Müller Mo-Anna Improvisation als Mittel zur Selbstdarstellung in der Punkbewegung

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Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung

S. 2

2 Einführung in die Punkbewegung

S. 3

3 „DIY“ und Selbstfindung im Punk

S. 6

4 Rhetorik des Punk-Stils 4.1 Musik und Tanz

S. 9

S. 9

4.2 Look – Analyse anhand einer Fotografie 4.2.1 Zum Fotografen 4.2.2 Bildbeschrieb

S. 12

S. 14

4.2.3 Selbstdarstellung und Improvisation 5 Schlusswort

S. 19

6 Quellenverzeichnis

S. 21

6.1 Literaturverzeichnis 6.2 Internetquellen

S. 21

S. 22

6.3 Abbildungsnachweis 7 Lauterkeitserklärung

S. 12

S. 22

S. 23

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1 Einleitung Von Punk (als Subkultur, als Musik- und Kunstform, sowie als Stil) alles zertrümmert, alles verneint und nichts hinnimmt. Von Punk geht aber auch eine kreative und spontane Kraft aus. Eine Kraft die Neues schafft, die Grenzen verwischt und Türen öffnet und so neue Möglichkeiten bereithält. Diese polarisierende und gegensätzliche Wirkung von Punk und die radikale Attitüde der Punks, ihre Art sich selbst darzustellen, fasziniert mich, denn sie zwingt mich, eine Position einzunehmen, mir Fragen zu stellen und eine Meinung über Punk und das Leben im Allgemeinen zu bilden. Punk ist ein Gesamtkunstwerk, ihn nur auf einen Aspekt, wie die Mode oder die Musik zu reduzieren, würde dem Phänomen Punk nicht gerecht. Der Philosoph Crispin Sartwell meint in seinem Buch Political Aesthetics: „Punk is usually thought of as a musical style. But first, it is a style of all the arts. And second, it is a political movement or coalition or structure of political movements.“ 1 Musik, Mode, Frisur, Schmuck, Kunst und politische Ideologie sind alle miteinander verwoben und beflügeln sich gegenseitig: Punk ist eine Haltung, ist radikal, negiert und bejaht zugleich und ist Zerstörung und Wachstum in einem. Deshalb versuche ich, in meiner Arbeit ein möglichst ganzheitliches Bild der Selbstdarstellung in der Punkszene zu generieren. In meiner schriftlichen Arbeit möchte ich mich also vertiefter mit der Punkbewegung auseinandersetzen. Ich möchte herausfinden, wie Punks sich selbst darstellen und ausdrücken und was ihre Motivation dahinter ist. Dazu analysiere ich die auf der Seite 13 abgebildete Fotografie von Derek Ridgers aus dem Buch 1977 Punk London. The Roxy, The Vortex, Kings Road and Beyond. Ich interessiere mich für die Gesamtszene - also die Örtlichkeit, sowie die Grundstimmung, die das Bild vermittelt - aber vor allem interessieren mich die darauf abgebildeten Personen. Ich erforsche, wie und mit welchen Mitteln sie sich auf der Fotografie zeigen. In meiner Analyse werde ich auf

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Sartwell 2010, S. 100.

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Literaturquellen zurückgreifen, welche die Bedeutung und Intention von Look und Selbstdarstellung in der Punkbewegung thematisieren. Ich behaupte, dass die Improvisation als Mittel zur Selbstdarstellung eine wichtige und prägende Rolle einnimmt. Unter Improvisation verstehe ich das spontane Darstellen, Kreieren oder Erzeugen von Ausdruck in Form von Bewegung, Musik oder Objekten. Meine These möchte ich anhand des DIY-Ethos im Punk belegen. Ich stütze mich dabei auf den Text Authenticity in Culture, Self, and Society des Ethnographen Phillip Vannini und des Soziologen J. Patrick Williams, sowie auf Fachliteratur zur Punkbewegung. Zum Schluss werde ich die Erkenntnisse mit meiner praktischen Arbeit in Verbindung bringen und in die heutige Zeit übersetzen.

2 Einführung in die Punkbewegung Punk ist eine Subkultur, die Mitte der 70er-Jahre entstanden ist. Die beiden wichtigsten Schauplätze des Punk bildeten die Industriestädte New York und London, von wo aus sich die Ideologie, die Musik und der Stil der Punks langsam in alle Welt hinaus verbreiteten und wo sie bis heute noch zu finden sind. Doch was genau ist Punk? Punk war eine Reaktion auf die gesellschaftliche und ökonomische Situation, die in den weissen Industriestädten in den 70er-Jahren vorherrschte. Der Kalte Krieg, die Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, sowie fehlende Perspektiven führten zur Unzufriedenheit vieler Jugendlicher. Die Stimmung war von Unruhe und Frustration geprägt. Punk wurde zur „Jugendkultur der Zukunftslosigkeit“2. Im Punk fanden die Jugendlichen Mittel und Ausdrucksformen, welche ihnen erlaubten, sich Gehör zu verschaffen, ihre Wut und Verzweiflung hinauszuschreien und Kritik an der Gesellschaft und dem System zu üben. „Punk war die programmatische Hoffnungslosigkeit einer Generation ohne Perspektiven und Zukunft.“ 3 Mit Worten wie Langeweile, Verzweiflung, Selbstekel und Frustration beschreibt Werner

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Breyvogel 2005, S. 51. Faulstich 2004, S. 140/141.

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Faulstich den Punk-Rock als musikalischen Neuanfang.4 Die Punks kritisierten den Staat, den Kapitalismus und die Gesellschaft, indem sie die Vergänglichkeit und Wertlosigkeit des Bestehenden zelebrierten.5 Nihilismus, Anarchismus und Antiautoritarismus sind deshalb Begriffe, die oftmals mit der Punkbewegung assoziiert werden.6 Punk war und ist eine wilde Mischung aus Zitaten aller Subkulturen der Arbeiterklasse der Nachkriegszeit. Lederjacken der Teddy-Boys und die Bovver Boots der Skinheads fanden ebenso ihren Weg in den Punk, wie die Parkas der Mods.7 „[A]ll [alle diese zitierten Elemente] kept ‘in place’ and ‘out of time’ by the spectacular adhesives: the safety pins and plastic clothes pegs, the bondage straps and bits of string which attracted so much horrified and fascinated attention.“8 Hebdige sagt hier, dass die Elemente, die Punk braucht ‘out of time’ sind, also nicht aus der Punkzeit selber stammen. Sie sind somit unzeitgemäss. ‘Out of time’ bedeutet aber auch, nicht im Takt zu sein, also nicht mitzumarschieren, sich gegen den Rhythmus der Zeit zu bewegen. Hebdige erwähnt, dass die einzelnen Elemente ‘in place’ gehalten wurden. Das bedeutet einerseits ganz konkret, dass einzelne Elemente – wie zum Beispiel zerrissene Shirts, Knochenteile oder Ketten – mit Sicherheitsnadeln oder anderen Hilfsmitteln befestigt oder neu zusammengefügt wurden. Andererseits bedeutet es für mich auch sinnbildlich, dass die Elemente ihrer ursprünglichen Zeit entrissen und in der Punkbewegung neu platziert und fixiert wurden. In seiner Aussage beschreibt Hebdige sehr treffend, was Punk macht; nämlich das System zu hinterfragen, mit Normen zu brechen und eigene Wege zu gehen, indem Bekanntes dem Kontext entrissen, adaptiert und so in seiner Bedeutung verändert und politisch aufgeladen wurde. Dieser Prozess ist ein Gewaltakt. Es ist eine ungeheure Kraft notwendig, um die Elemente zusammenzuhalten

Vgl.: Faulstich 2004, S. 140. Vgl.: Büsser 1995, S. 75. 6 Siehe hierzu z. B.: Sartwell 2010 S. 101/108. 7 Vgl.: Hebdige 2002, S. 26. 8 Ebd. 4 5

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und vor allem in der Zeit festzuhalten. Es lässt sich eine Grundspannung im Kern von Punk erahnen, welche sich bereits bei der Entstehung der Subkultur gebildet hat. Diese Grundspannung spiegelt die Zeit wieder, in der sich die Subkultur bahn bricht. Matthew Worley sagt dazu: „[... Punk] captered a mood. Punk gave vent to frustrations of both socioeconomic and existential origin at the precise moment when Britain itself was passing through a period of uncertainty and change.“9 Die Sex Pistols, eine der ersten und dazu bekanntesten Punkbands, singen in God Save the Queen: „No future“10. Die Liedzeile mutiert zu einem der beliebtesten Punk-Slogans. Sie enthält den ganzen Frust und die Hoffnungslosigkeit, aber auch die Wut der Arbeiterklasse, gegenüber dem System und der Gesellschaft. Meist geht aber vergessen, dass die Pistols weitersingen: We're the future Your future11 Punk verweigert also nicht per se die Zukunft, sondern sie fordert eine bessere. Die Träume, welche die Gesellschaft (mit der Queen an der Spitze) vor Augen hat, sind nicht die Träume der jungen Leute. 12 Die Jungen sind die Zukunft, Punk ist Zukunft. Wie Punks diese radikale und starke Haltung leben und zeigen, untersuche ich im nächsten Kapitel anhand der Thematik des „DIY“Ethos im Punk.

Worley 2017, S. 7. Liedzeile aus: Sex Pistols, God Save The Queen, England, 1977, Zeile 12. 11 Liedzeile aus: Sex Pistols, God Save The Queen, England, 1977, Zeile 32/33. 12 Vgl.: Breyvogel 2005, S. 51. 9

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3 „DIY“ und Selbstfindung im Punk Der Aspekt des aktiven Mitgestaltens und Selber-Machens ist in der Punkbewegung zentral und daher für meine Arbeit sehr wichtig. In diesem Kapitel werde ich deshalb näher darauf eingehen und erklären, wie „Do-It-Yourself“, kurz „DIY“ und Selbstfindung in der Punkbewegung zusammenhängen. Dafür werde ich den Text The Ideology and Practice of Authenticity in Punk von Philip Lewin und J. Patrick Williams zusammenfassen und erläutern. In ihrer Einführung 13 beschreiben Lewin und Williams die Auffassung von Authentizität Mitte des 18. Jahrhunderts. Damals stellten die Romantiker Intuition, Imagination und Gefühle über Methodik und Vernunft, um die eigene Auffassung von Moral zu entdecken und sich selbst verwirklichen zu können. Sie waren der Ansicht, dass das Selbst nicht wie ein Instrument für externe soziale Kräfte eingesetzt werden dürfe. Um die eigene Lebensaufgabe zu erfüllen und moralische Reinheit zu erlangen, müsste jeder seine eigene kreative Energie einsetzen. Nur so könne der Mensch Freiheit erlangen und sich selbst verwirklichen. Diese Haltung wurde später kritisiert und als narzisstisch hingestellt. Die Autoren sind der Meinung, dass solche Kritik aber vergisst, dass die Auseinandersetzung mit dem Selbst im Sinne der Romantiker immer auch eine Auseinandersetzung mit dem Selbst in Bezug zur Umwelt bedeutete, was zwangsläufig eine moralische Komponente enthält. Die Selbstverwirklichung ist daher nicht durch Eitelkeit und Selbstverherrlichung motiviert, sondern geschieht gesteuert durch einen moralischen Kompass. Diese Auffassung hat nach Ansicht der Autoren auch heute noch grosse Gültigkeit. Gerade jetzt, da Verunsicherung herrsche, weil traditionelle Konzepte von Persönlichkeit, Gesellschaft, Örtlichkeit und Wahrheit aufgehoben sind, sei Authentizität und das Fokussieren auf die innere Stimme und die eigene Wahrnehmung besonders wichtig und diene als Rettungsboot. Des Weiteren 14 kritisieren sie frühe Forschungsarbeiten, die Zugehörigkeit zu einer Subkultur vor allem über stilistische

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Vgl.: Lewin und Williams 2016, S. 65/66. Vgl.: Ebd., S. 67/68.

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Präferenzen und Verhalten definierten. Sie erwähnen hierbei explizit Dick Hebdige, der in seiner Arbeit argumentiert, dass Punk nur in seinen Anfängen authentisch, weil innovativ und provokant war. Im Prozess der Kommerzialisierung sei die ganze Kreativität und Radikalität verloren gegangen. Punk sei nun im Mainstream angekommen, in der Gesellschaft akzeptiert und deshalb erstarrt. Authentizität ist in den Augen der Autoren aber wandelbar. Sie erwähnen dazu Thorntons Forschungsarbeit, in der Authentizität als etwas beschrieben wird, das sich jemand erwerben und pflegen kann, „something that is ephemeral, negotiated and proccessual“ 15 . Die Authentizität einer Subkultur kann deshalb laut den Autoren nicht nur auf den Stil, auf die stilistischen Präferenzen, die materielle Kultur und den Konsum hin untersucht werden, wie dies Hebdige machte. Zu berücksichtigen ist auch das Glaubens- und Wertesystem. Lewin und Williams fokussieren sich in ihrer Arbeit also auf ein Konzept von Punk, das sich auf ideologische Verpflichtungen stützt und subkulturelle Beteiligung als Teil eines Lebensprojektes sieht, das unabhängig ist von externen Einflüssen. Sie behaupten, dass es dem Punk viel mehr darum geht, den Mainstream zu reflektieren, als sich ihm zu widersetzen. „[W]e found that punks did not emphasize political resistance but rather freedom of self-expression – not as just punks, but as human beings.“16 Im nächsten Kapitel17 berichten sie von den Erkenntnissen aus ihrer Studie (2004-2008) mit 18- bis 27-Jährigen Punks aus dem Südosten der USA. Die Autoren haben drei wichtige Grundsätze für die Authentizität von Punk für die Autoren herausgeschält, auf die sie im Verlauf des Textes eingehen: „rejection“, „reflexivity“ und „selfactualization“. In der Erklärung des Grundsatzes „rejection“ (Ablehnung) wird klar, dass Punks sich nicht auflehnen, um dem Bild eines Anarchisten oder Rebellen zu genügen. Punks sind also nicht zwingend „anti“, um „anti“ zu sein. Nicht ein Mangel an Bewusstsein, sondern Grundsätze,

Lewin und Williams 2016, S. 67. Ebd., S. 79. 17 Vgl.: Ebd., S. 68-79. 15 16

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Überlegungen und Ideen stehen hinter ihrer Kritik an gewissen Systemen und Autoritäten. Das Ziel vieler Punks: „living the life that [you want] to live“18. Die Studienteilnehmer gaben an, sich gegen Normen der Gesellschaft zu wehren, wenn sie merkten, dass Spannungen entstünden, weil sich die innere Stimme nicht mit äusseren Einflüssen vereinbaren liesse. Diese Vorgehensweise setzt eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Wahrnehmung und der aktuellen gesellschaftlichen Situation voraus. Die Konsequenzen, die Punks aus dem Grundsatz der „rejection“ ziehen, setzen sie im zweiten Grundsatz, der „reflexivity“ (Reflexivität) fort. Studienteilnehmer sagten aus, dass das eigene Verständnis vom Selbst aus einem Prozess aktiver und persönlicher Kreation heraus entstehen sollte. „DIY“ erlaube es, die Identität selbst zu gestalten und helfe dabei, nach den eigenen Idealen und Werten zu leben. Das Ziel sei es nämlich, einen Lifestyle zu erschaffen, der dem eigenen Selbst Rechnung trägt. Alles Handeln soll also aus einer inneren statt äusseren Selbstwirksamkeit heraus geschehen. Das bedeutet, dass die eigenen Erkenntnisse in den Alltag einfliessen und das gebildete Wertesystem nach aussen gezeigt wird. Die „self-actualization“ (Selbstverwirklichung) läuft darauf hinaus, dass jeder sich selbst und seinen individuellen Werte- und Glaubenssystemen treu und so authentisch bleibt. Das Motto lautet: „being rather than performing punk“.19 Das Bilden einer eigenen Meinung und das Erkennen und Verwirklichen des eigenen Selbst sind also zentrale Aspekte des Punks. Dabei spielt „DIY“, also das Kreieren und Gestalten von Kleidung, Frisur, dem ganzen Look, eine wichtige Rolle. „DIY“ und der damit verbundene Akt der Improvisation sind wichtige Mittel zur Enthüllung und Darstellung des Selbst und zur Verwirklichung der eigenen Persönlichkeit. Auf diesen Aspekt möchte ich im nächsten Kapitel weiter eingehen. Ich widme mich dazu der Rhetorik des Punk-Stils.

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Lewin und Williams 2016, S. 70. Ebd., S. 77.

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4 Rhetorik des Punk-Stils Dick Hebdige erwähnt in seinem Buch Subculture: The meaning of style den Begriff der Rhetorik des Stils. Als diesem Begriff zugehörig erklärt er Musik, Tanz und Kleidung20. Unter dem Begriff verstehe ich also die Kunst, mithilfe dieser Elemente Botschaften und Haltungen nach aussen zu vermitteln. In meinen Ausführungen möchte ich zuerst auf die Bedeutung und Umsetzung von Musik und Tanz in der Punkbewegung eingehen, wobei ich mich auf Hebdige’s Aussagen stütze. Danach werde ich mich anhand der Bildanalyse der Kleidung widmen. Ich möchte dafür den Begriff der Rhetorik des Stils um einige Elemente erweitern, denn eine wichtige Rolle in der Rhetorik spielen in meinen Augen auch Frisur, Schminke, Schmuck und Accessoires einer Person. Zusammen mit der Kleidung lässt sich so ein Look kreieren.

4.1 Musik und Tanz Wie ich bereits erwähnt habe, ist Punk ein spannungsgeladener Zusammenschluss von Elementen verschiedener Zeiten, Orte und Ideologien. Diese Grundspannung und die Zerrissenheit, die im Punk zu spüren sind, spiegeln sich in der gesamten Rhetorik des Punk-Stils wieder, zeigen sich aber in der Musik besonders stark. Punk-Rock entwickelte sich aus verschiedenen Musikrichtungen der 60er- und 70er-Jahre heraus, wie zum Beispiel Pop, Glam-Rock und Disco. Da Punk-Rock zeitgleich mit dem Reggae entstand, hat auch dieser den Punk-Rock beeinflusst. Dies ist in einigen Stücken, zum Beispiel von The Clash, herauszuhören.21 Der Einfluss dieser total anderen Musik in Kombination mit der weissen Rockmusik liess etwas Neues entstehen, das in sich total widersprüchlich, da in Ursprung und Aussage total verschieden, und deshalb spannungsgeladen war. Gerade weil dem Punk nachgesagt wird, alles

Vgl.: Hebdige 2002, S. 45. Siehe zum Beispiel die Coverversion Police and Thieves von The Clash, geschrieben von Lee Perry und Junior Murvin.

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zu negieren 22 , finde ich es spannend, zu beobachten, dass die Punkbewegung es immer wieder geschafft hat, die unterschiedlichsten Elemente miteinander zu verbinden und so neue Deutungen zu ermöglichen. Werner Faulstich beschreibt den Punk-Rock in seinem Text Zwischen Glitter und Punk – die Ausdifferenzierung der Rockmusik als „musikalische[n] Neuanfang zwischen komplizierten Rock-Werken auf der einen und blutleeren Disco-Nummern und verlogenen Popsongs auf der anderen Seite: roh, primitiv, direkt, ehrlich, unbekümmert, widerborstig.“ 23 Dick Hebdige verwendet in seiner Arbeit mehrmals das Wort „Noise“24, um die Rhetorik des Punk-Stils zu beschreiben. Noise, also Lärm oder Krach scheint eine passende Benennung zu sein, denn sie beschreibt diesen rohen Amateurismus sehr bildhaft, der von Punk-Rock ausgeht. ‘We’re into chaos not music’, zitiert Hebdige 25 Johnny Rotten, Sänger der Sex Pistols. „Noise“ verweist zudem auf das explosive und höchst sichtbare Chaos und Durcheinander (Durcheinander zum Beispiel in Form von einem wilden Stilmix der Musik etc.), das der Punk-Rhetorik eigen ist. Punkmusiker kritisierten die Musikindustrie26, indem sie mit den ungeschriebenen Regeln derselben brachen. Sie wandten sich gegen die Rockstars vergangener Zeiten, die in ihren Augen zu perfektionistisch27, zu gesetzt und akzeptiert waren. Sie wendeten sich ab vom Mainstream und der geschönten, in Studios aufpolierten Musik. Punk-Rock war roh, direkt und einfach28 und wurde meist von Laien gespielt. Die Sex Pistols zum Beispiel bestanden vorwiegend aus Laienmusikern. „Ganze drei Harmonien konnten die Sex Pistols damals auf ihren Gitarren spielen.“ 29 Die ungeübten Musiker brachten ihre rohe Aggressivität und Wut durch die Instrumente zum Ausdruck. „Punk as music uses rough edges or amateurism selfconsciously as an artpolitical stance, a global critique of power

Vgl.: Faulstich 2004, S. 141. Ebd. 24 Hebdige 2002, S. 114. 25 Ebd. S. 109. 26 Vgl.: Faulstich 2004, S. 141. 27 Vgl.: Haug 2010, (13.3.19). 28 Vgl.: Hebdige 2002, S. 109. 29 Faulstich 2004, S. 141. 22 23

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relations.“30 , meint Crispin Sartwell. Er verweist später in seinem Text darauf, dass Punk dazu da war, die Grenze zwischen Performern und Zuschauern zu verwischen.31 Diese Aufgabe wurde natürlich dadurch erleichtert, dass die Punk-Musik so simpel gehalten war, dass sie von jedem gespielt werden konnte. Fans gründeten eigene Bands und wechselten so vom Zuschauerraum auf die Bühne.32 Die Verwischung der Grenze wurde laut Sartwell auch dadurch vorangetrieben, dass Musiker das Publikum zur Partizipation aufforderten und es dazu antrieben, nicht nur Zuhörer und Konsument zu sein33, sondern körperlich aktiv mit zu machen und so Teil der Show zu werden. Dies führt mich nun zum rhetorischen Element des Tanzes: Ich nehme erneut Bezug zu Hebdige, der behauptet, dass sich der Tanz, ein (in der Pop- und Rockkultur) expressives und einbeziehendes Medium, im Punk in eine „dumbshow“34 verwandelte. Er nennt es eine Show „of blank robotics“35 . Hebdige erwähnt die Tänze Pogo, Pose und Robot und erklärt, dass sie im Gegensatz zu den sonst gängigen Tanzstilen der damaligen Zeit keinen annähernden und flirtenden Charakter hatten und weder Interaktionen noch Geselligkeit förderten. Der Pogo zum Beispiel sei eine Karikatur, „a reductio ad absurdum“36 aller Tanzstile der RockMusik und zudem ein Anti-Tanz.37 Vor allem aber der Pogo macht klar, dass die Punks auch in ihrem Tanzstil versuchen, sich selber auszudrücken: Der gutbürgerlichen Art zu tanzen, also im richtigen Takt zur Musik, grazil und vielleicht sogar paarweise, stellen die Punks einen wütenden, wilden, chaotischen und a-rhythmisch hüpfenden Mob gegenüber. Aus dem Pogo ist die ganze Unzufriedenheit heraus zu spüren, die sich im Punk Luft zu machen versucht. Beim Pogen verausgaben sich die Tänzer, sie sind aktiv und geben die Stimmung der Punk-Musik wieder, dieser rohe, wilde

Sartwell 2010, S. 105. Vgl.: Ebd., S. 106. 32 Siehe zum Beispiel Sid Vicious der Sex Pistols. 33 Vgl.: Sartwell 2010, S. 106. 34 Hebdige 2002, S. 108. 35 Ebd. 36 Ebd. 37 Vgl.: Ebd. 30 31

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Schrei nach einer anderen Zukunft. Performer und Publikum sind so auf einer Wellenlänge, bewegen sich miteinander im Chaos und sind gleichermassen Punk. Die Grenzen verwischen, der Fan wird Teil der Musik.

4.2 Look – Analyse anhand einer Fotografie In diesem Kapitel werde ich mich mit dem Look von Punks und dem damit einhergehenden DIY-Ethos befassen. Ich werde dazu die 1977 entstandene Schwarz-Weiss-Fotografie mit der Bildunterschrift Queuing for Generation X outside the Marquee, Soho von Derek Ridgers aus dem Buch 1977 Punk London. The Roxy, The Vortex, Kings Road and Beyond analysieren. Zuerst stelle ich den Fotografen vor. Danach werde ich mich der Gesamtszene widmen, um dann den Look der fotografierten Frau zu analysieren.

4.2.1 Zum Fotografen Derek Ridgers (*1952) ist ein Londoner Starfotograf, welcher für seine Fotografien verschiedener Untergrundszenen und Subkulturen der 70er- und 80er-Jahre bekannt ist. Ridgers stiess Mitte der 70er eher zufällig auf die Punkszene. Er selber hat sich nie als Punk gesehen.38 So bewahrte er immer eine kritische Distanz, welche seinen Arbeiten einen dokumentarischen, beobachtenden Charakter verleiht. Interessant finde ich die Tatsache, dass Ridgers die Analogfotografie damals gerade erst für sich entdeckte 39 . Als ungeübter Fotograf stürzte er sich einfach ins Getümmel der Punk-Konzerte und fotografierte. Hier sehe ich eine zufällige aber sehr wirksame Parallele zum „DIY“-Ethos der Punks. Die Fotografien im erwähnten Bildband wirken dadurch nämlich roh, direkt und ungeschönt und geben so die Ästhetik von Punk sehr treffend wieder. Im Hinblick auf die Bildanalyse und meine praktische Arbeit finde ich eine Bemerkung von Princess Julia interessant, einer englischen

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Vgl.: Derek Ridgers im Interview mit David Owen 2015, (19.4.19). Vgl.: Ridgers 2012, (13.3.19).

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DJane, die von Ridgers mehrmals fotografiert wurde. Sie erwähnt, dass Ridgers die Interaktion mit den Fotomodellen bewusst gesucht hat, indem er die Personen zuerst um Erlaubnis fragte.40 So hat er ihnen die MÜglichkeit gegeben sich zu inszenieren und zu posieren und sich so zu zeigen, wie sie es wollten.

Fotografie von Derek Ridgers, 1977

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Vgl.: Princess Julia 2014, (13.3.19).

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4.2.2 Bildbeschrieb Die Bildunterschrift der Fotografie verweist darauf, dass die abgebildeten Personen vor dem Marquee warten, einem Club und Konzertsaal in der Oxfordstreet in London, um Einlass ins Konzert der erfolgreichen Punkband Generation X 41 zu erhalten. Da das Konzert wohl abends stattfand, vermute ich, dass die Szenerie mit einem Blitz ausgeleuchtet wurde. Auf der Fotografie sind ein Mann und eine Frau gezeigt, die den grössten Teil des Bildes einnehmen. Im Hintergrund ist eine Hausfassade zu sehen. Die junge Frau im Vordergrund dominiert das Bild. Sie ist in einer halbnahen Einstellung zu sehen. Den Körper hat sie leicht nach links abgedreht, so dass ihr linker Arm nicht zu sehen ist. Die Brust wirkt präsentiert, die Schultern sind nach hinten gestrafft. Sie schaut mit leicht nach links geneigtem Kopf in die Kamera. Den Mund hält sie geschlossen. Ihren rechten Arm hat sie in einer lockeren angewinkelten Pose um das rechte Bein des jungen Mannes gelegt. Die Frau wirkt sehr selbstsicher. Der Blick ist auffordernd und ihre Haltung wirkt sehr offen und stolz. Der Mann, an den sie sich mit dem Oberkörper anlehnt, scheint gleich hinter ihr auf Höhe ihrer Brust auf einem Mauervorsprung oder ähnlichem zu sitzen. Der Mann hat eine nach vorne geneigte, sitzende Haltung eingenommen. Die Arme hat er in einer O-förmigen Bewegung um die Frau gelegt, so dass ihre Brust- und Schulterpartie gut zu sehen sind. Die Hände sind locker an ihren Körper gelegt. Mit den Fingern der rechten Hand scheint er an ihrem Kleidungsstück herumzuspielen. Der Mann hat den Kopf leicht nach rechts geneigt und schaut etwas skeptisch und mit zu einem leichten Lächeln geöffneten Mund in die Kamera. Das linke Auge scheint dabei leicht zusammengekniffen und die Augenbraue ist etwas nach unten gezogen. Der Blick ist offen, fast schon schelmisch, vielleicht auch fragend. Die beiden Personen wirken entspannt und sehr vertraut miteinander. Sie sind sich der Kamera bewusst und fühlen sich sichtlich wohl dabei. Durch den direkten Blick in die Kamera und die

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Billy Idol war der Gründer dieser Band.

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unglaubliche Präsenz der beiden entsteht eine Interaktion zwischen den Protagonisten und dem Fotografen, respektive mir als Betrachterin. Die beiden Personen sind sehr gegensätzlich aufgemacht. Während der Mann, gekleidet in einen hellen gestrickten Pullover mit grossem V-Ausschnitt, nur durch einige sichtbare Tattoos und mit etwas gar wirrem Haar aus dem Rahmen fällt, ist die schwarze Kleidung der Frau durchaus provokativ. Auch Frisur und Schminke fallen auf. Ich möchte mich deshalb für meine Analyse mit dem rhetorischen Stil der Frau auseinandersetzen. Da mich der Aspekt des Do-It-Yourself und des Improvisierens am Körper interessiert, werde ich meinen Fokus in der Analyse auf dieses Phänomen legen.

4.2.3 Selbstdarstellung und Improvisation Die Frisur der Frau erinnert an die Eigenkreation der bekannten Soo Catwoman, einer britischen Punkerin erster Stunde: Während die Haare oben ziemlich kurz geschnitten werden, sind sie seitlich länger gehalten und werden mit Zuckerwasser oder anderen Hilfsmitteln zu Katzenöhrchen aufgestellt. Der Kurzhaarschnitt ist sehr ungewohnt, denn er läuft dem gängigen Schönheitsideal von der Frau mit gesundem, gepflegtem, langem Haar, das auch in der Hippie-Bewegung, sowie im Bürgertum weit verbreitet war, völlig entgegen. Deshalb ist es unwahrscheinlich, dass ein Coiffeursalon solche Schnitte im Angebot hatte. Die Haare wirken ungleichmässig lang, wild und zerfranst, weshalb ich vermute, dass sie selber geschnitten sind, entweder von ihr oder von Gleichgesinnten, ganz unter dem Motto do it yourself! Es verlangt Mut, einen solchen Haarschnitt in der Öffentlichkeit zu tragen, denn kritische Blicke sind garantiert. Dieses Wissen verleiht der Trägerin Verwegenheit und Stärke. Sie wirkt selbstbewusst. Die Schminke der Frau ist sehr markant. Am auffälligsten sind die Augen: Grosse schwarze Dreiecke, die länglich nach aussen verlaufen, umrahmen die Augen. Markante schwarze und weisse

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Striche ziehen sich vom äusseren Bereich des Augenlieds zu den Schläfen hinauf und imitieren lange Wimpern oder Tasthaare einer Katze. Vom inneren Augenwinkel her ziehen sich jeweils eine schwarze und weisse Linie senkrecht nach oben und verlaufen auf Höhe der Augenbrauen im rechten Winkel nach aussen. Die echten Augenbrauen sind rasiert. Ein schwarzer breiter Strich verläuft vom Scheitel bis zwischen die Augenbrauen, wobei er nicht mittig gezogen ist, sondern sich eher über dem rechten Auge der Frau befindet. Die Lippen sind dunkel, vermutlich schwarz nachgezogen. Anstatt die weiblichen Gesichtszüge dezent zu unterstreichen, wie es bei den meisten Frauen üblich ist, bewirkt die Schminke hier eher das Gegenteil. Die dick aufgetragene schwarze Farbe erinnert an eine Kriegsbemalung: Sie wirkt roh und beeindruckend. Einer Katze ähnlich signalisiert sie Unabhängigkeit und Angriffslust, Eigenwilligkeit und Wildheit, aber auch Verspieltheit, Sinnlichkeit und Erotik. Dieser starke, provozierende Ausdruck wird durch die Kleidung noch deutlicher. Die Frau trägt ein dunkles, eng anliegendes T-Shirt, welches durch einen geöffneten Reissverschluss den Blick auf ihre Brust freigibt. Auf dem Shirt sind in weisser Schrift Namen oder Sätze platziert sind. Derek Ridgers erwähnt, dass zur Zeit seiner ersten Fotografieversuche die allermeisten Kleidungsstücke der Punks selber genäht oder von Hand bearbeitet und verändert wurden.42 Die Vermutung liegt also nahe, dass die Frau das Shirt von Hand beschriftet hat und zwar mit Bandnamen oder Slogans und Gedanken, die ihre Haltung widerspiegeln. Der weisse Reissverschluss ist bewusst auf Brusthöhe platziert. Durch Öffnen oder Schliessen kontrolliert die Frau selber, wem sie wie weit Einblick geben will. Durch seine Funktion erinnert der Reissverschluss an Fetish-Wear und sexuell aufgeladene Kleidung43, die im Punk oftmals zitiert und verwendet wurde. Die Frau spielt also absichtlich mit ihren weiblichen Reizen und greift damit die Tabuthemen Sexualität und Nacktheit auf. Die Überführung von Objekten und Funktionen aus diesen Themenbereichen in neue

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Vgl.: Ridgers 2016, S. 5. Siehe zum Beispiel: Hebdige 2002, S. 108.

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Kontexte führt dazu, dass versteckte und im privaten Rahmen gebrauchte Gegenstände und die dazugehörige Ästhetik plötzlich an öffentlichen Orten sichtbar werden. Punk schockiert und provoziert so mit zur Schau gestellter Sexualität und pornografischen Inhalten. Typisch für den Punk ist auch die schwarze Lederjacke, welche die Frau über dem Shirt trägt. Die Lederjacke ist ein Verweis auf den Einfluss der Rocker und Biker auf die Subkultur. Sie hat zum einen (als Motorradjacke) eine Schutzfunktion, zum anderen symbolisiert sie das Lebensgefühl der Biker, die sich von der Gesellschaft abwandten und für Freiheit, Rebellion und rohe Männlichkeit standen und auch heute noch stehen. Interessanterweise wird die Jacke hier von einer Frau getragen. Dies bestätigt die Beobachtung von Philippe Liotard: „Punks initiated an aesthetic based on the deconstruction of white American gender norms.“44 Punks lassen die Geschlechterbilder langsam ineinander überfliessen und sich auflösen. Die Jacke ist mit Buttons, Ketten und Sicherheitsnadeln behangen. Alles sind typische Elemente des Punk-Stils. Die Ketten sind an verschiedenen Stellen ihrer Jacke montiert. Auch um den Hals trägt sie mehrere davon. In verschiedenen Längen und Ausführungen, mit Sicherheitsnadelansammlungen versehen oder einem kopfstehenden Kreuz behangen, legen sie sich schwer um den Hals und auf das Dekolleté der Frau. Einige der Ketten bestehen aus sehr grossen Gliedern. Sie erinnern an Ketten für Tiere, aus der Sklavenzeit oder der SadoMaso-Szene, wo Bondagen, Ketten und Ledergurte oftmals verwendet werden, um Abhängigkeiten zu schaffen und eine Wehr- und Machtlosigkeit zu erzeugen. All diese Assoziationen lassen dunkle Geschichten von Zwang und Unterdrückung aufkommen und haben eine negative Note. Diese passt zur Stimmung der Frustration und Hoffnungslosigkeit, die zur Zeit der Entstehung von Punk herrschte. Die Ketten stehen für mich als Symbol dieses Zustandes der Verzweiflung. Sie stellen ein Gefühl des Gefangenseins in einer Gesellschaft voller Zwänge und Vorschriften dar.

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Liotard 2013, S. 211.

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Ein ledernes Band mit Spikes um den Hals der Frau nimmt diese Symbolik ebenfalls auf. Es erinnert an ein Hundehalsband. Auf einigen Fotografien von Ridgers sind Punks mit getragenen Hundehalsbändern, teils mitsamt der Leine zu sehen. Die Buttons enthalten meist Bandnamen (hier zB. XRay Spex) oder Slogans der Punk-Bewegung wie „No Future“. Sie dienen als Kommunikationsmittel um (Band-) Vorlieben, politische Haltungen und Statements nach aussen zu zeigen. Wie ich bereits im Kapitel „2.1 Einführung in die Punkbewegung“ erwähnt habe, sind die Sicherheitsnadeln zum einen ein symbolisches Bindeglied zu den unterschiedlichen Einflüssen, welche die Punk-Bewegung in sich vereint. Zum anderen halten sie aber auch tatsächlich Gegenstände zusammen. Hier im Bild sind Ketten und ein Sheriff-Stern an der Lederjacke befestigt. Zudem trägt die Frau einen Tampon, der mittels mehrerer Sicherheitsnadeln am Ohr angebracht ist. Der Gebrauch von Sicherheitsnadeln als schmuckähnliche Objekte war unter Punks weit verbreitet. Die Umnutzung eines Alltagsobjektes, wie hier auch der Schnuller, den sie um den Hals trägt, zeugt von der Spontanität einer Aktion, welche ich durchaus als Improvisation bezeichnen würde. Später wurde diese Umnutzung der Sicherheitsnadel x-fach kopiert und kann deshalb nicht mehr als spontaner Einfall und improvisatorischer Akt gesehen werden. Der Tampon als Schmuckstück wird in keiner meiner Quellen erwähnt. Ich gehe deshalb davon aus, dass die Protagonistin in diesem Fall spontan ein Objekt kreiert und damit eine SchmuckImprovisation geschaffen hat. Indem der Tampon offensichtlich als solcher erkennbar ist, löst er unmittelbar Reaktionen aus: Er spricht ein Thema an, das tabuisiert und totgeschwiegen wird und in vielen Kulturen als unrein und beschmutzend angesehen wird, die Menstruation. Indem sie den Tampon so offen zur Schau stellt, provoziert die Trägerin und kritisiert den Zustand der Tabuisierung. Die Schmuck-Improvisation zeigt also eine ganz persönliche Ansicht der Trägerin. Im Gegensatz zu allen anderen von ihr verwendeten Stilmitteln ist dieses Objekt nicht ein bekanntes und oft verwendetes Symbol der Punks, welches die Frau zitiert und so für sich nutzt, sondern eine individuelle, eigenständige Aussage. Ich behaupte

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deshalb, dass diese Schmuck-Improvisation direkter mit der Trägerin verbunden und deshalb persönlicher ist, als all die anderen Objekte und Kleidungsstücke, welche die Frau trägt. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Frau auf der Fotografie mit ihrem Look ganz bewusst ihre Ideologien und Ansichten zum Ausdruck bringt. Ihre Erscheinung ist auch Ausdruck ihrer eigenen Persönlichkeit, ihrer momentanen Gefühls- und Gedankenwelt und ihrer Kreativität. Indem sie offen provoziert gibt sie Anlass zu Reaktionen wie Ablehnung und Unverständnis, aber auch Anstoss zur Diskussion und Reflektion über von ihr gewählte Themen.

5 Schlusswort Lewin und Williams nehmen in ihrem Text Bezug auf Charles Taylor und fassen seine Worte wie folgt zusammen: „[...] self-discovery manifests in a devotion to creation and construction, originality and opposition to the rules of society.“45 Die Grundsätze, die Lewin und Williams in ihrer Arbeit herausgeschält haben, zeigen, dass für Punks eine Hinwendung zum eigenen Selbst wichtig ist. In meiner Analyse wird klar, dass Punks in der ganzen Rhetorik des Stils darauf bedacht sind, selber zu handeln, also zum Beispiel selber Musik zu machen, selber Hand anzulegen, also ihre Kleider, ihr Aussehen zu verändern, um sich so von der Gesellschaft abzugrenzen, die eigene Meinung Kund zu tun, Grenzen zu überschreiten und Kritik am System und der Gesellschaft zu üben: „Almost everyone who has participated in punk or written about it has emphasized this openness, the first meaning of DIY: do it yourself: never be a mere listener or consumer [...]“46 Punks suchen kreativ nach Ausdrucksformen des Selbst. Sie haben entdeckt, dass das eigene Kreieren oder Verändern, das Beeinflussen der Umgebung und der eigenen Erscheinung sie näher zu sich selber führt. Ihr Ausdruck wird dadurch direkter und die eigene Darstellung

45 46

Lewin und Williams 2016, S. 69. Sartwell 2010, S. 106.

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authentischer. Sie treiben durch ihr kritisches Hinterfragen von Gegebenem, durch selbstbestimmtes Handeln und durch eine mutige und kommunikative Art sich nach aussen zu zeigen, die Selbstfindung und Verankerung des Selbst in der realen Welt voran. „DIY“ hat deshalb in der Punkbewegung einen enorm hohen Stellenwert. „DIY“ ist natürlich ein sehr weiter Begriff. Etwas selber herzustellen garantiert nicht, dass es neuartig, innovativ oder eigenständig ist. Das Schmücken von Lederjacken mit Spikes und Buttons zum Beispiel ist für mich zwar eine Form des „DIY“, aber weil es so verbreitet war, verliert es für mich an Subjektivität und Eigenständigkeit. Das in der Bildanalyse bereits erwähnte Tampon-Objekt hingegen ist für mich ein gutes Beispiel dafür, wie die Improvisation als spontaner Ausdruck eines Bedürfnisses persönlich und subjektiv kommuniziert. Die Improvisation ist eigenständig und transportiert deshalb eine ganz persönliche Message nach aussen. Spontanität führt in diesem Beispiel zu einem sehr direkten und wenig gefilterten Ausdruck der eigenen Persönlichkeit. Spontanität und Improvisation bringen mich also näher zu mir selbst. In meiner praktischen Arbeit mit dem Titel Schmuckimprovisationen als Mittel zur Selbstdarstellung möchte ich diese These mit Hilfe verschiedener Tests und Experimente in einem Selbstversuch erproben und auswerten. Ich glaube, dass wir heute in einer Zeit leben, in der es immer schwerer wird, zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden: FakeNews verbreiten sich wie ein Lauffeuer im Internet. Models werden auf Plakaten und in Werbespots retouchiert und so lange bearbeitet, bis sie einem von uns selbst entfremdeten Schönheitsideal entsprechen. Rollenbilder und Stereotypen werden uns im Fernsehen und auf Social-Media-Kanälen vorgelebt. Gerade unter solchen Umständen finde ich es wichtig, dass wir uns eine eigene Meinung bilden, Weltanschauungen und Rollen kritisch hinterfragen und nichts als Gegeben hinnehmen. Diese Haltung möchte ich in meiner praktischen Arbeit nach aussen tragen und den Betrachter dazu auffordern, zu hinterfragen, sich mit der eigenen Meinung und Wahrnehmung und dem Gegenüber auseinanderzusetzen.

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6 Quellenverzeichnis 6.1 Literaturverzeichnis Breyvogel 2005: Wilfried Breyvogel, Jugendkulturen im 20. Jahrhundert. Ein Überblick, in: Wilfried Breyvogel (Hrsg.), Eine Einführung in Jugendkulturen: Veganismus und Tattoos, VS Verlag, Wiesbaden, 2005. Büsser 1995: Martin Büsser, If the kids are united ... : von Punk zu Hardcore und zurück, Dreick-Verlag, Mainz, 1995. Faulstich 2004: Werner Faulstich, Zwischen Glitter und Punk – die Ausdifferenzierung der Rockmusik, in: Werner Faulstich (Hrsg.), Kulturgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts: Die Kultur der siebziger Jahre, Wilhelm Fink Verlag, München, 2004. Hebdige 2002: Dick Hebdige, Subculture: the meaning of style, Routledge, London, 2002. Lewin und Williams 2016: Philip Lewin , J. Patrick Williams, The Ideology and Practice of Authenticity in Punk, in: Phillip Vannini, J. Patrick Williams, Authenticity in Culture, Self, and society, Routledge, London, 2016. Liotard 2013: Philippe Liotard, Body Modification from Punks to Body Hackers: Piercings and Tattoos in Postmodern Societies, in: Damian Skinner (Hrsg.), Contemporary Jewelry in Perspective, Lark Jewelry & Beading, New York, 2013. Ridgers 2016: Derek Ridgers, 1977 Punk London. The Roxy, The Vortex, Kings Road and Beyond, Abrams & Chronicle Books, London, 2016. Sartwell 2010: Crispin Sartwell, Political Aesthetics, Cornell University Press, London, 2010. Worley 2017: Matthew Worley, No Future: Punk, Politics and British Youth Culture, 1976-1984, Cambridge University Press, Cambridge, 2017.

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6.2 Internetquellen Derek Ridgers im Interview mit David Owen 2015: Derek Ridgers im Interview mit David Owen, derek ridgers: youth culture in action, in: I-D, November 2015, in: https://i-d.vice.com/en_uk/article/3kqjyw/derekridgers-youth-culture-in-action, (19.4.19). Haug 2010: Wolfgang Haug, Die Umwertung der Werte in der Kulturindustrie. Malcolm McLaren: Ein Leben als Provokation, in: Graswurzelrevolution Nr. 349, Mai 2010, in: https://www.untergrundblättle.ch/kultur/malcolm_mclaren_ein_leben_als_provokation.html, (13.3.19). Princess Julia 2014: Princess Julia, 'I WAS NEVER VERY INTERESTED IN PHOTOGRAPHING PEOPLE UNLESS THEY WERE LOOKING AT THE LENS', Juli 2014, in: http://theworldofprincessjulia.blogspot.com/2014/07/iwas-never-very-interested-in.html, (13.3.19). Ridgers 2012: Derek Ridgers, At The Roxy Club, London 1977, April 2012, in: http://www.derekridgers.com/blog/at-the-roxy-club-london-1977, (13.3.19).

6.3 Abbildungsnachweis Derek Ridgers, Schwarz-Weiss-Fotografie, 1977 in: Derek Ridgers, 1977 Punk London. The Roxy, The Vortex, Kings Road and Beyond, Abrams & Chronicle Books, London, 2016.

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7 Lauterkeitserklärung Lauterkeitserklärung _____________________________________________________________________________________________________ Diese Lauterkeitserklärung ist zusammen mit schriftlichen Leistungsnachweisen einzureichen, insbesondere zusammen mit der Seminararbeit und der schriftlichen Bachelor-Arbeit. _____________________________________________________________________________________________________ Ich erkläre, dass es sich bei dem eingereichten Text mit dem Titel Improvisation als Mittel zur Selbstdarstellung in der ...................................................................................................................................................................................... Punkbewegung

...................................................................................................................................................................................... um eine von mir und ohne unerlaubte Beihilfe in eigenen Worten verfasste Arbeit handelt. Ich bestätige, dass die Arbeit in keinem ihrer wesentlichen Bestandteile bereits anderweitig zur Erbringung von Studienleistungen eingereicht worden ist. Sämtliche Bezugnahmen auf in der oben genannten Arbeit enthaltene Quellen sind deutlich als solche gekennzeichnet. Ich habe bei Übernahmen von Aussagen anderer Autorinnen und Autoren sowohl in wörtlich übernommenen Aussagen (= Zitate) als auch in anderen Wiedergaben (= Paraphrasen) stets die Urheberschaft nachgewiesen. Ich nehme zur Kenntnis, dass Arbeiten, denen das Gegenteil nachweisbar ist – insbesondere, indem sie Textteile anderer Autoren ohne entsprechenden Nachweis enthalten – als Plagiate im Sinne der Aufnahme- und Prüfungsordnung der Hochschule Luzern (Art. 24) betrachtet und mit rechtlichen und disziplinarischen Konsequenzen geahndet werden können. Name, Matrikelnummer:

Mo-Anna Müller, 15-485-444 ............................................................................................................................

Datum, Unterschrift:

............................................................................................................................

2.5.2019,

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