und verschmelzen sie mit Partyzonen, wie beispielsweise den legendären «Winter Openings». Diese Architekturen bestehen aus wenigen standardisierten Elementen wie Baugerüs ten, Zelten, Containern, Absperrgittern, Flutlicht anlagen und Kameras auf Kränen, aufblasbaren Werbeträgern, temporären Bühnen und Tribünen sowie mobilen Latrinen, die kurzfristig an beinahe jedem beliebigen Ort errichtet und ebenso schnell auch wieder abgebaut werden können. Dadurch wird nicht nur der sportliche Genuss der Aktiven erhöht, sondern auch den Zuschauern/-innen ein besserer Blick ermöglicht. Die Aufmerksamkeit richtet sich dabei aber nicht einseitig auf die Sportler/innen. Allen Beteiligten wird eine Bühne zur Selbstdarstellung geboten, die live auf Gross bildschirmen vor Ort übertragen wird. Diese fungieren gewissermassen als Spiegel der eigenen Aktivität und können mitunter in globale Medien eingespeist werden. Denn die Anordnung der Bauelemente entspricht vorrangig den Anforderun gen von Kameraführung und Fernsehregie, die Stimmung vor Ort wird durch Toneinspielungen und Lichtregie entsprechend gesteigert. Popstars, Szenegrössen, VIPs, Adabeis, aber auch der Community-Appeal der Clubbingkultur, alle samt Multiplikatoren der medialen Aufmerk samkeitsökonomie, spielen bei diesen Inszenierun gen eine mindestens so grosse Rolle wie der Sport. Diese Formen alpiner Kultur sind keineswegs auf den «Musikantenstadl» beschränkt, sie umfas sen alle Formen von Clubkulturen, die in den
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Quellregionen der Touristen angesagt sind. Sollten die VIPs der eigenen Einladungsliste mit den Stars der Zielgruppen eines Fernsehsenders identisch sein, braucht man sich um die mediale Zirkulation des Events selbst kaum noch zu kümmern – dann erscheinen die Kameras der entsprechenden Sender wie von selbst. Selbstbestimmung und Ironie
Hybride Identitäten finden wir nicht nur in der alpinen Populärmusik und in der alpinen Touris musarchitektur, wir finden sie auch in der alpinen Hotellerie und im Marketing. Günter Aloys bei spielsweise ist einer jener selbstbewussten und selbstbestimmten lokalen Akteure aus den alpinen Tourismushochburgen, der wie DJ Ötzi und die «Zillertaler Schürzenjäger» ständig die offiziellen Marketing-Konzepte der Landesagentur TirolWerbung unterläuft, deren akademische Eliten «Tirol» liebend gerne als Kulturstandort für Quali tätstourismus stärken wollen. Seine Kindheit verbrachte Günter Aloys noch auf einer Hochalm über Ischgl, die seine Eltern be wirtschafteten, bevor sein Vater Mitte der 1960er Jahre zu einem der Seilbahn- und Tourismuspio niere des Dorfes wurde. Gleich neben der Talstation steht bis heute das erste Hotel der Familie mit der ersten Diskothek im Dorf. Günter Aloys kennt den Wandel seines Heimatdorfes von der Landwirt schaft zum Tourismus, den Aufstieg von Armut zu Wohlstand, aber auch die Krise seit Mitte der 1980er Jahre, als vor allem in jeder Sommersaison die Nächtigungszahlen immer mehr einbrachen. Er sah sich verpflichtet zu handeln. Ischgl musste ein neues Image erhalten. 1995 verpflichtet er Sir Elton John für ein Live-Konzert zum Saisonende auf 2‘500 Metern Höhe. Tatsächlich kamen 6’000 Besucher. Es war der ermutigende Startschuss, das Bergdorf in ein «Ibiza der Alpen» zu verwandeln. Im Jahr 2000 veröffentlichte Günther Aloys die Anleitungen dazu in einem manifestartig formulier ten Buch mit dem Titel «POP-Tourismus», das er im Eigenverlag herausgab.4 Als selbsternannter Trendforscher und Populärkulturexperte setzte er sich darin vehement dafür ein, Bühnen zur Selbst darstellung und Selbsterprobung unterschiedlicher Identitäten sowie eine Vielfalt von Zonen zur sozialen Kontaktaufnahme und körperlichen Selbster fahrung anzubieten – von Ekstase bis zu Kontem plation. Dabei sprach er nicht nur eine Kultur hedonistischer Partylöwen an, sondern auch verein samte urbane Subjekte, die dabei unterstützt werden müssten, im Urlaub sozialen und körperlichen Anschluss wiederzufinden. 2002 landete er einen besonderen Coup. In diesem Jahr engagierte er den Ex-Präsidenten der USA Bill Clinton, auf 2’300 Metern über Meer unter dem Titel «Message from the Mountains» einen Vortrag an die Jugend Europas zu halten – mit einem Saxophon-Solo als Zugabe. Noch viel mehr Aufsehen erregte aber 2007 die Produktpräsentation eines neuen, von Günter Aloys
unter dem frivolen Markennamen RICH® vertrie benen Prosecco in einer goldfarbenen Blechdose, präsentiert vom Partyluder Paris Hilton. Hilton wurde zu diesem Zweck nach dem Besuch des Wiener Opernballs mit einem Helikopter eigens nach Ischgl eingeflogen, wo sie gemäss Auftrag ihre Geburtstagsparty mit dem neuen Drink zu feiern hatte. Diese Inszenierung erscheint auf den ersten Blick als Affirmation des Jetsets in St. Moritz. Sie ist zugleich aber auch eine ‹geniale› ironische
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Kommentierung der Dekadenz der Superreichen, die Paris Hilton selbst par excellence repräsentiert – und das in Ischgl, einer Destination, die ganz im Gegenteil einen breiten Mittelstand adressiert. Zum anderen zählt Paris Hilton aber auch zu jenen starken globalen Marken, von der auch andere zu profitieren versuchen. Das beweist alleine schon ihr obszön hohes Honorar, das den Medien absicht lich zugespielt wurde. Aber auch das Produkt, der RICH® Prosecco in der goldenen Dose, reprä sentiert ein widersprüchlich erscheinendes Hybrid, das sowohl den Appeal von Champagner (dem Statusgetränk der superreichen Eliten) als auch den des Energy Drinks Red Bull (dem Statusgetränk der Extremsport-, Event- und Partyszene) in sich vereint – und auf die Destination Ischgl übertragen soll. Die provokante Kampagne animierte durch ihre blosse Ankündigung die internationalen Medien, schon im Vorfeld der Aktion darüber zu berichten: mehrheitlich in purer Verachtung, (allenfalls) in distinktiver Kritik, (kaum) mit begeisternder Zustimmung – aber die Story über das teure Partyluder Paris Hilton, den Hotelier aus Ischgl und seine Dose wollte sich niemand entgehen lassen. In Bezug auf das Marketing Weltklasse! Fazit
Aus dem Blickwinkel des urbanen Kunstbetriebes, etwa eines professionellen Kunst-, Architektur-, Musik- oder Theaterkritikers – oder eines intellek tuellen Connaisseurs – mögen diese kulturellen Äusserungen als geschmack- und masslose Entglei sungen erscheinen, die sich vorzüglich zur distink tiven Selbstversicherung der eigenen kulturellen
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Überlegenheit eignen. Untersucht mit den Metho den der interdisziplinären Populärkulturforschung, Kultursemiotik oder Kulturanthropologie, stellen sie sich hingegen ganz einfach als eigensinnige und eigenständige Produktionen dar, die das komplexe soziale Feld ihrer Herstellung und Rezeption abbilden. ‹Eigenständigkeit› bezieht sich dabei auf das zuneh mende Selbstbewusstsein, das mittelständische touristische Dienstleister während des rasanten Modernisierungsschubes ihrer Destination erwor ben haben. Dieses Selbstbewusstsein ermächtigt sie in zunehmendem Masse losgelöst vom urbanen Kunstbetrieb – mitunter auch in Opposition zu diesem – selbstbestimmt Projekte zu entwickeln, die nicht mehr zwischen Populär- und Hochkultur unterscheiden. Wie die touristische Sehnsuchts produktion und ihre Erfüllung entstehen aber auch diese Projekte im Spannungsfeld zwischen den lokalen Kulturen der Einheimischen, die durch die Touristifizierung längst urbanisiert wurden, den Dienstleistungskulturen der Unternehmer/innen und den Ferienkulturen der Reisenden. Sie stellen daher immer Koproduktion von Einheimischen, Dienstleistenden und Reisenden dar, in denen sinnstiftende Eigeninteressen und die Antizipation von Erwartungshaltungen gegeneinander abgewo gen werden. Diese kulturellen Äusserungen orien tieren sich naturgemäss am heterogenen Markt der eigenen Gäste, die zur Refinanzierung beitragen sollen, ebenso aber auch an öffentlichen Förderpro grammen oder privaten Sponsoren. Folglich ent stehen dabei sehr vieldeutig gebastelt erscheinende Produktionen mit hohem Improvisierungsgrad, die sich von den kontrollierten und disziplinierten ästhetischen Produktionen des professionellen Kunstbetriebes signifikant unterscheiden. Eine angemessene Kritik von kulturellen und künst lerischen Ausdrucksformen, die im Umfeld touristi scher Erlebniswelten entstehen, ist daher nur auf der Basis einer differenzierten Auseinandersetzung mit den dahinter stehenden Akteuren möglich, mit den Personen, Gremien oder Organisationen, die diese Projekte initiieren, organisieren, sie inhaltlich und formal prägen oder mitunter auch verunmögli chen. Nur durch die Analyse der unterschiedlichen Motive und Erwartungshaltungen, die alle diese Akteure mit ‹ihrem› Projekt in Verbindung bringen, lässt sich erkennen, welche Funktion, Wirkung und Bedeutung spezifische Ausdrucksformen im jeweiligen Kontext haben. Michael Zinganel *1960 in Radkersburg, lebt als Kulturwissenschaf ter, Architekturtheoretiker, bildender Künstler und Kurator in Wien, und unterrichtet am Postgraduate Kolleg der Bauhaus Stiftung Dessau. Architekturstudium an der TU Graz, Fine Arts an der Jan van Eyck Akademie Maastricht, Dissertation in Geschichte an der Universität Wien. 2003 Research Fellow am Internationalen Institut für Kulturwissen schaften Wien. Projekte u. a. über leerstehende Gemeinschaftseinrichtun gen im Wohnbauprogramm des Roten Wien (1995), über die Nachkriegs geschichte des anonymen Einfamilienhauses in Österreich (1998) und diverse Formate zur Produktivkraft des Verbrechens für die Entwicklung von Sicherheitstechnik, Architektur und Stadtplanung. Seit 2005 Konferenzen, Ausstellungen und Ausstellungsbeiträge über transnationale Mobilität, Massentourismus und Migration, u. a. mit Peter Spillmann und Michael Hieslmair. Publikationen (Auswahl): gem. mit Elke Beyer und Anke Hagemann:
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«Urlaub nach dem Fall. Transformationen sozialistischer Ferienanlagen» (2012); gem. mit Hans Albers, Marusa Sagadin, Michael Hieslmair: «Saison Opening. Kulturtransfer über ostdeutsch-tirolerische Migrations routen» (2006); gem. mit Matthias Marschik, Rudolf Müllner, Georg Spitaler: «Das Stadion. Geschichte, Architektur, Politik, Ökonomie» (2005); gem. mit Peter Spillmann: «Backstage*Tours. Reisen in den touristischen Raum» (2004). 1 http://www.torren.at/de/produktionen/aktuell/hannibal/ 2 Siehe dazu auch das Video «Masterminds», das 2007 / 2008 von der
Filmemacherin Nicole Wangler in Zusammenarbeit mit dem Forschungsteam Kunst & Tourismus entstanden ist und in der o. a. Ausstellung erstmals gezeigt wurde. 3 Die Dorfgemeinschaft Engelberg wurde kurz vor dem Unwetter neu gegründet. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, den Zusammenhalt im Dorf zu stärken und Aktivitäten zu fördern, die das Zusammenleben von Einheimischen und Gästen gleichermassen bereichern und den Dorfkern beleben und wieder attraktiver machen sollten. Ein weiteres Ziel der Dorfgemeinschaft ist, das Bewusstsein für zeitgemässe ‹lokale› Kultur und die ‹stilleren› Qualitäten des Dorfes zu stärken. 4 Ein Mobile von Erika Manetsch, das den Eingang ‹Quattro Sport› in Engelberg dekoriert hatte, und ein Plakat mit Abbildungen weiterer Projekte, die aus diesem Wettbewerb hervorgegangen sind, wurden von 26.4. bis 25.5.2008 in der Ausstellung «Top of Experience oder die Kunst der Erlebniswelt» im Kunstpanorama, Kunsthalle Luzern gezeigt. 5 Günther Aloys: POP-Tourismus. Tourismus der Zukunft, Prophezei ungen, Impulse und Thesen für das 21. Jahrhundert, Network der Kreativen für Freizeit, Events und Tourismus, Workshop Ischgl 2000.
1 Szene aus dem Gletscherschauspiel «hannibal» in Sölden (Foto: lawine torrèn) 2 Zillertaler Schürzenjäger am Open Air 2012 (Foto: Heinz Rautmann) 3 Hotel in Hintertux (Foto: Martin Fritz) 4 Tiroler Frühstückspension (Quelle: www.zillertal-online.at)
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Andenkentrödel und Fremdenkitsch Zur Souvenirkritik im 20. Jahrhundert Von Franziska Nyffenegger
Lachende Kühe, badende Kühe, sitzende, stehende, liegende Kühe, Kühe in Form von Tassen, als Topflappen oder Küchenwecker, Schlüsselanhänger oder Sofakissen, Kerzen oder Kinderspielzeug, Kühe aus Plastik, Holz und Plüsch, umringt von Edelweissen und Schweizer Kreuzen, die ihrerseits Thermoskannen und T-Shirts schmücken: Das Auge weiss kaum, wo es beginnen soll, so gedrängt und übervoll präsentieren sich die Auslagen der Souvenirgeschäfte in der Luzerner Innenstadt. Unter den Tausenden von Objekten eine Trouvaille finden, ein geeignetes Mitbringsel, ein witziges Andenken, lautet die touristische Herausforderung. Keine einfache Aufgabe, aber eine notwendige, denn zur Kultur des Reisens gehört es – vermutlich seit je her – Dinge aus der bereisten Kultur nach Hause zu bringen. Reiseandenken zählen zu den ältesten seriell und in grosser Auflage hergestellten Objekten überhaupt. Bereits in der Antike sollen Andenkenhändler mit dem Verkauf von Miniaturen beliebter Reiseziele an fremde Besucher erfolgreich Geschäfte gemacht haben1. Über eine halbe Million Pilgerzeichen, das wichtigste Reiseandenken jener Zeit, stellen euro päische Manufakturen im Mittelalter jährlich her.2 Im Berner Oberland führt der bürgerliche Touris mus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter anderem zu einem rasanten Aufschwung des Schnitzereihandwerks;3 rund 900 Arbeiter beschäf tigt die Souvenirindustrie in der Belle Epoque alleine in Brienz.4 Mitte der 1960er Jahren führen in der Schweiz an die 100’000 Verkaufsstellen Souve nirartikel,5, und heute geben ausländische Reise gäste gemäss Schätzungen jährlich rund 67 Mio. Schweizer Franken für Souvenirs aus.6 Ein lukrati ves Geschäft also, das allerdings immer wieder unter Verdacht gerät, Schweizer Werte und Schwei zer Kultur zu verraten. Verkauf und Herstellung von Reiseandenken erfüllen eindeutig eine Nachfrage, ein offensichtli ches Bedürfnis – ein in erster Linie symbolkommu nikatives Bedürfnis, kein praktisch-funktionales.7 Reisende und insbesondere touristisch Reisende brauchen Materialisierungen ihrer Erlebnisse, als Stütze für die eigene, unzuverlässige Erinnerung einerseits, als Gabe für die im Alltag Zurückgeblie benen andererseits.8 Endlich ausgewählt und gekauft «versichert es [das Souvenir] den Touristen gegen den Zweifel am eigenen Erlebnis».9 Oder
anders ausgedrückt: «Menschen treten ihre Erinnerungskraft an die Souvenire ab (…).»10 Die Materia lisierung von touristischem Erleben im Reisean denken hat der Logik der touristischen Wahrnehmung ebenso zu folgen wie den Gesetzen der Ökonomie. Beides führt dazu, dass (kommerzielle) Souvenirs überall auf der Welt leicht zu erkennen sind: kleine, preisgünstige Objekte, oft mit einem Zug ins Humorvoll-Kindische, ja Lächerli che, die Merkmale der besuchten Destination zeichenhaft verdichten und deren praktische Funktion zumeist aufgesetzt wirkt oder ganz fehlt. Die Luzerner Auslagen unterscheiden sich nur bei genauerer Betrachtung von denjenigen der Souve nirshops in Paris, London oder Dubai. Jenseits des guten Geschmacks
Was Souvenirs auszeichnet, gefällt jedoch nicht allen; schon im frühen Tourismus gerät die Reisean denkenindustrie ins Kreuzfeuer der Kritik. Mark Twain etwa bemerkt herablassend: «Das Wirtschaftsleben Luzerns besteht hauptsächlich aus dem Andenkentrödelmarkt; die Läden sind vollgestopft mit Bergkristallen, Landschaftsphotographien und Holz- und Elfenbeinschnitzereien.»11 Anfang des 20. Jahrhunderts etabliert sich der Begriff des «Fremdenandenkenkitsches», um die «schlechte» Gestaltung von Reiseandenken – und damit auch den «schlechten Geschmack» von Anbietern und Käufern – zu brandmarken. Der Kunsthistoriker Gustav E. Pazaurek führt ihn 1909 in seiner im Stuttgarter Gewerbemuseum instal lierten «Abteilung der Geschmacksverirrungen» ein; gemeint ist damit «billiger Massenschund ohne Rücksicht auf eine angemessene Materialverwendung, Formensprache und Dekoration».12 In der Schweiz gilt die Souvenirproduktion jener Zeit als einer der «schlimmsten Nebenbetriebe unserer einheimischen Industrien».13 Die Zeit schrift des Schweizerischen Werkbunds meint: «Was im allgemeinen als Fremdenartikel feilgeboten wird, ist von vorneherein eine Absage an jegliches künstlerisches Empfinden.»14 Die Ver kaufsstände der Landesausstellungen von 1914 und 1939 werden denn auch kuratiert, um die Regale von «Entsetzlichkeiten» frei zu halten; 1939 de monstriert ein «Souvenir-Schandpfahl» den Besu chern gar, was sich nicht gehört. Zwischen 1914 und 1980 schreiben Heimatschutz und Werkbund,
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die Vereinigung Bel Ricordo, später das Heimatwerk und die Verkehrszentrale, unterstützt vom Eidgenössischen Departement des Innern, regelmässig Wettbewerbe «zur Gewinnung von künstlerischen Reiseandenken» aus15. Der vereinte Kampf gilt dem «Kitsch» und der «geschmackliche[n] Billigkeit».16
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Doch geht es bei diesen Interventionen nicht nur um ästhetische Erziehung, sondern auch darum, «in der Welt herum eine erfreulichere Vorstellung von schweizerischer Eigenart zu geben, als die bisherigen allgemein üblichen Schundwaren, deren man sich schämen musste».17 Reiseandenken sind immer auch Werbebotschafter und daher rührt
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die Angst, der «üble Reiseandenkitsch» gebe einen «irreführenden Eindruck vom kulturellen Niveau des Landes»,18 erwecke «ein bedenkliches Urteil über seine künstlerische Leistung»19 oder schade dem «guten Ruf des schweizerischen gestalterischen Schaffens».20 Die Sorge um die «künstlerische» Qualität des Schweizer Souvenirs stellt sich schon in der Frühzeit des modernen Tourismus ein. Bereits 1823 fordert das Amtsgericht Interlaken, die Brienzer Schnitzer seien von einem Zeichenlehrer auszubil den, weil die serielle Herstellung von geschnitzten Andenken, der «selbstwüchsige Dilettantismus» und die «sublime Geschmacksverirrung» deren Wert – und damit den Ruf des einheimischen (Kunst-) Gewerbes – gefährde21. Die ersten um die Jahrhundertmitte im Haslital gegründeten Schulen mussten mangels Interesse aber bald wieder schlies sen. Schnitzen war Broterwerb, ohne künstleri schen Anspruch; die von aussen formulierten Forderungen für die Schnitzer nicht nachvollziehbar und der Schulbesuch in ihren Augen reiner Zeitver lust, verkauften sich ihre «schlechten» Produkte doch durchaus erfolgreich und Gewinn bringend22. Auch im 20. Jahrhundert zeitigen die Anstreng ungen zur «Erneuerung des Reiseandenkens» wenig Erfolg. Selten findet ein prämierter Entwurf einen Produzenten; meist bleibt es bei der Entwurfsidee, beim für den Wettbewerb gefertigten Prototypen. Herstellern und Handel fehlt es an «Mut zur guten Form»23. «Gewissenlose Importeure von ausländischem Souvenirkitsch»24 beherrschen den Markt, doch sind «beide Teile, Käufer und Verkäufer, am gegenwärtigen Zustand mitschuldig».25 Schlimmer noch: Auch die Wettbewerbsteilnehmer bekunden Mühe, «ausserhalb bekannter, von den folkloris tischen Traditionen geprägter Schemata Gegenstände mit Andenken-Charakter zu erfinden»26. An einem der letzten von der Eidgenössischen Kom mission für angewandte Kunst ausgelobten Wettbe werbe beteiligen sich 138 Gestalter mit 376 Ent würfen; davon genügen neun den Anforderungen und werden ausgezeichnet; die Mehrzahl der Eingaben hingegen unterscheidet sich «kaum von sattsam bekanntem Kitsch des einschlägigen Souvenirhandels».27 Die Kritiker vergessen in ihrem vernichtenden Urteil zweierlei: Erstens, dass es sich bei Souvenirs nicht um Gebrauchsgüter handelt, sondern um gefühlsdichte, zeichenhafte Objekte, die entsprechend anders bewertet werden müssen. Im Andenkenla den «ist Emotionalität statt Rationalität gefragt».28 Zweitens, dass sich der Tourist in einer Situation befindet, in der die Regeln des Alltags ausser Kraft sind29. Ferienreisen erlauben uns – ja, sie verlangen es geradezu –, Geld auszugeben für Dinge, die wir zu Hause nie kaufen würden.30 So spiegelt die Kritik am Souvenir die Kritik am Tourismus: Sie wirft dem Touristen vor, sich blenden zu lassen, sich «falschen» Bildern hinzugeben, das «Wahre» nicht sehen zu wollen – und vergisst dabei, dass es dem touristisch Reisenden darum
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nicht geht, dass er vielmehr die «Realität der Fiktion»31 sucht. Eine solche vermag die in China hergestellte lachende Plastikkuh genau so gut (oder sogar besser) herzustellen wie die zehn Mal teurere Schweizer Designkuh. Franziska Nyffenegger ist Ethnologin und arbeitet als Dozentin an der Hochschule Luzern – Design & Kunst und an der Zürcher Hochschule der Künste. 2010/11 leitete sie ein KTI-Forschungsprojekt zur Rolle von Souvenirs im Destinationsmarketing. Gemeinsam mit Dagmar Steffen untersucht sie ab Oktober 2012 im Rahmen eines SNF-Projekts unter dem Titel «Bildsymbole der Schweiz» die Pro duktsprache von Reiseandenken.
Die Autorin dankt dem Karikaturisten und Objektkünstler H. U. Steger für den Einblick in sein Archiv und die Kopien von Medienberichten zum eidgenössischen Souvenirwettbewerb 1972 sowie Lilian Raselli, Leiterin Schlossmuseum Thun, für Literaturhinweise zur Brienzer Schnitzerei. Baur, Albert (1945). ‹Das Reiseandenken in der Schweiz›. (Das) Werk 32: 142. Bl. (1914). ‹Der Bazar für Reiseandenken an der Landesausstellung›. (Das) Werk 1 (6): 21-24. Verlag, Ort Brock, Bazon & Anna Zika (Hg.) (2002). ‹Der Barbar als Kulturheld. Ästhe tik des Unterlassens – Kritik der Wahrheit. wie man wird, der man nicht ist. Gesammelte Schriften III, 1991-2002›. DuMont: Köln. Bruckmann’s illustrirte Reiseführer (1896). ‘Rundreisen in der Schweiz einschliesslich der oberitalienischen Seen und Mailand. Mit Illustrationen, Stadtplänen, einer Karte der Schweiz etc. etc.’ A. Bruckmann’s Verlag: München. Bundesamt für Kultur (Hg.) (1997). ‹Made in Switzerland. Gestaltung. 80 Jahre Förderung durch die Eidgenossenschaft›. Verlag Hochparterre: Zürich. Bundesamt für Statistik, Schweizer Tourismus-Verband, GastroSuisse, hotelleriesuisse et al. (2008). ‹Schweizer Tourismus in Zahlen. Ausgabe 2008›. Schweizer Tourismus-Verband: Bern. Cattaneo, Claudia, Renate Flagmeier, Mario Pellin & Imke Volkers (Hg.) (2011). ‹Böse Dinge. Positionen des (Un)Geschmacks. Eine Ausstel lung des Gewerbemuseum und des Werkbundarchiv - Museum der Dinge, Berlin›. Gewerbemuseum: Winterthur. Enzensberger, Hans Magnus (1964 [1958]). ‹Eine Theorie des Tourismus›, Seite 179-205, in Hans Magnus Enzensberger (Hg.): ‹Einzelheiten I. Bewusstseins-Industrie›. Suhrkamp: Frankfurt am Main. ez. (1973). ‹«Faltgenossen» in Variationen. Ideenreichtum gegen Souvenirkitsch›. Der Bund, Bern, 11. Februar 1973. Gaschen, Elisabeth (1965). ‹Der Souvenirmarkt in der Schweiz. Beitrag zu einem neuzeitlichen Marketing›. Buchdruckerei A. Simmen Söhne: Matten-Interlaken. Gordon, Beverly (1986). ‹The Souvenir: Messenger of the Extraordinary›. Journal of Popular Culture 20 (3): 135-146. Verlag, Ort Gruppe-Kelpanides, Heidemarie (1979). ‹Holzschnitzen im Berner Oberland. Zur Innovation und Entwicklung eines Gewerbes im 19. Jahrhundert›, Seite 7-37, in Wolfgang Brückner & Nikolaus Grass (Hg.): ‹Jahrbuch für Volkskunde›. Echter Verlag, Verlagsanstalt Tyrolia, Universitätsverlag: Würzburg, Innsbruck, Fribourg. Hennig, Christoph (1999 [1997]). ‹Reiselust. Touristen, Tourismus und Urlaubskultur›. Suhrkamp: Frankfurt a.M. Museum für Angewandte Kunst Frankfurt (Hg.) (2006). ‹Der Souvenir. Erinnerung in Dingen von der Reliquie zum Andenken›. Wienand Verlag: Frankfurt a.M. o.A. (1980). ‹Souvenirwettbewerb›. Werk, Bauen + Wohnen 67 (4): 64. Verlag, Ort Sch., E. (1942). ‹Gute Reiseandenken der «Bel ricordo»›. (Das) Werk 29 (12): 300-302. Schneider, Ulrich (2006). ‹Strassen des Glaubens. Der Souvenir im Mittelalter›, Seite 60-79, in Museum für Angewandte Kunst Frankfurt (Hg.): ‘Der Souvenir. Erinnerung in Dingen von der Reliquie zum Andenken’. Wienand Verlag: Frankfurt a.M. Schweizerische Zentrale für Verkehrsförderung (1945). ‘Das Reiseanden ken in der Schweiz’. Gewerbemuseum: Basel. su. (1973). ‘Vom Edelweiss zum «Faltgenossen». Neue Schweizer Reiseandenken’. Neue Zürcher Zeitung 9. Februar 1973. Sykora, Katharina (2008). ‘Souvenir, Souvenir. Ludwig II. von Bayern als Andenken’. Querformat 1: 78-83. Verlag, Ort Thommen, Elsbeth (1975). ‘Kein Mut zur guten Form’. National-Zeitung 30. September 1975. Twain, Mark (1990 [1880]). ‘Bummel durch Europa’. Diogenes: Zürich. Urry, John (2008 [2002]). ‘The Tourist Gaze. Leisure and Travel in Contemporary Societies. Second Edition’. Sage: London. W.R. (1954). ‘Wettbewerb für stadtzürcherische Reiseandenken’. (Das) Werk 41: 246-247. Verlag, Ort Widmayer, Petra (1991). ‘Zwischen Kitsch und Kunsthandwerk - Souve nirs, eine Gestaltungsaufgabe für Designer?’ Seite 104-108, in Design Zentrum Bremen (Hg.): ‘Die innoventa-Musikanten. Wie die Bremer Stadtmusikanten unter die Designer fielen.’ Worpsweder Verlag: Bremen.
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Widmayer 1991: 104 Schneider 2006: 76 Vgl. Gruppe-Kelpanides 1979 Bruckmann’s illustrirte [sic!] Reiseführer 1896: 292 Gaschen 1965: 11 Bundesamt für Statistik et al. 2008: 8 siehe dazu bspw. die Beiträge von Andreas Hillert, von Anna Ananieva und Christiane Holm sowie von Volker Fischer in Museum für Angewandte Kunst Frankfurt, 2006. 8 Gordon 1986: 136ff 9 Enzensberger 1964: 202 10 Brock/Zika 2002: 578 11 Twain, 1990: 193f. 12 Cattaneo et. al, 2011: 30 13 Bl. 1914: 21f. 14 ebda. 15 Bundesamt für Kultur, 1997: 59 - 87 16 Schweizerische Zentrale für Verkehrsförderung, 1945: 17 17 Bl. 1914: 14 18 Sch., 1942: 302 19 Baur, 1945 20 o. A., 1980 21 Gruppe-Kelpanides, 1979: 26 und 31ff. 22 ebda. 23 Thommen, 1975 24 W.R., 1954 25 su., 1973 26 ez., 1973 27 Thommen, 1975 28 Sykora, 2008: 79 29 Vgl. u.a. Urry, 2008 30 Gordon, 1986: 138 31 Hennig, 1999: 55
1 Black Forest Cuckoo Clocks made for Switzerland 2 Auslagen des Souvernirgeschäfts Schmid-Linder in Luzern 3 Schaufenster einer Uhrenboutique in Luzern (Fotos: Peter Spillmann)
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Von der Cru x des Historism us A rchit ekt u r a ls M a ssen mediu m im Tourismus Sta n isl au s von Moos im Ge spr äch mi t Pe t er Spil l m a n n Die Frage der Inszenierung scheint ja in der Architektur des Tourismus von Anfang an von zentraler Bedeutung gewesen zu sein. Das Grand Hotel des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit seinem Park, seiner Promenade, einem Kurpavillon, also das waren eigentlich immer schon eine Art geschlossene Erlebnisparks mitten in der Landschaft, wo die Gäste sich aufgehalten und vergnügt haben, das Panorama genossen. Stanislaus von Moos War es wirklich so, dass Wirtshäuser oder Gasthäuser in ihrer Bildlichkeit immer schon einen Mehrwert an Erlebnis transportierten? – Nehmen wir das Bäderhotel des frühen 19. Jahr hunderts, mit dem die Geschichte der modernen Hotellerie beginnt, mindestens in der Schweiz. Das waren ganz einfache, klassizistische Anlagen, wo’s Zimmer gab, wo man untertags ins Bad stieg und am Abend vielleicht ein mehr oder weniger gediegenes Nachtmahl zu sich nahm. Die Architektur meldete zwar einen Anspruch auf Status an, doch die Thematisierungen und Spektakulari sierungen des Hotels als aufgedonnerte Pseudo-Adelsresidenzen ist erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dazugekommen. Das hängt wohl vor allem mit der Multiplikation und Ausdif ferenzierung von Angeboten zusammen und der Notwendigkeit der zahlreichen Etablissements, sich gegeneinander abzugrenzen. Peter Spillmann Touristiker verorten den Beginn des Tourismus ja auch genau in dieser Zeit. Die früheren Reisen des Adels, also auch Bäder tourismus oder Pilger- und Handelsreisen, werden zwar als Vorläufer gesehen, aber noch nicht als Tourismus bezeichnet. Das Auf kommen grösserer Hotels markiert somit auch den Beginn des modernen bürgerlichen Tourismus. Stanislaus von Moos Dass ein in der Ausstattung minimaler Grundstock von formalen Möglichkeiten zu einem bestimmten Zeitpunkt in grösserem Massstab für eine andere Klientel massiv ausgebaut und ausgeweitet wird ist ja nicht spezifisch für das 19. Jahrhundert und erst recht nicht für den Tourismus. Man denke an die venezianische Villa im 15. und 16. Jahrhundert. In einem ländlichen Umfeld, wo es ursprünglich nur landwirtschaftli Peter Spillmann
che Nutzbauten gab und bescheidene Wohnhäuser der Bauern sowie isolierte Residenzen adeliger Gutsbesitzer entsteht plötzlich eine neue Gattung von Architektur: die «Villa», die dann als Typus u.a. dank Palladio berühmt werden sollte. Auslöser war natürlich nicht der Tourismus, sondern die frühkapitalisti sche Bewirtschaftung des landwirtschaft lichen Potentials der Region durch eine neue, halb bürgerliche, halb aristokra tische Klasse von Städtern. Als ein TeilTransplantat von städtischer Lebensform aufs Land ist diese Entwicklung min destens ein bisschen mit der Entstehung von Hotels im 19. Jahrhundert vergleich bar, sagen wir mal soziologisch vergleich bar. Peter Spillmann Welchen Stellenwert hat Architek tur aus dem touristischen Kontext innerhalb der Geschichte der Architektur insgesamt? Wird sie eher als Ausnahmeerscheinung gesehen oder hat das, was für den Tourismus gebaut wurde, auch Bedeutung für die übrige Architektur? Stanislaus von Moos Tourismusarchitektur galt, zumindest im 20. Jahrhundert, zunächst mal als unfein. Sie hatte (und hat?) den Ruf des leicht degoutanten «Vorspiegelns falscher Tatsachen». In der Schweiz sowieso. Während des 2. Weltkriegs gab es ja eine Aktion vom Bund für die Sanie rung von Fremdenkurorten. Der LandiDirektor Armin Meili wurde vom Bundes rat damit betraut, eine Grossoperation zu planen – das hatte natürlich auch was mit Arbeitsbeschaffungsstrategien des Bundes zu tun – für die Instandstellung und Sanierung von Fremdenkurorten. Damals galt die Ansicht, dass das «Palast hotel» eine Degenerationserscheinung sei. Türmchen wurden entfernt. Kommo den und Kredenzen sowie Lambrequins wurden aus den Intérieurs wegsaniert. Wenn einmal diese äusseren Zeichen des sogenannt schlechten Geschmackes weg sind, dann sei, so dachte man, mindes tens ein Niveau von Anstand wiederher gestellt, auf dem man dann wieder über ästhetische Qualität reden könne. In der Schweiz war etwa Peter Meyer ein besonders wortgewaltiger Ideologe dieser Reinigungsbemühungen - dass er gleich zeitig die soziologische Dynamik hinter
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der damaligen Hotellerie scharfsinnig zu durchleuchten wusste, macht seine Texte noch heute so lesbar. Dieses Malaise in Sachen Palasthotel prägte nicht nur die Kunstgeschichte auf Jahrzehnte hinaus, sondern auch die Denkmalpflege, wie sie z.B. im Umkreis der Gesellschaft der schweizerischen Kunstgeschichte prak tiziert wurde. Doch gerade dort gab es in den 1970er, 1980er Jahren einen grundsätzlichen Wandel der Einstellung. Das war die Zeit, wo das zwölfbändige INSA (Inventar der Neueren Schweizer Archi tektur) aufgegleist wurde. Was jetzt zählte, war nicht mehr «gut» oder «schlecht», sondern die historische Signifikanz als solche, unabhängig von den «Werten» die dadurch transportiert wurden. Man kann den Umschwung in der Wahrnehmung u.a. von Hotelarchitektur für die Schweiz ziemlich genau festmachen. In der Schweizerischen Kunstgeschichte von Gantner/Reinle, einem Unternehmen der 1950er und 1960er Jahre, wurden die Grand Hotels tendenziell noch als Deka denzerscheinung erfasst, im INSA dage gen sind sie bereits zu ausgesprochenen Leckerbissen aufgewertet. Peter Spillmann Das architektonische Pendant zum Grand-Hotel-Schloss wäre ja das Schweizer haus, was gewissermassen ein Versuch dar stellt, dem Lokalen eine Form zu geben. Das Schweizerhaus ist ja älter in seiner Tradition, aber es wurde zur selben Zeit also Mitte des 19. Jahrhunderts sehr populär als ein Versuch dem lokalen, alpinen, schweizerischen ein authentisches Gesicht zu geben, was natürlich genau so konstruiert ist wie das SchlossHotel. Im Grunde stehen sich diese beiden Gebäudetypen kulturgeschichtlich auf eine interessante Art und Weise gegenüber, vor allem wenn wir die Entwicklung mit bedenken, wie das Schweizerhaus zum Chalet wird, bis zum Jumbo-Chalet der 1970er Jahre. Stanislaus von Moos Wie das Palasthotel ist das Chalet im Grunde ja keineswegs eine schweizerische Erfindung. Die ersten Schweizerhäuser hat es im Ausland gegeben. Die Idee des Schweizerhauses ist im 18. Jahrhundert in Baden-Württem berg und dann im frühen 19. Jahrhundert in Berlin erstmals architektonisch zum Thema geworden und nachher in Frankreich eingegangen in die Traktatlite ratur des frühen 19. Jahrhunderts. Die Schweiz hat erst später entdeckt, dass damit Identitätspolitik im Rahmen von Weltausstellungen gemacht werden kann. Spätestens mit dem «Village suisse» an der Genfer Landesausstellung von 1896 und mit dem noch ambitiöseren an der Weltausstellung in Paris von 1900 hat
sich dieses Klischee des Schweizer Chalets als schweizerisches Exportprodukt weltweit eingebürgert. Einzelne Gegen den der Schweiz haben das Chalet sogar als einziges toleriertes Modell der Sied lungsentwicklung institutionalisiert. Vielleicht gar nicht die schlechteste unter allen denkbaren Möglichkeiten, den drohenden und in unserer Vorstellung von Eigentumsgarantie implizierten Wildwuchs zu disziplinieren... Peter Spillmann Der Grund, wieso Regionen wie das Berner Oberland schon früh den einen Schritt machen zu sagen, es sind nun nur noch Häuser mit chaletartigem Aussehen erlaubt, dürfte mit dem Bewusstsein für die Bedeutung von Inszenierung im Tourismus zusammenhängen. Im Engadin gibt’s ja ähnliche Bestrebungen bezüglich eines Typus «sgraffitodekoriertes Steinhaus». Da ist vielleicht die Variabilität fast noch ein bisschen grösser als beim Chalet, aber der Versuch ist ja auch da, mit Hilfe gesetzlicher Rahmenbedingungen eine Art lokaltypische Anmutung durchzusetzten. Stanislaus von Moos In der Schweiz überlebt dieser Heimatschutz-Historismus besten falls noch in lokalen Bauordnungen. Aber auch da ist er arg durchlöchert. Das hat einen der Gründe darin, dass die Leute, die «etwas vom Bauen verstehen», nämlich die Architekten, nicht wirklich hinter solchen Bauordnungen stehen. Ein Chalet oder ein Engadinerhaus zu bauen, galt und gilt für einen «seriösen» Archi tekten als eine Zumutung. Ich glaube, das ist fast ein bisschen spezifisch für die Situation in der Schweiz – bis hinauf in die 1970er Jahre: So etwas wie «New Urbanism», also ein Städtebau, der programmatisch bei traditionellen Sied lungsmustern anknüpft, wie das in der Gartenstadtbewegung des frühen 20. Jahrhunderts noch selbstverständlich war, war und ist unter Architekten, die im Sinne der architektonischen Moderne ausgebildet wurden, einfach nicht mehr heitsfähig. Peter Spillmann Es gibt ja doch auch immer wieder neue Versuche – gerade in touristischen Regionen, die damit auch ein Zielpublikum an sprechen wollen, was gute Architektur und lokale Werte schätzt – die Moderne zumindest mit lokaltypischen Materialien oder Kon struktionsweisen zu versöhnen, wie das etwa Gion A. Caminada in Vrin macht oder ver schiedene Architekten im Vorarlberg, was ja mittlerweile als ein Zentrum einer lokal reflektierten, modernen Architektur beachtet wird. Stanislaus von Moos Das Beispiel Gion Caminada beweist, dass sich Regionalismus und Moderne auch heute nicht gegensei
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tig ausschliessen. Sie haben ja auch gemeinsame historische Wurzeln in der Arts and Crafts Bewegung. Man müsste in diesem Zusammenhang übrigens wohl auch Rudolf Olgiati erwähnen. Und doch: hochkarätige Architektur, wie sie Olgiati in den 1960er Jahren realisierte und wie sie Caminada heute realisiert, ist zwangs läufig die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Die Regel aber ist heute in der Agglomera tion Schweiz das Durcheinander, der Siedlungsbrei. Architekten meinen, man könne die Situation «beruhigen», wenn man die «Alltagsarchitektur» auf einen Kompromiss zwischen minimalen ästhetischen Spielregeln und einigermassen anspruchsvoller Materialität verpflichtet. Das kann in urbanisierten Gegenden zielführend sein – nur leider ist das, was dabei entsteht, nur selten ein Caminada-Bau. Im Durcheinandertal touristisch teilversehrter ländlicher Randzonen in der Innerschweiz, im Wallis usw., ist der Traditionalismus der Gastro-Architektur von vorgestern de facto beinah der einzige gestalterische Ordnungsfaktor. Warum nicht versuchen, daran anzuknüpfen? – Ich warte noch immer auf den Mutigen, der es wagt, mit historistischen Klischees zu bauen, ohne den Anspruch auf archi tektonische Qualität aufzugeben. Peter Spillmann Wirklich populär ist im aktuellen Massentourismus ja ein ganz anderer Typ von Architektur. Ich denke an die Inszenierungen von Las Vegas, The Venetian, wo das Gebäude zum Zweck der Unterhaltung zu einer Assemblage von Zeichen und Bildern wird, der Dogenpalast, der Campanile von San Marco und die Rialtobrücke gekonnt als Shoppingmall arrangiert sind. Der seriöse Archi tekturdiskurs hat ja im Grunde bis heute Mühe, solche Entwicklungen richtig einzu schätzen und zu würdigen. Stanislaus von Moos Ja natürlich, das ist der absolute Lackmustest, die «Venetians» in Las Vegas oder auch in Macao. Der seriöse Architekt hat nicht nur Mühe mit alle dem, er hält es für einen Skandal. So etwas darf es gar nicht geben. Und doch: dass man einen Gegenstand oder ein Bauwerk als symbolische Rekonstruktion an einen Ort transportiert, wo er als Erlebnis von vielen konsumiert werden kann, für die eine Reise an den «Ur sprungsort» nicht möglich ist oder aus topografischen oder finanziellen Gründen nicht drinliegt, das ist ein Verfahren, das seit Kaiser Hadrian und während des ganzen Mittelalters und natürlich erst recht in der Renaissance und im Barock immer wieder praktiziert worden ist. Die
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Villa Adriana in Tivoli, die Loretokapel len des Barock, die Sacri Monti der Gegenreformation, die Landschaftsgärten der Aufklärung: sie bilden nicht nur die Vorgeschichte von Disneyland, sondern auch die Vorgeschichte der heutigen Casino-Paradiese zum Thema Venedig von denen es ja inzwischen eine ganze Anzahl gibt. Als kulturelle Artefakte sind diese «Venetians» natürlich selbst an dieser Tradition gemessen extrem. Da müssen sich die Haare des guten Ge schmackes sträuben! Klar, dass es den Architekturkritiker, der sich auf die Qualitätsstufen, die selbst das eine vom anderen «Venetian» unterscheidet, einlassen würde, noch nicht gibt. Blättert man dann in der Geschichte der moder nen Architektur gar nicht so weit zurück und vergleicht man so ein Projekt mit Städtebauutopien wie sie Le Corbusier in den 20er und 30er Jahren entwickelt hat, stellt man fest, dass es doch überra schende Analogien gibt. Die «Venedigre konstruktion», wie Du sie soeben be schrieben hast, ist ja nur Teil des «Venetian». Die Benutzer/innen der histori schen Attrappe wohnen im Wolken kratzer. Und dieser könnte in seiner Anlage direkt einem Corbusier-Projekt aus den 30er Jahren entliehen sein. Gerade für Le Corbusier war die Kombi nation von «funktionalistischem» Wohn hochhaus und historischem Stadtkern ein städtebauliches Grundmuster. Der Stadtkern dient bei manchen seiner Entwürfe dem Shopping, das Wohnhaus dem Wohnen (an das Casino als Attrak tion und Generator von Steuereinnahmen dachte er damals noch nicht). Man mag einwenden, dass wenn Corbusier im Plan Voisin die Notre Dame, den Louvre und die Place Vendôme einzeichnet, es sich immerhin um Teile einer realen Stadt handelt. Und doch überleben diese Teile hier gerade noch als touristische Attrak tion, als Kulisse. Und dasselbe trifft ja inzwischen mehr und mehr auch auf das reale Venedig zu. Wenn heute Architekten mit Empörung auf Las Vegas reagieren, ist es in gewisser Weise auch ein Hinweis darauf, dass sie nicht wissen, in welcher eigenen Tradition des Denkens, des Konzeptionalisierens von Städten sie selber stehen. Peter Spillmann In den Kulturwissenschaften wird ja der Begriff der Meta-Touristen verwendet, um das Phänomen zu beschreiben, dass heute das Erkennen und Durchschauen von Insze nierungen eigentlich mit zu den grössten Attraktionen des Tourismus gehört. Erstmal gibt es natürlich angesichts touristischer
High – low
Inszenierungen immer diesen Reflex, dass alles unecht und gefälscht sei, dass es kein authentisches Erlebnis sei und man nichts von den lokalen Eigenheiten mitkriegen würde. Aber faktisch ist natürlich die Freude an der Illusion und auch das Erkennen, wie gekonnt oder dilettantisch sie hergestellt wird, in jedem Moment ein reales Vergnügen. Ein ganz anderes Beispiel einer perfekten touristischen Inszenierung wäre da ja vielleicht das Südseeparadies, das Bungalow-Ressort mitten in einer scheinbar unberührten Lagune, wo man in einem als Strohhütte getarnten Hotelzimmer sitzt und jeden Abend die mit dem Tief kühlfrachter tausende von Kilometer weit angelieferten «fangfrischen» Spezialitäten serviert bekommt. Stanislaus von Moos …oder die Universal-Stu dios, wo man natürlich auch hingeht, um den Trick zu durchschauen, der einem im Film fasziniert hat. Das Paradox liegt vielleicht auch darin, dass derselbe Betrachter, der die palmblätterbedeckte Südsee-Hütte selbstverständlich als falsch und nichtauthentisch durchschaut und gerade deswegen auch goutiert, selbstre dend bereit ist, ein aktuelles Bauwerk, das meinetwegen eine Corbusier-Villa aus den 1920er Jahren imitiert, als hochka rätige Qualitätsarchitektur zu akzeptieren. Peter Spillmann Im Tourismus bekommt dieses Problem nochmals eine andere Dimension. Hier wo das Erlebnis das eigentliche Produkt ist, was vermarktet wird und wofür ich be zahle, wird Distinktion und der angeblich richtige Geschmack auch preisrelevant. Das Südsee-Bungalow mit dem Le Corbusier-VillaZitat kostet unter Umständen dann schnell erheblich mehr als dasselbe Bungalow im kulturell weniger anspruchsvollen Pfahlbau hütten-Look. Stanislaus von Moos Die Frage ist eigentlich, was bedeutet das nun für einen, der mit der Aufgabe konfrontiert ist, eben in diesem Bereich zu bauen und gute Architektur zu machen. Peter Spillmann Das ist in letzter Konsequenz eine ethische Frage. Stanislaus von Moos Genau. Wie geht man mit so einer Aufgabe um? – Vielleicht täuscht der Eindruck: mir scheint, die jetzt tonangebenden Architekten, gerade in der Schweiz, neigen zur Vorstellung, dass, wo historische Verweise explizit gebraucht werden, wo ein historischer Tatbestand «rekonstruiert» wird, ein Verstoss gegen den Kodex ernsthafter Baukultur vorliege. Müsste Qualität heute nicht präziser und komplexer gefasst werden, als das unter Architekten vielfach üblich ist? Was bedeutet Qualität in einer Situation, wo das momentane und kurzfristig zu befrie
digende Kommerzbedürfnis genauso legitim ist wie der Anspruch auf Dauer im Rahmen einer topografisch und auch kulturell definierten Identität des Orts? Es geht darum, eine Synthese zu schaffen zwischen einer vom System her als Auftrag mitgegebenen kommerziellen Verwertbarkeit und dem Anspruch, einen auch längerfristig als solchen zu verste henden Kulturwert zu schaffen. Mit den Hotelpalästen des 19. Jahrhunderts, ich meine gerade auch diejenige, die in Städten gebaut wurden, ist das ja eigent lich gelungen. Die Palasthotels meinet wegen Luzerns sind mit Sicherheit Beispiele für einen frivolen Umgang mit den Zeichensprachen eines damals vom neureichen Bürgertum favorisierten aristo kratischen Lebensstils. Das wurde um die Mitte des 20. Jahrhunderts denn auch scharf beargwöhnt und verurteilt. Doch wenn man wiederum 60 Jahre später über den Quai von Luzern spaziert, da kann man nur staunen ob des städtebaulichen Mehrwerts, der da geschaffen wurde ganz unabhängig davon, was damals die kommerziellen Ambitionen gewesen sein mögen und was jetzt in diesen Hotels genau abläuft. Für so und so viele Men schen auf so und so vielen Quadratmetern nutzbaren Raum bereitzustellen - und dies in einer städtebaulichen Form, die ein Existenzrecht auf Jahrzehnte hinaus beanspruchen kann, das ist immerhin eine Leistung. Das müsste eigentlich auch in einer anderen Epoche möglich sein. Stanislaus von Moos ist Kunsthistoriker und Architektur-
theoretiker und studierte Kunstgeschichte bei Sigfried Giedion. Nach ersten Lehraufträgen in Harvard, Bern und New York erhielt er eine Professur an der TU Delft und wurde 1983 schliesslich an den neu geschaffenen Lehrstuhl für moderne und zeitgenössische Kunst in Zürich berufen, wo er bis zu seiner Emeritierung 2005 lehrte. Danach hat er in Mendrisio doziert sowie zurzeit in Yale. 1997 war er Jean Labatut Visiting Professor in Princeton. 1968 veröffentlichte er «Le Corbusier – Elemente einer Synthese», ein später auch ins Englische übersetzte Standardwerk zum Stadtplaner und Maler. 1971 gründete er die bis heute bestehende Fachzeitschrift «Archithese». Weitere Werke publizierte er zum amerikanischen Architekten Robert Venturi, zur Landesausstellung 1939 und zur Expo 02. 2004 erschien von ihm «Nicht Disney land», eine Essaysammlung zur schweizerischen Architektur und Kunst im 20. Jahrhundert.
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IMPRESSUM
FARBIGE BILDSTRECKEN
Einen eigenständigen visuellen Beitrag zum Thema bilden die farbigen Bildstrecken. Der Fotograf Goran Galic hat sich der Kultur des Touristischen auf seine Weise angenähert und speziell für dieses Heft Momentaufnahmen von ganz unterschiedlichen touristischen Hotspots gemacht. Die ausgewählten Bilder zeigen Szenen und Situationen aus Engelberg, St. Moritz, Zuoz und Berlin. Goran Galić ist Künstler und Fotograf.
2000-2005 Studium der Fotografie an der ZHdK. Goran Galic arbeitet seit 2002 mit Gian-Reto Gredig (*1976 in Chur) zusammen als Künstlerduo. Beide leben und arbeiten in Zürich. Einzelausstellungen (Auswahl): The long take, Substitut, Berlin (2012); Photographers in Conflict, Forum für Fotografie, Köln (2009); Vektor, Coalmine Fotogalerie, Winterthur (2009). Gruppenausstellungen (Auswahl): Antiphotojournalism, FOAM, Amsterdam (2011); Image Mouvement, Centre d'Art Contemporain, Genf; Werk- und Atelierstipendium der Stadt Zürich; 8. Internationale Foto Triennale, Esslingen; Swiss Art Awards, Basel (2010); Kasseler Dokfest – Monitoring, Kassel; Fotografia Europea, Palazzo delle Notarie, Reggio Emilia; Printed Matter, Sammlung Fotomuseum Winterthur, Winterthur (2009); Shifting Identities, Kunsthaus, Zürich (2008).
Hochschule Luzern – Design & Kunst No. 2 – Oktober 2012 DESTINATION KULTUR Herausgeber
Peter Spillmann Beiträge von
Jochen Becker, Maura Coughlin, Sybille Frank, Barbara Kirshenblatt-Gimblett, Elke Krasny, Franziska Nyffenegger, Angela Sanders, Reto Stäheli, Marion von Osten, Michael Zinganel Gespräche mit
Barbara Emmenegger, Walter Leimgruber, Nika Spalinger, Stanislaus von Moos Lektorat
Beat Schläpfer Korrektorat
Mari Serrano GESTALTUNGSKONZEPT
© C2F Cybu Richli & Fabienne Burri, Luzern Gestaltung und Satz
Markus Odermatt Mühlebach Druck
Druckerei Odermatt, Dallenwil Bindung
FORSCHUNGSSCHWERPUNKT KUNST&TOURISMUS
Schumacher AG, Schmitten
Die spezifischen kulturellen Eigenheiten und Bedingungen touristischer Räume und ihre kulturellen Effekte bilden seit 2007 ein Forschungsschwerpunkt an der Hochschule Luzern – Design & Kunst im Bereich Kunst & Öffentlichkeit. Diese Publikation ist unter anderem ein Ergebnis zweier Forschungsprojekte und mehrere Veranstaltungen, die in den letzten Jahren in diesem Kontext stattgefunden haben, darunter das DORE-finanzierte Kunstforschungsprojekt «Kunst & Tourismus - Produktions- und Rezeptionsbedingungen zeitgenössischer Kunst in touristischen Erlebnisräumen» und die internationale Tagung «Top of Experience - Die Kunst des Handelns in touristischen Erlebniswelten», die 2007 in Luzern stattfand.
Umschlagseiten unter Verwendung von Bildern von Goran Galic
Mehr Informationen dazu sind unter http:// www.hslu.ch/ design-kunst/d-forschung-entwicklung/dkunst_und_oeffentlichkeit.htm abrufbar.
Das Werk ist einschliesslich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ausserhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt besonders für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten unter http://dnb.d-nb.de © 2012 interact Verlag Luzern Hochschule Luzern - Design & Kunst www.hslu.ch/interact ISBN 978-3-906036-06-9 Dank an die Unterstützung durch die zeugindesign-Stiftung, Luzern.