Nordwärts
Nummer 6
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Grussworte
Vom Flickenteppich zum Muster: Die Viscosistadt als neuer Standort für das Departement Design & Kunst fügt sich ein in eine Standortentwicklung der Hoch schule Luzern, die an Konturen gewinnt und ein deutlich erkennbares Muster zeigt. Viscosistadt Emmen, Rot kreuz, Südpol Luzern, Horw und am Bahnhof Luzern – dies sind die Standorte unserer Hochschule, alle her vorragend miteinander verbunden und erreichbar. Auf eine grosse Zukunft an der Kleinen Emme! Markus Hodel, Rektor Hochschule Luzern Kunst und Design leisten vieles. Eines davon ist das Aufzeigen von Kontingenz: Wandel, Neuerung, Unbe kanntes. Veränderungen muss man begleiten, fördern, verstehen, sich ihnen öffnen – man muss sie aber auch aushalten. Die Hochschule Luzern – Design & Kunst zeigt uns Neues auf. Zudem wird sie neu auch in den Wandel der interessanten und herausfordernden Gemeinde Emmen eingebettet. Emmen ist innovativ, kreativ, eigenständig und Emmen boomt. Wir freuen uns auf den gemeinsamen Weg der Veränderungen, der Herausforderung und des Booms ganz nach dem Slogan des Vereins EMMENfarbig: «Z ämme gods besser.» Rolf Born, Gemeindepräsident von Emmen
Inhalt
Vorwort
Labor Stadtraum
nordwärts die Zukunft denken Gabriela Christen
Seite 6
Luzern Nord und das Potenzial für die Kreativwirtschaft Alex Willener Seite 9
Kunst im Vorstadtparadies Emmen Thomas Stadelmann
Seite 16
Seite 19
Nachbarschaften
Seite 13
Zukunftsszenarien für nachhaltige Lebensformen Claudia Acklin Die Universität macht Stadtentwicklung Gesa Ziemer im Gespräch mit Siri Peyer
Potenziale von Kunst im Quartier Am Beispiel des Projekts «Stadt auf Achse» Rachel Mader Seite 22
Kreative Stadtentwicklung: Was können Design und Kunst? Gabriela Christen
Seite 26
Textile Traditionen und Zukunftsvisionen Alain Homberger Seite 30
Emmenweid – Emmenegger – Emmenfeld – Emmenbronx «akku» im Strudel der Geschichte Karl Bühlmann
Seite 32
Emmen und die Hochschule – Leitbilder und Gedanken zu einer neuen Zusammenarbeit Susanne Truttmann Seite 35
Comix in allen Winkeln von Luzern Fumetto und seine Partner Jana Jakoubek Seite 38
Der ewige Traum vom Gesamtkunstwerk Plädoyer für virtuelle Nähe Michael Kaufmann
Seite 40
Seite 42
Seite 44
Gerettet! Die Verschiebung des Tramhüslis Cony Grünenfelder
«Zusammenarbeit bedeutet neues Potenzial, mehr Köpfe, die mitdenken» Fanni Fetzer im Gespräch mit Eveline Suter
Kreative Energie generieren Interdisziplinarität Informatik und Design René Hüsler
Seite 46
Seite 48
Postdigitale Materialität Textile Materialforschung rückt ins industrielle Umfeld Andrea Weber Marin
Vor Ort
Seite 52
Seite 56
Oper in Luzern Nord Das Potenzial von Industriearealen für die Künste Benedikt von Peter
Seite 50
EM2N Masterplan und 745 Viscosistadt Daniel Niggli
Emmenbrücke – für die Vögel Ursula Bachman
Nordwärts? Abheben und am Boden bleiben Ein Dialog in sieben Vignetten Silvia Henke und Charles Moser Seite 60
Lebensräume planen Die Umnutzung eines Industrieareals als Denkaufgabe für Architekturstudierende Carola Antón und Fred Truniger Seite 64
Der Belluneser-Platz und die «fadengewandten Fabrikmeitschi» Erinnerungskultur in der Viscosistadt Kurt Messmer
Seite 67
Animation – Die Einlösung eines jungpaläolithischen Versprechens Jürgen Haas und François Chalet Seite 71
Styropor und Tomaten Viscosistadt im Oktober 2015 Laura Bider, Vera Leisibach und Corina Schaltegger
Seite 73
Fragen an Emmenbrücke Abschlussausstellung der Schwerpunkte Art Teaching und Art in Public Spheres Peter Spillmann
Seite 78
Seite 82
Seite 85
Seite 75
Emmenbrücke Genius Loci Evert Ypma Nordwärts – Erinnerungen an die Zukunft Paul Huber Luzern Nord – ein Garten Beat Portmann
Vorwort
nordwärts die Zukunft denken Designerinnen und Künstler sind spezialisiert auf die Zukunft. Sie erproben das Neue, knüpfen neue Ver bindungen und wissen, dass die Welt auch eine andere sein könnte. Das Gegenstück zu dieser Leidenschaft für das Mögliche ist jedoch immer die Verortung, sei dies an einem Ort, in einer Haltung oder in einer Tradi tion. Erst aus diesen Verortungen heraus schöpfen Design und Kunst ihre Kraft, die Region mit der Welt und das Lokale mit dem Globalen zu verbinden. Verortung – das ist in dieser Publikation auch ganz wörtlich zu verstehen: Die angehenden Designer und Künstlerinnen der Hochschule Luzern – Design & Kunst brauchen einen Ort für ihre Arbeit. Dieser verlagert sich nun nordwärts, in das Industrieareal der Viscosi stadt in Emmenbrücke. Dieses Areal im Umbruch ist ein idealer Ort für Künstlerinnen und Designer, in den hohen Räumen und der Arbeits- und Produktions atmosphäre von ehemaligen Fabriken fühlen sich die Kreativen wohl. Der Schritt oder der Sprung aus der Kernstadt in die Gemeinde Emmen ist für die Hoch schule Luzern gleichwohl auch ein grosser, dies insbe sondere in einer Region, in der das Ländliche und das Städtische an der Grenze von Luzern als unter schiedliche Lebensformen und Mentalitäten aufeinan derprallen. Verortung heisst nicht nur, sich neue Territorien an zueignen, sondern Bande zu neuen Menschen und Unternehmen zu knüpfen. Und auch die bestehenden Freunde und Kooperationspartner müssen mitge nommen werden, auch mit ihnen müssen neue Wege der Zusammenarbeit erprobt und gefunden werden. Die Suche nach einem Ort begleitet die Geschichte von Design und Kunst in der Zentralschweiz von den Anfängen an. Nachdem auf Initiative von Johann Melchior Wyrsch 1783 in Luzern die erste Zeichenschule ihren Betrieb aufgenommen hatte, dauerte es beinahe hundert Jahre, bis die erste Kunstgewerbe schule der deutschen Schweiz gegründet und ein Haus gefunden war. Seit 1877 war die Rössligasse im Zentrum der Luzerner Altstadt das Mutterhaus für die Design- und Kunstausbildungen der Zentralschweiz, in den 1980er- Jahren kamen die Sentimatt dazu, vor
Kurzem ein Neubau an der Baselstrasse und viele kleinere Standorte. Mit dem Bau 745 Viscosistadt in Emmenbrücke konzentrieren wir unsere Ausbildungen, und wir bewegen uns weg von Luzerns historischem Zentrum. Entlang der Reuss zieht die Hochschule Luzern – Design & Kunst nordwärts in die Viscosistadt nach Emmenbrücke. Hier – mitten im historisch wich tigsten Industrieareal der Zentralschweiz – finden seit Sommer 2016 rund zwei Drittel der Studierenden und der Mitarbeitenden von Design & Kunst Platz, für 2019 ist der Umzug der ganzen Hochschule nach Emmen in Planung. Mit dieser Publikation laden wir unsere Partner ein, die Zukunft mit uns zu denken, indem wir neue Fäden in die Vergangenheit und in die Zukunft knüpfen. Wir möchten mit einer Reihe von Texten in diesem Magazin ein Terrain mit Worten besetzen, das aus unserer Sicht für die Zukunft der Hochschule Luzern zentral sein wird. Zudem möchten wir mit Blick auf unsere neue Wirkungsstätte in Emmenbrücke bestehende Partner schaften stärken und neue initiieren. Diese Publikation spricht deshalb eine Einladung an unsere Mitstreiter, an Kulturschaffende und Institutionen aus, mit denen wir auf unserem Weg in die Zukunft zusammenarbeiten möchten. Als eine Hochschule für Design und Kunst möchten wir Öffentlichkeit schaffen und Orte für Diskurse an bieten und auch erbitten. Ich bin sehr glücklich, dass viele unserer Partner aus Politik, Bildung und Kultur ohne Zögern einen Beitrag für diese Publikation zuge sagt haben und uns damit auf unserem Weg in den Norden Luzerns, an den Zusammenfluss von Reuss und Kleiner Emme, begleiten. Ich bedanke mich bei allen, und ich hoffe auf neue Interessierte, die wir für unsere Themen und Leiden schaften gewinnen möchten, um mit ihnen gemeinsam über die Zukunft nachdenken zu können. Denn erst gemeinsam wird die Zukunft zum Greifen nahe. Gabriela Christen Direktorin der Hochschule Luzern – Design & Kunst
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Labor Stadtraum
Luzern Nord und das Potenzial für die Kreativ wirtschaft Alex Willener
1 Stadt Luzern, Kulturagenda 2020, Luzern 2012. 2 Charles Landry, The Creative City. A Toolkit for Urban Innovators, London 2008. 3 Janet Merkel, «Kreative Milieus», in: Handbuch Stadtsoziologie, hrsg. von Frank Eckardt, Wiesbaden 2012. ← Manta Club Innerschweiz, Emmenbrücke. Fotografie: Wolfgang Möhrle
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Die Kreativwirtschaft ist in den letzten Jahren auch in Luzern zu einem Thema geworden. Sie ist nicht nur im Kulturdiskurs aufgetaucht, sondern auch in der Wirtschaftsförderung, in verschiede nen Netzwerken und neu gegründeten Organisa tionen sowie in Förderbemühungen für Start-ups. In der städtischen «Kulturagenda 2020» wird erst mals der Begriff der «Creative City» in einem of fiziellen Dokument der Stadt verwendet und da bei die Notwendigkeit von Zwischennutzungen zur Stärkung der Kreativwirtschaft betont.1 Den Begriff geprägt hatte der Städteberater und Autor Charles Landry, der verschiedene Voraussetzun gen für eine Creative City beschreibt wie etwa kulturelle Vielfalt, Toleranz, Kulturbetriebe, Hoch schulen und ihre Talente, Netzwerke, öffentliche Räume, urbane Infrastrukturen, kreative Milieus sowie Brachen und Nischen.2 Die Existenz von Landrys Ingredienzen kann Luzern durchaus zugebilligt werden. Vom Kreuz stutz über das Bruchquartier zur Neustadt hat sich in den vergangenen Jahren eine Art kreative Achse ausgebildet, die durch den urbanen Cha rakter dieser Gebiete und nicht zuletzt auch durch die Standorte der Hochschule Luzern – Design & Kunst und deren Absolventinnen und Absolventen angekurbelt wurde. Damit sind wesentliche Vor aussetzungen für kreative Milieus gegeben, bil den sich diese doch aus einer kritischen Masse an Gleichgesinnten um ein spezifisches Interes se heraus – meist mit einem geografischen Ort verknüpft.3 Es bedarf also einer entsprechenden Umgebung beziehungsweise eines stimulieren
den Kontextes, welche die Interaktion zwischen den beteiligten kreativen Akteuren und Akteurin nen ermöglicht.
Aufbruchstimmung in tempo rären Räumen In jüngster Zeit wurde mit dem fulminanten Auf tritt eines umfangreichen Netzwerks für die Zwi schennutzung Neubad im Gebiet Hirschmatt/ Neustadt ein neues Epizentrum der Kreativen geschaffen, das vielfältige Impulse für die krea tive und soziale Stadtentwicklung aussendet. Durch die Gründung der Vereinigung «Made in Lucerne» hat die Kreativwirtschaft darüber hin aus eine Plattform und Organisationsstruktur erhalten, die ihr eine höhere Aufmerksamkeit verschafft. Und schliesslich hat die künstlerischkreative Schlussnutzung der Siedlung Himmelrich im Herbst 2015 das Potenzial der kreativen Sze nen Luzerns für ein breiteres Publikum sichtbar gemacht. Die verschiedenen Beispiele machen deutlich: Die Luzerner Kreativwirtschaft wird zunehmend als ernstzunehmende, zukunftsträchtige und auf strebende Branche wahrgenommen und nicht zuletzt als wichtiger Faktor für den Standort Lu zern betrachtet. So weit, so gut. Das Problem der Kernstadt Luzern mit ihren engen Grenzen zu den Nachbargemeinden ist ein räumliches. Es fehlt zunehmend an geeigneten Räumen, Nischen und Brachen, welche die für wesentliche Teile der Kreativwirtschaft existenziellen Bedingungen der
Preisgünstigkeit, Offenheit, Grosszügigkeit und Gestaltbarkeit bei gleichzeitiger Erreichbarkeit und Sichtbarkeit erfüllen. Kommt hinzu, dass ins besondere das Quartier Hirschmatt/Neustadt, aber auch das Bruchquartier zunehmend von Gentrifizierungsprozessen betroffen sind. Und Gentrifizierung endet bekanntlich mit dem aus Kostengründen erzwungenen Wegzug der krea tiven Pioniere und Pionierinnen. Mit der Viscosistadt und anderen Industriebra chen im Gebiet Luzern Nord – und damit verlassen wir die kernstadtbezogene Sichtweise – eröffnen sich diesbezüglich neue Perspektiven und be trächtliche Potenziale. Eine neue Creative City wird sowohl durch das Departement Design & Kunst der Hochschule Luzern als auch durch die Gemeinde Emmen angestrebt. Geeignete Räume sind vorhanden, ein inspirierendes Umfeld durch den industriellen Charakter ebenso und für ein kreatives Milieu ist alleine schon durch die Exis tenz der Studierenden, Lehrenden und ihrer Ak tivitäten gesorgt. Doch das Potenzial alleine bedeutet noch kei ne Gewähr für ein attraktives Umfeld für die Kre ativschaffenden. Es stellt sich daher die Frage, ob und wie sie auf dieses Potenzial reagieren und es nutzen.
Standortpräferenzen von Kreativen Einige Hinweise darauf können die Ergebnisse einer Projektarbeit liefern, die 2015 durch Studie rende des Departements Wirtschaft durchgeführt wurde. Auf dem Hintergrund der Akteur-Netzwerk theorie4 haben die Studierenden narrative Inter views mit einer Auswahl von Kreativschaffenden in den Quartieren Basel-/Bernstrasse sowie Hirschmatt-Neustadt durchgeführt, bei denen es um die Präferenzen bezüglich der Standort wahl ging.5 Dabei zeigte sich – nicht überraschend –, dass viele verschiedene Umstände und Kriterien eine Rolle spielen. Einen grossen Einfluss auf die Standortwahl haben vorerst die direkte Umgebung, das Umfeld oder das Quartier, das oftmals als tolerant und inspirierend und als Nährboden für die kreative Arbeit bezeichnet wird. Dabei ist der Aspekt der urbanen Vielfalt und des Mixes aus Wohnen, Ar beiten, Verpflegungs- und Einkaufsmöglichkei ten bis hin zum Coiffeur, zu Cafés, Restaurants und Kulturlokalen sowie den entsprechenden Kontakt- und Austauschmöglichkeiten entschei dend. Die Mietkosten spielen ebenfalls eine zentrale Rolle, was sehr eng in Zusammenhang mit dem meist geringen Einkommen der Kreativschaffen den steht. Als weiteres wichtiges Kriterium wur
den die zentrale Lage in der Stadt und die Distanz zum Bahnhof genannt. Als Vorteil wird hierbei von kreativen Dienstleistenden das grössere Kunden potenzial, von einigen gar die Laufkundschaft gesehen. Etwas weniger oft, aber immer noch als relevant, wurde die Möglichkeit zum Teilen von Sitzungsräumen, Küchen, IT und anderer Infra struktur, von Werkzeugen und Geräten wie auch das gegenseitige Helfen und Unterstützen be zeichnet. Und schliesslich scheint die Möglichkeit, die Räume gestalten und verändern oder die nutz bare Fläche vergrössern zu können, einem Teil der Befragten wichtig zu sein. In beiden Punkten wurden die diesbezüglichen Möglichkeiten im Neubad sehr positiv bewertet, ebenso wie der dortige Mix von Disziplinen und Branchen. Interessant, wenn auch nur von einer Minder heit vorgebracht, ist eine Präferenz, die unmittel bar mit dem Standort Stadt Luzern zu tun hat: Für Kreativunternehmen, die auch ausländische Kundschaft haben, ist der Name Luzern in der Firmenadresse wichtig. Umgekehrt wird «NichtZürich» hervorgehoben, denn für viele Befragte bedeutet ein Entscheid für einen Standort in Luzern ein Entscheid gegen einen Zürcher Stand ort. Angesichts der dortigen Marktsättigung und der grossen Konkurrenz könne man in Luzern eher wahrgenommen werden. Wenn wir diese (nicht repräsentative) Befra gung zum Massstab nehmen, können wir Folge rungen für das Potenzial von Luzern Nord als Standort der Kreativwirtschaft ziehen: Im Vordergrund steht die in Luzern Nord vorhan dene Verfügbarkeit von Raum mit interessanten Eigenschaften, namentlich Gestaltbarkeit, Flexi bilität und kollektive Nutzbarkeit. Sofern diese Räume kostengünstig gemietet werden können,
hat der Standort Qualitäten, die in der Kernstadt Luzern immer schwieriger zu finden sein werden. Wenn dereinst die Industriestrasse neu bebaut ist und auch das Neubad weichen muss, ver
4 Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt am Main 2007. 5 Nora Bölsterli, Luca Caprez, Tobias Elbel und Annina Schneider, Akteursnetzwerke bei der Standortwahl von Kreativschaffenden, Projektarbeit an der Hochschule Luzern – Wirtschaft 2015. Carla Studer, Dennis Barth, Manuel Lichtsteiner und Samuel Giezendanner, Akteursnetzwerke bei der Standortwahl von Kreativschaffenden, Projektarbeit an der Hochschule Luzern – Wirtschaft 2015. ↓ Zwischennutzung Neubad im Gebiet Hirschmatt/ Neustadt ©MIGN
↑ Studierende Bachelor Graphic Design Fotografie: Randy Tischler
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schwinden einige der wenigen relativ grossmass stäblichen und kostengünstigen Nischen an zen traler Lage. Die Möglichkeit, kommunikative Netzwerke zu bilden und gemeinsame Infrastrukturen zu nutzen, ergibt sich in Luzern Nord schon durch die Anwe senheit der Hochschule und vergrössert sich, je mehr Kreativschaffende sich ansiedeln. Schwie riger zu erfüllen ist der Anspruch an ein urbanes Umfeld mit einem befruchtenden Nutzungsmix. Zwar verfügen Emmen und Reussbühl schon jetzt über urbane Elemente wie zum Beispiel nament lich die ethnische Vielfalt und die Viscosistadt. In welche Richtung sich aber das planerisch anvi sierte «neue Stadtzentrum Luzern Nord» entwi ckelt, steht vorderhand in den Sternen. Abgese hen von den millionenschweren Strassenbau- und Gewässerschutzvorhaben sind die Ziele im Be reich der Stadtentwicklung Luzern Nord noch weitgehend unklar. Alleine mit dichter Bauweise und grossvolumigen Bauten wird noch keine Ur banität erzeugt. Entscheidend wird daher sein, dass die Ent wicklung des Gebiets nicht ausschliesslich den Marktkräften überlassen wird, sondern dass sich neben klugen Entscheiden der Planungsbehörden in Emmen und Luzern auch hier Kräfte für eine «Stadtentwicklung von unten» bilden, die für Be lebung, Kommunikation, Atmosphäre, Vielfalt und damit für Urbanität sorgen. Dies kann allerdings nicht künstlich gesteuert werden und mittelfristig
sind viele engagierte Kräfte der kreativen Stadt entwicklung noch an die bestehenden Hotspots im Luzerner Stadtzentrum gebunden. Zu hoffen bleibt daher, dass sich neue Akteursnetzwerke bilden, die mit ihren Ressourcen und Aktivitäten Luzerns Norden befruchten. Alex Willener lehrt und forscht im Kompetenzzentrum Stadt- und Regionalentwicklung der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit. Er leitet oder begleitet Projekte und Prozesse im Bereich der Quartier-, Stadt- und Gemeindeentwicklung in verschiedenen Regionen der Schweiz. In Luzern setzt er sich seit Jahren für eine soziale und kreative Stadtentwicklung ein und ist Mitgründer mehrerer sozialer und kultureller Organisationen – unter anderem Mitinitiant und Vorstandsmitglied des Netzwerks Neubad.
Kunst im Vorstadt paradies Emmen Thomas Stadelmann
«Bauen wir um oder werden wir umgebaut?» 1 Lucius Burckhardt, Wer plant die Planung?, Kassel 1980, S. 135. 2 Le Corbusier, Urbanisme, Paris 1994, S. 120. 3 Zitat aus der Plakatkampagne der Gemeinde Emmen vom November/Dezember 2015. ← Chua Phat to Thich Ca Tempel, Verein der IndochinaBuddhisten (Erlenstrasse , Emmenbrücke). Fotografie: Wolfgang Möhrle
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«Stadt ist nicht, wo nur Studenten sind (...).» Lucius Burckardt1
Auch ausserhalb der Metropolen und Kernstädte wird geplant, investiert und gebaut, was das Zeug hält. Le Corbu siers Diagnose von 1925, «La tem pérature de la ville est à la fièvre»,2 trifft deshalb auch auf die Gemeinde Emmen zu. «Dort, wo die Schweiz umgebaut wird», titelte die Neue Zürcher Zeitung 2014 und erkannte damit etwas, was schweizweit interessiert: der Umbau einer Vorstadt und Agglomeration. 2015 waren in Em men rund tausend neue Wohnungen im Bau. Em men hat heute 30’000 Einwohnerinnen und Ein wohner, künftig sollen es 36’000 sein. Für zusätzliche Dynamik sorgt, dass im Sommer 2016 mehrere Hundert Studierende der Hochschule Luzern – Design & Kunst in der Viscosistadt ein ziehen. Die zahlreichen Grossprojekte, die Emmen seit einiger Zeit umtreibt, werfen neben der Hoffnung auf nachhaltige Mehrwerte auch Fragen auf: Bau en wir um oder werden wir umgebaut? Und: Ge lingt es, nicht nur mehr Dichte, sondern auch die notwendige öffentliche Akzeptanz für mehr Stadt zu schaffen? In der Vision «Emmen 2025» sind die Handlungsfelder für die Entwicklung der Ge meinde festgehalten. Von «Stadt» ist darin nichts zu lesen. An der Urne wurde vor wenigen Jahren gar gegen die offizielle Bezeichnung als «Stadt» abgestimmt. Dennoch stehen die politischen Be hörden und Planungspartner vor der Aufgabe, dem Umbau der zweitgrössten Gemeinde im Kan ton zur «zweitgrössten Stadt»3 mit Überzeugung die richtigen Inhalte und Bedeutung zu geben,
denn objektiv zur Stadt gehörende Themen stel len im Alltag oft politische Punkte dar, die zu sub jektiven Streitfragen in der Kommunalpolitik wer den und dennoch gelöst werden müssen. Wer hat auf den Strassen Vortritt? Wie hoch dürfen Häu ser sein? Brauchen wir einen Park?
Die Stadt gibt es nicht Der Versuch, die Entwicklung von Emmen auf dem Hintergrund einer einheitlichen Stadtidee darzustellen, stösst auf ein grundlegendes Pro blem: Die Stadt gibt es nicht. Ausgerechnet in einer Zeit, in der zum ersten Mal über 50 Prozent der Weltbevölkerung in städtischen Siedlungs gebieten leben, ist die Verständigung über Urba nität und Stadt zu einem fachlich, politisch und medial aufgereizten Tanz um ein Plastikwort ge worden. Nicht einmal Experten und Expertinnen sind sich einig. Für die einen wird das Thema einseitig von Architekten und Architektinnen bestimmt, für die anderen ist es zu wenig sozial, zu statistisch, wird es durch globale Markt wirtschaft, die Interessen der Politik, durch Bran ding vernebelt. Keine Hilfe bietet der Bund: Ge mäss offizieller Raumgliederung ist Emmen eine «Kleinagglomeration», «übriges städtisches Ge biet», weder «Kleinstadt noch Mittelstadt». Die Stadt Emmen gibt es also nicht. Was wir allgemein unter Stadt verstehen, ist offensichtlich subjektiver und unsicherer, jedoch gleichzeitig vielfältiger geworden. Trotz Verunsi cherung gibt es Phänomene, die unbestritten zum Umbau in Emmen dazugehören. Zunächst geht es darum, Wohnen, Arbeiten, Ver- und Entsorgung sowie Mobilität so zu gestalten, dass daraus Le bensqualität entsteht. Weil es in einer vernetzten Welt gleichzeitig um den Wettbewerb und um Aufmerksamkeit geht, geraten die Akteure und Akteurinnen, die die Stadt bauen, verwalten und gestalten, dabei zunehmend in eine Konkurrenz situation. Das bedeutet, dass vermehrt Marktund Kommunikationsprozesse darüber bestim men, was die Stadt ist, benötigt und ausmacht. Mit anderen Worten: Stadtplanung und Städtebau werden zunehmend von der Dynamik einer ei gentlichen Stadtproduktion angetrieben. Im Spa gat zwischen Angebot und Nachfrage, zwischen Interessen und Investitionen, Notwendigkeiten und Vorstellungen lösen nicht erst Planungen raumrelevante Entwicklungen aus; städtischer Wandel funktioniert andersherum: Die Welt dreht sich, hauptsächlich angetrieben durch die Bedin gungen einer unsicheren und gleichzeitig vielfäl tigen Markt- und Risikogesellschaft. Die daran Beteiligten haben die Aufgabe, auszuhandeln und zu entscheiden, wo und wie es sich lohnt einzu greifen. Wer Stadt aktiv gestalten und innovativ sein will, wird die Teilnahme an Trends, die Reak
tion auf Notwendigkeiten, den Umgang mit tem porären Ereignissen ebenso hoch gewichten, wie hoheitlich erstellte politische und fachliche Leit bilder und Planungsziele. Zu guter Letzt sind Ko operationen und eine kluge öffentliche Mitwir kung unter den Bedingungen einer verschärften Konkurrenz nicht ein Muss, sondern immer Teil der Lösung, die von einer Mehrheit für richtig und gut befunden wird. Wenn heute beim Umbau von Emmen Wachstum die klare Antwort ist, lautet deshalb die Frage nicht mehr nur: Welche Stadt wollen wir? Sie lautet zusätzlich: Welche Stadt können wir bauen und mit welchen Folgen?
Offene Planungskultur wider die Krise Ob das Bild der Stadtproduktion neue Chancen oder eine Krise bedeutet, bleibt hier offen. Den Phänomenen und Aufgaben, die Emmen auf dem Weg zur Stadt begegnet, ist in jedem Fall früh, offen und kritisch zu begegnen, bevor die sicht baren Veränderungen als Krise wahrgenommen werden. Lucius Burckhardt hat dazu 1961 Folgen des vermerkt: «Stadt ist nicht, wo nur Studenten sind, wo nur Bankhäuser sind, wo nur Vergnü gungspublikum zwischen Restaurants flaniert, nicht einmal dort, wo nur Einkauf ist.» Für den Soziologen und Planungskritiker zeigt sich das Wesen der Stadt nur, «wo sich mehrere ihrer Funktionen überschneiden».4 Er propagierte die Vorzüge einer offenen Planungskultur und Stad tidee, die von Vielfalt, Durchmischung und Ver netzung lebt. Die Themen von damals sind den heutigen zumindest ähnlich. Es geht um die Be wältigung eines hohen Bevölkerungswachstums, um Verdichtung und Investitionsbedarf bei Infra strukturbauten und um zusätzliche Ansprüche an den öffentlichen Raum. Als Vorgabe für städtebauliche Aufgaben be deutet Offenheit im Planen und Bauen mehr Transparenz bei der Nutzung von städtischem Raum. Kein Bauwerk hat das Recht, die Nutzung des öffentlichen Raums ohne Gegenleistung, das heisst exklusiv, zu beanspruchen. Einzelne Lö sungen haben räumlich, baulich und performativ einen Beitrag an die Vielfalt und an die Lebens qualität beizutragen. Mehr öffentlich zugängliche und temporär nutzbare Orte, Bauten und Räume sind anzustreben. Von den Beteiligten verlangt dies neben Professionalität und Kooperation auch Empathie und Neugier für bisher unbekannte Ei genschaften, die zu einer Stadt gehören.
Stadtlandschaft als Hintergrund Wo liegt Emmen? Zwischen Luzern, Ebikon und Rothenburg. Oder: in der Stadtlandschaft Luzern5, an einem Ort, wo weder der ursprüngliche Natur
raum und das traditionelle Dorf noch die traditi onelle Vorstellung einer Kernstadt existieren. In Emmen von einer Stadtlandschaft zu sprechen, hat den Vorteil, dass sich der festgefahrene Dia log «Städtische versus ländliche Schweiz»6 darin auflösen kann. An seine Stelle tritt ein Konzept, das zunächst das ganze «Stadtland Schweiz»7 im Auge hat. Vor Ort die Stadtlandschaft Emmen zu propagieren, ist sinnvoll, weil Vielfalt und Poly valenz, verschiedene Beziehungen, Bedeutungen und Funktionen zwischen unterschiedlichen Or ten innerhalb und ausserhalb der Stadt- und der Gemeindegrenzen bereits vorhanden sind. Ver netzt sind nicht nur Politik, Ökonomie, Gesell schaft und Bildung, auch Bauten, Strassen, Flüs se und die Landwirtschaft bilden ein Netzwerk. Was die Stadtlandschaft letztlich jedoch aus macht, sind die Menschen und ihre Bedürfnisse. Die einen finden in Emmen auf der Feldbreite ihr Wohnparadies, andere künftig am Seetalplatz einen Arbeitsplatz, wieder andere für sich einen kulturellen Mehrwert als Bewohner oder Bewoh nerin in der Viscosistadt oder ein Zuhause im Einfamilienhaus unmittelbar an der Grenze zur Landwirtschaft. Sich über eine Stadtlandschaft zu verständigen, erfordert keine einheitliche Stad tidee, sondern Prinzipien und hauptsächlich den Austausch über stadt- und lebensräumliche Qua litäten. Reicher werden kann für Emmen bedeu ten, dass die bauliche Vielfalt gestärkt wird. Oder dass Orte von zentraler Bedeutung innerhalb der Gemeinde und im Umfeld aufgewertet, verdichtet und besser angebunden werden: Quartiere an Strassen- und Flussräume, Natur und Wald an die Landwirtschaft, privates Wohnen an öffentli che Freiräume.
Bocksprung Der Umzug der Hochschule Luzern – Design & Kunst im Sommer 2016 entspricht einem Bock sprung8, der über die Stadtgrenze hinaus mitten in das Projekt Viscosistadt führt. Kunst und De sign treffen hier auf ein ehemaliges Industrieare al, das bis vor Kurzem nicht öffentlich zugänglich war und sich neu als Zukunftsort mit Industrie, Kultur, Büros und Wohnungen positioniert. Die Viscosistadt öffnet damit den Blick auf die mög liche Bedeutung und auf Potenziale von weiteren Orten. Nebenan entsteht das neue Stadtzentrum rund um den Seetalplatz, die Areale der Stahl industrie und die Emmenweid sind ebenso eigen ständige Nachbarn. In der Ferne lassen die Ge biete Sonnenhof und Feldbreite grüssen sowie das Emmen Center mit seiner regionalen Aus strahlung. Beidseits des Bahnhofs Emmenbrücke und im Quartier Meierhöfli schlummern Entwick lungspotenziale, die ihre eigene Struktur, Dichte, Lebensqualität und Atmosphäre erzeugen wer
4 Burckhardt 1980, S. 135. 5 Zum Begriff Stadtlandschaft: Archithese Sondernummer 1997, Stadt-Landschaft oder Landschafts-Stadt. 6 Städtische versus ländliche Schweiz?, hrsg. von Georg Kreis, NZZ Libro 2015. 7 Vgl. Angelus Eisinger und Michel Schneider, Stadtland Schweiz, Zürich 2005. 8 Bocksprung ist hier dt. für «leapfrog», vgl. dazu: Alexander Christopher, A New Theory of Urban Design, Oxford 1987, S. 143.
9 In Erinnerung an das Werk Le Paradis fantastique, ein Ensemble aus Skulpturen von Niki de Saint Phalle und Maschinen von Jean Tinguely. ↓ Waldibrücke, Gemeinde Emmen, aus dem Buch Pilatus. Ein Berg. Hundert Ansichten. von Hansjürg Buchmeier
den. So lässt sich das Bild Emmens zu einer Stadt landschaft montieren. In ihrer Vielfalt gleicht sie einem Archipel, einem an vielen Stellen noch nicht bestellten «Paradis fantastique»9 aus ein zelnen städtebaulichen beziehungsweise land schaftlich geprägten Inseln. Im Einzelfall und im Zusammenspiel werden sie das Resultat aus dem Umbau Emmens zur Stadt dereinst wesentlich prägen. Dazwischen haben Strassenzüge, Flussund Grünräume sowie Freizeitanlagen, Gewerbeund Einfamilienhausgebiete und die Landwirt schaft die Aufgabe, starke Orte, Verbindungen und Hotspots so zu schaffen, dass sie dem Ein druck einer anonymen Agglomeration entgegen wirken. Auf dem Weg zur Stadtlandschaft Emmen kommt die Hochschule Luzern 2016 somit gerade rechtzeitig ins Spiel. Kunst als Form der Aktuali sierung von bisher unsichtbaren Realitäten, die offene Erkundung des Unfertigen, Möglichen und Vielfältigen hat Tradition. Auch Architektur und Städtebau sind gleichzeitig Technik und Kunst. So ist zu hoffen, dass die Hochschule mit ihrer Präsenz in der Viscosistadt und darüber hinaus dazu beitragen kann, zu aktualisieren, was die
Gemeinde Emmen heute und morgen als Stadt landschaft brauchen oder gar auszeichnen kann. Zu wünschen ist, dass Experimente entstehen, die – ganz im Sinn der Möglichkeiten einer Kunst im Vorstadtparadies Emmen – für eine lebens werte, offene und erfolgreiche Stadtidee stehen. Dann hat sich der Bocksprung für alle gelohnt. Thomas Stadelmann ist Leiter des Departements Planung und Hochbau der Gemeinde Emmen und Inhaber der Stadtfragen GmbH.
Zukunfts szenarien für nachhal tige Lebens formen Claudia Acklin
Was vermag Design? Was vermag Designfor schung? Welche Wirkungen entfalten Design und Designforschung, welche Impulse geben sie? Und wenn überhaupt, wie? Im Competence Center Design & Management beschäftigen wir uns schon seit einigen Jahren mit der Frage, wie de signferne Organisationen lernen, Gestaltung für ihre Zwecke zu nutzen – beispielsweise für men schenzentrierte Innovationen, für kundengerech te Services oder für patientengerechte Austritts prozesse. Wir fragen uns also nicht nur, was gestaltet werden kann, sondern auch unter wel chen Umständen Gestaltung Eingang findet in Organisationen oder Firmen. Nun konfrontiert uns die Hochschule Luzern – Design & Kunst mit ihrem Umzug in die Visco sistadt, an die Peripherie von Luzern, mit einer noch grösseren Frage: Vermögen Design und Kunst Quartierentwicklung voranzutreiben? Ge nauer fragen wir uns als Forschungsgruppe De sign & Management, wie so etwas vonstatten gehen könnte. Der Kontext dazu: Neu gibt es eine Reihe von Ausrichtungen der Designwissenschaften, die sich dem öffentlichen Raum und der Stadt- oder Quartierentwicklung als Forschungsgegenstand zugewandt haben. Es sind dies Social Design, Ur ban Design oder Design Activism. Diesen Teildis ziplinen ist gemein, dass ihnen kein produkt- oder dienstleistungsorientierter Begriff von Design zugrunde liegt, sondern ein systemischer, inter ventionistischer oder partizipativer. Dabei spielt
diese Art von Design und Designforschung nicht nur als Problemlöser oder Formgeber eine Rolle, sondern auch als aktive und aktivierende Kraft auf Zeit, die öffentliche Lebensräume und Quar tiere mitgestaltet und durch temporäre Events und Eingriffe zu sensibilisieren versucht. Typische Methoden, die von Social Design, Urban Design oder Design Activism angewandt werden, sind das Co-Design als gemeinsamer Planungspro zess zwischen Nutzern und Behörden1, partizi patives Design als die Entwicklung von gemein schaftlichen Lösungen in Zusammenarbeit mit Designern2, Kartografie als Mittel, um Räume zu verstehen, darzustellen und zu gestalten3 oder Interventionen, um Quartiere durch Bürgeraktio nen zu regenerieren.4
Boundary Objects Ein weiteres Mittel sind Zukunftsszenarien, wel che an einem Ort wie Emmenbrücke gemeinsam mit verschiedenen Anspruchsgruppen gestaltet werden könnten. Während die Soziale Arbeit oder die Soziokulturelle Animation eine lange Tradition der Quartierarbeit hat und beispielsweise Zu kunftswerkstätten als Instrument der Aktivierung einsetzt, liegt der Fokus von designgetriebener Szenarienarbeit bei der gemeinsamen Entwick lung und Produktion von sogenannten «boundary objects»5, von Grenzobjekten. Grossangelegte Wandlungsvorhaben wie die nachhaltige Ent wicklung einer Region oder eines Quartiers ma
1 Renita Niemi, Helena Sustar und Anne Kokkonen, «The levels of citizen engagement in urban development», in: Proceedings of the European Academy of Design Conference (EAD), Paris 2015. 2 Cristian Campagnaro und Veronica Saula Gallio, «Designing with the neighborhood: an experience of participatory design and social communication», in: Proceedings of the European Academy of Design Conference (EAD), Paris 2015. 3 Laura Sang Hee Scherling, «How mapmaking informs placemaking practices in Detroit organizations», in: Proceedings of the European Academy of Design Conference (EAD), Paris 2015. 4 Raffaela Fagnoni, «Re-cycle practices in the city as political act. Design perspectives», in: Proceedings of the European Academy of Design Conference (EAD), Paris 2015.
5 Susan Leigh Star und James R. Griesemer, «Institutional ecology, ‹translations› and boundary objects: Amateurs and professionals in Berkley’s Museum of Vertebrate Zoology, 1907-39», in: Social Studies of Science 19(3), 1989, S. 387–420. 6 John Bessant und Lynne Maher, «Developing radical service innovations in healthcare – The role of design methods», in: International Journal of Innovation Management 13(4), 2009, S. 555–568. 7 Victor Margolin, «Design, the Future and the Human Spirit», in: Design Issues 23(3), 2007, S. 4–15. 8 U.a. Patrick van der Duin, «The difficult future», in: Foresight: The Journal of Future Studies, Strategic Thinking, and Policy 10(5), 2008, S. 50–59. 9 Martyn Evans, «Empathizing with the Future: Creating Next-Next Generation Products and Services», in: The Design Journal 14(2), 2011, S. 231–252.
chen soziale und kollektive Lernprozesse notwen dig. In diesem Zusammenhang sind Methoden aus dem Design und Designmanagement geeig net, diese Entwicklung zu begleiten, zu unterstüt zen und vielleicht gar zu initiieren. In der Szena rienarbeit entstehen Prototypen, Visualisierungen, Narrationen usw. Diese Grenzobjekte machen nicht nur kognitiv, sondern auch emotional fass bar, was sein könnte bzw. wie es sein müsste. Sie sorgen für Kohärenz während des Entwicklungs prozesses und für Kontinuität in Langzeitpro jekten. Sie unterstützen also den Transfer von Wissen, die Transition und Transformation von Zuständen. Aber was genau sind Grenzobjekte und wie funktionieren sie? Ursprünglich definiert wurden die «boundary objects» als ein soziologisches Konzept durch Leigh Star und Griesemer 1989. Damit Grenzobjekte in Lern- oder Verhandlungs prozessen Wirkung entfalten können, müssen sie sowohl plastisch wie robust sein. Nur so können sie etwas darstellen und sich gleichzeitig an lo kale Gegebenheiten, Bedürfnisse und Identitäten anpassen. Sie nehmen in verschiedenen sozialen Welten unterschiedliche Bedeutungen an, aber ihre Struktur ist allgemeingültig genug, damit sie als Übersetzungshilfen fungieren können. Wer die Entwicklung von Grenzobjekten richtig orga nisiert, erhält damit ein Mittel in die Hand, um die Kohärenz angesichts von Überlappungen unter schiedlicher sozialer Welten aufrechtzuerhalten. In einem Quartier könnten dies beispielsweise unterschiedliche Interessenslagen oder gar Nut zungskonflikte sein. In den letzten Jahren wurde das Konzept der «boundary objects» stark von der Designforschung rezipiert. Bessant und Maher6 definierten etwa, dass De signmethoden, wie sie in Gestaltungsprozessen an gewandt werden, und die Resultate aus diesen Pro zessen wie Landkarten, Personas, Nutzungs- und Zukunftsszenarien, Kunden reisen oder Prototypen als Grenzobjekte genutzt wer den können. Schon eine Metapher oder eine Skizze können eine Diskussion über unterschiedliche Inter essenslagen hinweg ermög lichen. Auf diese Weise fun gieren Design-Zwischenresultate als «interfaces» zwischen dem Hier und Jetzt der Gegenwart und der Zukunft. Sie ermöglichen den Transfer von Wissen und unterstützen die Transition oder gar die Transformation von Zuständen.
«Designer seien von Natur aus Futurologen, könnten Zukunftsszenarien visualisieren und damit überhaupt erst zugänglich machen.»
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Design als Futurologie Als Schöpfer von Szenarien, Prototypen oder an deren Vorschlägen besetzen Designerinnen und Designer laut Margolin7 schon immer einen dia lektischen Raum zwischen dem, was ist oder war, und dem, was sein könnte. Ihre Arbeit ist grund legend auf die Zukunft ausgerichtet. Allerdings verlassen sich Designer dabei gerne auf ihre In tuition und ihren Instinkt. Die Zukunft vorwegzu nehmen oder zumindest verstehen zu können, beinhaltet aber unter anderem die Fähigkeit, sich Übersicht zu verschaffen über technologische, sozio-kulturelle oder ökonomische Themen, die den Lebensstil der Menschen in Zukunft prägen werden. Zukunftsszenarien stellen also auch im mer eine kondensierte Form von Wissen oder Information dar. Verschiedene Autorinnen und Autoren8 weisen in diesem Zusammenhang allerdings darauf hin, dass die Zukunft genau zu beschreiben, ein schwieriges Unterfangen ist. Darum schrecken auch viele Organisationen oder politische Ent scheidungsträger davor zurück. Die Beschäfti gung mit der Zukunft wird als spekulativ beurteilt. Doch während einige Autorinnen und Autoren ein allgemeines Problem bei der Unlust an Zu kunftsforschung orten, ist es für andere eine me thodische Frage, ob und wie man sich der Zukunft nähern kann. Nach Evans9 sollten gerade Designer – und noch mehr Designforscher, müsste man hier an fügen – von ihrer Fähigkeit zur Empathie Gebrauch machen und sich in die Zukunft einfühlen («em pathize with the future»). Designer seien von Na tur aus Futurologen, könnten Zukunftsszenarien visualisieren und damit überhaupt erst zugänglich machen. Ihre Arbeit bestehe darin, Möglichkeiten aufzuzeigen, indem sie latente Nutzerbedürfnis se erforschen und dieses Wissen in zukunft strächtige Konzepte umsetzen. Evans hat ein «Design Futures Framework» entwickelt, das aus folgenden Schritten besteht: 1. Bestimmen der kontextuellen Faktoren wie Treiber, Hindernisse und der Designdimensio nen wie Machbarkeit, Wünschbarkeit und Durchführbarkeit von Zukunftskonzepten 2. Entwickeln von Zukunftsszenarien mittels ei nes «Design Futures»-Prozesses aus verschie denen designspezifischen, aber auch design fremden Forschungsmethoden 3. Synthese und Transformation der Information aus dem Forschungsprozess in Zukunftskon zepte 4. Kommunikation Besonders interessant ist das letzte Element die ses Modells. Potenzielle Anspruchsgruppen wer den früh auf das Potenzial von Neuentwicklungen,
Produkten, Services etc. aufmerksam gemacht, womit der Markt oder die Öffentlichkeit vorberei tet wird. Neue Produkte/Services/Erlebnisse oder nachhaltige Formen des Lebens in einem Quartier werden zu «self-fullfilling prophecies», selbster füllenden Prophezeiungen, und müssen danach faktisch nur noch umgesetzt werden. Einer der wohl bekanntesten Designforscher in Bezug auf nachhaltige Entwicklung und sozia le Innovation ist der Italiener Ezio Manzini10. Er prägte 2003 den Begriff des «design-oriented scenario (DOS)», Szenarien, die darauf abzielen, konkreten Mehrwert für Nutzer und Nutzerinnen zu kreieren. Ein DOS soll aus einer Vision beste hen, einem Storyboard und Vorschlägen für inno vative Produkt- und Service-Systeme. Manzini (2003) grenzt ein DOS allerdings von einem POS ab, einem «policy-oriented scenario», das zum Ziel hat, die Entwicklung und Wirkung von Makro trends zu evaluieren und darauf basierend, Ent scheidungsfindung in politischen Behörden zu ermöglichen.
Design in der Quartierent wicklung Kehren wir zurück zur Frage: Was vermag Design bzw. Designforschung? – Die Entwicklung und Umsetzung nachhaltiger Lebensformen – hier gemeint als Leben, Wohnen, Studieren, Arbeiten in Luzern Nord – bedingt ein langfristiges Engage ment, sollen diese eine «Gestalt», eine nachvoll ziehbare Form erhalten. Nicht nur im Hier und Jetzt, sondern auch im Hinblick auf eine Zukunft im Jahr 2050 und später. Wenn wir bauliche, ver kehrstechnische und soziale Veränderungen in tegrieren wollen, dann sprechen wir von grossen Zeiträumen und von «policy-oriented scenarios», von Masterplänen oder Mobilitätskonzepten, die Behörden und politische Entscheidungsträger vorantreiben und letztlich vorgeben. Denkbar wäre aber auch, dass aktive Bürger und Bürge rinnen, Forschende oder Studierende an der Quartierentwicklung mitwirken oder zumindest Impulse geben. In Holland wurde das Konzept eines sogenann ten «transition management»11 entwickelt und seit 2001 von der Regierung unter anderem für die Steuerung ihrer Energiepolitik angewandt. Transition Management baut auf Konzepten der Innovationswissenschaften, der Evolutionsöko nomik, der Soziologie und der Institutionenöko nomik auf. Transition Management ist ein koevolutionäres Steuerungskonzept, das einen zy klischen Prozess von Definitionen, Ideen, Instru menten und Mechanismen beinhaltet, die sich gemeinsam aneinander anpassen und verändern. Im Unterschied zu traditionellen Planungskon zepten wird ein gemeinsamer Prozess des sozia
len Lernens angestrebt, der einen Mehrwert für Nutzerinnen und Bürger und soziale Innovationen mitintendiert.12 Ein weiteres zentrales Merkmal von Transition Management ist das Modulieren von Problemlösungen aus der Perspektive einer ganzheitlichen «Top down»-Zukunftsplanung und ersten inkrementellen «Bottom up»-Lösungsan sätzen.13 Von Designforschern und Bürgerinnen parti zipativ entwickelte Zukunftsszenarien könnten «Bottom-up»-Ansätze liefern, um eine langsame Quartierentwicklung Richtung nachhaltige Lebensformen mitzuprägen. Das ist das, was Designforschung gemeinsam mit Anspruchsgrup pen aus dem Quartier und den Behörden vermöchte. Claudia Acklin, Prof. Dr., war bis Februar 2016 Leiterin der Forschungsgruppe Design & Management an der Hochschule Luzern – Design & Kunst. Sie hat den Bachelor-Studiengang Design Management, International aufgebaut und bis 2011 geleitet. Sie studierte Sozialpädagogik, Journalismus und Designmanage-ment und promovierte an der Universität Lancaster/UK im Bereich Designmanagement und Innovation. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die designgetriebene Innovation, Designmanagement und kreatives Unternehmertum.
10 Ezio Manzini, «Scenarios of sustainable well-being», in: Design Philosophy Papers, 2003. 11 René Kemp, Derk Loorbach und Jan Rotmans, «Transition management as a model for managing processes of co-evolution towards sustainable development», in: International Journal of Sustainable Development & World Ecology 14 (2007), S. 78–91. 12 Jan-Peter Voss, Adrian Smith und John Grin, «Designing long-term policy: rethinking transition management», in: Policy Science 42 (2009), S. 275–302. 13 René Kemp, Derk Loorbach und Jan Rotmans, «Transition management as a model for managing processes of co-evolution towards sustainable development», in: International Journal of Sustainable Development & World Ecology 14 (2007), S. 78–91.
Die Universität macht Stadt entwicklung Gesa Ziemer im Gespräch mit Siri Peyer
Siri Peyer: Gesa Ziemer, in deiner Rolle als Professorin und Vizepräsidentin Forschung an der HafenCity Universität Hamburg — Universität für Baukunst und Metropolenentwicklung (HCU) — hast du 2014 den Einzug in den vom Büro Code Unique geplanten Neubau miterlebt. Was sind eure ersten Erfahrungen mit dem neuen Gebäude? Gesa Ziemer: Vor dem Einzug in den Neubau im östlichen Planungsgebiet des Stadtquartiers HafenCity war die HCU auf fünf Standorte verteilt. Für den all täglichen Universitätsbetrieb ist es wichtig, dass nun endlich alle in einem Ge bäude versammelt sind. Bei der Planung für die Zuteilung der Räume hat die HCU einen unkonventionellen Weg gewählt: Mittels Losverfahren wurden den unterschiedlichen Bereichen Räumlichkeiten zugesprochen. So konnte ein Ge rangel um die favorisierten Plätze mit Blick aufs Wasser und das Markieren von Territorien anhand von Grösse oder vermeintlicher «Wichtigkeit» verhindert werden. Das spannende Ergebnis ist, dass nun Bereiche räumlich nebeneinan der arbeiten, die sonst nicht unbedingt die Nähe zueinander suchen würden: Die Bauingenieurinnen arbeiten beispielsweise neben den Kulturwissenschaft lern oder die Vermessungsingenieure neben den Stadtplanerinnen. Leider hat unsere Universität zu wenig kollaborative Arbeitsplätze. Das Ge bäude hat zu viele Repräsentations- und zu wenige Arbeitsflächen, so dass die Studierenden zum Beispiel nach dem Projektunterricht die jeweiligen Zimmer wieder räumen müssen. Zudem gibt es relativ wenige Zonen, die zu einem ge meinsamen Aufenthalt einladen. Dies hat zur Folge, dass Treffen eher in den einzelnen Büros oder Seminarräumen stattfinden. Auch wenn der Semesterbe trieb auf Hochtouren läuft und alle 2500 Studierenden arbeiten, sieht die Uni manchmal unbelebt aus. Ich halte die Herstellung von Dichte für ein zentrales Qualitätskriterium, weil so Begegnungsorte geschaffen werden können. An der Stelle bessern wir gerade nach. Der Neubau der HCU wirkt – wie viele andere Gebäude in der HafenCity – durch die verwendeten Materialien Glas, Stahl und Beton eher kühl und steril. Ein weiteres Hindernis sind die hohen Brandschutz- und Sicherheitsauflagen, wel che durch die exponierte Lage an der Hafenmündung notwendig sind. Solche Hürden hemmen die alltägliche Aneignung. Die Studierenden suchen trotzdem einen Umgang mit dem Gebäude, indem sie sich auch an verbotenen Orten, wie auf der ungesicherten Dachterrasse, aufhalten oder indem sie unerlaubterwei se Plakate an die Wände kleben. Dies ist für alle unbefriedigend und deshalb versuchen wir, Schritt für Schritt Lösungen für solche Probleme zu finden. Siri Peyer: Was bedeutet der Einzug einer Universität für die Entwicklung eines neu gestalteten Quartiers? Gibt es Ansprüche bezüglich des Urbanisierungs prozesses der Umgebung und haben Universitäten diesbezüglich auch eine politische Verantwortung?
«Die Bauingenieurinnen arbeiten beispielsweise neben den Kulturwissenschaftlern oder die Vermessungs ingenieure neben den Stadtplanerinnen.»
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Gesa Ziemer: Unsere Universität betreibt Stadtentwicklung, da sie inmitten des neuen Stadtteils HafenCity liegt und es war von Anfang an geplant, dass eine Universität in die HafenCity einzieht. Man wünscht sich urbane Belebung durch Studierende, Vernetzung der Akteure und Veranstaltungen. Die Situation ist ähnlich der des Areals der Viscosistadt in Luzern, mit dem Unterschied aller dings, dass bei uns das ganze Quartier neu gebaut wurde. Ich finde, Lehre und Forschung müssen aktiv mit solchen Ansprüchen umgehen. Diese zwingen die HCU zu einer vermehrten Kommunikation nach aussen. Natürlich widerspricht ein solches Auftreten in gewisser Weise der Vorstellung einer Universität als Elfenbeinturm, in dem in Ruhe gelehrt und geforscht wird. Unsere Universität ist ein Diskursort und die dort verhandelten Diskurse zu Stadtentwicklung und -politik sollten öffentlich sichtbar werden. Siri Peyer: Wird der Diskurs an der Universität auch von der Realpolitik wahr genommen und hat er einen Einfluss auf diese? Gesa Ziemer: Die Politik in Hamburg nimmt die HCU sehr stark wahr. Immer wieder finden zu wichtigen stadtpolitischen Fragen Veranstaltungen statt – zu dem haben wir ja das sehr attraktive Universitätsgebäude direkt am Wasser in Hamburg mit einer tollen Terrasse. Als Beispiel für die Zusammenarbeit mit der Politik kann der Aufbau des City Science Labs, eine Kooperation mit dem Media Lab des MIT, genannt werden. Das ist quasi ein Direktauftrag vom Hamburger Bürgermeister, der begeistert von der Forschungskultur des MIT war und vor schlug, eine Kooperation aufzubauen. Seit dem Sommer 2015 forschen wir gemeinsam mit Unternehmen am Thema digitale Stadt. Im Lab kommen die drei Bereiche Politik, Wirtschaft und Wissenschaft regelmässig zusammen, diese Konstellation finde ich sehr bereichernd. Es ist wichtig, dass die Politik wahr nimmt, was an der Universität geforscht wird, die Universitäten sich den politi schen Themen widmen und die Wirtschaft innovative Technologien einbringt und sich vernetzt. Sobald die Universität sich im Fokus der Politik befindet, muss sie sich immer auch bewusst sein, dass es unterschiedliche Meinungen gibt, welche unterschiedliche Perspektiven bilden. In der Forschung sollte diese Vielstimmigkeit zugelassen werden. Siri Peyer: Was für konkrete Auswirkungen hat die Anwesenheit der Universität und der Studierenden für die direkte Umgebung in der HafenCity? Gesa Ziemer: Die ausschlaggebenden vier Faktoren für eine funktionierende Umgebung bei uns sind Gastronomie, Wohnraum, gute Infrastruktur und Auf enthaltsorte ausserhalb des Gebäudes wie zum Beispiel Grünflächen oder Ter rassen zum Wasser. Weil der Bauprozess rund um die HCU nicht abgeschlossen ist, fehlen diese teilweise noch. In der bereits erbauten HafenCity gibt es bis anhin nur sehr hochpreisiges Wohnen, günstiger studentischer Wohnraum fehlt noch. Doch die HafenCity, als Standort einer Universität und mit angrenzendem Kreativquartier, sollte auch günstigen Wohnraum, der bereits in Planung ist, anbieten. Dafür gibt es viele Argumente. Die Anwesenheit einer Universität sorgt hoffentlich für ein anderes Klima in der hochpreisigen HafenCity. Sie bringt ein junges, kreatives Publikum an die Entwicklungsorte. Man kann allerdings weder der Hochschule Luzern – Design & Kunst noch der HCU alleine die Verantwortung übertragen, ein Quartier zu beleben. Beide Institutionen werden Teil von Nach barschaften sein, die erst im Zusammenspiel mit anderen Akteuren richtig zur Geltung kommen. Siri Peyer: Vielen Dank für das Gespräch.
→ Der Neubau der HafenCity Univer sität Hamburg wurde 2014 in Betrieb genommen. Fotografie: Martin Haag / HCU Hamburg
Gesa Ziemer (Prof. Dr. phil.) ist Professorin für Kulturtheorie und kulturelle Praxis im Bereich Kultur der Metropole und Vizepräsidentin Forschung an der HafenCity Universität Hamburg. Seit 2015 leitet sie das City Science Lab, eine Kooperation zum Thema Zukunft der Stadt mit dem MIT Media Lab in Cambridge, Massachusetts. Sie ist Sprecherin des Graduiertenkollegs «Performing Citizenship» und Beirätin der Hochschule Luzern – Design & Kunst. Siri Peyer ist wissenschaftliche Assistentin PhD in der Forschungs gruppe Kunst, Design & Öffentlichkeit an der Hochschule Luzern – Design & Kunst.
Im März 2014 erregte ein rundum knallig-gelb be maltes Auto in den Strassen von Luzern Aufsehen. Darauf war zu lesen: «Sprich mit mir. Ich fahre Dich!», darunter eine Mobiltelefonnummer und in etwas kleinerer Schrift «Quatschmobil». Die wenigen und eher ungewöhnlichen Worte wurden von den Bewohnern und Bewohnerinnen der Stadt in kürzester Zeit verstanden und der Taxi dienst, der von der Kundschaft kein Geld, sondern Gespräche wollte, stiess auf reges Interesse. An den drei Tagen, an denen dieser Service als Test lauf angeboten wurde, war das Auto pausenlos unterwegs und die Rückmeldungen der Mitfah renden lassen auch inhaltlich auf eine erfolgrei che Durchführung schliessen. So schienen die Taxigäste durchaus gewillt, während der Fahrt an den Ort ihrer Wahl mit ihnen nicht bekannten Per sonen über Kunst im öffentlichen Raum – dies das Thema sämtlicher Gespräche – zu diskutieren. Die Gesprächspartner waren die Künstler Frank und Patrik Riklin, die dieses Projekt entwickelt haben und in Luzern ein erstes Mal durchführten. Neben dem Quatschmobil gehörten dazu auch Aktionen, die nach einer bestimmten Anzahl ge fahrener Kilometer in einem der zahlreichen klei nen Läden an der vielbefahrenen Ausfahrtsachse Baselstrasse ausgelöst wurden. Dabei erhielten die just zu dem Zeitpunkt zufälligerweise im La den anwesenden Kunden den Einkauf geschenkt und als Reaktion auf ihre Verwunderung wurde ihnen von den Ladenbetreibenden die Idee erklärt, die hinter dem Projekt steckte. Die während der Fahrt mit dem Quatschmobil geäusserten Meinungen und Ideen sind direkte und unverfälschte Äusserungen der Stadtbevöl kerung und genau dies könnte im Bezug auch auf weitere politische Fragen die Möglichkeit bieten, den Puls der Anwohnenden zu fühlen – so die Brüder Riklin zu ihrem Projekt – wenn die Ge sprächspartner dann nicht die Künstler, sondern Exponentinnen von Politik und Verwaltung sein würden. Das auffällige Gefährt kann also von po litischen Verantwortungsträgern und -trägerin nen dafür eingesetzt werden, in einen persön lichen und ehrlichen Austausch über aktuelle gesellschaftliche Fragen zu treten und so die Distanz zwischen ihnen und der Bevölkerung ab zubauen, die ihnen häufig zum Vorwurf gemacht wird. Die öffentliche Aufmerksamkeit, die das knallige Taxi auch in der Presse zu erlangen ver mochte, dient dabei als Kommunikationsmass nahme, die nicht einige wenige Interessierte, sondern möglichst viele potenziell Neugierige ansprechen soll.
Poten ziale von Kunst im Quartier Am Beispiel des Projekts «Stadt auf Achse» Rachel Mader
Forschungsprojekts «Stadt auf Achse», im Rah men dessen dieses Projekt, neben drei weiteren, initiiert wurde. Im Projekt wird untersucht, wie partizipative künstlerische Vorgehen der Bevöl kerung entlang von besonders belasteten städti schen Verkehrsachsen Möglichkeiten geben kön nen, diese stärker in ihrem Sinne zu nutzen und zu gestalten. Die Entscheidung für partizipative Kunstprojekte resultiert aus den räumlich-situa tiven Gegebenheiten der Achsen. Diese sind in übermässigem Ausmass von Durchgangsverkehr und den daraus resultierenden Belastungen wie Lärm, Abgas und Platzmangel für weitere Nutzun gen betroffen. Bauliche Massnahmen zur Verbes serung der Situation für die Anwohnenden sind kaum realisierbar. Die Folgen dieser schwierigen Ausgangslage für den Lebensraum Achse sind häufig wenig attraktive Wohnsituationen mit ent sprechend hoher Fluktuation bei den Mietern und Mieterinnen und wenig Bewegungs- und Gestal tungsmöglichkeiten im Aussenraum. Verhältnis se also, die für die Entwicklung einer Quartierge meinschaft kaum förderlich sind. Genau diese Identifikation der lokalen Bevölkerung mit dem sie umgebenden Raum ist aber für eine nachhal tige Stadtentwicklung von fundamentaler Bedeu tung; nur dadurch entsteht qualitativ hochstehen der Lebens-, Wohn- und Arbeitsraum in dichten Genau die Frage danach, wie Bevölkerungsgrup urbanen Gebieten. pen in die Diskussion um gesellschaftliche und politische Themen einbezogen werden können, die sie direkt betreffen, stand im Zentrum des
↓ Das Quatschmobil erwartet von den Fahrgästen kein Geld, sondern Gespräche. Fotografie: Atelier für Sonderaufgaben
Vielfalt der Begegnungen «Stadt auf Achse» hat mehrere Kunstschaffende beauftragt, für ausgewählte Achsen in Luzern und Zürich Kunstprojekte zu entwerfen, die diesen spezifischen urbanen Umständen Rechnung tra gen. Die künstlerischen Ergebnisse dieser Auf träge sind äusserst unterschiedlich, zielen aber alle darauf ab, an diesen Orten einen Austausch mit den Anwohnern anzuregen, der vorher nicht vorhanden war und ihnen eine aktive Ausei
«Die während der Fahrt mit dem Quatschmobil ge äusserten Meinungen und Ideen sind direkte und unverfälschte Äusserungen der Stadtbevölkerung …»
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nandersetzung mit dem ih nen nahen Umraum erlaubte. Während nun die Brüder Rik lin das Ziel verfolgten, die Meinung der Bevölkerung möglichst unverfälscht an die Träger und Trägerinnen der Verantwortung aus Poli tik und Verwaltung weiter zureichen, so interessierten sich Rahel Grunder und Philip Matesic, die das zwei te Projekt «Achsengeschich ten» an der Baselstrasse entwickelten, zwar auch für die authentischen Stimmen der Anwohnerinnen, gingen aber in mehrfacher Hinsicht komplett unterschiedlich vor. Ihr Ziel war denn auch nicht das Sammeln individueller Meinungen und Ideen zu tagesaktueller Politik, sondern das Zusammentragen von persönlichen Geschichten der an dieser Achse lebenden Menschen. Dazu liessen sie einen Veloanhänger zu einer mobilen Bar umbauen, mit dem sie während drei Monaten
einmal wöchentlich die Baselstrasse entlang spazierten, immer wieder anhielten und die Pas santen und Passantinnen zu einem warmen Ge tränk und Gespräch einluden. Viele nahmen diese freundliche Einladung gerne an und erzähl ten den beiden an sich Unbekannten, aber offen sichtlich interessierten Gastgebenden freimütig aus ihrem Leben. Daraus erarbeiteten Rahel Grun der und Philip Matesic in Zusammenarbeit mit einem Drehbuchautor ein Theaterstück, das im Mai 2016 – unter Einbezug von Statisten und Sta tistinnen, rekrutiert aus der lokalen Bevölkerung der Baselstrasse – an ebendieser aufgeführt wur de. Damit erhält diese Strasse ein von individu ellen Perspektiven geprägtes Gesicht, die das gängige Image der Strasse zwischen multikultu reller Lebendigkeit und verkehrsbedingter Über lastung durch eine neue und durch die Anwohne rinnen selbst gestaltete Erzählung ihres Ortes ergänzt. Diese Erzählung erhält durch die Bear beitung als Theater nicht nur eine Würdigung und Anerkennung, sondern erreicht zudem eine er weiterte Öffentlichkeit, die dadurch ein ihnen unbekanntes Bild der Baselstrasse vermittelt bekommt. Mit ungewohnten Perspektiven auf ihre ver traute Wohnumgebung wurden im Sommer 2014 auch Passanten und Passantinnen entlang der Zürcher Wehntalerstrasse konfrontiert. An vier Nachmittagen konnten sie einem derjenigen Stra ssenmaler begegnen, die mit Kreide und grosser Sorgfalt für gewöhnlich religiöse Bilder auf den Asphalt zeichnen. Wie üblich, blieben zahlreiche Neugierige stehen, erstaunt nicht nur über das handwerkliche Geschick des Künstlers, sondern vor allem über die Sujets: Einmal handelte es sich um einen aus Betonröhren zusammengesetzten Zug, der Kindern des Quartiers seit den 1970er-Jah ren zum Spielen diente, bei langjährigen Anwoh nern zwar Kindheitserinnerungen hervorrief, für viele andere wohl eher ein meist übersehenes Relikt aus einer anderen Zeit darstellte. Ein ande res Mal zeigte die Kreidezeichnung den Eingang jener Unterführung, die im Zuge verkehrsplane rischer Umgestaltung dieser vielbefahrenen Ver kehrsachse aufgehoben werden soll. Die zufällig vorbeigehenden Passatinnen blieben nicht selten verwundert stehen, fragten beim Künstler nach den Gründen seines Tuns und kamen dann meist in Austausch mit den andern Anwesenden über die ungewöhnlichen Motive und die eigenen Ver bindungen dazu.
Potenziale von Kunst Auf unterschiedliche Weise haben all diese Pro jekte auf unkonventionellen Wegen Prozesse der Kommunikation und Partizipation angestossen und so innerhalb der engen städtebaulichen Kon
stellationen Möglichkeiten der Begegnung und damit der Nutzung des öffentlichen Raumes ge schaffen. Der von den Künstlern Dimitri Broquard und Bastien Aubry ebenfalls im Rahmen von «Stadt auf Achse» entwickelte Skulpturen-Grill «Smoky» fügt den erwähnten Initiativen eine wei tere Dimension bei. Im Dezember 2014 wird der originelle Grill auf dem Zehntenhausplatz, etwas ab von der Wehntalerstrasse und in der Nähe des Quartierzentrums offiziell eingeweiht und dient nun den Anwohnern für gemütliche Treffen. Broquard und Aubry schufen mit ihrer gleichsam ästhetisch eigenwilligen und dennoch zweckdien lichen Skulptur aus einem wenig definierten Ort eine Stätte der Begegnung, die von einem Quar tierexpertengremium, bestehend aus Vertrete rinnen, die an der Wehntalerstrasse wohnten oder arbeiteten, aus fünf Projektvorschlägen ausge wählt wurde und darum Rückhalt im Quartier hat. Der Einsatz von Kunst in Stadtentwicklungspro zessen ist eine Herausforderung, da in jedem Fall unterschiedlichste Perspektiven aufeinandertref fen. Diejenige der Quartierbevölkerung ist dabei nicht zwingend deckungsgleich mit derjenigen der Stadtentwicklung und Kunst folgt selten der Logik planerischer Prozesse. Kontroversen sind in der Regel nicht zu vermeiden. Es ist daher sinn voll, sie aufzugreifen und produktiv zu nutzen. Denn genau dies ist eines der zahlreichen Poten ziale von Kunst im öffentlichen Raum: Gespräche anregen und Begegnungen auslösen. Die geschil derten Beispiele verweisen auf weitere: Durch ihr häufig unkonventionelles Vorgehen kann Kunst irritieren und zur Reflexion anregen. Ihre überra schenden Auftritte können Aufmerksamkeit er regen und schnell und anschaulich Themen in den öffentlichen Fokus rücken. Die Kunst kann neue und ungewohnte Perspektiven einbringen, in spielerischer Weise Vorschläge machen, und sie kann die Identität von Orten oder Gemeinschaften fördern und stärken. Im Rahmen des Forschungsprojekts «Stadt auf Achse» wurden die kooperativen Arbeitsweisen ausgewertet, in der Kunst selbst, sowie bezüglich der Zusammenarbeit mit der Quartierbevölkerung und den Auftraggebenden – in diesem Fall die involvierten Verwaltungseinheiten der Städte Zürich und Luzern. Aus den Ergebnissen resultier te ein Handbuch, das all jenen handlungsleitende Informationen geben soll, die ähnliche Projekte und Vorgehensweisen anpacken wollen, also etwa Stadt-, Gemeinde- und Kantonsverwaltun gen, Quartiervereine, Stiftungen, Agenturen, Kunstschaffende und Partner aus der Wirtschaft. Das Handbuch beinhaltet eine Schritt-für-SchrittWegleitung für partizipative künstlerische Pro jekte im Kontext von Stadtentwicklung, eine Sammlung von Referenzbeispielen, die konzen triert Einblick in die Best Practice geben, sowie
einen Serviceteil mit weiterführenden Informati onen. Und so ermöglichte dieses Forschungspro jekt, neben der Entwicklung von partizipativen Kunstprojekten für belastete Achsen, vor allem auch konzise Einsichten darüber und Hilfestel lungen dazu, was es heisst, innerhalb derart kom plexer, von unterschiedlichen Anspruchsgruppen geprägter Kontexte kooperative Projekte durch zuführen. Rachel Mader ist Kunstwissenschaftlerin und seit September 2012 Leiterin der Forschungsgruppe Kunst, Design & Öffentlichkeit an der Hochschule Luzern – Design & Kunst. Von 2009 bis 2014 leitete sie das Projekt «Die Organisation zeitgenössischer Kunst» an der Zürcher Hochschule der Künste. Rachel Mader publizierte u.a. zu Kunst und Politik, künstlerische Ambivalenz, Kunst institutionen und kollektives Kunstschaffen.
↑ Der Skulpturen-Grill Smoky wurde mit einem Advents anlass eingeweiht. Fotografie: Natalie Madani ← Passanten versammeln sich an der Wehntalerstrasse um eine Strassenmalerei. Fotografie: Natalie Madani
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Kreative Stadt entwicklung: Was können Design und Kunst? Gabriela Christen
← Die Kunstschaffenden Rahel Grunder und Philip Matesic laden an der Achse Kasernenplatz – Reussbühl Passanten zu einem Gespräch ein. Eine Arbeit im Rahmen des KTI-Forschungsprojekts «Stadt auf Achse». Fotografie: Natalie Madani
Das Gebiet entlang von Reuss und Kleiner Emme in Luzern Nord ist eines der vitalsten Entwick lungsgebiete der Zentralschweiz. Mit der Neuge staltung des Seetalplatzes, der Renaturierung der Flüsse und mit einer Vielzahl von Bauflächen hat es in den nächsten Jahren eine grosse Ent wicklung vor sich. Hier, wo sich seit dem 19. Jahr hundert die Industrie angesiedelt hat, wird die Hochschule Luzern – Design & Kunst ihren neuen Standort erhalten. 139 Jahre nach dem Bezug ihres Mutterhauses an der Rössligasse in der Altstadt von Luzern zieht die älteste Institution für die kreativen Ausbildungen in der deutschen Schweiz nach Emmenbrücke, an den Rand der Stadt, in eine ehemalige Fabrik der Textilindustrie. Was bedeutet dieser Umzug für eine Hochschule mit Ausbildungen für Designer und Künstlerinnen, und was können Kunst und Design zur Entwick lung von Luzern Nord, der Viscosistadt und der Gemeinde Emmen am Stadtrand beitragen?
Ein neuer Ankerort für Kunst und Design
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Mit dem Umzug in den Bau 745 Viscosistadt haben die Studierenden, die Dozierenden und die Mit arbeitenden grossartige Räume in einem Indus triebau der 1960er-Jahre erhalten. Hier können sich in einem ersten Schritt in den hohen Ateliers mit viel Tageslicht die Studienrichtungen Film mit Animation und Video, Camera Arts, Digital Idea tion, Kunst & Vermittlung sowie die Master Design, Fine Arts und Film einrichten. Sie erhalten her
vorragende Arbeits- und Produktionsmöglichkei ten mit Film- und Soundstudios, einem Medialab, einem Kino, Ausstellungsräumen, der Bibliothek und einer Cafeteria. Für die Künstlerinnen und Künstler sind hohe, lichterfüllte Ateliers vorhan den, denen die Spuren der früheren industriellen Nutzung eine spezielle Atmosphäre verleihen. Verantwortlich für den sorgfältigen Umgang mit dem Erbe der Industriearchitektur und für die architektonische Gestaltung der ehemaligen Fa brik ist das renommierte Architekturbüro EM2N, das sich bereits mit dem Umbau der Toni-Joguhurtfabrik für die Hochschule der Künste in Zürich einen Namen bei der Umgestaltung von alten Industriegebäuden in zeitgenössische Hochschulen gemacht hat. Die räumliche Nähe der verschiedenen Studi enrichtungen und das Wirken im Austausch mit der ansässigen Kreativwirtschaft an einem ge schichtsträchtigen Ort wird es der Hochschule ermöglichen, die eigene Identität zu stärken und im nationalen und internationalen Kontext mit diesem ikonischen Gebäude an Ausstrahlung zu gewinnen. Wichtig ist der Hochschule Luzern – Design & Kunst auch der Austausch mit der Gemeinde Emmen und deren Bevölkerung. Die Hochschule Luzern sieht sich als eine Institution, welche die Zusammenarbeit mit Gesellschaft und Politik braucht, die eine Plattform für Gespräche bieten möchte und sich insbesondere auch in der Forschung als eine Partnerin für Unternehmen in der Entwicklung von nachhaltigen Lösungen zum Nutzen der Gesellschaft versteht.
Kreative Stadtentwicklung Die Hochschule Luzern – Design & Kunst versteht sich als eine der Treiberinnen für eine kreative Stadtentwicklung in Luzern Nord. Durch die Ansiedelung von Design & Kunst im Viscosi-Areal wird Luzern Nord Hochschulstand ort. Dieser neue Standort wird Stadtentwicklung einer anderen Art auslösen und aktiv vorantrei ben: Stadtentwicklung durch Menschen mit neu en Aktivitäten, die Schaffung von alternativen Räumen und von Öffentlichkeit. Die Entwicklung durch Bildung und Kultur wird nachhaltig sein und ist mit wenigen Immissionen verbunden. Gleich zeitig hat sie das Potenzial, die gesamte Entwick lung des Gebietes zu begleiten und mitzuprägen, neue Bilder dieses Quartier zu produzieren, wei tere Partnerinnen und Partner nach Luzern Nord zu bringen, kurz einen Ort im Wandel neu zu ver messen und eine innovative Zukunftsorientierung zu ermöglichen. Die Gemeinde Emmen und die Stadt Luzern beschäftigen sich in mehreren Initiativen mit dem Thema der Kreativwirtschaft. Als «Creative Cities» verstehen sich Städte, die Kreativwirtschaft und Kultur als massgebliche Faktoren ihrer Entwick lung verstehen, diese in ihre politischen und wirt schaftlichen Strategien einbeziehen und sich über diese Faktoren kommunikativ zu positionieren versuchen (siehe Text von Alex Willener, S. 9). Die Stadtforschung zeigt, dass erfolgreiche Städte auf die Ideen und das Engagement von inspirier ten und umsetzungsstarken Menschen setzen, die kreativ und innovativ mit städtischen Arealen und Kontexten arbeiten. Mit dem Forschungsprojekt «Stadt auf Achse» (2012–2015) wurde bereits das Potenzial der kreativen Stadtentwicklung durch Kunst an der Achse Baselstrasse bis nach Reussbühl in einem grossen KTI-Projekt ausgelotet, das in Zusam menarbeit zwischen den Städten Luzern und Zürich und der Hochschule Luzern – Design & Kunst entstanden ist (siehe Text von Rachel Mader, S. 22). Im Gebiet Luzern Nord, also in Reussbühl, dem Seetalplatz und der Viscosistadt in Emmenbrücke wird dieses Potenzial von Kunst künftig noch stärker eingesetzt werden. Der ein zigartige Master-Studiengang Art in Public Sphe res der Hochschule Luzern hat schon vor dem Umzug diesen Raum erforscht und mit künstleri schen Aktionen bespielt (siehe Text von Peter Spillmann, S. 75). Mit dem Bezug des Baus 745 Viscosistadt kom men im Herbst 2016 auf einen Schlag mehrere hundert Kreative neu in das ehemalige Industrie areal. Die Studierenden der Hochschule Luzern – Design & Kunst werden die Entwicklungen von der Industriestruktur zur Industriekultur hautnah erleben, beobachten, analysieren und mitge stalten.
Durch die zusätzliche Ansiedelung von Krea tivindustrie, durch die neue Identitätsbildung aufgrund der Stadtentwicklung könnte so in Luzern Nord eine zukunftsträchtige Zusammen arbeit über die Stadtgrenzen hinaus entstehen und ein kreativwirtschaftlicher Turnaround ge schafft werden. Ein «Kreativcluster am Em menstrand» kann neue Stadträume und Bilder prägen und zusammen mit neuen Bewohnern und Nutzerinnen dem Quartier ein neues Image geben.
Die besonderen Kräfte von Design und Kunst Was aber können Künste und Design an Kompe tenzen bieten, was sind ihre Angebote für Gesell schaft, Kultur und Politik? Künste und Design verfügen über einen speziellen Blick auf die Welt. Dieser Blick ist anders, weil er aus neuen Pers pektiven, aus ungewohnten Blickwinkeln schaut. Er ist schwer zu umschreiben, man könnte von einem seitlichen und schrägen Sehen oder gar einem leichten Schielen sprechen. Nie ist dieser Blick aus einem einseitigen, disziplinären, politi schen oder ökonomischen Interesse motiviert, und nie ist es ein Blick ohne Engagement, ohne individuelle Perspektivierung. Dieser innovative Blick auf die Welt lässt diese neu erscheinen, er ignoriert häufig den Status quo, und er generiert Möglichkeits- und Gestaltungsräume. Zu diesem Blick auf die Welt gehört auch, dass er nicht nur das Bestehende erfasst, dass er nicht das Übliche analysiert, sondern immer das Un gewöhnliche sieht, sich für das Verdeckte inter essiert, aber auch hinter das Bekannte schaut. Künstler und Designerinnen haben eine grosse Nähe zu Diversi tät und Andersartigkeit, und sie haben auch die Gabe, Verständnis und Respekt für die Abweichung und die Dif ferenz zu schaffen. Wenn Künstlerinnen und Designer die Welt betrach ten, so tun sie dies mit Empathie. Anders als die Wissenschaft oder die Politik müssen sie nicht neutral sein, sie sind nicht der Objektivität ver pflichtet, sondern der Imagination und der Inno vation. Sie sehen aus der Individualität künstle rischen oder kreativen Tuns heraus das Besondere, beziehen Position für das Vergessene oder Übersehene, für das Verdrängte oder erst Entstehende. Sie haben die Fähigkeit, als Kata lysatoren an den fragilen Rändern der Gesell schaft zu wirken. Design und Kunst haben die Kraft, unterschied liche Welten zusammenzubringen. Sie haben gleichzeitige Aufmerksamkeit für die Vergangen
«Wenn Künstlerinnen und Designer die Welt betrachten, so tun sie dies mit Empathie.»
heit und für die Zukunft, sie denken an den Rän dern der heutigen Entwicklung und besinnen sich auf Tradition. Sie überspringen digitale Wel ten, kehren zum Handwerk zurück, verschwenden Zeit, als wäre sie keine rare Ressource, und teleportieren sich im Nachdenken nach hinten über die Gegenwart hinaus in eine mögliche Zu kunft. Diese Fähigkeiten von Kunst und Design ma chen diese zu einer wichtigen Ressource für eine Gesellschaft, die in schnellem Tempo und haupt sächlich ökonomisch getrieben funktioniert, in der das Lokale durch das Globale verdrängt oder das Regionale nur Provinz ist. Denn eine besonders magische Gabe von Kunst und Design besteht in der Fusion von Lo kalem und Welt. Künstlerinnen und Designer ver binden in ihrem Denken und Handeln das Spezi elle eines Ortes mit der Welt. Identität entsteht heute als Verbindung eines individuellen Ortes mit globalen Bewegungen. Künste und Design befriedigen die Sehnsucht nach Verortung und Verankerung an einem Ort ohne Rückzug auf na tionale oder chauvinistische Klischees und der Verweigerung der Gegenwart. Sie überspringen mühelos den Graben zwischen dem örtlich Ver einzelten, dem Partikulären und der Wahrneh mung von Welt als einem öffentlichen Raum.
Die Umwelt und Welt erforschen
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Die Studierenden und die Dozierenden der Hoch schule Luzern – Design & Kunst werden in den nächsten Jahren eine erhöhte Aufmerksamkeit für Luzern Nord, für die Viscosistadt und für Em men haben. Hier werden regelmässig Untersu chungen und Ausstellungen über dieses Areal im Umbruch stattfinden. Umgebung, Menschen, Gebäude, Veränderungen werden von den Stu dierenden beobachtet, analysiert, dokumentiert und in eigenen Arbeiten gestaltet. Bereits seit einigen Jahren untersucht die Studienrichtung Camera Arts die Viscosistadt, um den Genius Loci dieses Ortes in gestalterischen und künstleri schen Arbeiten zu untersuchen (siehe Text von Evert Ypma, S. 78). Dabei sind Ausstellungen und Publikationen entstanden, die im Rückblick eine spezielle Art von Dokumentation der Verwand lungen des Industrieareals und der damit verbun denen Menschen zeigen. Camera Arts ist es auch zu verdanken, dass die Geschichte des Tramhüs lis nochmals aufgerollt und neu in die Zukunft geschrieben werden konnte (siehe Text von Cony Grünenfelder, S. 42). Dieser einmalige Zeuge der Luzerner Tramzeit und Landmark an der Gerlis wilstrasse am Eingang zur Viscosistadt war we gen der kantonalen Strassenplanung bereits dem Untergang durch Abbruch geweiht. Dank der ge meinsamen Initiative der Hochschule zusammen
mit der Gemeinde Emmen, Stiftungen und priva ten Sponsoren konnte das ehemals als Transfor matorenturm, Kiosk und Tramstation genutzte Gebäude im letzten Moment gerettet werden. Nun wird es für die neue Geschichte des Areals der Viscosistadt und als ein Landmark der Gemeinde Emmen weiter bestehen und die Tradition der alten Industriestadt in die künftige Geschichte der Viscosistadt begleiten. Am Eingang des In dustrieareals soll das Tramhüsli erneut zu einem Ort der Begegnung, des Gesprächs, des Aus tauschs werden, wo sich die Vergangenheit und die Gegenwart, die Studierenden und die Bevöl kerung von Emmen, Kulturschaffende und die neuen Bewohnerinnen und Bewohner der Visco sistadt begegnen. Gabriela Christen ist Direktorin der Hochschule Luzern – Design & Kunst. Sie studierte Kunstgeschichte, Romanistik und Philosophie in Basel, Paris, Wien, Zürich und Bern. Von 1996 bis 2010 arbeitete Gabriela Christen als Kulturredaktorin für das Schweizer Radio SRF, von 1999 bis 2003 war sie stellvertretende Redaktionsleiterin Kultur. Zwischen 1999 und 2010 war sie als Dozentin für Theorie und als stellvertretende Leiterin des «Institute for the Performing Arts and Film» an der Zürcher Hochschule der Künste tätig.
Textile Traditionen und Zukunfts visionen Alain Homberger
Es kam nicht nur für die SEFAR überraschend, als sie im Jahr 2009 Besitzerin eines neuen Geschäftsbereichs und eines riesigen Fabrikareals in Emmen brücke wurde. Fast über Nacht musste sich damals das Ost schweizer Familienunterneh men entscheiden, ob es seinen wichtigsten Zulieferer retten soll. Im Jahre 2008 ging die Fir ma Nexis Fibers, die das Ge schäft der ehemaligen Visco suisse übernommen hatte, in Nachlassstundung. In die Lücke sprang SEFAR, einer der wich tigsten Kunden für monofile Garne. Mit dem Kauf des Mono fil-Geschäfts rettete SEFAR 150 Arbeitsplätze und mehr als 20 Lehrstellen. Für SEFAR war der Entscheid, den Zulieferer aus Emmenbrücke zu übernehmen, ein unternehme risches Wagnis. Mit dem Kauf der Monofil-Spar te wurde SEFAR selber zur Garnherstellerin und belieferte nun plötzlich auch die eigene Konkur renz mit dem wichtigen Rohmaterial. Ausserdem wurde sie Besitzerin eines Fabrikareals, das mit einer Fläche von 84’000 Quadratmetern etwa so gross ist wie die Altstadt Luzern. Dafür galt es, Lösungen zu entwickeln, die sowohl die indus trielle Tradition berücksichtigen als auch Zu kunftsvisionen ermöglichten. Dieser heikle Spa gat scheint zu gelingen. Heute steht die Viscosistadt, wie das Areal nun heisst, für den Aufbruch in Emmenbrücke, für Kultur und Bildung sowie für
eine gesunde Mischung von Unternehmen. Und auch die industriellen Wurzeln des Areals sind weiterhin lebendig. Denn die Monosuisse – als direkte Nachfolgerin der Viscosuisse AG – produ ziert weiterhin hochpräzise synthetische Garne. Und mit dem Einzug der Hochschule Luzern – Design & Kunst kommt jetzt auch Schwung in die Entwicklung der Viscosistadt zu einem Zentrum der Kreativwirtschaft.
Ein Kilometer, ein Gramm Die 1833 gegründete SEFAR ist mit der Herstellung von Geweben aus Seidengarn bekannt geworden, das von Handwebern zu Sieben für Müllereien verarbeitet wurde. Die feuchten Keller an den schattigen Hängen des Appenzellerlands boten ideale klimatische Verhältnisse für die Seiden verarbeitung. Bereits früh begann die junge Firma, ins Ausland zu expandieren. Im 20. Jahrhundert löste die industrielle Weberei die Handweberei ab und in den 1950er-Jahren begannen synthe tische Fasern das Rohmaterial Seide zu verdrän gen. Heute wird mit verschiedensten syntheti schen Garnen gewoben. SEFAR ist keine klassische Textilfabrik. Sie stellt nicht feine, schön bedruckte Stoffe her, son dern Monofil-Präzisionsgewebe für die Industrie. Dazu verwendet SEFAR superdünne Fäden aus Emmenbrücke, die keine Dünn- oder Dickstellen aufweisen dürfen und pro Kilometer Länge zum Teil weniger als ein Gramm wiegen. In den SEFAR-Werken wird gewoben, veredelt und kon fektioniert. Die SEFAR-Gruppe ist in Nischen märkten tätig, dort aber in verschiedenen Berei chen Weltmarktführerin. Sie beschäftigt rund 2400 Mitarbeitende und betreibt Konfektionszen
Nachbarschaften 30 ⁄ 31
tren in 27 Ländern sowie grosse Webereien in der zellen, Touchscreens oder organischen Leucht Schweiz (Heiden, Wolfhalden und Thal), in Rumä dioden entwickelt. SEFAR investiert jedes Jahr nien und Thailand. einen zweistelligen Millionenbetrag in die For schung und Entwicklung. Niemand weiss genau, wie die Textilindustrie in 20 Jahren aussehen wird. SEFAR-Gewebe stecken auch in Es wird neue Bedürfnisse geben, die frühzeitig Smartphones erkannt werden müssen. SEFAR setzt auch in SEFAR-Produkte sind äusserlich unspektakulär. Zukunft darauf, zusammen mit Hochschulen, De Der Konsument merkt nicht, dass er täglich oft signerinnen und Fachspezialisten Spezialanwen mals mit SEFAR-Geweben in Kontakt kommt, die dungen in der Architektur oder in ganz neuen als Filterkomponenten breit zum Einsatz kommen: Bereichen zu entwickeln. Diese Projekte müssen von der Elektronik, Grafik, Medizintechnik, Auto kommerziell interessante Lösungen versprechen mobil-, Lebensmittel- und Pharmaindustrie bis und deshalb gut ausgewählt werden. Die Zukunft hin zur Rohstoffgewinnung und Architektur. So ist geprägt von der qualitätszentrierten Produk wird zum Beispiel für die Herstellung des Touch tion, gepaart mit offener Wahrnehmung und Kre screens von Smartphones ein Gewebe von SEFAR ativität bei der Entwicklung in der industriellen verwendet. Und auch als Schutz der Lautsprecher Produktion. moderner Handys wirken SEFAR-Komponenten. Damit wird der Staubschutz stark verbessert und das Eindringen von Wasser verhindert, ohne die Viscosistadt als Kreativzentrum akustische Leistung negativ zu beeinflussen. Mit Das Eine fügt sich zum Anderen. Das Miteinander herkömmlichen Industrieanwendungen erzielt von Industrie, Gewerbe, Dienstleistung und Krea SEFAR heute noch immer mehr als 95 Prozent tivwirtschaft wird durch den Einzug der Hoch seines Umsatzes. Zudem verkauft sie 97 Prozent schule Luzern – Design & Kunst in den eigens zu diesem Zweck total erneuerten Bau 745 gestärkt. ihrer Produkte ausserhalb der Schweiz. Innovation und die Erschliessung neuer Märk Es gibt neue Lebendigkeit auf dem Gelände, die te haben bei SEFAR immer eine grosse Priorität durch den neu gestalteten Emmenpark auch für genossen. Das Geschäft mit Siebdruckgewebe die gesamte Bevölkerung erfahrbar wird. Die Viel ist seit einigen Jahren rückläufig. Um dies zu er falt in der Viscosistadt lässt eine grosse Zukunft setzen, sind neue Ideen und Produkte gefragt. In erahnen. Die Entwicklung vom reinen Industrie den Entwicklungslabors in Heiden und Thal su biet hin zu einem durchmischten Gebiet mit chen Produktdesigner und -designerinnen ge Ateliers, Büros und Handwerksräumlichkeiten meinsam mit den Kunden und Kundinnen nach wird durch die Hochschule Luzern – Design & neuen Anwendungen. Dabei stehen ganz unter Kunst massgeblich verstärkt. Der Weg zu einem schiedliche Bereiche im Fokus. Interessant ist der Zentrum der Kreativwirtschaft mit überregionaler Einsatz von einseitig beschichtetem Präzisions Ausstrahlungskraft ist vorgezeichnet und ein gewebe für die Architektur. Eine Seite eines grosses Stück weit beschritten. Wir freuen uns schwarzen Polyestergewebes wird hauchdünn darauf und heissen alle Dozierenden, Mitarbei mit Metall beschichtet. Dieses wird zwischen tenden und Studierenden herzlich willkommen in zwei Glasscheiben laminiert und verleiht etwa der Viscosistadt. dem Würth-Gebäude in Rorschach oder dem SBB-Verwaltungsgebäude in Bern Wankdorf ei Alain Homberger, dipl. Ing. ETH nen ganz besonderen Glanz. Gleichzeitig ist es ist selbstständiger Unternehmens ein Sichtschutz und hält im Sommer die Hitze ab. berater und seit 1997 Verwaltungsrat Für den Platz vor der Moschee in Medina in Saudider SEFAR Holding AG. Per Anfang Arabien wurden gar 250 riesige Schirme mit Spe 2014 hat er die Verantwortung für zialgewebe von SEFAR gebaut. Diese bieten den die Viscosistadt als Geschäftsführer Pilgernden in der Heiligen Stadt Schatten. und die Projektleitung für den Bebauungsplan und für den Umbau des Gebäudes 745 übernommen. Daneben Neue Hightech-Anwendungen ist er Säckelmeister der Gemeinde Im Weiteren wird an Anwendungen geforscht, bei Freienbach. denen die Flexibilität von partiell leitenden Ge weben mit Elektronik kombiniert wird. Die Gewe be erfüllen dabei nicht nur einen traditionellen Zweck, beispielsweise der Filtration, sondern sie können zusätzlich die Temperatur messen oder Wärme erzeugen. Ein leitendes, transparentes Gewebe wird für den Einsatz von Farbstoffsolar
Emmenweid – Emmenegger – Emmenfeld – Emmenbronx «akku» im Strudel der Geschichte Karl Bühlmann
Im Bau 716 der ehemaligen Viscosuisse ist «akku» zuhause, das «andere kunst- und kulturunter nehmen», eine Kunstplattform, die sich als kul tureller Energiespeicher versteht und seit 2010 Ausstellungen zur Gegenwartskunst realisiert. An der Fassade des 1952 errichteten Baues, der ur sprünglich als Speditionsgebäude diente, prangt ein Sgraffito des aus Emmen stammenden, in Paris zum Maler geschulten Adolf Herbst (1909– 1983). Der Künstler, aus einer Arbeiterfamilie kom mend – sein Vater war Schreiner –, malte es 1956, zur 50-Jahr-Feier der Viscose, und es waren die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die ihm dazu Auftrag erteilten und das Werk auch bezahlten, jede und jeder, mit einem Obolus mehr oder we niger aus der Lohntüte. Zwei Frauengestalten beherrschen das Bild. Die Stehende versinnbild licht mit dem Tuch in den Händen die Hersteller und die Händler von Textilien und damit auch die (Fabrik-)Arbeit und den Handel. Die Sitzende mit dem Spiegel in der Hand verkörpert die Empfän gerin und Verbraucherin sowie die Mutter im Hau se. Darüber sind Symbole der Natur zu erkennen: Die Fichte liefert mit der Zellulose den we sentlichen Rohstoff für die Herstellung der Kunst seide. Das Spinnrad unten kann als Darstellung der Verarbeitung gedeutet werden. Das faden spielende Engelchen ist eine Allegorie für Glück und Hausfrieden. Am Fuss der gut zehn Meter hohen Darstellung kratzte der Künstler, den die Stadt Luzern neun Jahre später mit dem Kunstpreis ehrte, die Wor te in den Bilduntergrund: «Von den Werkangehö
rigen». An der Einweihung übergab die Arbeiter schaft das Werk der Viscose-Direktion, die gleich daneben im 1923 erstellten Verwaltungsbau re sidierte. Die Arbeiterinnen und Arbeiter drückten so ihre Dankbarkeit aus, in diesem Unternehmen tätig sein zu dürfen – das ungewöhnliches Zeug nis einer untergegangenen patriarchalischen Fir menkultur, eine Preziose der Emmer Wirtschafts geschichte. Die «Société de la Viscose Suisse S.A.», in der Öffentlichkeit nur «Viscose Emmenbrücke» ge nannt, nahm im September 1906 die Produktion von Kunstseide auf. Schon im Oktober des fol genden Jahres wurden auf zwei Spinnmaschinen mit je fünfzig Spinndüsen täglich etwa 200 Kilo gramm Kunstseide produziert. Werner Hartmann (1903–1981), der spätere Maler und Luzerner Kunstpreisträger, dessen Vater in der nahen Mer kurstrasse eine Fuhrhalterei betrieb, erlebte als Kind, wie die aus rotem Backstein erbaute Fabrik sich mehr und mehr ausdehnte. Links und rechts des Trafoturmes, der sich wie ein Stadttor über die Toreinfahrt erhob, standen die Bürogebäude, hinter der Schaufront arbeiteten vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, im August 1914, bereits 800 Personen, die Hälfte davon Frauen, und pro duziert wurden täglich 1000 Kilogramm Kunst seide. Die Arbeiterinnen verdienten 18 Rappen die Stunde, die Männer 30 Rappen. Es wurde in zwei Schichten, tags und nachts gearbeitet, das Frühstück in der Kantine, bestehend aus einem Liter Milch, Rösti und Käse, kostete 30 Rappen. Der dritte und älteste der Emmer Maler aus der Gründerzeit der Viscose, der nationale Be
↑ Werner Hartmann, Gerliswil, 1941, Öl auf Leinwand, 64 x 54 cm, Sammlung Gemeinde Emmen. © Daniel Hartmann, Paris → Aus der Ausstellung «Emmenbronx». Fotografie: Felix Meier/Fotosolar
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kanntheit erlangte, war Hans Emmenegger (1866– 1940). Wenn er von seinem landwirtschaftlichen Haus auf der höher gelegenen Herdschwand über die Bahngleise in Richtung Pilatus blickte, konn te er das schrittweise Wachsen der Viscose zum Arbeitgeber von bis zu 3000 Angestellten verfol gen. Nach wenigen Jahrzehnten expandierte die Fabrik von der Emmenweid aus auf das Emmen feld, die grosse Ebene, die sich zwischen der Tramwendeschlaufe beim Tramhüsli und der alten Zollhausbrücke erstreckte. Die Anfänge der Viscose Emmenbrücke waren ein unternehmerisches Abenteuer. In den Labo ratorien waren erste seidenähnliche Fäden aus Viscose hergestellt worden. Als Viscose bezeich
nete man die honigartige Flüssigkeit, die aus Holzzellulose gewonnen wurde. Aus dieser Vis cose konnten feinste Seidenfäden gesponnen werden, von denen 9000 Meter bloss ein Gramm wiegen. In der Schweiz wollte niemand Geld in diesen neuen Industriezweig stecken. Es gab viel Skepsis darüber, ob der Mensch respektive die Technik ein vergleichbares Produkt wie den Faden der Seidenraupe herstellen konnte. Ein unternehmerisches Abenteuer ist auch die Kunstplattform «akku», 2008 initiiert, seither ge tragen von der Stiftung akku Emmen. Die Kunst plattform versteht sich als Forum für innovatives Kunstschaffen, will Einblicke in historische und zeitgenössische Entwicklungen vermitteln und
das Verständnis dafür fördern. Seit der Eröffnung und bis Ende 2015 wurden 29 Hauptausstellungen von Kuratorinnen oder Kuratoren realisiert, dazu fanden regelmässig Veranstaltungen zu Kunst, Literatur, Musik, Theater oder tagesaktuellen Kul tur- und Gesellschaftsfragen statt. Die Kreativität und Fantasie bei Kindern und Jugendlichen wer den im «akku»-Kinderatelier gefördert, das seit 2008 Kurse veranstaltet, und das von ausgebil deten Lehrkräften geleitet wird. Für Emmer Schul klassen erarbeitet ein Team zu einzelnen Ausstel lungen spezielle Führungen und Workshops. Im Sommer 2014 realisierte «akku» die Aus stellung «Emmenbronx», in der mittels fotografi scher Streifzüge ein visuelles Porträt über jenen Teil von Emmenbrücke gezeichnet wurde, der im Brennpunkt der Stadtentwicklung und mitten in der Transformation steht: Seetalplatz, Bahnhof, Viscosistadt, Emmenweid, Gerliswilstrasse. Es ging um den Nukleus von Emmenbrücke, die Vor stadt, die Agglo, um die Örtlichkeit, wo städti sches und dörfliches Leben und Denken sich berühren, schneiden, ineinanderfliessen, wo auch Grenzen und Ausgrenzungen und Konflikt potenzial vorhanden sind. Um ein Gebiet, das für die einen ein permanenter Bauplatz oder der per sönliche Werkplatz ist, für andere ein urbaner Lebensraum, für dritte nur Durchgang oder eine Gegend, die darauf wartet, von visionären Plane rinnen, guten Architekten und seriösen Investo rinnen wachgeküsst zu werden. Der Titel «Emmenbronx» hat nicht allen Em merinnen und Emmern – insbesondere der älteren Generation – gefallen, auch die Inhaberinnen und Chefs von Unternehmen meldeten Bedenken an. Sie nahmen die Anspielung auf das stark multi kulturell und von sozialen Problemen geprägte Quartier in New York etwas gar wörtlich, will hei ssen, sie hatten die vergangenen Jahrzehnte vor Augen, als Jugendbanden und Verbrechersyndi kate die Bronx zur verrufenen Gegend machten, die für manche schummrige Filmsequenzen her halten musste. Heute steht in diesem Quartier das 2009 für 1,5 Milliarden Dollar erbaute Stadium der New York Yankees, ist mit seinen 50’000 Plät zen eine Attraktion und das Flanieren dort gehört für Touristen zum Besuchsprogramm. Wir verstanden den Titel «Emmenbronx» als Liebeserklärung an ein pulsierendes und periphe res Brachland, wo vieles im Umbruch und Wandel ist, wo Potenzial für Visionen und dynamische Entwicklungen innerhalb der 30’000-Einwoh ner-Gemeinde vorhanden sind. Nein, 50’000 Besucher kommen nicht zu den Matches des FC Emmenbrücke, der einst auf dem Emmenfeld spielte, und des SC Emmen, die fünf Klassen unter der Super League dümpeln und vielleicht 150 Zuschauer anziehen. Dafür kurven jeden Werktag mehr als 50’000 Fahrzeuge über
den mit Tausenden von Asphaltmetern ausge weiteten und trotzdem temporär an Obstipation leidenden Seetalplatz, wo früher ein Landwirtschaftsbetrieb des «Zuchthaus» Sedel war. Täg lich passieren 309 Personen- oder Güterzüge den Bahnhof Emmenbrücke. Die F/A-18 Hornets und die F-5E Tigers der Patrouille Suisse donnern bei ihren Landeanflügen auf den Militärflugplatz Em men über den Bau 716 und den Bau 745 der Hoch schule Luzern – Design & Kunst. Auf dem 90’000 Quadratmeter grossen Areal des früheren Industrieunternehmens Viscosuisse soll ein neuer Stadtteil namens Viscosistadt ent stehen, in dem Bildung, Arbeiten, Wohnen und Kultur nebeneinander Platz finden. In der Emmen weid haben sich in Backsteinbauten aus der In dustriegründerzeit neue Dienstleistungsbetriebe installiert, während in ihrer Nähe ein global tätiger Stahlkocher jährlich aus Schrott 500’000 Tonnen Edelstahl produziert. Gleichzeitig ist Emmen eine Gemeinde mit Mul tiplex-Kino inklusive McDonald’s Drive-In an zen tralster Lage am Seetalplatz. Vis-à-vis im einsti gen Apothekerhaus gibt es Kebap, das Café Istanbul und die Pizzeria Il Golfo. Beim Bahnhof nennt sich der Balkon des Restaurants Biergarten, nebenan vor dem einstigen Güterschuppen steht das Dizin Grillhaus. Neuerdings stösst man auf das Chäs-Chalet hinter der Abfallentsorgung. Unweit davon finden Habitués auch das Centro Regionale Abruzzese hinter der bosnisch-islami schen Moschee im ehemaligen Kino Merkur. Auf dem Weg zum Sonnenplatz, auf dem einstigen Flanierboulevard von Emmenbrücke, zwischen den Nail-Studios, sind Namen wie Il Piccolo, Best of Africa, City-Kebap, Sky-Lounge, Pacific, Sara jevo Cevabdzinica, Bierkeller, China Take Away … Hier scheint der Titel «6020 Emmenbronx» nichts von seiner Aktualität eingebüsst zu haben. Karl Bühlmann, *1948, aufgewachsen in Emmen. Historiker und Publizist, tätig in der Kultur- und Kunstvermittlung, Geschäftsführer der Stiftung akku Emmen. Autor von Büchern zur Zeitgeschichte und von Katalogen über Schweizer Künstlerinnen und Künstler. Redaktor der Luzerner Neuesten Nachrichten, 1989 bis 1995 deren Chefredaktor. Wohnhaft in Luzern und Maggia/TI.
Emmen und die Hochschule – Leitbilder und Gedanken zu einer neuen Zusammen arbeit Susanne Truttmann
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Die Hochschule Luzern – Design & Kunst zieht nordwärts. Das Departement, das sich aus der traditionsreichen Luzerner «Kunsti» entwickelt hat, zieht aus den verzettelten Standorten in der Luzerner Kernstadt weg Richtung Norden. Die Hochschule mit den kreativen Köpfen bezieht in Emmen eine neue, anregende Umgebung im legendären Areal der ehemals «verbotenen Stadt» bei der Viscosuisse. Hier am Nylsuisse platz atmen die Backsteingebäude Industrie geschichte. Die Kreativwirtschaft blüht auf und ist inspiriert vom urbanen Leben in den Fabrika realen. «Emmenbronx» hiess eine Ausstellung in der Kunstplattform «Akku», in den ersten Kunsträumen der neuen Viscosistadt. «Emmenbronx» steht für ein Lebensgefühl, das Kreativität und Gestaltungskraft anregt und zulässt, weil hier in der Emmer Urbanität vieles offen, etwas wild, unfertig und veränderbar ist. Ein lebendiger und lebenswerter Ort für kreative Menschen jeden Alters. Ein Ort der Begegnung. Und ein wunderbares Zuhause für die Hoch schule Luzern – Design & Kunst mit ihrer Strahl kraft und ihren nationalen und internationalen
Vernetzungen. In Emmen wurde früher und wird heute und morgen geforscht, entdeckt und inter national vernetzt. Ein Nährboden für Kreative und die Kreativwirtschaft.
Visionen und Ziele In der Vision von «Emmen 2025» ist zu lesen: «Emmen bietet einen Lebensraum, in dem sich die Bevölkerung sicher fühlt und sich aktiv für das gesellschaftliche, sportliche und kulturelle Leben einsetzt.» Und Emmen will lebenswert sein: «Emmen nützt Innovationsprojekte in allen Bereichen (Wirtschaft, Bildung, Kultur, […]). Em men tauscht Wissen aktiv aus und bietet ihr Know-how Dritten zur Nutzung an. Emmen pflegt Freizeit- und Kulturinfrastrukturen mit Anzie hungskraft für Bevölkerung und Besucher.» In dieses Netzwerk sorgfältig eingebunden, wird nun die Hochschule Luzern – Design & Kunst zu ziehen. Die Zielsetzung des Gemeinderates im Legislaturprogramm 2013 bis 2016 lässt sich lei ten von der «Pflege kultureller Stärken und Ni schen». Die urbane Gemeinde fördert die musi
kalische Bildung, unterstützt die Stiftung Akku mit Kinderatelier und wirkt in der Regionalen Kulturkonferenz (RKK) mit.
Kulturleitbild 2025 Der Gemeinderat Emmen hat im Januar 2015 das neue Kulturleitbild Emmen 2025 in Kraft gesetzt. Im Fokus stehen ein neuer Start und eine neue Zusammenarbeit. Der Zuzug der Hochschule hat Bedeutung für Emmen und Auswirkungen auf die ganze Gemeinde. Emmen als Hochschulstandort hat etwas Visionäres und übertrifft die Zielset zungen der Gemeinde von 2004 um ein Vielfa ches. Damals wünschte sich Emmen ein Hoch schulinstitut. 2016 erhält Emmen ein ganzes Hochschuldepartement. Studierende beleben das Viscosiareal und die Gemeinde Emmen. Das Kulturleitbild 2025 hält fest: «Intensität entsteht durch Engagement. Em men ist ein aktiver Partner der Hochschule Luzern – Design & Kunst. Emmen öffnet Türen und zeigt Möglichkeiten. Emmen vernetzt und vermittelt. Die Hochschule in Emmen wird als beidseitige Chance verstanden. Emmen schätzt die vielfältigen Kultur- und Integrati onsträger ausserordentlich – seien dies nun Vereine, Private, Organisationen und Unterneh men, Schulen und Musikschule. Emmen unter stützt diese im Rahmen seiner personellen, fachlichen, organisatorischen und finanziellen Möglichkeiten als Partner im Dialog. Die vier Handlungsfelder im Kulturleitbild 1. Tradition, Ort, Geschichte: Emmen ist an ders – aus gutem Grund. Besonders weil sich Emmen so verändert, wie es sich im mer wieder verändert hat – wuchtig, mo dern, dynamisch – werden die Wurzeln sorgfältig gepflegt. 2. Frische und Aufbruch: Emmen verändert sich – mit unglaublicher Dynamik. Dies ermöglicht neue Räume und Spielräume. Emmen versteht sich als Supporterin un terschiedlichster Projekte, welche die Viel falt und Lebendigkeit von Emmen stärken. 3. Gemeinschaft und Treffpunkt: Emmen ist Brennpunkt – mit allem, was dazu gehört. Integration wird als Bedürfnis aller Emmer innen und Emmer verstanden. Der Wunsch nach Treffpunkt – ob Ort oder Anlass – wird aufgenommen. 4. Besonderes und Anderes: Emmen behält sich immer wieder die Möglichkeit offen für das Unerwartete, für Talente, für Ideen und betrachtet Kultur als Möglichkeit, die Wer te einer Gesellschaft zu verhandeln.
Emmen ist Schmelztiegel, Ort der Veränderung, ist Zentrum der Industriegeschichte, des immer neuen Aufbruchs. Emmen ist immer auch der Ort der Freiräume gewesen, wo Neues entste hen kann. Emmen ist der Ort, der sich selber immer wieder nach dem ‹Kern› sehnt – nach lokaler, räumlicher oder sozialer Verankerung.» Der Wunsch und die Sehnsucht nach Treffpunk ten und einer Belebung der identitätsstiftenden Industriegeschichte zeigte sich beispielsweise in der Verschiebung und Rettung des Tramhüslis samt Trafostation beim Central, am Eingang zur Viscosistadt. Für dieses Tramhüsli, einst Endsta tion der Tramlinie Luzern – Emmen, haben sich die Stiftung Tramhüsli, die Gemeinde Emmen, die Kantonale Denkmalpflege, die Viscosistadt AG und zahlreiche Private, Unternehmen und Insti tutionen engagiert. Der Gemeinderat, die Kulturkommission und die Emmer Bevölkerung freuen sich, dass die Do zierenden und Studierenden der Hochschule Luzern ein einladendes, hel les Gebäude am Fluss und beim Park beziehen dürfen und die kulturellen Visionen weiter Realität werden las sen. Wir freuen uns auf das spürbare und sichtbare Wir ken der Studierenden in Em men und von Emmen aus in die Welt. Ganz Emmen freut sich sehr und heisst die Hochschule Luzern – Design & Kunst willkommen in der Viscosistadt. Der Gemeinderat hofft, dass die Lehrenden und Lernenden der «Emmer Hoch schule» bald sagen werden: «Hier gefällt es uns!»
«Der Zuzug der Hochschule hat Bedeutung für Emmen und Auswirkungen auf die ganze Gemeinde.»
Susanne TruttmannHauri ist seit 2005 Gemeinderätin in Emmen. Sie führt die Direktion Schule und Kultur, ist seit 2011 Mitglied des Luzerner Kantonsrates und seit 2015 Fachhochschulrätin. An der Hochschule Luzern – Wirtschaft hat sie den MAS in Public Management erworben, zuvor war sie Praxislehrerin und unterrichtete auf verschiedenen Stufen der Volksschule sowie an mehreren Musik schulen. Susanne Truttmann war Mitglied des Emmer Einwohnerrates, der Synode der Evangelischen Kirche des Kantons Luzern und ist Mitglied mehrerer Stiftungsräte. Sie lebt seit 1962 in Emmen, weil ihr Vater damals in der Viscose eine Stelle als Ingenieur angenommen hatte.
→ Studentin des Bachelors Kunst & Vermittlung. Fotografie: Randy Tischler
Wir schreiben das Jahr 1992, ein Comicwettbe werb wird ausgeschrieben und die Arbeiten im Jugend-Kulturhaus Wärchhof ausgestellt. Zack – und schon ist’s passiert! Von diesem Moment an breitet sich der Fumetto-Virus von der Stadt Lu zern in rasendem Tempo über die ganze Welt aus, infiziert Künstler aus nah und fern, und steckt Abertausende von Zuschauenden an. Die Postkartenstadt am Vierwaldstättersee ist dem Festival nicht nur Wiege, Fumetto wächst und verändert sich zusammen mit dem Luzerner Stadtbild. Von den ersten Jahren an entwickelt es sich zu einem dezentralen Ereignis mit einem Dutzend Haupt- sowie Satellitenausstellungen. Die Kornschütte in der Altstadt etabliert sich bald als Festivalzentrum, gross genug, den wachsen den Besucherstrom aufzufangen und willkommen zu heissen. Angewiesen auf geeignete, temporär verfügbare Räumlichkeiten, ändert sich die geo grafische Situation des Festivals ansonsten stän dig. Alte Standorte werden aufgegeben und neue Alternativen für Ausstellungen, Podien und Be gleitprogramme gesucht. Einer breiten Unterstüt zung in der Bevölkerung, interessierten Partnern und dem flexiblen Wesen Fumettos ist es zu ver danken, dass daraus keine Not, sondern ein er frischendes Charakteristikum wird: Selbst hiesige Besucher und Besucherinnen entdecken immer wieder neue Winkel ihrer Stadt. Comix durch dringen Luzern über die Jahre hinweg durch und durch. Die BOA, Kinosäle, das Konzerthaus Schüür, das Picasso-, Natur- oder Kunstmuseum, die Seebadi, Kirchen, der Kesselturm, Motorschif fe, Industrieorte, der ehemalige Post-Tunnel, Ga lerien, die Kunsthalle, Ateliers, Boutiquen, Hotels, Bibliotheken, Bars, das Neubad und nicht zuletzt diverse Räumlichkeiten der Hochschule Luzern – Design & Kunst haben über das letzte Viertel jahrhundert zahllose Werke der Neunten Kunst beherbergt und so das Festival überhaupt ermö glicht. Im Gegenzug erbringt Fumetto eine vor allem breitgestreute Kommunikationsleistung, die durch grosses nationales und internationales mediales Interesse sowie rund 50'000 Besuche rinnen und Besucher garantiert wird.
Comix in allen Winkeln von Luzern Fumetto und seine Partner Jana Jakoubek
Immer wieder kommt es zu spektakulären Nutzungen von Räumen: Fumetto-Künstler und -Künstlerinnen durften 1993 die Kapellbrücke bespielen, das Frigorex-Areal bot bis im Jahr 2011 weiträumige Ausstellungshallen, und 2013 nahm Fumetto das ganze alte Hallenbad in Beschlag. Heute lässt die Wiederbelebung des ViscosiAreals in Emmenbrücke die Herzen der FumettoMacher höher schlagen. Die pittoresken Orte der Innenstadt will man zwar nicht missen – doch wenn die Comic-Avantgarde die Buchseiten ver lässt, dann braucht sie Platz – und der ist in den historischen Sälen der Luzerner Altstadt rares Gut. Jana Jakoubek ist in Prag geboren und studierte ebenda und in Zürich Kunstgeschichte und Germanistik. Auf dem Weg zu ihrer Promotion über tschechische zeitgenössische Kunst arbeitete sie in Rundfunk- und Fernsehredaktionen, im Theater auf und hinter der Bühne und in diversen Galerien. Seit 2012 ist sie als Künstlerische Leiterin bei Fumetto tätig, dem internationalen Comix-Festival in Luzern.
← Kornschütte von Ampel
→ Neubad von Anna Sommer → Wilder Mann von Max ↘ Schweizerhof von Henning Wagenbreth
↘ Fumetto in Luzern von Andreas Gefe ↓ Pilatus von Noyau
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Die Musik am Südpol von Kriens – Kunst und Design in der Visco sistadt in Emmenbrücke. Kann man sich etwas Provinzielleres ausdenken als gerade diese zwei auseinanderliegenden Orte draussen am ausfransen den Rand des Luzerner Stadtge bildes? Reisst man hier nicht zwei Bereiche auseinander, die zusammengehören? Müssen Kunst und Musik nicht im selben Atemzug gedacht sein und ist nicht gerade Design mit Blick auf künftige Formen musikali scher Aufführungen stark ge fragt? Zur Zeit der Abfassung dieser Zeilen sprechen alle von der «salle modulable»1 , vom gemeinsamen Ort, der Musik, Theater, Kunst, Tanz, Video und Design direkt verbindet. Vom Ort, an dem alles möglich ist, gegen alle Richtungen, unter Einbezug des Publikums und in jeder beliebigen künstlerischen Mixtur.
Der ewige Traum vom Gesamt kunstwerk Plädoyer für virtuelle Nähe Michael Kaufmann
Der Traum vom Gesamtkunstwerk und vom Raum, in dem alles möglich ist, ist indes uralt: Schon zum Ende des Mittelalters, sicher aber ab der Renaissance, suchen die Künstler und Musiker nach multifunktionalen Konzepten. Geistlichweltliche Mysterienspiele, mehrchörige Chor werke2 brechen das bisherige kirchliche Tabu der strikten liturgischen Unterordnung von Musik und
Szenerie, die Räume werden mehrdimensional bespielt. Claudio Monteverdi schreibt im 16. Jahr hundert die erste weltliche Oper3, in der instru mentale und vokale Musik kombiniert ist mit Tanz, mit ausgereiften Libretto-Texten, mit Bühnenbild, mit Décor. Und Georg-Friedrich Händel führt gut hundert Jahre danach die Gewitter- und Donner maschinen auf der Bühne ein4, analoge Techno
1 Der Begriff stammt vom Komponisten Pierre Boulez, der unter anderem von 2005 bis 2015 Leiter der «Academy» am Lucerne Festival war. 2 Erwähnt seien die mehrchörigen Vokalwerke von Giovanni Gabrieli (1557–1612). 3 Claudio Monteverdi (1567–1643) gilt mit Orfeo (1607) als eigentlicher Schöpfer der weltlichen Oper, und steuerte gleich vier weitere Opern bei. ↑ Noch deutet am Südpol in Kriens wenig darauf hin, dass hier der Neubau des Departements Musik zu stehen kommt. Fotografie: Michael Kaufmann
4 Georg Friedrich Händel (1685–1759) setzt oft Naturund Planetenszenen ein. U.a. in Orlando Furioso (1733). 5 Richard Wagner skizziert in seinem Essay Das Kunstwerk der Zukunft (1850) seine Sicht des «Gesamtkunstwerks» mittels dem er den Menschen «von unten her» in eine neue Weltsicht führen will. 6 Siehe dazu: Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Essay, 1935. 7 Fritz Lang, Metropolis, 1927: Dem Werk wurde bewusst sinfonische Musik von Gottfried Huppertz unterlegt. 8 Pink Floyd, The Wall 1979: Album, später als Film von Alan Parker. 9 Vgl. UNESCO, Kulturdefinition 1982.
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logie mit akustisch-visuellen Effekten. Im 19. Jahr hundert wiederum wird vor allem der musikalische Orchesterapparat massiv ausgeweitet. Hector Berlioz ist mit seinen orchestralen Grossbeset zungen der erste monumentale Klanghersteller. Und bald folgt als «Chefideologe» des totalen Kunstwerks Richard Wagner5: Er kreiert aus eigener Hand die umfassende Verbindung von Musik, Gesang, Text und Raum. Typisch dafür ist sein Konzept eines monumentalen Spielorts in Bayreuth. Das ist die architektonische Abwen dung vom damals überall gebauten bürgerlichen Konzert- und Opernhaus mit Guckkastenbühne, Orchestergraben und Zuschauerraum. Das zwanzigste Jahrhundert erweitert diese Gesamtkonzeption mit den neuen Medien: Foto grafie, Film, Radio und Fernsehen und ihre digi talen Nachfolger haben der Kunst und der Musik nochmals neue Dimensionen – aber auch Risiken für die künstlerische Aura6 – erschlossen. Bereits multimedial waren in den 1930er-Jahren die Film produktionen mit Live-Musik, unerreicht in die sem Genre der Stummfilm «Metropolis» von Fritz Lang7 , der in seiner dramatischen SchwarzweissBildsprache, kombiniert mit der dazu gespielten Orchestermusik, noch für heutige Zuschauende weit über das hinausgeht, was gängige 3-D-Film produktionen des 21. Jahrhunderts zu bieten haben. Nicht zu vergessen ist derselbe Ansatz in der Massenkultur des Pop. Früh in der Popgeschich te wird auf das Zusammenspiel von Musik, Bild, Text und Raum gesetzt. «The Wall» von Pink Floyd8 ist einer der ersten wuchtigen Versuche. Es folgen die Totalshows von Michael Jackson oder Prince, der Post-Broadway-Musicalhype mit Andrew Lloyd Webber, die Multimedia-Kunst von Laurie Anderson, die Musik-Natur-Text-Collagen von Björk. Profanisiert wird das alles im 21. Jahr hundert über die Youtube-Generation. Heute kann jeder und jede zu jeder Zeit und in jeder (Un-)Qua lität sein «Gesamtkunstwerk» in die virtuelle Welt des World Wide Web setzen. Trotzdem: Die Verbindung von Musik, Kunst, Design, Tanz, Text und digitalen Medien ist für heutige künstlerisch tätige Menschen unabding bar geworden. Wenn Kunst bedeutet, im umfas senden Sinne künstlerische Fragen und Antwor ten über die real existierende Welt zu reflektieren, dann kommt sie um diesen umfassenden Ansatz nicht herum, wenn auch der Begriff des Gesamt kunstwerks im heutigen Kontext nicht mehr ganz zutrifft.9 Vor allem aber muss sie diesen Ansatz radikal verfolgen. Radikal im Sinne des Wortes durch vertiefte Beschäftigung mit den Ursachen der Dinge und durch den Einsatz aller möglichen Me dien in der daraus folgenden künstlerischen Aus sage.
Musik- und Kunsthochschulen tun gut daran, dieser Ausgangslage Rechnung zu tragen und den kommenden Generationen von Studierenden entsprechende Rahmenbedingungen und krea tiv-multimediale Lernfelder zur Verfügung zu stel len. Disziplinäres Spezialistentum und künstleri sches Handwerk muss man von Grund auf lernen. Aber das sind lediglich selbstverständliche Grundbedingungen für den Schritt in die erwei terte, interdisziplinäre Beschäftigung mit den globalen Realitäten. Dazu stehen die jetzt in Luzern getrennten «Spielorte» für Design und Kunst und für Musik auf den ersten Blick im Widerspruch. In einer di gitalisierten Welt wird sich dies aber durchaus als nur scheinbarer Widerspruch herausstellen. Gerade die zwei Standorte Süd und Nord könnten sich erst recht als spannungsbildende Pole herauskristallisieren. Als Pole, zwischen denen in einer virtuellen Glasfaserkommunikation ge waltige Gigabytes an künstlerisch-musikalischer Substanz hin und her schwirren. Die beiden Pole könnten gegenseitig bespielt werden, gemeinsa me multimediale Module könnten Austausche nergien erzeugen: Zuhörende am Südpol sehen Bilder, die aus der Viscosistadt überspielt werden, jene dort in Emmenbrücke hören zum dort be trachteten Film die Musik live aus dem Südpol … Eigentlich, und hier das Plädoyer, bietet die heutige Welt alle Technologien und Dimensionen gesamtkünstlerischer Aktivität. Die geträumte «salle modulable», das Gesamtkunstwerk an einem einzigen physischen Ort, ist nicht allein auf reale Standorte oder Räume angewiesen. Solche haben selbstverständlich eine wichtige, sym bolisch-architektonische Bedeutung. Sie sind Denkorte, Lernfabriken, Ausguckposten, Begeg nungszentren. Virtuelle Nähe ist aber auch ohne diese «Hardware» in alle Richtungen herstellbar. Man muss es zwischen Süden und Norden funken lassen. Das ist nur eine Frage des Willens. Man muss es wollen. Dabei muss man auch nicht un bedingt den Standort wechseln. Sehr wohl aber den Standpunkt. Michael Kaufmann, Direktor Hochschule Luzern – Musik. Michael Kaufmann ist Ingenieur, Musiker, aktiver Kulturtäter und Publizist. Er beschäftigt sich mit Kulturpolitik und mit der Frage, inwieweit Kultur zur Bewältigung gesellschaftlicher Fragen nützlich ist.
Die Gemeinde Emmen verändert sich in rasantem Tempo. Zahlrei che grosse Bauprojekte sind in der Realisierungsphase. Eines der Entwicklungsgebiete liegt zwischen Kleiner Emme und Gerliswilstrasse: die sogenann te Viscosistadt. Ein über Jahr zehnte gewachsenes Konglome rat von Fabrikgebäuden soll sich in den nächsten Jahren vom Industrieareal zu einem vielfälti gen, attraktiven Stadtquartier mit einer gemischten Nutzung entwickeln. Bestehende charak teristische Industriebauten werden umgebaut und mit Neu bauten ergänzt. Im Zuge dieser Entwicklungen hätte auch das Tramhüsli dem Ausbau der Kan tonsstrasse weichen sollen. Dank dem Engagement der Stif tung Tramhüsli konnte dieser gebaute Zeuge der Verkehrsund Industriegeschichte im Juni 2015 um wenige Meter verscho ben und somit gerettet werden.
Gerettet! Die Verschiebung des Tramhüslis ↑ «Tramhüsli» vor Verschiebung, 2015 Foto: Pius Stadelmann
Cony Grünenfelder
Die Geschichte des Industrieareals begann 1906, als die «Société Suisse de la Viscose» mit der Kunstseidenproduktion auf der Emmenweid be gann. Die günstige Konjunktur der Nachkriegszeit schlug sich in einer regen Bautätigkeit der Visco se nieder. Bereits vor Ausbruch des Ersten Welt krieges beschäftigte die Viscose rund 800 Per sonen in Emmen. Mit der grossen Zahl der Beschäftigten ist es auch zu erklären, dass 1913 die Linie 2 der Tram bahn bis an den Centralplatz vor die Tore der Fa brikanlagen auf der Emmenweid verlängert wur de. Dort wurden 1926 eine Tramwendeschlaufe und 1927 eine «Tramwartehalle mit Transformat orenstation» errichtet. Auf den bewilligten Plänen, die mit «Jos. Lisibach, Bautechniker» unterzeich net sind, zeigt der polygonale Grundriss mittig die
↑ Das Tramhüsli stand der Verbreiterung der Gerliswilstrasse im Weg. Fotografie: Skypics
Verwendete Literatur: Yvonne Scheiwiller, Trafoturm – Turmtrafo. Schweizer Turmtransformatoren, Drahthüsli. Trafostationen – Hommage an eine Architekturform, die nicht mehr gebaut wird, Schwyz 2013. Sandro Sigrist und Jürg Aeschlimann, Trambahn der Stadt Luzern, Leissigen 1999. Arias-Industriekultur. Gemeinde Emmen. Industriekulturgut in Emmen, Winterthur 2001.
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Transformatorenstation mit einem vorgelagerten «Kiosk», die südlich von einer Toilettenanlage und nördlich von der Tramwartehalle flankiert wird. Das hohe Pyramidendach des eingeschossigen Dienstgebäudes wird von einem Transformato renturm durchstossen. Das Äussere ist der Archi tektursprache des Heimatstils verpflichtet. Die damaligen Nutzungen spiegeln sich auch im Öff nungsverhalten der Fassadenpläne wider. Später wurde die Fassade zur Gerliswilstrasse abgebro chen und als offener Busunterstand ausgebildet. So wird heute der eingeschossige verputzte Mas sivbau von einem Walmdach überspannt, das gegen Osten von Eisensäulen getragen als Un terstand vorkragt. Transformatorentürme sind Kleinbauten aus der Zeit der Elektrifizierung der Schweiz. Trans formatoren dienen der Spannungsumwandlung, entweder um den im Kraftwerk hergestellten Strom von einer hohen Spannung auf eine für den Endverbrauch geeignete niedrigere Spannung umzuwandeln oder umgekehrt. Trafostationen mussten aus Sicherheitsgründen umhüllt werden. Die Aufgabe, diese technischen Anlagen archi tektonisch zu gestalten, führte zu einer Fülle von Transformatorentürmen. Ein typologischer Spe zialfall, eine äusserst seltene Kombination von Transformatorenturm, Abortanlage, Kiosk und Tramwartehalle steht noch heute auf dem Cent ralplatz in Emmenbrücke. Dieser Trafoturm erinnert an die Elektrifizierung der Fabrikanlagen auf der Emmenweid und schafft einen direkten Bezug zur Viscosistadt. Das Tramhüsli hat ausserdem einen «grossen Bruder» auf der Emmenweid. Ein gegen 25 Meter hoher Transformatorenturm steht zentral über der Tor einfahrt, die ins Areal führt. In der Art eines mit telalterlichen Stadttores wird der Transformato renturm westlich und östlich von Bürobauten flankiert. Der charakteristische Turm bildet den Kern der monumentalen Eingangssituation des Werks Emmenweid. Die im Grössenvergleich dazu eher beschei dene Tram- und Transformatorenstation am Centralplatz gehört zu den wenigen erhaltenen Zeugen der 1901 eröffneten und 1961 eingestellten
Trambahn der Stadt Luzern. Das architektonisch interessante Gebäude, mit seinem dem Heimat stil verpflichteten Erscheinungsbild, ist von ho hem lokalgeschichtlichem Wert und bildete über Jahrzehnte für die Emmerinnen und Emmer das Tor zur Welt. Als markantes Wahrzeichen an der Gerliswilstrasse prägt es den Strassenverlauf und gibt dem Ort ein unverwechselbares Gesicht. In Zukunft soll der typologisch aussergewöhnliche Bau einerseits als Begegnungsort und anderer seits als Bushaltestelle genutzt werden. Im April 2015 wurde die Stiftung gegründet, welche die Finanzierung für die Verschiebung sicherte und auch die Verantwortung für die Sanierung und den Betrieb übernehmen will. Die Kantonale Denkmalpflege unterstützte die Verschiebung mit einem finanziellen Beitrag und wird sich auch an der fachgerechten Restaurierung beteiligen. Als eine Art Wegmarke wird die Kleinbaute das Eingangstor in die Viscosistadt markieren und somit eine Verbindung herstellen. Baudenkmäler wie das Tramhüsli sind gebaute Vergangenheit. Als Teil unserer Geschichte stiften sie Identität. In Zeiten, in denen sich die gebaute Umgebung einschneidend verändert, ist es besonders wich tig, Zeugen der Vergangenheit zu erhalten, um einen spannenden Dialog zwischen der industri ellen Vergangenheit und den aktuellen städte baulichen und architektonischen Entwicklungen der Gegenwart zu schaffen. Cony Grünenfelder absolvierte ihr Diplom in Architektur an der Hochschule Luzern – Technik & Architektur und verfügt über einen Master-Abschluss in Denkmalpflege der Berner Fachhochschule. Nach 14-jähriger Tätigkeit als Architektin mit Schwerpunkt Bauen im Bestand leitete sie von 2007 bis 2010 das Ressort Denkmalpflege und Kulturgüterschutz in der Stadt Luzern. Seit 2010 ist sie Kantonale Denkmalpflegerin.
«Zusammen arbeit be deutet neues Potenzial, mehr Köpfe, die mit denken.» Fanni Fetzer im Gespräch mit Eveline Suter
Eveline Suter: Was interessiert dich als Direktorin des Kunstmuseums Luzern an deiner Aufgabe? Fanni Fetzer: Obwohl das Kunstmuseum ein mittelgrosses Haus in einer mit telgrossen Schweizer Stadt ist, hat es mit der Zentralschweiz ein riesiges Ein zugsgebiet. Natürlich verfügen wir nicht über die gleichen finanziellen Möglich keiten wie die Institutionen in grösseren Schweizer Kunstmetropolen, dafür aber über grössere thematische Freiheiten. Dies geht auf Jean-Christophe Ammann zurück, der in den 1970er-Jahren als erster Direktor ungesicherte Positionen zeigte, wie das davor nur Kunsthallen taten. Wir bauen auf diese 40-jährige Tradition der Avantgarde. Das heisst, wir zeigen nicht Picasso und auch nicht Josef Beuys, sondern den neuen, zukünftigen Beuys. Eveline Suter: Welche Aufgaben hat das Kunstmuseum Luzern? Fanni Fetzer: Wir haben verschiedene Aufgaben. Erstens: Sammeln. Im Ge gensatz zu Kanton und Stadt Luzern sammelt das Kunstmuseum nicht in die Breite, sondern in die Tiefe, das heisst, Werke von Zentralschweizer Künstlerin nen und Künstlern, die international bekannt sind. Zweitens: Ausstellen. Ich sehe es als meine Aufgabe, die Sammlung – die ja auch ein visuelles Archiv dieser Region ist – zu präsentieren, aber das Publikum auch mit neuen, aktuellen Po sitionen zu konfrontieren. Drittens: Vermitteln. In diesem Bereich steht das Kunstmuseum dank dem Engagement meines Vorgängers an der Schweizer Spitze. Vom Kindergarten bis zur Seniorenuniversität bieten wir für alle etwas an. Die vierte Aufgabe, das Bewahren, wird nach aussen kaum wahrgenommen, aber ohne stete konservatorische Betreuung und Restaurierung entsteht mit den Jahren grosser Schaden.
Eveline Suter: Was ist besonders spannend, was besonders schwierig für dich als Direktorin des Kunstmuseums Luzern? Fanni Fetzer: Als grösste Kulturinstitution in Luzern sind wir ein interessanter Kooperationspartner und kommen mit vielen anderen Institutionen in Kontakt, mit dem Lucerne Festival, dem Fumetto, dem Manor-Preis, der städtischen Kunstpublikation, mit der Universität und den Hochschul-Departementen Design & Kunst, Technik & Architektur, Soziale Arbeit und der Pädagogischen Hoch schule Luzern. Zusammenarbeitet bedeutet neues Potenzial, mehr Köpfe, die mitdenken. Das ist das Schöne an Luzern. Das Schwierige an Luzern ist, dass es als Musikstadt gilt. Das Lucerne Festival bindet mit seinem erstklassigen Renommee viel Aufmerksamkeit und finanzielle Ressourcen, aber eigentlich ist Luzern auch visuell stark. Die Hochschule Luzern – Design & Kunst besitzt eine Tradition des kreativen, handwerklichen Schaffens. Und dann die katholische Bilderwelt: Während der Reformation sind Künstlerinnen und Künstler aus den protestantischen Gebieten nach Luzern geflüchtet. Luzern könnte also ebenso für seine visuelle Seite bekannt sein, erst recht mit der schönen Landschaft und den vielen fotografierenden Touristinnen und Touristen. Es ist eine Herausfor derung, diesen Aspekt wieder mehr ins Bewusstsein zu bringen. Eveline Suter: Welche konkreten Berührungspunkte gibt es zur Hochschule Luzern – Design & Kunst? Fanni Fetzer: Wir kooperieren beispielsweise bei den Bachelor- und Master-Stu diengängen, mit denen wir spezielle Vermittlungsformate für das Kunstmuseum wie Studentenfutter oder Camp entwickeln. Insofern ist das Kunstmuseum das Praxisfeld für die Studierenden. Wir freuen uns zudem, wenn Absolventinnen und Absolventen an der Jahresausstellung teilnehmen und nehmen ihre Arbei ten bei Gelegenheit gerne auch in Gruppenausstellungen auf. Wichtig ist der kontinuierliche Austausch auf allen Ebenen: Brigit Meier und Heinz Stahlhut aus unserem Team unterrichten Fachdidaktik und ich bin im Beirat der Hochschule Luzern – Design & Kunst. Hinzu kommen punktuelle Projekte. Zum Jubiläum der Hochschule Luzern – Design & Kunst 2017 organisieren wir beispielsweise ge meinsam mit der Kunstplattform akku eine Ausstellungsreihe. Eveline Suter: Dieses Heft thematisiert auch den Umzug der Hochschule Luzern – Design & Kunst ins Viscosi-Areal in Emmenbrücke. Was bedeutet diese Verän derung für das Kunstmuseum? Fanni Fetzer: Wir sind sehr gerne in diesem bedeutenden Gebäude zwischen Bahnhof und See, aber wir sind auch ein bisschen neidisch auf die Hochschule. Fanni Fetzer, 1974 in Chur In der Viscosistadt erhält sie nicht nur grosszügige Räume, sondern eine histo geboren, ist seit Oktober 2011 Direkrische Architektur, die sie mit neuen Inhalten und Geschichten füllen kann. Viel torin des Kunstmuseums Luzern. leicht gefällt der neue Standort am Stadtrand jetzt noch nicht allen, aber ich bin Zuvor war sie Leiterin des Kunsthauüberzeugt, dass sich Luzern in diese Richtung weiterentwickelt. Für mich ist die ses Langenthal (2006–2011) und Viscosistadt jedenfalls zentral und mit dem Velo oder der S-Bahn auch sehr Redakteurin bei der Kulturzeitschrift schnell zu erreichen. Du (1998–2004). Ihre kuratorische Tätigkeit wurde mit dem Eidge nössischen Preis für Kunsträume (2009, 2010, 2011) sowie dem Eidgenössischen Preis für Kunstver mittlung (2009) ausgezeichnet. 2011 erhielt sie das London-Stipendium der Landis + Gyr Stiftung. Fanni Fetzer ist Beirätin der Hochschule Luzern – Design & Kunst. Eveline Suter ist freie Autorin und Kunstkritikerin sowie Mitar beiterin Kommunikation und Projekte am Kunstmuseum Luzern.
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Das 21. Jahrhundert ist geprägt von rasant fortschreitenden Entwicklungen, unmittelba rer Verfügbarkeit von Informationen jederzeit und überall, lokalen und globalen Herausfor derungen sowie von tiefgreifenden Verände rungen in Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur. Wir verfügen heute über eine kaum überschaubare Vielfalt an Angeboten, Produk ten und Dienstleistungen, die uns unzählige Möglichkeiten bieten. In dieser Situation kann man leicht den Überblick verlieren, wird von Strömungen erfasst und schlängelt sich ent spannt und gut unterhalten durchs Leben. Andererseits bieten sich Chancen, aus dem Strom auszubrechen oder diesen in neue Bah nen zu lenken. Science-Fiction-Filme antizipieren unsere Zukunft auf der Basis des heutigen Wissens standes, ergänzt mit visionären Vorstellungen und unkonventionellen Kombinationen. Der Film «Back to the Future» aus dem Jahr 1985 hat für das Jahr 2015 einige Technologien ge zeigt, die heute Realität sind oder in Laborum gebungen funktionieren. Die Omnipräsenz der Telekommunikation ist in diesem Film dagegen nicht einmal ansatzweise enthalten.
Kreative Ener gie generieren Interdisziplinarität Informatik und Design René Hüsler
Welche Möglichkeiten haben wir, um einen Bei trag für die Entwicklung von Wirtschaft, Gesell schaft und Kultur zu leisten? Wie bringen wir die richtigen Personen zusammen, damit Neues entsteht? Neben der Expertise in der eigenen Disziplin als zwingende Voraussetzung ist Inter disziplinarität ein geeignetes Instrument, um Fragestellungen gesamtheitlich zu betrachten, Grenzen zu überschreiten und Nutzen stiftende Lösungen zu realisieren. Interdisziplinarität steht hier für ein kooperatives und kreatives Miteinan der, setzt gegenseitiges Verständnis voraus und erfordert den Respekt der anderen Disziplinen. Die Hochschule Luzern hat in der Vergangenheit
mehrfach erfolgreich gezeigt, dass sie in der Lage ist, durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit auch über Departementsgrenzen hinweg einen Mehrwert für alle Beteiligten zu generieren und Verblüffendes zu schaffen. Als Beispiel können die interdisziplinären Schwerpunkte genannt werden, die viel Sichtbares realisiert haben und sowohl innerhalb der Hochschule Luzern als auch mit externen Partnern sehr gut vernetzt sind. An diese Tradition schliesst das neue Studienange bot Digital Ideation der Departemente Design & Kunst und Informatik nahtlos an und wird die Er folgsgeschichte um ein weiteres Kapitel ergänzen.
↑ Zwei Studentinnen des Bachelors Kunst & Vermittlung mit ihrer digitalen Abschlussarbeit. Fotografie: Andri Stadler
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Die Informatik beeinflusst unser tägliches Leben immer stärker und ist nicht mehr wegzudenken. Die Informations- und Kommunikationstechnolo gien verbinden uns permanent miteinander und ermöglichen den Zugriff auf eine kontinuierlich wachsende Informationsmenge. Diese Entwick lungen sind stark von Technologien getrieben, die Komplexität und Integration nimmt stetig zu und die Produkte werden frühzeitig auf den Markt ge bracht, um Positionen zu beziehen. Häufig wer den die potenziellen Benutzerinnen und Benutzer oder entsprechende Spezialistinnen und Spezi alisten bei der Entwicklung nicht mit einbezogen – grosses Potenzial wird nicht genutzt. Die Inter aktion respektive die Bedienbarkeit wird in Zu kunft auch aufgrund des steigenden Wettbe werbs ein wichtigeres Kriterium und über den Erfolg entscheiden. Die Kombination von Design und Informatik ist unter diesen Bedingungen eine grundlegende Voraussetzung, um das gewünsch te Erlebnis (User Experience) bei der Benutzung zu erreichen, aber auch um neue, unbekannte Wege zu beschreiten. Design hat sich in den letz ten Jahren ebenfalls stark entwickelt und an Viel falt markant zugelegt. Entwicklungen und neuar tige Technologien bieten Möglichkeiten, die ganz neue Erlebnisse ermöglichen und Interaktionen erlauben, die weit über das Visuelle, Akustische, Olfaktorische und Haptische hinausgehen. Kreativität und Innovationskraft sind in den Disziplinen Informatik und Design präsent und nicht der Kombination dieser beiden vorenthalten. Damit sich diese Kreativität bei der interdiszipli nären Zusammenarbeit von Informatik und Design verstärkt entfalten kann, darf die eine Disziplin der anderen nicht einfach als «Dienstleister» zur Verfügung stehen. Das heisst, Informatik ist nicht nur ein Werkzeug, damit die Designideen umge setzt werden können, sondern das Werkzeug «Informatik» reagiert auf das Design und intera
giert adaptiv mit den Bedürfnissen des Designs und umgekehrt. Die zunehmende Komplexität, die Immersion und das Bedürfnis der nahtlosen Integration bedingen eine intensivere Zusammen arbeit von Design und Informatik, damit akzep tierte und zukunftsfähige Lösungen entstehen. Dieses Prinzip des kooperativen Miteinanders und des konstanten Hin und Hers ist neben der intensiven Projektarbeit eines der Grundprinzipi en des neuen Studienangebots Digital Ideation. Die starke Verzahnung von Theorie und prakti scher Anwendung mit der Realisierung von funk tionierenden Prototypen wird den Studierenden ein umfassenderes Verständnis vermitteln. Mit diesen Erfahrungen sind unsere Absolvierenden optimal auf den Berufseinstieg vorbereitet, wer den prägend agieren und erfolgreiche Lösungen realisieren, was ihnen interessante Berufschan cen bieten wird. Die Grundlagen sind geschaffen, damit etwas Einmaliges entstehen kann, das Zeichen setzen wird. René Hüsler ist Direktor der Hochschule Luzern – Informatik. Der Vater von zwei erwachsenen Töchtern erwarb den Doktortitel an der ETH Zürich im Bereich Elektrotechnik. Er arbeitete während mehr als 15 Jahren als Software-Ingenieur, Projektleiter sowie als Gruppen-, Abteilungs- und Bereichsleiter und ist seit 2002 in verschiedenen Funktionen an der Hochschule Luzern tätig.
Oper in Luzern Nord Das Potenzial von Industriearealen für die Künste Benedikt von Peter
Ich bin im Rheinland, nicht weit vom Ruhrgebiet gross geworden und schon als Kind haben mich Industrieanlagen fasziniert. Als ich 24 war, habe ich als Assistent von Gerard Mortier die erste Auf lage der Ruhrtriennale vorbereitet. Mit der Grün dung der Kultur-Ruhr GmbH wurde die kulturelle Nachnutzung alter Zechen, Industriebrachen und Industriedenkmäler Wirklichkeit. Die Jahrhundert halle in Bochum, eine Industriekathedrale, ist jetzt eine Kunstkirche. Die Viscosistadt habe ich bei meinem zweiten Besuch in Luzern besichtigt und mich gleich zu Hause gefühlt. Das Areal erzählt Geschichte, un sere Geschichte eines industriellen Zeitalters, in der Menschen mit ihren Händen und im Kontakt zu Maschinen «wirkliche Dinge» hergestellt ha ben. Auch das Theater stammt aus einem manu fakturellen Zeitalter, aus einer Zeit der Körper- und Handarbeit. Und entgegen aller Rationalisierungs bestrebungen bleibt es in seinen Arbeitsformen menschenbasiert. Jetzt soll sich in der Viscosistadt eine neue Gesellschaft bilden. Die Hochschule Luzern – Design & Kunst wird in Emmenbrücke in die Zu kunft und zurück blicken, und die Kreativwirt schaft soll von der Patina vergangener Zeiten angelockt werden. Auch wir sind Teil der Zukunft von Luzern. Und wir wollen Luzern kennenlernen, neue Räume erobern, dort nach der Faszination des Neuen in Verbindung mit dem Alten suchen. Dort, wo unsichtbare Grenzen verlaufen und Be zirke entstehen, die vielleicht noch nicht oder wenig im Bewusstsein der Luzerner sind. Deshalb gehen wir mit nach Norden und spie len Verdis «Rigoletto» in der Pilothalle, einem alten industriellen Bau. Dort, wo Garn für Strümp fe hergestellt wurde, erzählen wir die Geschichte des Mädchens Gilda, das zwischen ihrem alten Vater Rigoletto und ihrem jungen Liebhaber, dem namenlosen Duca, gefangen ist. Rigoletto ist Hof narr und ein Repräsentant der alten Ordnung, ei nes Gefüges, das sich auflöst – er ist aus der Zeit
gefallen, denn nun ist die neue Generation, sind die Ducas am Zug. So droht Rigoletto das Teuers te zu verlieren: Gilda – an die Gegenwart und an die Liebe des Ducas. Ich hoffe, dass man diese Melancholie des Stof fes und eines «Aus-der-Zeit-gefallen-Seins» dort in der Industriestadt, dem Viscosi-Areal, spüren wird – dort, wo gerade noch eine andere Zeit geherrscht hat, eine andere Zeit mit anderen Gesetzen und wo jetzt eine neue Welt entsteht, ein neuer Hofstaat einzieht mit anderen Regeln. Hier ist kein Platz mehr für Rigolettos. Auch die Pilothalle wird abgerissen werden, wenn unser Projekt vorbei ist, in ihrer Individualität und Un verwechselbarkeit und mit all den Maschinen, die das Garn hergestellt haben, das Garn für Da menstrümpfe. Aber für die Zeit der Vorstellungen wird es sie noch geben, die Pilothalle, und: die Maschinen. Alexander Kluge bezeichnet die Oper als ein «Kraftwerk der Gefühle», und unsere Halle mit ihren Maschinen ist das Büh nenbild zu Kluges Beschreibung. Ne ben diesen Maschinen wird das Or chester wie im Bauch eines grossen Schiffes sitzen und in Betrieb sein. Und das Medium des Kraftwerks Oper wird man dann ganz nah spüren, vielleicht näher, als es in einem Theater über haupt möglich wäre. Mittendrin wird man sein, im Klang der Partitur von Verdi, mittendrin in dieser grossen Ma schine Oper, und sich als Kollektiv spü ren, als ein in der Geschichte Luzerns anwesendes Kollektiv. Wir haben unsere laufende Spielzeit mit «Prometeo» von Luigi Nono eröff net. Ein alter Nono – ehemaliger Kom munist und Komponist auch von «La fabbrica illuminata», das er den Arbeitern von Genua gewidmet hat – blickt in seinem Spätwerk «Prometeo» zurück. Er blickt zurück auf ein
«Auch das Theater stammt aus einem manufakturellen Zeitalter, aus einer Zeit der Körper- und Handarbeit.»
machen oder gar zu verändern. «Prometeo» aber spielen wir an unserem Hauptstandort im his torischen Zentrum Luzerns, ganz im Herzen der Stadt. Und doch ist auch dieses Stück eine Re verenz an das industrielle Luzern. Unser Anfang in der Oper ist also ein Blick zurück, auf eine andere Zeit, auf das aus der Zeit Gefallene. Und damit verknüpft auch ein Auf bruch, ein Neubeginn – für unsere Zeit in Luzern und eine neue Zeit in Emmenbrücke. All das ist für mich verknüpft mit «Rigoletto in der Viscosistadt» und der kulturellen Umnut zung dieses Areals. Und ich freue mich darauf, mit den Luzernerinnen und Luzernern zurück und nach vorne blicken zu dürfen. Benedikt von Peter *1977, ist seit August 2016 Intendant des Luzerner Theaters. Als Regisseur ist er an Bühnen wie dem Theater Basel, der Oper Frankfurt, der Deutschen und der Komischen Oper Berlin tätig. Seine Inszenierungen wurden zu den Wiener Festwochen und dem Holland Festival eingeladen. Von Peter ist Träger mehrerer Theaterpreise.
↑ Benedikt von Peter und sein Team am Spielort von «Rigoletto». Fotografie: Ingo Höhn
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20. Jahrhundert, das ihm zerrissen und zerstört scheint durch die Folgen der Kriege und einer un bedingten Fortschrittsgläubigkeit, einem indus triellen und geistigen Optimismus. Nono ist zu dem Zeitpunkt, wo er «Prometeo» schuf, politisch resigniert. Er hofft nicht mehr auf den Kommu nismus, sondern nur noch, dass die Musik selbst heilen, dass sie dieses 20. Jahrhundert trans zendieren und in eine bessere Zukunft überführen möge. Auch Nono ist wie Rigoletto ein ohnmäch tiger alter Mann, der mich tief berührt, weil er festhält und ringt, weil er versucht, in einer un übersichtlich gewordenen Welt durch Kunst produktion oder durch Gesang etwas fühlbar zu
Postdigitale Materialität Textile Materialforschung rßckt ins industrielle Umfeld Andrea Weber Marin
← Ausschnitt des Eventpavillons aus dem KTI-Projekt «Stoffwechsel» Fotografie: Markus Käch, Hochschule Luzern
Viscose war die Innovation im Textilbereich in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Als «Kunst-Seide» und erste synthetisch hergestellte Textilfaser eroberte sie schnell den Markt und ermöglichte es, textile Fasern mit definierten Spe zifikationen herzustellen und dem Bedarf entspre chend die notwendigen Mengen zu produzieren. Vorher wurden ausschliesslich natürliche Fasern für die Textilproduktion eingesetzt wie Baumwol le, Leinen, Wolle und Seide. Die Schweiz war da mals wie heute punkto Innovation gut aufgestellt und produzierte auf dem Viscosi-Areal jahrelang Viscose und prägte damit eine Generation von Arbeitern, Anwohnerinnen, Konsumenten und Modemacherinnen. Die Viscose hat den Trend zu künstlich hergestellten Textilien nur eingeläutet, heute gibt es eine grosse Vielfalt und Innovations potenzial in diesem Materialbereich sowohl in der Produktion, in der Kombination als auch in der Anwendung. Die Hochschuldepartemente Technik & Archi tektur und Design & Kunst haben sich das ge meinsame Thema Materialität auf die Fahne ge schrieben. Die Absicht ist, dass in erster Linie die Fachgebiete Design, Kunst, Architektur und Ma schinentechnik die Thematik inter disziplinär bearbeiten und dabei inno vative Forschungsfragen und Anwendungsszenarien entwickeln. Der Start punkt für die Kollaboration ist das Thema Textile Architektur, des Com petence Centers Products & Textiles und der Forschungsgruppe Materialität und Struktur in der Architektur. Die Vi sion ist, textile Materialien nicht nur dekorativ, sondern auch funktionell und konstruktiv im Gebäude einzusetzen. Das Potenzial ist gross: Es besteht eine Vielfalt an hochtechnischen Textilien, die unterschiedlichste Zusatzfunktio nen aufweisen, man denke nur an den Sportbereich und den Automobilsektor. Ein erstes interdisziplinäres Projekt wurde von der Kommission für Tech nologie und Innovation KTI gefördert und hatte zum Ziel, die Machbarkeit einer textilen Fassade nachzuweisen. In diesem Projekt hat das interdisziplinäre Team in erster Linie viel über sich selbst herausgefunden und damit überhaupt eine fruchtbare Zusammenar beit möglich gemacht. Es stand bei diesem Pro jekt die Forschungsfrage im Zentrum, ob eine selbst-tragende textile Fassade in der Höhe eines Geschosses möglich ist. In ausgedehnten syste matischen Versuchsreihen arbeiteten Architekt und Designerinnen an Modellen, die das Zusam menspiel von textiler Hülle, Füllung und stabi lisierenden Konfektionselementen erforschten. Resultat nach einem Jahr war ein mehrschichti
«Die Vision ist, textile Materi alien nicht nur dekorativ sondern auch funktionell und konstruktiv im Gebäude einzusetzen.»
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ges textiles Wandsystem aus PVC beschichtetem Polyestergewebe, das über eine stabilisierende Struktur von konfektionierten Kammern mit un terschiedlichen Füllstoffen verfügte, und auf dem Fassadenprüfstand getestet wurde. Die Wand hielt dem Schlagregen, Wind und Druck stand. Basierend auf diesen ermunternden Resultaten wurde ein zweites KTI-Projekt an die Hand genommen, das die Entwicklung eines textilen Eventpavillons und eines Systems für eine innere und äussere textile Dämmung vorsieht. Zum ers ten Mal bauten Ingenieure, Architektinnen und Designer gemeinsam auf dem Campus der Hoch schule einen Ausschnitt des Eventpavillons im Massstab 1:1, der auf einem patentierten Kons truktionsprinzip beruht, das im Projekt entwickelt wurde. Das textile Innendämmsystem wurde in einer Lagerhalle der HP Gasser in Lungern umge setzt und analysiert. Die Zusammenarbeit und gemeinsame Entwicklung im Materialbereich direkt mit Firmen in der Region ist unser Kernanliegen. Dies werden wir einerseits mit der engeren internen Zusammen arbeit über die Departementsgrenzen hinweg im gemeinsamen Thema Materialität realisieren und andererseits dadurch, dass wir mit der For schung noch näher zur produzierenden, gestal tenden und planenden Praxis rücken – wie eben in die Viscosi. Andrea Weber Marin ist Vizedirektorin an der Hochschule Luzern – Technik & Architektur und mit einem kleinen Pensum in der Textilforschung des Departements Design & Kunst tätig. Sie hat an der ETH Umweltnaturwissenschaften studiert und im Bereich Betriebs- und Produktions wissenschaften doktoriert. Anschlies send hat sie in der textilchemischen Industrie gearbeitet, bevor sie an der Hochschule Luzern tätig wurde.
EM2N Master plan und 745 Viscosistadt Daniel Niggli
Vor Ort
Schönheit? Die Stadt ist immer das Eine und gleichzeitig das Gegenteil davon: rational und irrational, schön und hässlich, geordnet und ungeordnet. Für uns vom Architekturbüro EM2N besteht allerdings nicht per se eine kausale Beziehung zwischen schöner oder guter Architektur und einer schönen
↗ ← Bau 745. Fotografie: Randy Tischler
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oder guten Stadt. Die Schönheit einer Stadt be ruht nicht primär nur auf der Schönheit ihrer Objekte, der Vollkommenheit ihrer öffentlichen Räume oder ihrer gelungenen landschaftlichen Einbettung. Es gibt Städte, die nur wenige her ausragende Monumente vorweisen können und wo das Gewebe der Stadt, oder die öffentlichen Räume, keine nennenswerten architektonischen Qualitäten aufweisen. Trotzdem besitzen viele dieser Städte eine andere Art der Schönheit, bei spielsweise eine Aura der urbanen Dynamik und Vitalität, einer unmittelbaren Rohheit und Authen tizität oder eine Atmosphäre von ungehemmter Produktivität und Aneignungsfähigkeit. Die emo tionale Beziehung zu diesen Städten stellt sich in diesen Fällen nicht über die visuelle Schönheit ihrer Oberflächen ein, sondern entsteht über die Ereignisdichte und Virilität des Lebens. Anders formuliert: Diese Städte können «performen». Nun, im landläufigen Sinne betrachtet, werden wahrscheinlich nur wenige Aussenstehende Em menbrücke als schön bezeichnen. Emmenbrücke verzeichnete mit der Industrialisierung eine stetig wachsende Bevölkerungsentwicklung. Zusam men mit der Automobilisierung und dem Ausbau des S-Bahn-Netzes ergaben sich daraus starke Entwicklungsschübe. So ist Emmen beinahe un bemerkt in die Grössenordnung von Städten wie Zug oder Sion vorgestossen. Diese Entwicklung fand räumlich jedoch keine adäquate Entspre chung. Anstelle einer konzentrierten, urbanen Siedlungsentwicklung bildeten sich dezentrale Schwerpunkte, wie der östlich liegende ursprüng liche Dorfkern, die «Einkaufsmeile» entlang der
Gerliswilstrasse, die am Ufer der Emme «ange spülten» Industriebetriebe, das Verwaltungszen trum, der Militärflughafen, die Shoppingcenter und Wohnsiedlungen der 1960er-Jahre und eini ge andere mehr. Der räumliche Charakter des Gemeindegebiets wird also durch ein loses Ge flecht aus verstreuten und weitgehend bezie hungslosen öffentlichen Infrastruktu ren und heterogenen Quartierstrukturen bestimmt. Und so lassen sich – im Ge gensatz zum nahen Luzern – auch kein gewachsenes Zentrum oder keine iden titätsstiftenden öffentlichen Räume finden, sondern lediglich einzelne ur bane Versatzstücke. Als typische Agglomerationsgemeinde ist Emmenbrü cke ein (zu) grosses Dorf, das (noch) nicht zu einer richtigen Stadt wurde. Oder vielleicht auch nie zu einer wer den wollte … Es kann hier nun aller dings nicht darum gehen, mögliche Konflikte zwischen Zentrum und Peri pherie oder zwischen Dorf und Stadt in den Vordergrund zu stellen. Vielmehr sollten die vielgestaltigen Chancen der Agglomerationsgemeinden im Vordergrund ste hen. Im Gegensatz zu gewachsenen Städten näm lich, deren Zentren in ihrer Entwicklung durch die Dominanz der «gehegten und gepflegten» Ge schichte oft eher gehemmt agieren müssen, ha ben Gemeinden wie Emmenbrücke das Potenzi al, radikal in die Zukunft denken zu können. Als eigentliche Möglichkeitsfelder ergänzen sie damit die Zentren und sind komplementärer Bestandteil für ein produktives Zusammenwirken.
Neues Altes Zentrum Wir können das ehemalige Monosuisse-Areal (heute Viscosistadt) im besten Sinne des Wortes als eine eigentliche Stadt in der Stadt beschrei ben – eine Qualität, die bei vielen ähnlichen In dustriearealen an anderen Orten in der Schweiz ebenfalls zu finden ist. Die Vielfalt der unter schiedlichen Volumina, Gebäudetypologien und einer überwiegend muralen Materialisierung er zeugt differenzierte Stadträume mit einer überaus urbanen Atmosphäre – und dies an verkehrstech nisch bester Lage. Dazu kommt ein grosses un ausgeschöpftes Potenzial direkt nebenan: der Flussraum der Emme. Diese Grundanlage eignet sich hervorragend, um aus dem Vorhandenen heraus in einer Serie von inkrementellen Schritten mitten in Emmen ein neues Zentrum entstehen zu lassen. Vier zentrale Thesen aus dem von EM2N erarbeiteten Masterplan orchestrieren da bei den städtebaulichen Transformationsprozess:
1. Zentrum aktivieren und vernetzen Das zentral zwischen Emme und Bahnhof lie gende Monosuisse-Areal hat im Zusammen spiel mit den laufenden Planungen für das Zentrum Nord das Potenzial, ein neues räum liches Zentrum für Emmenbrücke zu etablieren. Mit seinen öffentlichen Räumen und seiner zukünftigen Durchlässigkeit vernetzt das Mo nosuisse-Areal die umgebenden Quartiere untereinander wie auch mit dem neuen Bahn hof.
2. Stadt am Fluss Emmen weist einen Mangel an öffentlichen Freiräumen auf und liegt heutzutage eher be ziehungslos an der Emme. Das MonosuisseAreal bietet nun die historische Chance, dies zu ändern. Hier, im zukünftigen Herzen von Emmenbrücke, kann die Emme zu einem inte gralen Teil des Stadtraums werden. Ein quali tätsvoller, parkartiger und naturnaher Fluss raum bringt Emmenbrücke an seinen Fluss.
3. Industrielle Identität
gewünschte organische Weiterwachsen erfolgen soll, um ein selbstverständliches Nebeneinander von Alt und Neu zu garantieren. An öffentlichen Strassen, Gassen und Plätzen liegen private Par zellen. Über die abgestufte Höhenentwicklung in den Baubereichen soll insbesondere entlang der Emme und der Gerliswilstrasse auch in Zukunft an der differenzierten baulichen Silhouette wei tergebaut werden. Zwei Hochpunkte (max. 35 m) am Centralplatz und im Park verorten die neuen öffentlichen Räume. So wird ein städtebaulich geordnetes, aber differenziertes Gesamtbild er reicht – weg vom Gestus einer homogenen, gross massstäblichen Gesamtüberbauung hin zu einem gewachsenen Stadtteil.
Freiräume Das Areal in seiner heutigen Form verfügt über industriell geprägte Gassenräume, die schon heute ein hohes Identifikationspotenzial aufwei sen. Diese Qualitäten gilt es im Laufe der Areal entwicklung in ihrer urtümlichen Kraft weiter zudenken. Entlang der kleinen Emme entsteht in Abstimmung mit dem laufenden Hochwasser schutzprojekt ein Flusspark, der mit den beste henden und neu angelegten Platz- und Gassen räumen in einen spannungsvollen Dialog tritt. Die drei öffentlich zugänglichen Freiraumtypen (Park, Platz, Gasse) werden mit durchgrünten Innenhö fen ergänzt. Das Freiraumangebot bildet das pri märe städtebauliche Gerüst, um das Areal mit den umliegenden Quartierteilen zu vernetzen und die bauliche Entwicklung zu ermöglichen.
Das Monosuisse-Areal ist stark von seiner in dustriellen Nutzung geprägt und dadurch einer der urbansten Orte in Emmenbrücke. Darin eingelagert sind wirtschaftliche und soziale Erinnerungen, die einen wichtigen Teil der kol lektiven Geschichte von Emmenbrücke mit geprägt und deren Identität beeinflusst haben. In dieser Einzigartigkeit des Areals liegt ein Potenzial, das unbedingt erhalten, sinnvoll genutzt und sensibel weiterentwickelt werden Nutzungsmischung sollte. Die vorgeschlagene Bebauungsstruktur basiert auf dem Gedanken der Nutzungsflexibilität. Der längere Entwicklungshorizont des Gesamtareals 4. Vielfalt soll durch nutzungsneutral angelegte Gebäude Eine Stärke der zukünftigen Viscosistadt ist typen, die sich mit ihrer robusten Grundstruktur ihre grosse Vielfalt an Bautypologien und Aus an Beispielen des Bestands orientieren, optimal senräumen, aber auch die breite Nutzungs aufgefangen werden. Die Erdgeschosse sind ent mischung von Industrie über Bildung bis hin sprechend der gewünschten städtebaulichen zum Wohnen. Kleine und grosse Bürogebäude, Aktivierung mehrheitlich auf kulturelle, kommer regalartig gestapelte, nutzungsneutrale Indus zielle, gastronomische und serviceorientierte triegebäude, Lagergebäude oder Shedhallen Nutzungen ausgelegt. Der durch das Departe sollen mit verschiedenen urbanen Wohnungs ment Design & Kunst der Hochschule Luzern bauten ergänzt und zu einem dichten Konglo umgenutzte Bau 745, am zukünftigen Nylsuisse platz, bildet als öffentliche Institution an zentraler merat verwoben werden. Lage einen wichtigen ersten Impuls für das neue Stadtquartier. Das Nebeneinander von Kultur, Bil Aus dem Bestand heraus dung, Industrie, Gewerbe, Freizeit und Wohnen gedacht ist ein essenzieller Erfolgsfaktor für die Schaffung Das gewachsene Bauensemble aus unterschied eines durchmischten Stadtteils. Um ein lebendi lich grossen und hohen Häusern wird zum Aus ges Stadtquartier erhalten zu können, ist länger gangspunkt für den städtebaulichen Transforma fristig ein Wohnanteil von 30 bis ca. 50 Prozent tionsprozess. Der Masterplan zeigt auf, wie das erwünscht.
Massstäblichkeit und Körnigkeit Stimmung der Baukörper Die atmosphärische Qualität des Areals ergibt Trotz der teilweise beträchtlichen Dimensionen verfügen die über Jahrzehnte gewachsenen Ge bäudekonglomerate über eine architektonisch differenzierte, volumetrische Erscheinung. Der grosse Massstab wird immer wieder gebrochen und durch geschickte Gliederung der Baumasse moduliert. Das Gesamtbild ist geprägt von einem Nebeneinander unterschiedlich dimensionierter Baukörper, die – in Analogie zur Stadt der Grün derzeit – ein lebendiges, aber letztendlich doch stimmiges Ensemble erzeugen. Die neuen Stadt bausteine müssen sich deshalb an der Massstäb lichkeit, Körnigkeit und an den Proportionen der Bestandsbauten orientieren. ↓ Bau 745. Fotografie: Randy Tischler
sich weniger durch das einzelne Haus oder das einzelne Detail als vielmehr durch die stimmige Gesamtwirkung des Ensembles. Dabei spielt sich kein Gebäude übermässig in den Vordergrund, sondern nimmt sich zu Gunsten des Ganzen zu rück. Die Betonung der Vertikalität der mehrheit lich rational gestalteten Ansichten dominiert als visuelles Gestaltungsmotiv die einzelnen Fassa den und bindet die unterschiedlichen Bauten zu einem Ensemble zusammen. Hervorspringende Treppenhäuser, auskragende Dachabschlüsse, Vordächer, artikulierte Eingangsbereiche und An lieferungsrampen gliedern die Baumasse zusätz lich und runden das Gesamtbild ab. Die Material bandbreite umfasst verschiedene mineralische Materialien wie Backstein, Kalksandstein, Putz, Beton und Keramik sowie Metall innerhalb eines unbunten Farbspektrums. Dadurch entsteht ein in hohem Mass muraler Ausdruck mit einem rohen und nüchternen Charakter. Die neuen Bauten sollen in Bezug auf die Fassadengestaltung in einen bewussten Dialog mit den bestehenden Bauten treten. Das Areal soll zeitgemäss und den veränderten Nutzungsvorstellungen folgend weitergebaut werden. Dabei sollen die neuen Eingriffe weder in eine antagonistische Abgren zungshaltung verfallen noch eine nostalgisieren de «Copy and Paste»-Haltung verfolgen.
Viscosistadt als Stadtkatalysator Das städtebauliche Projekt der Viscosistadt wird mittel- bis langfristig einen wichtigen Teil zur Transformation von Emmenbrücke beitragen – hin zu einer selbstbewussten Kleinstadt mit eigen ständiger Identität. Mit dem anstehenden Umzug des Departements Design & Kunst aus dem be nachbarten Luzern nordwärts, erfolgt ein erster entscheidender programmatischer und atmo sphärischer Impuls für die Viscosistadt und damit für Emmenbrücke.
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Daniel Niggli (*1970), Architekt ETH SIA BSA. Gemeinsam mit Mathias Müller gründete er das Büro EM2N, das heute 70 Mitarbeitende mit Bauund Wettbewerbsprojekten im Inund Ausland beschäftigt. Neben diversen Auszeichnungen erhielten sie den «Swiss Art Award» in Architektur. Daniel Niggli war Gastdozent an der EPF Lausanne und an der ETH Zürich sowie Mitglied der Baukollegien in Berlin (2008–2012) und Zürich (2010–2014).
Emmenbrücke – für die Vögel Ursula Bachman
↑ Ursula Bachman, Abschied 15. August, 1999, Bleistift auf Papier, 79 x 50 cm. © Ursula Bachman
1 Beatrice Schumacher, In Bewegung. Geschichte der Gemeinde Emmen, Band 2: 19. und 20. Jahrhundert, Emmenbrücke 2004, S. 242.
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Die Arena Am Morgen ist die Sonne über der Rigi, am Abend hinter dem Pilatus. Dazwischen die Alpen mit dem Titlis als Höhepunkt: eine atemberaubende Arena. Unten am Wasser der Militärflugplatz und die In dustrie. Am südlichen Übergang der Seetalplatz, wo sich die Brücke befand, die über die Kleine Emme führte, dem Fluss, der dem Ort seinen Na men gab. Auf der anderen Seite markierte das Zollhaus eine deutliche Grenze zum benachbarten Luzern. So sah ich Emmenbrücke als ich mit fünf Jah ren mit meiner Familie in einen der höchstge legenen Teile der Gemeinde in die Hohrüti zog. Unsere neue Wohnung befand sich in einem fünf stöckigen Fünfzehnfamilienhaus, schnell erbaut während des Baubooms in den 1960er-Jahren und so hellhörig, dass jeder Streit der Nachbarn miterlebt, jedes Telefongespräch mitgehört wur de. Die Ermahnung «ned so luut!» begleitete uns Kinder auf Schritt und Tritt. Das Militär jedoch durfte laut sein. Einmal pro Woche donnerten die Panzer über die nur zehn Meter von unserem Haus entfernte Panzerstrasse des Armeemotorfahrzeugparks (AMP), und ein ohrenbetäubendes Kreischen, Quietschen und Rattern erstickte in den Wohnungen jegliches Gespräch. Schlimmer war nur, wenn Jagd- und Kampfflugzeuge – Hunter, Tiger und Mirage – sozusagen auf Augenhöhe die Arena durchquer ten, die Schallgrenze durchbrachen und die Fens terscheiben klirren liessen. Ein halbes Jahr nach unserem Zuzug in die Hohrüti veränderte sich das Bild mit einem Schlag. Die Baustelle der Autobahn A2 schnitt eine Schneise mitten durch unser Schlittelparadies. Sie zog in einem grossen Bogen Richtung Süden und ver schwand zwischen den Hügeln, zusammen mit der Reuss, Richtung Luzern. Drei Jahre später, im Dezember 1971, wurde die Autobahn eröffnet und damit erhielt Emmenbrücke eine neue sinnliche Dimension: Ein Zischen und Rauschen, das nie mehr abriss und im Sommer unter dem dichteren Verkehr zu einem Grollen anschwoll, breitete sich als Klangteppich aus, und in der Nacht füllte die Autobahnbeleuchtung die Arena mit orangefar benem Licht. Die drei Sechzigerjahr-Häuser der Hohrüti bil deten für uns Kinder ein eigenes, buntes Univer sum. Naturgemäss waren es fast alles Neuzu züger, die sich in den neuen Wohnblocks ansiedelten. Da waren die Aussendienstmitarbeiter – mein Vater aus Zug, ein anderer aus Näfels –, ein deutscher Opernsänger, der im Stadttheater sang, die ehemaligen ungarischen Flüchtlinge, die als Chemiker in der Viscose arbeiteten, meine Pri marlehrerin, ein Akkordmaurer und unzählige andere, die in den umliegenden Fabriken beschäf tigt waren. Auch die Frauen arbeiteten zumeist
im Verkauf oder in Heimarbeit. Meine Mutter bü gelte als gelernte Büglerin die Hemden des Ge neraldirektors der Viscose. Dieses Gemisch an Personen mit unterschied licher Herkunft und Bildungshintergrund brachte einen Hauch von Offenheit und Modernität in un ser Quartierleben.
Die Société de la Viscose Suisse Ganz anders fühlte es sich bei meinem Onkel Seppi an, der in der Hinter-Viscose ein Reihen haus mit grossem Garten bewohnte. Bei ihm ver brachte ich manchmal schulfreie Nachmittage oder Ferientage. In diesen Häusern war die Zeit stehen geblieben. Dunkel und feucht waren sie mit äusserst einfacher Ausstattung – ein einziger Wasserhahn musste für die sechsköpfige Familie genügen. Manchmal hatte ich das Gefühl eine Zu-spät-Ge kommene zu sein, deren Familie den ViscoseBoom verpasst hatte. Denn bei der Société de la Viscose Suisse angestellt zu sein, bedeutete, Familienzulagen und Naturalgaben wie Schuhe, Wolldecken oder allenfalls günstigen Wohnraum zu bekommen. Die «Viscose» war ein attraktiver Arbeitgeber. Zu meiner Zeit war sie immer noch ein in der Kunstseiden- und Polymerfaserindus trie international tätiges Unternehmen und brach te nach wie vor Neuentwicklungen auf den Markt, die Anforderungen an die Mitarbeitenden stiegen jedoch und wurden spezialisierter. Die Reihen häuser der Hinter-Viscose mussten einem neuen Fabrikteil weichen und das Viscoseheim, der Son nenhof, wurde nicht mehr für junge italienische Arbeiterinnen benutzt, sondern war als Zwischen nutzung unser grosser Kindergarten. Während eines Familienfestes erzählte mir mein Onkel Seppi einmal, dass er als ViscoseMitarbeiter eine effizientere Maschine für die Kunstseidengarnproduktion entwickelt und den Schichtbetrieb in seiner Gruppe eingeführt hatte. Josef Bachmann war ein geachteter «Viscösler».1 Dank seiner Erfindungen und seines Organisati onstalents hatte er es vom einfachen Bleilöter zum Vorarbeiter und später zum Energiemeister des Viscose-Areals gebracht. Weil er sowohl die Sprache der Arbeiter wie auch diejenige der Vor gesetzten beherrschte, genoss er allseits grossen Respekt. Als aktiver Gewerkschafter kämpfte er ideen- und wortreich für ein besseres Lohn system. Denn der Familienlohn reichte trotz verschiedener Zulagen und Naturalgaben für kinderreiche Familien kaum für das Notwendigs te oder er schrumpfte nach der Familienphase durch den Verlust der Zulagen zu einem Hunger lohn zusammen.
Im Sommer 2015 besuchte ich Onkel Seppi im Betagtenzentrum Alp in Emmenbrücke. Ich woll te mehr über seine Arbeit erfahren, die der Vis cose – gemäss seinen eigenen Angaben – eine massive Kapazitätssteigerung und ihm eine hun dertprozentige Lohnerhöhung eingebracht hatten. Die Erinnerungen trugen den 94-Jährigen aber in eine andere Richtung: Er erzählte mir, wie es dazu gekommen war, dass er und seine Frau neben den vier eigenen noch vier Pflegekinder aufgezo gen hatten. In den 1960er-Jahren drohte den italienischen Arbeiterinnen während der ersten fünf Jahre ihres Aufenthaltes in der Schweiz die Ausweisung, falls sie der Arbeit fernblieben. Wurde in den Familien jemand krank, gab es also ein unlösbares Problem. Seppi wurde angefragt, ob er einen sechs Mona te alten Buben, der mit 42 Grad Fieber erkrankt war, pflegen würde, und er und seine Frau Beth li stimmten zu. Für den kleinen Italiener liess sich jedoch kein Arzt finden, denn zu dieser Zeit setzte sich keiner wegen eines «Tschinggs» in Bewegung. Ent schlossen legte sich also mein Onkel vor das Auto eines Arztes, der im Quartier gerade auf Hausbe such war, und brachte diesen dazu, sich den Bu ben anzuschauen. Medikamente wurden jedoch keine verschrie ben, Essigsocken sollten genügen. Und so trugen Bethli, Seppi und die Tochter Elisabeth das schwerkranke Büblein mehrere Tage durchs Haus, bis es ihm besser ging. Der Bub blieb als Pflege sohn und wurde bald zum Liebling meiner Tante Bethli.
Der Ballon Emmenbrücke bot kaum Plätze zum Verweilen. Von Süden bis Norden war die Gemeinde glei chermassen trostlos: der Seetalplatz, der Cent ralplatz, der Sonnenplatz, die Sprengi – lediglich Durchgangsorte und Kreuzungen für den Verkehr. Ebenso wenig einladend war das «Gersag». Denn mit der Umsetzung des heutigen Gemeindezen trums Gersag wurde der im damaligen Wettbe werb vorgesehene Dorfplatz fallen gelassen.2 Für uns Jugendliche der 1970er- und 1980er-Jahre gab es keinen öffentlichen Ort, wo man Freunde treffen und sich aufhalten konnte. Also gründeten wir eine offene Jugendgruppe und nannten uns Ballon. Im Winter trafen wir uns auf der gedeckten Holzbrücke im Übergang zu Rothenburg, im Som mer zog es uns an den Rathauser Kanal, in dem man herrlich baden konnte. Die meiste Zeit aber waren wir unterwegs, zu Fuss oder mit dem Velo, unbehaust und ungebunden – manchmal kamen wir für eine begrenzte Zeit in Pfarreihäusern unter. Wir liebten es, verlassene Villen und Gehöfte zu entdecken, wie etwa die Villa Seebli hinter der
Viscose, wir streiften zum Littauer Berg und zum Landschulhaus, das auf offenem Feld lag, wo der Pilatus als mächtiges Gegenüber grüsste, zogen hinunter Richtung Waldibrücke der Reuss entlang, oder Richtung Sempach, Rain oder Hochdorf, wo Verwandte und Kommilitoninnen der Kantons schule wohnten. Der gesichts- und zentrumslose Raum der Gemeinde Emmen liess sich erforschen und in Besitz nehmen – wir durchforsteten ihn am liebsten bei Mondschein, liessen uns durch die sen Frei- und Möglichkeitsraum treiben, der un sere Fantasien beflügelte. Unser Elixier war jedoch die Musik: selbst ge sungen oder an Konzerten und an Festivals ge nossen. Mit spiritistischen Sitzungen hinterfrag ten wir unser christliches Weltbild, mit politischen Diskussionen die Bildungsinhalte unserer Schu len und «Stricken für Jungs» sollte uns in neue Geschlechterrollen katapultieren. Heftig diskutiert und bekämpft wurden die Überbauung des Sonnenplatzes durch die Schweizerische Bankgesellschaft, der angrenzende Pa noramapark3 und das Defilee im Jahr 1981 mit der Gewerbeschau der Militärbetriebe4 auf dem Mi litärflugplatz. Militärpflicht und ihre Verweigerung waren Themen, die uns in existenzieller Weise beschäftigten. Einige unserer Ballon-Mitglieder sassen wegen Dienstverweigerung monatelang in Schweizer Gefängnissen. Der Ballon war für uns Jugendliche zu einer wich tigen und festen Institution geworden. Nach Jah ren des Herumziehens fanden wir schliesslich im oberen Stockwerk des Carlen-Hauses eine feste Bleibe. Die ehemalige Ärztevilla war unbewohn bar geworden, weil sie unmittelbar neben der Autobahn lag. Für uns aber bedeutete der Einzug ein anhaltendes Fest, das wir jeden Freitagabend und manchmal auch am Samstag erneut veran stalteten. Der geplante Abriss der Carlen-Villa konnte verhindert werden, stattdessen wurde eine Ju gendberatungsstelle eingerichtet. Die Mitglieder des Ballons berieten dabei den ersten Leiter.
Sound und Vision Meine Jugendzeit in der Arena von Emmen und die Entdeckung des Werks des Musikers John Cage während meines Kunststudiums steht für mich in einem direkten Zusammenhang. Wie er es selbst unter anderem in seinem Werk For the birds beschrieb, benutzte John Cage auf genommene Geräusche, ja sogar «Krach», für seine Musik. Pausen und Auslassungen sowie Umgebungsgeräusche waren oft bestimmende Strukturelemente seiner Kompositionen, von de nen viele weder Anfang noch Ende aufwiesen, keiner Absicht folgten, sich also wie die Natur verhielten. Die Zeitstruktur ersetzte die Tonalität.
2 Schumacher 2004, S. 266. 3 Schumacher 2004 ,S. 272. 4 Kommunikation Luftwaffe, Bulletin Flugplatzkommando Emmen 2/2009.
Gemeinsam mit dem Tänzer und Choreografen Merce Cunningham, der ähnliche Ideen verfolgte, sowie dem Künstler Robert Rauschenberg, der bestehende Objekte zu Kunstwerken und Szene rien zusammenfügte, arrangierten sie Aufführun gen, in denen die verschiedenen Akteure ihren jeweiligen Disziplinen gemäss völlig unabhängig, aber gleichzeitig agierten. Als Folge hörte ich jahrelang nur noch wenig Musik, sondern versuchte existierende Geräu sche wie zu einem Stück verbunden zusammen zuhören. Auch bewegte ich mich fortan allein oder mit Freunden mit völlig anderen Ohren, Au gen und Bewegungen durch unsere scheinbar vertraute Arena. Das wuchernde und kontrast reiche Nebeneinander von ländlichen Weilern und schnell erbauten Quartieren, die Überbauungen vor dem wuchtigen Alpenpanorama bildeten eine vielfältige Kulisse, in der unterschiedlichste Bild fragmente zufällig aufeinandertrafen und die den markanten und vielfältigen, nicht abbrechenden Arenasound wirkungsvoll akzentuierte. Und jedes Mal, wenn ich auf dem Weg zu meinem neuen Büro die neu benannte Viscosistadt betre te, spüre ich, dass an diesem Ort für die Gemein de Emmen eine neue Ära beginnen könnte: Die Industrie, die Hochschule, das Gewerbe, zahl reiche Ateliers und Büros beleben das Quartier auf inspirierende und einmalige Weise. Denn ge meinsam mit dem riesigen Seetalplatz weist das Areal in seiner Grösse weit über das Lokale hinaus. Mit dem Auftrag einen Masterplan für das
«Naturgemäss waren es fast alles Neu zuzüger, die sich in den neuen Wohnblocks an siedelten.»
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Viscoseareal zu erarbeiten, hat der Investor eine Grundlage für eine durchaus angemessene Ortsentwicklung geschaffen. Die Attraktivität des Quartiers wird jedoch massgeblich von der Öffnung des Areals für unterschiedlichste Per sonengruppen abhängen, dem Mut, Zufälligkeiten, Bruch- und Leerstellen zuzulassen sowie der ak tiven Schaffung von Begegnungsorten. Die Kulisse zwischen dem Sonnenaufgang über der Rigi und dem Sonnenuntergang hinter dem Pilatus ist bereits gewaltig und der Sound ist be eindruckend. Aber noch fehlt die Bewegung, der Tanz der Akteure, der absichtslos und ohne An fang und Ende durch die Gassen und über die Plätze fliesst. Ursula Bachman ist seit 1996 Dozentin an der Hochschule Luzern – Design & Kunst und seit 2011 Vizedirektorin für den Bereich Interdisziplinäres & Öffentlichkeit. Sie ist in Zug und Emmenbrücke aufgewachsen und erwarb an der Schule für Gestaltung Luzern das Lehrdiplom sowie an der Birmingham University (GB) den Master of Arts in Fine Arts. Als freischaffende Künstlerin beteiligte sie sich an internationalen Ausstellungen und Festivals in den Bereichen Zeichnung, Installation, Animation und setzte Kunst- und Bauprojekte um.
Nordwärts? Abheben und am Boden bleiben Ein Dialog in sieben Vignetten Text: Silvia Henke, Fotografien: Charles Moser ↙ 06.04.2012 iconic turn, 2012, Fotografie. ↙ 24.09.2015 Vertigo revisited, 2015, Fotografie.
Die meisten Fotos dieses Beitrags sind im Jahr 2015 entstanden, in welchem Charles Moser vor Ort das Areal der Viscosistadt im Umbruch von innen und aussen untersucht hat. Die Ab teilung Kunst & Vermittlung hat schon im Jahr 2012 in Emmenbrücke Räume bezogen. Es ist also Pionierarbeit, die in den Fotos festgehal ten wird und die hier Anlass bietet zu Reflexi onen über Unterricht, Kunst & Vermittlung, Räume und Zukunft.
↓ 18.03.2015 nordwärts, 2015, Fotografie.
1 Vertigo Spricht man im Jahr 2015/2016 über eine Bewe gung nordwärts, befindet man sich gleich ein wenig auf der Flucht, denn alle Migrationsströme ziehen aus europäischer Perspektive nordwärts. Der Norden ist zur Chiffre für eine bessere Zukunft geworden. Nur die Zugvögel behalten den Kurs nach Süden bei. Aber natürlich ist unsere Bewe gung nordwärts kaum zu vergleichen mit einer Flucht. Wir machen auch keine Luftsprünge, wir beziehen ein neues Gebäude. Dieser Logik des Faktischen müssen wir aber etwas anderes abgewinnen, so sinnsüchtig sind wir. Glauben auch wir an eine bessere Zukunft? Vorerst haben wir nur den Feinstaub der Poesie, den jede Reise und jede neue Landnahme aufwirbelt. Diesen kleinen Schwindel vor dem Neuen: Das ist viel
leicht der Abstand zum Faktischen, den die Kunst wahren muss. Anders gesagt: Die Aufgabe, neue Zusammenhänge, Tiere, Menschen und Himmels zeichen zu entdecken am neuen Ort, kann nicht an die Werbeabteilung delegiert werden. Sie ver langt zuallererst Fantasie und Einbildungskraft.
1 Karl-Josef Pazzini, Bildung vor Bildern. Kunst, Pädagogik, Psychoanalyse, Bielefeld 2015, S. 14. ↖ 23.06.2015 nordwärts, 2015, Fotografie. ↑ 05.04.2012 The Postman won’t ring anymore, 2012, Fotografie. ← 06.04.2012 iconic turn, 2012, Fotografie.
2 Baustellen und Nähmaschinen Warum spielt das Textile in so vielen Märchen eine bedeutsame Rolle? Es ist, als ob die Gebäu de und Reste der alten Textilindustrie noch immer alte Geschichten und Stoffe an die Gegenwart übermitteln. Wie hängen Spinnrad und Gold zu sammen, wie Schönheit, Seziertisch und Näh maschine? Der Surrealismus versprach für das Problem Versöhnung, indem er die Begegnung von Nähmaschine und Regenschirm für das Schö ne schlechthin erklärte. Dem können wir folgen. «Bilder vernähen die Subjekte und dienen dem Überleben», schreibt Karl-Josef Pazzini in seinem letzten Buch «Bildung vor Bildern».1 Er meint das sehr ernst: Nämlich, dass Bilder als Nähmaschi nen funktionieren, die wir brauchen für unsere offenen Stellen, Wünsche und Projektionen. Eine offene Baustelle leistet Ähnliches für die Wahr nehmung unserer Umgebung wie offene Nähte. Charles Mosers Blick auf die Nähte und das noch Nicht-Vernähte in der aufgewühlten Viscosistadt liefert Stoff und Fäden für alte und neue Bildma schinen.
3 Konspirationen
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Bilder haben gegenüber Texten den vermeintli chen Vorteil, dass sie keiner Lesezeit bedürfen. Sie zeigen sich sofort. Auf den ersten Blick mag dies stimmen. Tritt man aber einmal in die Inter textualität und in den Echoraum der Bilder ein, ist man verstrickt und wird so schnell nicht fertig mit dem Entziffern. Wir verfangen uns in den forma len Analogien, den Linien und Schatten, welche die Bilder heimlich verbinden. Innen- und Aussen räume beginnen zu konspirieren. So scheint es zum Beispiel, als habe in der Monosuisse der freie Geist der Kunst von den Räumen der Zwischen nutzung aus begonnen, die Geschicke draussen auf der Baustelle zu lenken – wie durch Zauber hand. Geht alles mit rechten Dingen zu? Hängen die Aktivitäten draussen mit den Arbeiten drinnen heimlich zusammen? Es ist irgendwie aufregend: Während die Institutionen viel von Schnittstellen sprechen, können Bilder selber Schnittstellen sein. Zwischen Bild und Blick, zwischen dem Fassbaren und Unfassbaren, zwischen damals und heute. Wo diese zusammentreffen, herrscht oft Stille.
4 Religiöser Schwindel Ist es noch immer Aufgabe der Künstler, das Jen seits vorstellbar zu machen? Zumindest ist Hol beins Karfreitagsbild vom toten Christus in sei nem Sarg in Emmenbrücke schon aufgetaucht. Holbeins Original lässt wie kaum ein anderes Bild der Grablegung jedes Anzeichen von Auferste hung, Rettung und Transzendenz vermissen. Sein sparsames Leichentuch, die steinerne Kälte, die anatomische Starrheit des Leichnams erzählen von etwas Endgültigem. Es scheint, als ob hier nach einem neuen Ort gesucht würde für das Bild. Ob die Studentin weiss, dass sie mit der Wahl dieses Ortes an Fragen rührt, die das Original wesentlich betroffen haben? Lange Zeit fragte die Kunstgeschichte: Befand es sich einmal in der Grabnische einer Kirche im Oberelsass? Welche Form hatte diese Nische? Wer hat das Bild wann betrachtet? Zeigte man es, um den Glauben zu lehren oder die Angst vor dem Tod? Die Art und Weise, wie es hier auftaucht, erzählt zweierlei. Einmal, dass der Leichnam seine steinerne Ewig keit durch das leichte Papier verlieren und viel leicht doch – davontanzen kann. Diesen Eindruck hat Holbein verwehrt. Was das flüchtig hinge machte Bild hier auch erzählt: Im Schmerz schau en wir einem Menschen ins Gesicht. Denn alle Kraft, alle Farbe ist dorthin gegangen, ins Gesicht, während der Rumpf sich im Immateriellen verläuft.
5 Kunst & Vermittlung Einmal hat ein Studierender an einer Ateliertüre im ersten Stock der Sentimatt das Schild für «Kunst & Vermittlung» umgeschrieben. Er hat das Wort «Vermittlung» durchgestrichen und ersetzt
durch «Vernunft». Eine scharfsinnige Änderung, eine kleine Form von Intervention in eine Bezeich nung, die offenbar als fragwürdig empfunden wird. So klein und ephemer der Eingriff war, er führt treffsicher ins Herz eines grossen Konfliktes, nämlich zur Frage: Wie vernünftig muss Kunst sein? Kann sie nur mehr als vernünftig verstanden werden? Was hat Vermittlung mit Vernunft zu tun? Und wie drückt sich diese Vernunft aus? Ein gan zes Bündel von Fragen. Zwei Elemente spielen dabei gewiss eine entscheidende Rolle: zum ei nen der Ort, die Räume, in welchen Kunst gelehrt und geprobt wird, zum andern das pädagogische Konzept der Lehrenden. Im ersten Anlauf – mit dem Bezug neuer Räume – geht es darum, deren Geschichte und Atmosphäre mit ästhetischen Mitteln zu erforschen, die toten Winkel und Wi dersprüche, auch die falschen Ansprüche, die aus der Architektur eines Schulgebäudes kom men, auszuloten. In diesem Sinn ist Kunst & Ver mittlung immer ästhetische Bildung, die sich am und im Gebäude der Kunsthochschule und ihren Unterrichtsräumlichkeiten manifestiert. Wenn es gelingt, die Arbeiten auf und nicht gegen das Ge bäude zu richten, dann hat Vermittlung stattge funden. Dabei kommt das pädagogische Konzept zum Tragen: Was passiert eigentlich im Unter richt? Wie vernünftig muss er organisiert sein? Hat Inspiration mit Erleuchtung zu tun? Es gibt sie, diese magischen Momente im Unterricht, wenn Arbeitsprozesse, Bilder, Vorstellungen und Worte aufeinander abzufärben beginnen. Manch mal leuchten die Hände, manchmal die Köpfe. Keimzelle ist das Gespräch über die einzelnen Arbeiten. Im gemeinsamen Lehrgespräch werden Wunder beglaubigt und Irrtümer beseitigt. Sie sind soziale Wirklichkeit, sie sind Bildungs- und Erkenntnisprozess. Aber Vorsicht: Der Bildungs prozess geht hier von Kunst aus und kann in die sem Sinn kein harmloser sein. Denn Kunst ent zieht immer den Boden, auf dem gesicherte Erkenntnisse stattfinden. Dazu nochmals Pazzini: «Alle Bildung ist ästhetisch, weil sie Übergänge
2 Pazzini 2015, S. 23.
3 Georges Didi-Huberman, Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg, München 2012, S. 561. ← 22.09.2015 Der Schamane, 2015, Fotografie. → 08.01.2016 Nachtschicht in weissen Laken, 2016, Fotografie. ↓ 23.12.2015 Arbeitsplatz von Maya Fielding in der Ausstellung «Universe», Kappelle Rössligasse, 2015, Fotografie.
↘ 24.11.2015 Im Oratorium der Farben, 2015, Fotografie. ← 23.10.2015 Lichtsuchende Füsse, Auferstehungsversuch auf glatter Unterlage, 2015, Fotografie. Tuschmalerei: Barbara Hennig Marques nach Der tote Christus im Grab von Hans Holbein dem Jüngeren.
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vom Sinnlichen in Sinn provoziert, aber diesen Sinn auch immer wieder, vom Sinnlichen, Physi schen her, untergräbt. Unfassbar.»2 Insofern muss Vermittlung wie Kunst ihren Anteil am Unfassba ren (Unvernünftigen?) bewahren, sie hat gar kei ne andere Wahl.
Im Bilderbad – einer dem Mnemosyne-Atlas von Aby Warburg nachgeahmten ArbeitsplatzInstallation – spürt eine Studentin diesem Projekt nach und öffnet damit das, was Georges DidiHuberman das Drama der Bilder nennt, in dem Warburg sich verirrt hat und gerade deshalb so viel damit zeigt.3 Das Drama führt von Symbol zu Symptom, von Zeit zu Zeit, von individueller zu 6 Kunst und Verantwortung? überindividueller Erfahrung. In den Echoraum der Der Pakt der Kunst mit dem Irrationalen und Un Bilder und damit zur Verantwortung der Bilder fassbaren entbindet sie nicht davor, Verantwor selber. tung zu übernehmen. Das ist der andere Teil der Vermittlung. Da ist zum einen die Verantwortung gegenüber der Geschichte, die unvermeidlich bereitliegt und die immer auch einen Dialog mit Tod und Leid herausfordert. Blickt man etwa in die Geschichte der Baumwolle, ist man konfrontiert mit Ausbeu tung, Kolonialkrieg und Sklaverei. In Mosambik, der ehemaligen portugiesischen Kolonie, ist algodao – Baumwolle – ein anderes Wort für Lei den. Die Geschichte der Textilindustrie ist neben ihren schönen und beschwingenden Seiten von Reichtum und Wirtschaftsaufschwung bis heute eine traurig-blutige. Sie beschäftigt die Hoch schule, sie beschäftigt die einzelnen Studieren 7 So wird es sein den. «Es ist schon beeindruckend, dass eine Bildung hat immer mit Zukunft zu tun – und mit Studentin an ihrem Arbeitsplatz sich mit den miss der Hoffnung, dass es einmal gut wird. Wird es lichen Bedingungen der Textilindustrie auseinan das? dersetzt, vielleicht ohne zu wissen, dass früher diese Räume zur Produktion von Textilien dienten. Silvia Henke ist Literatur- und Die Auslagerung der Produktion und die damit Kulturwissenschaftlerin, Publizistin verbundenen Verwerfungen kommen durch die und Professorin für Kulturtheorie Hintertüre wieder an ihren Ursprungsort zurück.» an der Hochschule Luzern – Design (Charles Moser) & Kunst seit 1999, seit 2002 Leitung Die Unvermeidlichkeit von Geschichte führt der Abteilung Theorie. Arbeitsauch zu einer Sehnsucht nach dem Politischen, schwerpunkte: Bildtheorien, Ästhedanach, politisch verantwortlich zu sein. Kunst tische Bildung, Kunst und Religion. studierende haben diese Sehnsucht mehr als andere. Warum? Nicht weil sie bessere Menschen Charles Moser studierte in sind, sondern weil die ästhetische Arbeit mit den der Bildhauerklasse an der Schule Dingen auch die Sinne öffnet für das Gesellschaft für Gestaltung Luzern. Seit 1983 liche, das Menschliche und die Widersprüche der unterrichtet er im Bereich Freie Kultur. Kunst und arbeitet als Bildender Künstler. Seine Arbeiten wurden in diversen Gruppen- und Einzel ausstellungen im In- und Ausland gezeigt. Von 2007 bis 2016 war er (Co-)Leiter des Studiengangs Kunst & Vermittlung.
Lebens räume planen Die Umnutzung eines Industrieareals als Denkaufgabe für Architekturstudierende Carola Antón und Fred Truniger
Städtebauliche, und damit verbunden soziolo gische Fragestellungen, werden im BachelorStudiengang Architektur an der Hochschule Luzern – Technik & Architektur im Modul «Ge bautes Umfeld» vermittelt. Die Autorin und der Autor dieses Beitrages wurden im Frühjahr 2014 dazu eingeladen, einen Kurs zu unterrichten, der den Städtebau aus der Perspektive der Land schaftsgestaltung entwickelt. In der Tradition eines in der Landschaftsarchitektur verankerten Denkens, schlugen wir vor, den Fokus auf die Wahrnehmung und auf das räumliche Erlebnis grossmassstäblicher Räume zu legen. Das Se minar führte von der Wahrnehmung des Raums, über seine Analyse hin zu einem Eingriff in die bestehende Situation. Für dieses Planspiel wähl ten wir die Umnutzung des historischen Indust riegebietes Viscosistadt mit seiner relativ grob gekörnten Bausubstanz. Der Kurs war auf eine Wiederholung in den kommenden Jahren aus gelegt und sollte daher gleichzeitig die realen Veränderungen dieses transformativen Areals einbeziehen. Architekturstudierende werden umfassend ausgebildet. Ihr Gegenstand ist nicht nur der ge baute Raum, sondern alles, was ihn bildet: Ge bäude, Licht, Material – und das Leben, das die Menschen in diesen Räumen dereinst führen werden. So gehören zur Ausbildung Architektur studierender nicht nur die Grundbegriffe des Raums, Konstruktion, Architekturgeschichte oder Baurecht, sondern beispielsweise auch sozial räumliche Fragestellungen. Paradoxerweise je doch fehlt ein entscheidender Aspekt in dieser
breitgefächerten Ausbildung: die Erprobung der eigenen Ideen am realen Objekt, die für gutes Design heute meist als unabdingbar gilt. Sie bleibt den Architektinnen und Architekten versagt. Ge lernt wird am bereits Gebauten und Belebten, was nicht immer (aber auch nicht selten) zu befriedi genden Situationen für die zukünftigen Bewoh nerinnen führt. Dieses Fehlen von prototypischen Situationen im Lernprozess erstaunt nicht, wenn man die
1 Henri Lefebvre, La Production de l’espace, Paris 1974. 2 Steward Brand, How Buildings Learn. What Happens After They're Built, London 1994. ↑ Im Bau 745 am 10. Januar 2014. Fotografie: EM2N
räumlichen und ökonomischen Ressourcen be rücksichtigt, die ein Prototyping im realen Mass stab verschlänge. Was jedoch erstaunt: Die lebensräumliche Perspektive1 wird in der Archi tektur und im Städtebau oft zu Gunsten eines stupenden Materialbewusstseins vernachlässigt und einer ebensolchen Sensibilität für den visu ellen Eindruck von gebauten Strukturen2. Gerade städtebauliche Projekte müssen sich in einer komplizierten organisatorischen, infrastrukturel len und ökonomischen Gemengelage situieren, in der die Bedürfnisse der Bewohnerinnen oftmals in den Hintergrund rücken. Aufgabenstellungen wie diese sind Paradebeispiele für Probleme, die sich besser mit interdisziplinären Ansätzen angehen lassen als durch hergebrachte, diszi plinäre Zugänge. Wir konzipierten das Seminar entsprechend auf der Basis unterschiedlicher Zugänge.
Doppeltes Interesse
3 Christophe Girot, «Four Trace Concepts in Landscape Architecture», in: Recovering Landscape: Essays in Contemporary Landscape Architecture, hrsg. von James Corner, New York 1999, S. 59–67.
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Der Kurs beabsichtigte, den Studierenden Gele genheit zu geben, sich mit einem zeitgenössi schen Problem des Städtebaus zu befassen und Umnutzungen frei werdender Areale des Indus triezeitalters durchzuspielen. Wie geht man mit Vorhandenem um? Wollen wir die wechselhafte Geschichte in den Palimpsesten unseres gebau ten Umfelds sichtbar halten und die historischen Veränderungen eines Ortes zur Identitätsbildung benutzen oder im Gegenteil, die Entwicklung ei nes neuen Stadtteils ohne Beschränkungen an gehen? Aus diesen ersten Fragestellungen ent wickelten wir das Programm des Kurses und räumten der physischen Wahrnehmung des Rau mes dabei eine besondere Stellung ein. Gemäss einer landschaftlichen Entwurfsmethodik, wel che die erste Begehung eines zu gestaltenden Raumes bereits als Teil des Entwurfsprozesses versteht3, forderten wir die Studierenden zu Be ginn des Kurses dazu auf, sich den Ort vorerst zu Fuss zu erschliessen, die Strassen ohne Hilfsmit tel zu vermessen und mit geschätzten Massen versehene Handskizzen zu verfertigen. In der ersten Durchführung im Herbst 2014 gab der Seminarplan vor, dass der bestehende Aus senraum nur durch einen einzigen Eingriff verän dert werden durfte. Der Perimeter des Eingriffs war frei, es war den Planungsgruppen überlassen, sich auf das ganze Areal oder lediglich auf be stimmte Punkte zu konzentrieren. Die definitiven Entwürfe nahmen die Vorgabe ernst und fokus sierten teilweise auf keine tatsächliche bauliche Veränderung der Viscosistadt, sondern be schränkten sich auf künstlerische Eingriffe. Im Bewusstsein, dass das Raumerlebnis aus einer Gemengelage besteht aus baulicher Situation, Wahrnehmungsmodalitäten und Präkonzeptio
nen der Benutzerinnen beispielsweise darüber, was für sie «Urbanität» ausmacht, konzentrierten sich einige Gruppen auf kleine, spielerische Ein griffe, die nicht die Morphologie der Viscosistadt verändern, sondern lediglich die Art und Weise, wie ihre Benutzer sich in ihr bewegen und zurecht finden können. Die Bezugnahme der Benutzerin nen auf ihre Umgebung kann durch präzise ent wickelte minimale Eingriffe ebenso (positiv) beeinflusst werden, wie tatsächliche raumgrei fende bauliche Veränderungen es vermöchten. An die Stelle des klassischen Eingriffs in die Bau substanz tritt der Versuch einer «Veränderung des Lebens», indem neue Möglichkeiten des Um gangs mit dem Raum bereitgestellt werden. In der zweiten Durchführung 2015 hingegen war der Agent der Veränderung vorgegeben und damit auch die Notwendigkeit, mit dem Eingriff deutlich in die bestehende Bausubstanz einzu greifen. Jede Gruppe erhielt einen fixen Perime ter und eine bauliche Dichte, die durch den Eingriff erreicht werden musste. Die Aufgabe bestand entsprechend darin, den zugeteilten Perimeter mit Vorschlägen zu neuen Nutzungen zu verdich ten oder aber, im Gegenteil, den Bestand zu lich ten – mitunter also fast brachial mit dem Bestand umzugehen. Die resultierenden Vorschläge legten ihren Fokus erwartbar stärker auf die Diskussion des Wertes von Erhaltung und Neugestaltung (Konservierung vs. Tabula rasa) dieses industri ellen Areals.
Aus Augenhöhe Quer zu den beiden Seminaren, beabsichtigten wir, den Zusammenfall des beginnenden Umbaus und des möglicherweise mehrjährigen Kurses für eine Langzeitbeobachtung der Transformati onen zu nutzen. Eine Übung, die wir dem Pro gramm hinzufügten, verband die visuelle Wahr nehmung des Vorhandenen mit einem Produkt, das die Veränderung des Raums über den Zeit raum des Projektes abbildet. Vorgegebene Wege innerhalb und um das Gelände mussten gegan gen und die Bewegung in festen räumlichen In tervallen fotografisch festgehalten werden. Alle zehn Meter sollten die Studierenden aus Augen höhe sechs Fotografien machen, die den Blick vom jeweiligen Standort zum gegebenen Zeit punkt dokumentieren. Die sechs Bilder zeigen die sechs Seiten eines imaginären Würfels, der sich um den Beobachterstandpunkt herum auf spannt: sowohl die alltäglichen Blicke parallel und senkrecht zum Strassenverlauf als auch je den Blick senkrecht auf die Strassenoberfläche und hinauf zum Himmel. Diese zwei unkonventio nellen Blickwinkel dienten dazu, den Studieren den ein Gefühl für einige Bedingungen zu vermit teln, die an der Produktion des persönlichen
Raumerlebnisses beteiligt sind, aber meist nicht bewusst wahrgenommen werden: Die Bilder hal ten Geh- und Fahrwegoberflächen fest, verwen dete Materialien, Bepflanzungen, spontanes Wachstum und Alterungsspuren sowie die Ein fassung des Strassenraums durch Fassaden und Fassadenvorsprünge und die dadurch entstehen de Lichtsituation. Die konventionelleren Blicke wiederum zeigen alltägliche Perspektiven auf den bewohnten Raum, können in der speziellen Konfiguration von mehr oder weniger standardi siert hergestellten Bildserien aber auch zu bruch stückhaften Animationen zusammengesetzt werden. Der Strassenraum kann mit ihrer Hilfe in rudimentärer Bewegung gezeigt werden. Gleichzeitig forderte diese Bestandesaufnahme von den Studierenden einen ungewohnten und durch die Vorgaben höchst konzentrierten Zu gang zum Perimeter. Das Tempo der Begehung und damit die Wahrnehmung des Vorhandenen wird durch die Aufgabenstellung verlangsamt, der Blick konzentriert, der Körper der Gehenden dem Raum ausgesetzt. Entstanden ist eine Serie von Bildern, die das ganze Areal dokumentieren, in denen darüberhinaus jene unmerklichen Ver änderungen festgehalten sind, die der Benutze rin im Alltag gemeinhin entgehen. Wetterwechsel finden statt, Lichtverhältnisse ändern, schon kleinste Eingriffe in einen bestehenden Perime ter – natürlich auch massivere – beeinflussen die Raumwirkung. Die Fotografien halten Spuren dieser Prozesse fest. Mit der Engführung der transformativen Planspie le des architektonischen Entwurfs und der gleich zeitigen Beobachtung realer Transformationspro zesse erreichten wir bei den Studierenden eine Rückbindung der entwerferischen Überlegungen an die tatsächlichen Verhältnisse. Immerhin ste hen am Ende Räume, die bewohnt und bewohn bar werden müssen. Das doppelte Interesse des Kurses, gleichzeitig Ausbildung in und Dokumen tation von Transformationsprozessen sein zu wollen, hat – so hoffen wir – dazu beigetragen, den zukünftigen Planerinnen und Planern die Tragweite ihrer meist am Computer stattfinden den Eingriffe vor Augen zu führen und die Not wendigkeit zu unterstreichen, Räume für Men schen, also körperlich erfahrbare Räume, zu schaffen.
Carola Antón studierte Architektur an der ETSA Sevilla und ist seit 2009 mit ihrem Büro antón & ghiggi landschaft architektur in den Bereichen Städtebau, Landschaftsarchitektur und Forschung tätig. Weitere Stationen: 2001 bis 2003 Abteilungsleiterin bei der Baufirma ACCIONA Infraestructuras. 2004 MAS Landschaftsarchitektur ETH Zürich. 2009 bis 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Günther Vogt an der ETH Zürich. Fred Truniger, Filmwissenschaftler, Kurator und Forschender ist Leiter des Master-Studiengangs Film an der Hochschule Luzern – Design & Kunst. Er studierte Filmwissenschaften an der Universität Zürich und an der Freien Universität Berlin und machte sein Doktorat an der ETH Zürich im Departement Architektur mit dem Buch Filmic Mapping (Berlin 2013). Er war Mitglied der Programmkommissionen der Filmfestivals VIPER Luzern, Kurzfilmtage Oberhausen und des Dokumentarfilmfestivals Filmwoche Duisburg.
Der Bellune ser-Platz und die «fadengewandten Fabrikmeitschi» Erinnerungskultur in der Viscosistadt Kurt Messmer
Ein Hinweis aus der Lokalzei tung «Die Heimat» vom 19. Sep tember 2012 liest sich wie ein historisches Versprechen, das demnächst eingelöst wird: «Der Platz Belluno wird das Ein gangstor zur Viscosistadt prä gen.» Erinnerungskultur von der besten Seite. «Belluno», eine passendere Bezeichnung für den Eingang in dieses aktuelle urbane Labor gäbe es kaum, und der Kontext, ein Schlüsselareal von Luzern Nord, ist atembe raubend. Doch was hat es mit dem Namen «Belluno» auf sich? Wirtschaftsmigrantinnen, damals Am 26. Juni 1924 schrieb die Société de la Viscose Suisse an das Fremdenpolizeibüro des Kantons Luzern: «Wie Ihnen bereits [...] bekannt ist, sind wir in der Lage, eine beträchtliche Zahl fadenge wandter Arbeiterinnen einzustellen. Wir haben in der gleichen Zuschrift auch darauf hingewiesen, dass wir darauf angewiesen sind, auch ausländi sche Leute anzustellen.» Zehn Tage später folgte ein weiteres «Gesuch um Erteilung der Einreise bewilligung und Erlaubnis zur Annahme von Ar beit». Diese zweite Liste enthielt die Namen von 21 jungen Frauen, die alle aus demselben Dorf in Oberitalien stammten, aus Lamon in der Provinz Belluno nördlich von Venedig. Die Hälfte davon waren Mädchen im Alter zwischen 15 und 18 Jah ren. Aus dem schweizerischen Raum gab es viele vergleichbare Fälle. Allein im Jahr 1923 kamen 18 junge Frauen aus dem Tessin nach Emmenbrücke, meist ebenfalls gruppenweise aus wenigen Dör fern. Eindrücklich sind die Angaben im Arbeiter verzeichnis zum 6. November 1923. An diesem Tag traten miteinander acht junge Walliser Frau en in den Dienst der Viscose. Alle waren zwischen 15 und 17 Jahre alt, alle stammten aus dem Mat tertal, sechs aus St. Niklaus, zwei aus Randa. Sieben Mal lautete die Berufsbezeichnung «Land arbeiterin», einmal «Haustochter». Zu Beginn des Winterhalbjahres, wenn es auf den Bauernhöfen nicht mehr viel Arbeit gab, waren sie offensicht lich gezwungen, in der Fremde Arbeit zu suchen. In einer Gruppe von Kolleginnen war das Weg gehen von zu Hause leichter zu ertragen, aus Sicht der Eltern die soziale Kontrolle in der Fremde stärker.
Nordwärts – wie schon die Mütter, Tanten, Freundinnen Noch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hat te sich dieses Bild kaum verändert. In der Woche vom 23. bis 30. Mai 1951 traten 30 Frauen aus Italien in die Viscose ein und erhielten Kost und Logis im fabrikeigenen Mädchenheim. Und wie derum stammten die Frauen aus der Provinz Bel luno – wie jene 21, die den gleichen Weg schon im Jahr 1923 gemacht hatten. 1951 befand sich unter diesen Frauen die damals 24-jährige Maria Conz aus Meano, die später bis zu ihrem Tod lan ge Jahre an der unteren Gerliswilstrasse wohnte. Für sie waren jene Erlebnisse unvergesslich, und sie wusste lebhaft von damals zu erzählen: Noch in Belluno rief der Pfarrer an einem Sonntag von der Kanzel aus, dass ein Delegierter der Viscose in der Region sei, bei dem sich Frauen um Arbeit in einer Textilfabrik in der Schweiz bewerben könnten. Der Delegierte war nicht allein gekom men, sondern in Begleitung der Betriebspsycho login, Fräulein Ines Meier. Sie führte in einem nahe gelegenen Hotel mit den jungen Bewerberinnen einen Aufnahmetest durch. Bei verschiedenen einfachen Testanlagen mit Hölzchen und derglei chen hatten die Frauen ihre Geschicklichkeit und Schnelligkeit unter Beweis zu stellen. Zudem war ein strenger Handtest zu bestehen. Viele beka men vor Aufregung schweissnasse Hände, kein gutes Zeichen für angehende «fadengewandte» Textilarbeiterinnen. Aus die Chance – es gab Trä nen, wie Maria Conz schilderte. Bei negativem Bescheid hätten ihre Kolleginnen versucht, Fräu lein Meier umzustimmen, meist ohne Erfolg. Aber manchmal hatte die legendäre Betriebspsycho login ein Einsehen, wie Maria Conz in Erinnerung blieb. Sie selber gehörte jedenfalls zu jenen, die mit einem Arbeitsplatz in der Viscose rechnen durften. Die Glücklichen erhielten nun die Fahrkarte bis Chiasso – noch nicht bis Luzern. Denn an der Grenze erfolgte ein medizinischer Test. Wer ihn nicht bestand, musste die Heimreise antreten. 28 Frauen bekamen schliesslich grünes Licht und setzten ihre Reise über den Gotthard fort. Maria Conz, mit 24 Jahren eine der Älteren, war für das Gruppenbillett verantwortlich. In Luzern wurden die Frauen abgeholt. Ein Chauffeur der Viscose hiess sie auf die Brücke seines Lastwagens stei gen und bat seine aufgeregten Fahrgäste, sich auf der Fahrt nach Emmenbrücke ruhig und an ständig zu verhalten. Im Viscose-Heim wurden die Frauen freundlich aufgenommen. Etwas zu essen stand bereit, der Schlafsaal war hergerich tet, da und dort hatte es Blumen. Auch am Ar beitsplatz lebten sich die Arbeiterinnen rasch ein. 1951 waren zwei Frauen für eine einzige Maschine zuständig, später betreute Maria Conz zehn oder zwölf neue Maschinen allein. Hin und wieder kam
S.66 Feierabend in der Viscose, 1961, Textilarbeiterinnen beim Verlassen der Nylonfabrik. Soeben überqueren sie den künftigen Belluneser-Platz. Fotografie: Staatsarchiv Luzern
Heimweh auf. Maria Conz setzte sich dann ans Fenster und sang Lieder aus ihrer Heimat – bis einmal ein Polizist kam und ihr diese «Störung» verbat.
In «mütterlich-strenger» Obhut Im Unterschied zur Metall- und zur Maschinenbau branche, die in der Zeit der frühen Industrialisie rung auf Fachkräfte angewiesen waren, suchte die Textilindustrie bis in die Nachkriegszeit hinein vor allem junge Frauen als billige Arbeitskräfte. Für solche Arbeiterinnen liess die Viscose 1924 das heute noch bestehende ehemalige «Mäd chenheim» bauen. Halb Schloss, halb Kloster thront es über der Arbeitersiedlung Sonnenhof. Auch die «Schlossallee» fehlt nicht: Eine doppelte Baumreihe unterstreicht die starke Ausstrahlung des Gebäudes. In den ersten Jahrzehnten seines Be stehens beherbergte der Bau in seinem Innern einen klosterartigen Internats betrieb für jüngere ledige Arbeiterinnen aus ländlichen Gebieten und aus dem nahen Ausland, vorwiegend aus Italien. Diese standen unter der Obhut von Or densschwestern aus Menzingen, die hier ihr «mütterlich-strenges» Regi ment ausübten, wie eine ehemalige Bewohnerin rückblickend feststellte. Im Mittelbau des Dachgeschosses bot ein grosser «Betsaal» Platz für 204 Personen. Am Morgen und am Abend wurde gemeinsam gebetet. Von den beiden Spei sesälen fasste der grössere 156 Personen. In einem Schlafsaal waren bis zu 40 junge Frauen untergebracht. Privatsphäre gab es nicht und wurde damals von den jungen Frauen auch kaum erwartet. Der straffe Betrieb unter der Obhut von Klosterfrauen erleichterte es manchen Eltern, ihre Töchter «in die Fabrik zu geben», dazu noch in die Fremde. Bei den jungen Frauen war die strenge Hausordnung weniger beliebt, besonders im Zusammenhang mit Freizeit und Ausgang. Um 20 Uhr hatten alle im Haus zu sein – selbst im Sommer. Wer beim gemeinsamen Nachtgebet unentschuldigt fehlte, büsste mit der Entlassung aus dem Betrieb. Diese soziale Disziplinierung war im Sinne der Fabrikleitung. Sie setzte auf zu verlässige und angepasste Arbeiterinnen.
«Durchgang für junge Burschen und Männer verboten!»
«Halt! – Für junge Männer Durchgang verboten!»
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Auf dem Weg von der Sonnenhofstrasse hinauf zum «Mädchenheim» kam man damals zu einer Tafel, die auf einer Stange gut sichtbar verkünde te: «Durchgang für junge Burschen und Männer verboten!» Wer sich mit Bewohnerinnen des «Mädchenheims» treffen wollte, ob flüchtig be
kannt oder ernsthaft verliebt, sollte dies wenigs tens in gebührendem Abstand von etwa 100 Me tern vom Hause tun. Darauf bestand die Leitung des klösterlichen Fabrikinternats, basta. Treffpunkt war auch die Fabrik. Dort begegne ten sich Maria Conz aus der Provinz Belluno und der gleichaltrige Josef Buss, auch er «Viscösler». Das Schicksal hatte es gut mit ihnen gemeint, und die beiden meinten es gut miteinander für den Rest des Lebens. Nach 63 Ehejahren starb Maria Conz 2014 im Alter von 87 Jahren friedlich in den Armen ihres Mannes. Sie war nicht die Einzige ihrer Familie, die in einem anderen Land eine Exis tenz hatte suchen müssen. Zwei Schwestern heirateten in Frankreich, eine in Deutschland; eine ging ins Bündnerland, eine andere suchte ihr Glück in La Spezia. Der eine Bruder geriet im Zwei ten Weltkrieg in russische Gefangenschaft, der andere arbeitete lange Jahre als Saisonnier in der Schweiz. Die hohe Zeit der Emmer Industrie spiegelte sich auch in den Hochzeiten ihrer Arbeiterinnen und Arbeiter. Klassische Emmer Fabrikheiraten verbanden «Viscöslerinnen» mit «von Mööslern». Ihre Arbeitsstätten, die 1906 gegründete «Société de la Viscose Suisse» und die bereits seit 1843 bestehenden «von Moos’schen Eisenwerke», standen unmittelbar nebeneinander, teilten das Fabrikgelände am Ufer der Emme nahtlos. Hier Eisen, Stahl, Draht, Nägel, dort Krinoline, endlo ses künstliches Rosshaar, Celta, Berta-Regina und wie die Produkte der Viscose alle hiessen.
Der Sonnenhof – eine Arbeitersiedlung als offenes Geschichtsbuch «Die Pflege des Wohnungsbaus ist wohl eines der besten Mittel zur Erziehung eines soliden, zuver lässigen und bodenständigen Arbeiterstandes und dient damit der Sicherung eines der wich tigsten Erfolgsfaktoren einer jeden industriellen Unternehmung.» Diese Aussage aus dem Jahre 1930 stammt zwar vom Chef der von Moos’schen Eisenwerke. Sie passte aber ebenso gut zur Fir menleitung der Viscose, die von 1916 bis 1925 im Sonnenhof insgesamt 23 Wohnhäuser erstellen liess. Angelehnt an Vorstellungen einer Garten stadtsiedlung, wie sie erstmals 1903 vom engli schen Städteplaner und Architekturtheoretiker Ebenezer Howard formuliert worden waren, ent stand in lockerer, offener Bebauung ein Quartier mit vielen Grünflächen und zahlreichen Bäumen. Grosse Gärten dienten einer weitgehenden Selbstversorgung der Arbeiterfamilien. Densel ben Zweck hatten Holzställe für Kleintiere direkt neben den Wohnhäusern. Etwa die Hälfte der Häuser im Sonnenhofquar tier entspricht einem Grundtyp, der architek
tonisch allein durch einen Mittelrisalit und ein rundbogiges Doppelfenster an der Stirnseite ak zentuiert wird. Es handelt sich um einfache, aber durchaus gefällige, zweckmässige Arbeiterhäu ser. Unmittelbar daneben, am Zellweg, stehen Häuser eines andern Typus: Das Portal ist feiner und aufwändiger gehalten. Säulenbesetzte Ni schenbalkone laden zum Verweilen, das Dach ruht auf gedrungenen Konsolen. Zweifellos dien ten diese Häuser ursprünglich nicht Arbeitern, sondern höheren Angestellten oder zumindest Facharbeitern, Meistern. Und blickt man die nörd liche Anhöhe hinauf, erkennt man die Villa des Oberingenieurs. Architektur als soziale Mani festation. Der Sonnenhof wird zum offenen Buch für die Sozialgeschichte. Vier Schichten der da maligen Fabrikhierarchie sind hier noch immer konkret ablesbar. Man geht kaum fehl, wenn man dem Ensemble Sonnenhof nationale Bedeutung attestiert. Das Konzept dieser Anlage und ihre städteplanerische und sozialgeschichtliche Aus prägung hätten integral unter Denkmalschutz gehört, umso mehr, als ihre dreidimensionalen Zeugen der Emmer und Luzerner Sozialgeschich te weitgehend unverändert erhalten sind. – Ge genwärtig ist im Sonnenhof verdichtetes Bauen angesagt. Bleibt zu hoffen, dass die bedeutende viergliedrige Sozialstruktur weiterhin sichtbar und als offenes Geschichtsbuch lesbar bleibt.
Nordwärts, heute Die Zeiten ändern sich. Während im «ViscoseHeim» früher ausschliesslich Arbeitsmigrant innen Unterkunft fanden, wurden hier in den 1980er-Jahren vor allem Flüchtlinge aus Indochi na untergebracht. Ihre Bezeichnung Boatpeople stand für Umstände einer Flucht, deren Bilder des Schreckens sich heute vermischen mit Bildern von Flüchtlingstransporten über das Mittelmeer. Zu Beginn der 1990er-Jahre kamen vorerst viele aus Sri Lanka hierher, dann aus dem Libanon. Schliesslich wurden vor allem Menschen aus Bos nien und aus dem Kosovo aufgenommen. Danach gab es eine Zeitlang kaum noch Schwerpunktna tionen. Das hat sich in den letzten Jahren wieder geändert. Ein Drittel aller Menschen, die 2015 im «Viscose-Heim» eine vorübergehende Bleibe fin den, stammt aus Eritrea. Ein weiteres Fünftel der Asylsuchenden kommt aus Syrien, Somalia, Afg hanistan und Sri Lanka. Diese fünf Nationen ma chen zusammen 55 Prozent aller Asylsuchenden im Zentrum Sonnenhof aus. Die Ankommenden verbleiben hier meist etwa zwei bis sechs Mona te. Ziel ist es, die Asylsuchenden mit dem Leben bei uns vertraut zu machen und sie darauf vorzu bereiten, selbstständig in unserem Land zu leben.
Orientierung in Zeit und Raum Zeit, sei sie vergangen, gegenwärtig oder zukünf tig, spielt sich stets im Raum ab. Etwas anderes ist nicht vorstellbar. Die Umkehrung stimmt eben falls: Raum ohne Zeit gibt es nicht. Orte ohne Zeiterfahrungen sind nicht denkbar. Das gehört zur conditio humana. Die Frage ist also nicht, ob sich an einem bestimmten Ort Zeit, Vergangenheit ablagert, sondern in welchem Masse wir dies wahrnehmen. Dieser Wahrnehmungsprozess hat viel mit unserem Selbstverständnis zu tun, mit unserem Weltbild, mit letzten Fragen der Existenz. Es ist eine triviale Feststellung, gleichzeitig eine hochbedeutende: Wir sind nicht die ersten Men schen am Emmenstrand. Wir werden auch nicht die letzten sein. Vielmehr stehen wir in einer Rei he, sind so etwas wie Teil einer Stafette und ha ben den Stab weiterzugeben. Das ist mit einem Auftrag verbunden, der von jeder Generation zu überprüfen, allenfalls neu zu definieren ist. Eine solche Neudefinierung ist die Viscosistadt. Wer sich an diese Aufgabe macht oder wie die Hoch schule Luzern – Design & Kunst neu in diesen Raum kommt, tut gut daran, sich in der Zeit zu orientieren. Die Namensgebung des Areals ist ein sichtbares Zeichen für dieses Bewusstsein. Der Belluneser-Platz in der künftigen Viscosistadt ist nicht nur wichtig für Maria Conz und ihre Kolle ginnen, sondern auch für uns und für jene, die nach uns kommen. Die Hochschule Luzern – Design & Kunst ist nordwärts in Bewegung. So richtig losgehen wird es in der Viscosistadt im Herbst 2016. Die Ver schiebung ist distanzmässig kaum der Rede wert, auf einer Weltkarte nicht auszumachen. Am Em menstrand wird die Hochschule Luzern – Design & Kunst dennoch Welten bewegen. Etwas vom Besten, was Emmen und diesem Areal passieren konnte. Kurt Messmer, *1946, von Emmen, Historiker, Dr. phil., bis 2011 Lehrbeauftragter der Universität Freiburg (Schweiz) und Professor für Geschichtsdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Luzern, seither freischaffend, Arbeitsschwerpunkt historische Vermittlung im öffentlichen Raum, CoKurator des neuen Rathausmuseums Sempach (2014).
Quellen Archiv «Viscose»: Personalakten (Arbeiterverzeichnisse, Dossier Frauen, Soziales, Löhne u.a.) Interviews Maria Buss-Conz, Gerliswilstrasse 52, 6020 Emmenbrücke, aus Belluno (Italien), 1951 als Arbeiterin in die Viscose und ins Mädchenheim gekommen, danach wohnhaft in Emmen, Gespräch vom 2. November 1995. Gianni Scammacca, während Jahren als Viscose-Angestellter mit der Betreuung der italienischen Arbeiterinnen und Arbeiter beauftragt, Gespräch vom 6. November 1995. Annamarie Würms, Leiterin Zentrum für Asylsuchende der Caritas Luzern im Sonnenhof Emmenbrücke, Gespräch vom 25. April 2006. Kai Bruhnsen, Leiter Zentrum für Asylsuchende der Caritas Luzern im Sonnenhof Emmenbrücke, Gespräch vom 15. Juli 2015. Fachliteratur Gerold Kunz (Projektleitung), Baukultur entdecken. Emmen. Ein Spaziergang mit dem Innerschweizer Heimatschutz IHS, Zürich/Emmen 2006. Ivo Pfister und Hans Peter Bärtschi, Siedlungsinventar Emmen, erstellt im Auftrag der Gemeindeverwaltung Emmen vom Büro ARIAS Industriearchäologie (Skript, vervielfältigt), Winterthur, Juni 1990. Marco Polli-Schönborn und Beatrice Schumacher, In Bewegung. Geschichte der Gemeinde Emmen, 2 Bände, Emmenbrücke 2004. Emil Weibel, Gemeinde Emmen. Geographische und geschichtliche Betrachtungen, Emmen 1953.
Animation – Die Einlösung eines jungpa läolithischen Versprechens Jürgen Haas und François Chalet
↑ Höhle von Chauvet, Darstellung von Nashörnern und Löwen. © J. Clottes/ Ministère de la Culture et de la Communication
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Die Höhlenmalerei des Aurignacien bis zum Mag dalénien ist in ihrer Vollkommenheit überwälti gend. Sie dokumentiert die Fähigkeit der dama ligen Menschen, ihre Umwelt bis in das kleinste Detail zu beobachten und widerzugeben. Bemer kenswert ist hierbei die Tatsache, dass die über wiegende Anzahl der Tiere, die fast das gesamte Motivspektrum ausmachen, in Bewegung darge stellt ist, darunter auch sehr spektakuläre, wenn auch weniger bekannte Beispiele wie «Falling
Cow» oder «Upside-down Horse» im axialen Sei tengang der Höhle von Lascaux (ca. 15’000– 17’000 v. Chr.). Schon seit deren Auffinden 1940 elektrisieren die Malereien, Zeichnungen und Ritzungen auch Künstler und Künstlerinnen, doch vor allem mit der Entdeckung der Höhle von Chauvet (30’000– 22’000 v. Chr.) 1994 begannen Forscher dezidiert, die Besonderheiten der Darstellung hinsichtlich ihrer Wiedergabe von Bewegung zu betrachten.
Marc Azémas vom Emile Cartailhac Prehistoric Art Research and Study Center in Toulouse hat in jah relanger Arbeit die Bilder auf ihre narrativen und animatorischen Merkmale hin untersucht und kam zu sehr erstaunlichen Ergebnissen. So konn te er beispielsweise aufzeigen, wie in Chauvet zum einen die komplexe Szenerie einer Löwen jagd in eine dramaturgische Reihenfolge gebracht wurde, zum anderen lassen sich die Mehrfach konturen von Kopf- und Beinformen eines Pferdes als Einzelbilder einer Bewegung sehen und zu einem erstaunlich flüssigen Bewegungsablauf zusammensetzen. Das Vermögen, Zeit und Ge schehen infinitesimal auf einen Untergrund zu fixieren, zeugt von einer absolut jetztzeitlichen Intelligenz und dem offensichtlich in uns ange legten Bedürfnis, Bewegung zu verstehen und widerzugeben. Eine weitere Komponente des eiszeitlich künst lerischen Gestaltungswillens ist der Umgang mit Untergrund und Perspektive. Die Bilder wurden nicht willkürlich aufgetragen, sondern bewusst hinsichtlich ihrer Wirkung und Dramaturgie so platziert, so dass sie sowohl die Topografie des Untergrundes und deren Räumlichkeit im Zusam menspiel mit der Lichtquelle Feuer als auch die Blickrichtung des Betrachters berücksichtigten. So entstanden in Lascaux anamorphe Darstellun gen, wie wir sie erst in der Renaissance wieder finden. Zudem wurde offensichtlich in einigen Höhlen die Wirkung des Klangs in die Auswahl des Standorts mit einbezogen. Die aktuellen inszenatorischen Arbeiten im Bereich der Animation bedienen sich wieder sel biger Gestaltungsmittel. Bewegte Bildwelten in Korrespondenz mit dem meist architektonischen Untergrund sehen wir in Arbeiten von Robert Sei del oder der Künstlergruppe urbanscreen. Unse re Dozenten François Chalet und Robert Müller erarbeiten an der Hochschule Luzern – Design & Kunst mit den Studierenden Animationsprojekte im Raum, die in dieser Tradition das Zusammen spiel von Projektion, Untergrund und Klang aus loten. Dabei sind wir heute zwar in der Lage, die Bewegung in der vierten Dimension darzustellen, bezahlen dafür aber mit deren Vergänglichkeit. Jürgen Haas studierte Art Education und Graphic Design an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. Neben seiner Tätigkeit als Regisseur unterrichtete Jürgen Haas an der Bauhaus-Universität in Weimar und an der Filmakademie Baden-Württemberg. Aktuell ist er Leiter des Bachelor-Studiengangs Animation an der Hochschule Luzern – Design & Kunst.
Expanded Animation Als Expanded Animation bezeichnen wir beweg te Bilder, die das klassische Format Trickfilm für Kino und Fernsehen erweitern. Durch die Ent wicklung neuer Technologien und der damit ver bundenen medialen Möglichkeiten ist eine Auf lösung der Grenzen zwischen den Genres und Spielarten vor allem der digitalen Animation zu beobachten. Computerspiele kann man als Ex panded Animation bezeichnen, wenn man sie vom Animationsstandpunkt aus betrachtet. Animation tritt in Dialog mit darstellenden Küns ten. Sie okkupiert den Raum installativ oder im Zusammenhang mit der Architektur. Körper und die Objekte werden zu Screens. Der herkömmli che Bildschirm wandelt sich radikal, wird winzig oder riesenhaft, form- und faltbar und löst sich gänzlich von seiner Unterlage hinein in den Raum als Holografie. Die Animation emanzipiert sich aus dem ge schlossenen Raum des Kinos oder Wohnzimmers und durchdringt unseren Alltag, als Leitsystem im öffentlichen Raum, als Visualisierungshilfe in Technik und Medizin oder als unterhaltende App für unterwegs. Das Wesen von Expanded Anima tion ist nonlinear, auch wenn einige ihrer Felder sich weiterhin der linearen filmischen Form des Erzählens bedienen, wie etwa die Projektion auf Gebäude oder Einspieler für Theateraufführungen. Dennoch sind ihre zentralen Parameter die Inter aktion und kreisförmige versus lineare Bewegun gen. Expanded Animation löst die klassische Auffassung von Animation nicht ab, sondern er weitert sie. François Chalet doziert Storytelling und Expanded Animation im Bachelor-Studiengang Animation. Seit 1997 arbeitet er als Regisseur, Animator, Illustrator und visueller Künstler für nationale und internationale Auftraggeber und ist regelmässig Jurymitglied und Vortragender an internationalen relevanten Konferenzen und Festivals.
Styropor und Tomaten Viscosistadt im Oktober 2015 Laura Bider, Vera Leisibach und Corina Schaltegger
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Am Fenster steht eine Frau. Nur ihre Umrisse sind zu erkennen. Sie verschwindet in der Dunkelheit und als sie später, etwas Schweres tragend, wie der ans Tageslicht tritt, ist sie ein rauchender Bauarbeiter. Im Gebäude nebenan, der Bauarbei ter betrachtet es nachdenklich, kaufte er am Mor gen jeweils ein Brötchen mit Fleischkäse. Die Bäckerei hat ihren Betrieb wegen schlechten Verkaufszahlen eingestellt, deshalb bleibt es hin ter diesen Fensterscheiben dunkel. Das Treppen haus daneben ist warm und stickig. Im obersten Stock steht ein Boiler, der eine unerträgliche Wärme ausstrahlt. Die Tür zum Dach wurde ab geschlossen. Ganz anders ist die Atmosphäre hier im Parterre, wo die Räume hoch sind, die Sonne hineinscheint und der Wind hindurchbläst. Grosse Gläser stehen angelehnt an den Gebäudewänden. Sie wurden noch nicht eingesetzt. In der Mitte des Raums stehen blaue Glasträger, beladen mit weiteren Fensterscheiben. Als Protest gegen die Bauarbeiten haben Aktivisten pink leuchtend Holzweg über eine Betontreppe gesprüht. Das wird jedoch nicht mehr lange zu sehen sein, denn passend zum kühlen Herbstwetter wird der un fertige Bau isoliert und die Wärmedämmung be deckt nach und nach den nackten Beton. Auf dem Dach, über dem Kopf des Bauarbeiters, wird es Atelierplätze, Werkstätten, Ausstellungsräume, eine Bibliothek, Schnitträume, Theorieräume und geträumte, flexibel nutzbare Räume geben. Es ist zwölf Uhr, Zeit für die Mittagspause. Der Bauar beiter hängt seinen Helm an den Haken, setzt sich und beginnt auf dem Smartphone herumzutippen. Südländische Popmusik erklingt. Sein Pfeifen folgt der Songmelodie. Die Kranführerin kommt herein und legt die Kransteuerung aufs Bänkchen. «Endlich Mittag, kaufst du auch was im Lidl?» Kurz nachdem sie aufgebrochen sind, kreuzt ein Mann ihren Weg. «Grüezi!» – «En Guete!», rufen sie ei nander zu. Der Mann trägt lange, schwarze Le derschuhe.
Entstehung des Textes Während des Umbaus von Bau 745 Viscosistadt durchstreiften die drei Autorinnen gemeinsam das Viscosi-Gelände. Dieser Text entstand aus den dabei gewonnenen Eindrücken. Es wurde eine experimentelle Schreibtechnik angewendet, bei der die Autorinnen den Text ohne Absprachen reihum weiterführten und transformierten. Diese Art zu arbeiten entspricht dem Viscosi-Gelände, in dem verschiedene Parteien Einfluss nehmen. Draussen riecht es nach verbranntem Styropor. Wie immer ist all das Gerümpel auf der Baustelle in geordnetem Durcheinander rund um das Ge bäude abgestellt. Am Baugerüst sind in unter schiedlichen Höhen grüne, durchschimmernde Säcke befestigt, darin Styroporreste. Am Boden stapeln sich alle blauen Teile aufeinander. Alle grauen, in weisse Folie verpackten, liegen dane ben. Die Aluminium- und Alteisenreste des Um baus wurden säuberlich getrennt. Roth Gerüste steht auf Blachen, wo Schönes entsteht. Der Bauarbeiter und die Kranführerin gehen in der goldenen Herbstsonne zwischen den schein bar toten, hohen Fabrikanlagen und verlassen das Areal durch den Gittereingang. An der rechten Seite des Eingangs steht ein grün gestrichenes Gebäude, daran ist ein Schild befestigt. Es zeigt eine Übersicht der Unternehmungen und Men schen, die hier zu finden sind – Viscosistadt, urbanes Leben am Fluss. Das Areal ist wie eine Insel, umgarnt von Fluss und Zugschiene, neben Klär anlage und noch mehr alten Fabrikgebäuden. Man fühlt sich behütet, trotz dem Wandel, der hier im Gange ist. Die Geräusche der Baustelle hören sich gedämpft an, geschluckt von der ruhigen Atmo sphäre. Es gibt auf dem Areal Zebrastreifen, schmale Fussgängerwege, die durch Bordsteine von der Strasse abgetrennt sind, Rasenstücke,
gelb gesprenkelte Büsche und eine zur Bibliothek umfunktionierte englische Telefonkabine. Alles wird hier fremd. Vor dem Tor hört man plötzlich den Strassenlärm und die ruhige Stimmung ist wie weggeblasen. Das lauter und dann wieder leiser werdende Brummen eines vorbeifahrenden Lastwagens vermischt sich mit dem Dröhnen ei nes sehr tief fliegenden Düsenjets. Heute nur dieser eine, zum Glück. Als sie nach dem Mittagessen zurückkehren, steht der Mann mit den langen Lederschuhen rauchend vor einem seltsamen Gerät. Er betrach tet interessiert die Anzeigen, Schläuche, Zylinder, Hähne und Teile, deren Namen er nicht einmal kennt. Die Arbeiter bleiben neben ihm stehen. «Wunderschön, dieses Ding, nicht?», lächelt der Mann mit den Lederschuhen. Die Kranführerin nickt. «Es muss aber nicht nur schön sein, es soll seinen Zweck erfüllen. Das Gas da drin wird zur Herstellung von unterschiedlichsten Mono- und Multifilamenten verwendet. Aus Polymeren wer den die gemacht.» – «Äh, jo jo», meint der Mann mit den langen Lederschuhen, «und später bespannt man damit Siebe für den Siebdruck. So kehrt ein kleiner Teil der Garne irgendwann hier her zurück – in unsere Siebdruckwerkstatt näm lich. Die steht dann dort drüben, wo sie beide gerade bauen, nicht wahr?» – Aha, denkt die Kran führerin, einer von der Hochschule,. das sieht man dem an. Der Bauarbeiter sagt: «Ja genau, da ar beiten wir gerade. Wir sind aber schon bald wie der weg, die Arbeiten gehen gut voran.» – «Ich glaube, wir sollten langsam gehen, die Pause ist gleich vorbei», sagt die Kranführerin zum Bauar beiter. Beide lächeln höflich und lassen den Mann vor dem Gasbehälter zurück. Sie gehen an der Abfallentsorgung vorbei in einen der blauen Brun-Container, um ihre Arbeits montur zu holen. Am Nachmittag sind wieder die Fensterscheiben dran. Viele davon müssen noch eingebaut werden. Die Kranführerin befördert sie konzentriert von einer Seite des Gebäudes auf die andere. Sie folgt mit der Fernsteuerung der Anschlagskette, immer im gleichen Abstand, wie Frauchen ihrem Hund. Der Arbeiter hilft mit zwei weiteren Kollegen beim Abstellen der Gläser. Zu viert kreisen sie, den schwebenden Fenstern fol gend, langsam ums Gebäude. Ab und zu piept es, wenn die Fenster irgendwo anzustossen drohen. Am Boden liegen in Zwischenräumen keine Kieselsteine, sondern dunkelgrauer Styropor. Zwischen den alten Schienen, den Zeugen eins tiger Produktion, wächst Unkraut als Zeichen des natürlichen Widerstandes. Folgt man weiter den Geleisen, kommt man hinter der Baustelle zum überraschenden Bau 735. Vor diesem kleinen Ge bäude mit riesigem Schornstein wachsen in Töp fen in einem schmalen Streifen Erde Weinreben, Tomaten und sogar Salat. Unter der Treppe stehen
in einem Plastikkanister Rosen bereit. Es scheint, als hätten sie ihren definitiven Platz noch nicht gefunden. Die Tomaten sind überreif, sie hängen schwer an den dürren Ästchen und sind etwas vertrocknet. Sie wurden länger nicht gegossen. Vor der Steinwand bietet sich der optimale Platz für die roten Früchte, die so viel Sonne abbekom men. Sie zieren ein Rohr mit vielen Hähnen und versperren die Sicht auf einige wichtige Informa tionstafel, welche die Bedienung der Hähnen erklärt. Hinter dem Fenster im Gebäudeinnern sind weitere Schläuche, Hähne und Messgeräte zu erkennen. Der Mann mit den langen Lederschuhen kommt in letzter Zeit nur selten zum Giessen. Zu viele Projekte und Sitzungen. Und sowieso wird es jetzt kalt und die Pflanzen werden eingehen. Lieber spaziert er in der Gegend herum, um sich zu er holen. Er läuft an den Tomaten vorbei, ohne zu giessen. Weiter hinten, nach einigen Kurven und vorbei an einem abgestellten Fasnachtswagen in einer Scheune, gelangt er zum Ende der Schienen direkt am Fluss. Er dreht seinen Kopf nach rechts, und sieht ein strahlend hellbraunes Holzhäuschen. Und wieder Baumaschinen, denn auch dieses Gebäude ist noch nicht fertig. «Hier entsteht neu, urchig, authentisch, überraschend anders, fan tastisch, faszinierend, genussvoll, trendig – das Chäschalet. Statt Alp – Stadt Alp!» In der Ferne sieht man den Pilatus. Die drei Autorinnen absolvierten den Bachelor Kunst & Vermittlung sowie den Master of Arts in Fine Arts an der Hochschule Luzern – Design & Kunst. Laura Bider *1987 in Nesselnbach AG. Verschiedene Stellvertretungen als Lehrerin für Bildnerisches Gestalten und Textiles Werken. Projekte im Bereich Spaziergang/ Performance, Objekte und Zeichnung. Vera Leisibach *1987 in Bern. Gründungs- und OK-Mitglied des Zollhaus Luzern. Künstlerin, Kuratorin, Vermittlerin, freischaffende Filmerin und Fotografin. Webredaktion, Assistenz, Master Kunst Luzern, seit 2015. Corina Schaltegger * 1989 in Grabs. Freie Mitarbeiterin Kunstvermittlung im Aargauer Kunsthaus, Lehrerin für Technisches Gestalten. Künstlerische Projekte im Bereich Video, Installation und Performance.
Fragen an Emmen brücke Abschlussausstellung der Schwerpunkte Art Teaching und Art in Public Spheres Peter Spillmann
↑ Der Videowalk von Madelina Zweidler reflektiert die Entwicklung des Viscose-Areals. Fotografie: Niklaus Spoerri
1 Suzanne Lacy, Mapping the Terrain: New Genre Public Art, 1995. 2 Parkfiction, Hamburg, seit 1995. 3 The Watts House Project, Los Angeles, seit 1996.
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Der Studiengang Master of Arts in Fine Arts mit den Schwerpunkten Art Teaching, Art in Public Spheres und Image Practices fokussiert auf For men künstlerischer Praxis, die sich mit Aspekten von Öffentlichkeit, dem gesellschaftlichen Alltag und seinen medialen Inszenierungen beschäfti gen. Die Studierenden entwickeln im Laufe des zweijährigen Studiums künstlerische oder ver mittelnde Projekte, die sich auf konkrete Themen oder Orte beziehen. Die Arbeiten werden am Ende des Studiums in einer Ausstellung vorgestellt. Seit Bestehen des Studiengangs boten so ganz unter schiedliche Orte der Zentralschweiz jeweils für zwei Jahre Anlass für künstlerische Auseinander setzung. Im Hinblick auf den neuen Standort der Hochschule Luzern – Design & Kunst lautete die Aufgabe für die 2016 abschliessenden Studieren
den denn auch «Gemeinde Emmen». Die Projek te, die sich zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Textes noch in Arbeit befinden, wurden im Juni 2016 im Rahmen der Werkschau in Emmenbrücke der Öffentlichkeit vorgestellt. Kunst im öffentlichen Raum oder Public Art umfasst heute ganz unterschiedliche und gegen sätzliche Genres, von der «dropped sculpture» auf öffentlichen Plätzen bis zu politisch engagier ten künstlerischen Interventionen oder langfris tigen sozialen Projekten. Ein zentrales Merkmal von Public Art ist ihr Orts- oder Kontextbezug. Die Bedeutung von «site specificity» wurde in den letzten 40 Jahren ständig erweitert. Waren es erst die physischen Räume des Museums und der Galerien, die demontiert und verlassen wurden, befassten sich die künstlerischen Positionen im öffentlichen Raum später mehr mit institutionel len Machtverhältnissen, sozialen Strukturen und gesellschaftlichen Repräsentationssystemen und schliesslich rückten die sozialen und diskursiven Kontexte in den Fokus von Public Art. Suzanne Lacy prägte in den 1990er-Jahren den Begriff «New Genre Public Art» für jene Formen der Public Art, die auf Interaktion mit Publikum oder auf Kooperation mit Akteuren basieren.1 Dazu zählen Projekte wie Parkfiction, in welchen sich auf Initiative von Kunstschaffenden die An wohner von St. Pauli eine der letzten Grünflächen aneigneten und ihren eigenen Park gestalteten,2 oder ein noch laufendes Projekt in Los Angeles, wo Teams von Kunstschaffenden und Architekt innen und Architekten den Bewohnerinnen und Bewohnern eines heruntergekommenen histori schen Viertels helfen, selber Häuser zu bauen.3 In La Chapelle, einem Pariser Stadtteil mit hohem
migrantischen Bevölkerungsanteil, entstand auf ungenutzten Parkflächen ein Community-Garten, der bald zum sozialen und kulturellen Zentrum wurde und ein Modell einer ökologisch nachhal tigen, weitgehend auf Recycling von Ressourcen basierenden Stadtentwicklung abgibt.4 *** Im Vorfeld der Abschlussausstellung der Schwer punkte Art Teaching und Art in Public Spheres wurde auf einer ersten gemeinsamen Exkursion schnell klar: Emmenbrücke ist ein Ort, der sich im Moment stark verändert und der zurzeit prak tisch vollständig umgebaut wird. Und offensicht lich geschieht dies auch nicht zum ersten Mal. Das Ortsbild ist geprägt von grossen, raumgrei fenden Veränderungen. Der Übergang vom For dismus zum Postfordismus bedeutete auch in Emmenbrücke die Verlagerung der Produktion an billigere Orte, den Abbau von Arbeitsplätzen und die Schliessung von Fabriken. Weil nun nicht mehr die Stückzahlen und Tonnagen den wirt schaftlichen Erfolg garantierten, sondern die in telligenten Dienstleistungen, kreativen Ideen und Lebensqualität, stand die moderne Vorzeigege meinde Ende der 1990er-Jahre plötzlich schlecht da. Die Entwicklung von Emmenbrücke wird seit her nicht mehr in erster Linie durch die Anforde rungen grosser Industrien gesteuert, sondern vielmehr von der Notwendigkeit, ein für die Zu kunft passendes Image zu finden, wie das in der Strategie Emmen 20255 festgehalten wird. In den daraus abgeleiteten strategischen Zielen formu liert Emmen für sich die Vision einer lebendigen, vielfältigen und toleranten Wohngemeinde an der Schnittstelle zwischen Stadt und Land, in der sich die Bevölkerung sicher fühlt und aktiv am sport lichen und kulturellen Leben partizipiert.6 Von der richtigen Wirkung, wie positiv oder negativ etwas von der Öffentlichkeit wahrgenommen und ver standen wird, oder andersherum gesagt, wie attraktiv oder geschickt etwas inszeniert wird, hängt heute nicht nur das Wohl von Popstars oder Produktemarken, sondern auch dasjenige von Gemeinden ab. Können und sollen die Projekte unserer Studierenden etwas dazu beitragen? Als durchaus adäquate Strategie, den wider sprüchlichen und komplexen Anforderungen erst einmal ein Schnippchen zu schlagen und Zeit zu gewinnen, hat sich immer wieder Spazierengehen bewährt. So hat sich Ursina Leutenegger mit einer Videokamera entlang der Gemeindegrenzen auf den Weg gemacht, den Ort einzukreisen. Sie nimmt sich selbst dabei auf, wie sie die Gemein de abschreitet und unvermittelt oft minutenlang stehen bleibt. Im Hintergrund, in der Ferne findet der Alltag statt, liegen leere Felder, fliesst dichter Verkehr, wird hektisch gebaut, dringt Lärm ins
Bild, während die Figur, die sich in allen Einstel lungen langsam weiter vorwärts bewegt oder stehen bleibt, zum einzig relevanten Anhaltspunkt für die Vermessung von Raum und Zeit wird. Um ohne gleich aufzufallen täglich durch die Gerliswilstrasse zu spazieren, hat sich Maja Truf fer erst von ihrer Dalmatinerhündin Venus beglei ten lassen, bis sich das Verhältnis eines Tages umdrehte. Seitdem begleitet sie Venus bei ihrem täglichen Spaziergang durch Emmenbrücke. Der Nase der Hündin folgend werden sukzessive alle fremden Orte und anonymen Ecken erkundet, es kommt zu kurzen Begegnungen mit den verschie densten Artgenossen und zu kurzen Gesprächen zwischen den sie begleitenden Menschen. Die beiden sind längst zu einem festen Bestandteil des täglichen Geschehens geworden. Auf Spaziergängen durch Emmenbrücke auf der Suche nach Leere, Ruhe und Kontemplation ist Rebekka Friedli auf das oberste Parkdeck des Emmen Centers gestossen. Tagsüber an Werk tagen und am Sonntag geschieht hier stunden lang nichts. Mitten im Zentrum der wirtschaftli chen Dynamik der Agglomeration und im Zentrum von Verkehrsströmen trifft man völlig unvermittelt auf Leere und Einsamkeit, die sich langsam aus zubreiten scheint, je länger man sich hier aufhält. Mindestens zwei Projekte beschäftigen sich mit dem für Emmenbrücke so entscheidend ge wordenen Thema des Images. Madleina Zweidler fragte sich angesichts der mit der Erneuerung des Seetalplatzes auf Hochtouren laufenden Aufwer tung des öffentlichen Raumes, was von der spe zifischen Identität von Emmenbrücke dadurch verloren gehen wird. Was geschieht mit den vie len Spuren jahrelanger intensiver Nutzung, den geflickten Strassen und ausgewaschenen Mar kierungen, den Brachen rund um die alten Indus trieareale, mit ihrer ganz eigenen Flora, der oft improvisiert anmutenden Bebauungen kreuz und quer im Raum und den etwas schäbig wirkenden Fassaden entlang der Gerliswilstrasse? Müsste man nicht genau davon zumindest Fragmente konservieren, um die Identität des Ortes zu erhal ten und zu verhindern, dass seine Geschichte völlig überschrieben wird? Titus Bütler versuchte erst die rasanten Veränderungen beim Umbau des ehemaligen Laborgebäudes zur Hochschule auf dem Areal der Viscose mit langen Videoein stellungen einzufangen. Nach dem Studium von Leitbildern, Entwicklungsplänen und Strategie papieren zum laufenden Umbau rund um die Vis cosistadt und der Beschäftigung mit zahlreichen weiteren Bauvorhaben vor Ort, fragte er sich, wie viel Freiraum die Visionen der zukünftigen Stadt, wie sie in den Strategiepapieren formuliert und in den Visualisierungen der Bauvorhaben vorge führt werden, ihren zukünftigen Bewohnern und Bewohnerinnen überhaupt noch lässt, ihre Art
4 Ecobox, Atelier d’Architecture autogéré, Paris 2001–2009. 5 Institut für Betriebs- und Regionalökonomie, Hochschule Luzern – Wirtschaft, Entwicklungsplan für die Gemeinde Emmen, Luzern 2012. 6 Gemeinderat Emmen, Strategie Emmen 2025, Emmen 2015.
des Lebens und Arbeitens selbst zu bestimmen. Müsste sich die Stadt nicht vielmehr zurückneh men, als offene Plattform verstehen und die In szenierung den hier lebenden Menschen überlas sen? Auf den Darstellungen der neuen Anlagen und Areale lassen sich jedenfalls wenige Hinwei se auf wirklich urbanes Leben erkennen, wo un kontrollierbare Vielfalt herrscht und Gegensätze aufeinanderprallen, Konflikte ausgetragen und Gemeinsamkeiten ausgelebt werden. Mit der erfolgreichen Verschiebung des Tram hüslis am Central konnte 2015 im letzten Moment ein für die Region einzigartiges Gebäude vor dem Abbruch gerettet werden. Timothy Studer beob achtete zu dem Zeitpunkt schon länger das Ge schehen rund um den Platz, erfasste Frequenzen von Fahrzeugen, notierte die Bewegungsmuster von Personen und stellte unter anderem fest, dass die meisten Passanten und Passantinnen auf ih rem Smartphone präsent und im Raum zugleich abwesend sind. So erkundete er den Ort auch im Internet und stiess auf Street View auf die zu fälligen Bildunterbrechungen, Verzer rungen und Störungen, die entstehen, wenn die Bilder der fahrenden Kamera von Google zu Endlospanoramen zu sammengerechnet werden. Als das Gebäude schliesslich verschoben wur de, hat er das Ereignis mit der eigenen Kamera dokumentiert. Der horizontale Shift des Gebäudes im realen Raum erschien so plötzlich wie eine logische Konsequenz der auf Street View ent deckten vertikalen Bildstörungen auf der Fassade des Gebäudes und bietet Anlass, über die zunehmende Überla gerung von Realität und virtueller Re präsentation und ihre Effekte auf die Gestaltung und Nutzung des realen Raumes nachzudenken. Auch Charlotte Coosemans und Mar tina Steinbachers Projekt kreist um das Tramhüsli. Sie nahmen die Erfahrungen rund um die Mobilisierung der Bevöl kerung zur Rettung des Gebäudes zum Anlass, einige grundsätzliche Fragen zum Umgang mit dem öffentlichen Raum zu stellen. Ein Modell des Tramhüslis im Massstab 1:10 steht nun symbolisch für regelmäs sige Treffen und einen intensiven Austausch über Selbstermächtigung und für die Entstehung von Gemeinschaften und die Aneignung von öffentli chem Raum. Zwei Projekte greifen Momente aus der Ge schichte der für Emmenbrücke so prägenden Firma Viscosuisse (ab 2009 Monosuisse) auf. Von Beginn an hatte sich die Firma offenbar zum Ziel gesetzt, ihren neuen Standort massgeblich mit zugestalten und Verantwortung für das Wohl der
«Müsste sich die Stadt nicht vielmehr zurücknehmen, als offene Plattform verstehen und die Inszenierung den hier lebenden Menschen überlassen?»
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Mitarbeitenden weit über das eigentliche Arbeits verhältnis hinaus zu übernehmen. Sie investierte in den Wohnungsbau und in Feriensiedlungen und motivierte die Belegschaft zu sinnvollen sportli chen Freizeitaktivitäten. Anna Bärtschi unter sucht anhand von Protokollen der Betriebsrats sitzungen, Artikeln in der betriebseigenen Zeitschrift Viscose-Post und weiterem Material aus Archiven, in welcher Form das Engagement der Firma genau stattgefunden hat und wie es sich über die Jahrzehnte hinweg verändert hat. Schon früh, lange vor dem Auftauchen der digi talen Arbeitsnomaden der Kreativindustrie, ver wischen hier die Grenzen zwischen Arbeit und Privatem. Die Firma als Teil der Familie bildet auch den Ausgangspunkt für das Projekt «we are fa mily» von Margit Bartl-Frank. Ihr Grossvater hat te zeitlebens in der Tochterfirma der Viscosuisse in Widnau im St. Galler Rheintal gearbeitet und oft von seiner «Familie» gesprochen. Die Firma wurde 1998 verkauft und geschlossen. Im Vetera nenverein treffen sich die ehemaligen Mitarbei tenden aber heute immer noch regelmässig zum «Chlaus-Höck» und unternehmen gemeinsame Wanderungen. Margit Bartl-Frank organisierte im Sommer eine Begegnung von Veteranen aus Widnau und Emmenbrücke und nutzte die Gele genheit, sich über das Leben jenseits von Lohn arbeit auszutauschen. Diese und alle weiteren Projekte, welche die Stu dierenden für Emmenbrücke erarbeitet haben, stellen aktuelle, situationsbedingte Ansätze dar, wie man im Rahmen eines künstlerischen Pro zesses mit den vielfältigen und oft widersprüch lichen Phänomenen und Themen des Alltags einer normalen Agglomerationsgemeinde umgehen kann. Eine Eigenart von Public Art ist es, zuweilen mehr neue Fragen aufzuwerfen als Antworten auf bereits bestehende zu geben. Peter Spillmann ist Künstler, Kunsttheoretiker, Dozent und Leiter des Major Art in Public Spheres, Master of Arts in Fine Arts an der Hochschule Luzern – Design & Kunst. Spillmann ist Mitbegründer von verschiedenen selbstorganisierten Plattformen wie «Labor k3000» oder «CPKC Center for Post-Colonial Knowledge and Culture» und entwickelt in wechselnden interdiszipli nären Zusammenhängen thematische Projekte und Ausstellungen.
EmmenbrĂźcke Genius Loci Evert Ypma
1 Die Eroberung der Strasse. Von Monet bis Grosz, hrsg. von Karin Sagner, Matthias Ulrich u.a., München 2006, S. 12. 2 Michael Wagner, «Bilder der Stadt. Fotografische Beobachtung, Analysen und Projektionen urbaner Qualitäten», in: Die Stadt als Ressource: Texte und Projekte 2005–2014, Professur Kees Christiaanse, ETH Zürich, hrsg. von Tim Rieniets u.a., Berlin 2014, S. 64. 3 Hilar Stadler u.a., Las Vegas Studio. Bilder aus dem Archiv von Robert Venturi und Denise Scott Brown, Kriens und Zürich 2008. 4 Kevin Lynch, Image of the City, Cambridge 1960, S. 145. ← Anja Stadelmann, Studentin Camera Arts an der Hochschule Luzern – Design & Kunst, «Dankbarkeit ist mir sehr wichtig.», 2015, Fotografie.
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Studierende des Bachelors Camera Arts an der Hochschule Luzern – Design & Kunst erkunden seit 2012 urbane, soziale, kulturelle, politische und ökonomische Rahmenbedingungen der sich stark verändernden Gemeinde Emmen. Fotogra fisch und mithilfe anderer bildgebender Verfahren untersuchen sie in Emmenbrücke den Genius Loci – wörtlich übersetzt den Geist des Ortes. Seit dem Einzug der Hochschule Luzern – Design & Kunst in den neu gestalteten Campus auf dem Visco si-Areal hat sich für die Studierenden die Blick richtung geändert: Ab jetzt setzen sie Emmen brücke von innen in Bezug zu Luzern, zur Schweiz und zur globalen Entwicklungen. Unser Projekt «Genius Loci» ist gekennzeichnet von einer phänomenologischen Herangehens weise. Die Studierenden sind angehalten, die urbane Landschaft und örtliche Kultur aus eigener Sicht wahrzunehmen. Sie interpretieren ihre Be gegnungen, die Nachbarschaften, die Geschich ten und davon ausgehende Fragestellungen mit tels persönlicher Erfahrungen und bringen so weniger geläufige Standpunkte ans Licht.
Stadt im Bild Seit der Entstehung der Fotografie zu Beginn des 19. Jahrhunderts rückten viele namhafte Fotogra finnen und Fotografen die Dokumentation von Stadt- und Industriekulturen ins Zentrum ihres Schaffens. Fotografie offenbarte die ephemeren Momente und die exotischen Eigenschaften von Stadt und Raum. Wie die Malerei und Zeichnung, so zeigt auch die Fotografie ein eigenständiges künstlerisches Bild der Stadt.1 Im Jahr 1975 kuratierte William Jenkins in New York eine Ausstellung unter dem Titel «New To pographics – Photographs of a Man-altered Landscape». Das Düsseldorfer Künstlerpaar Hil la und Bernd Becher präsentierte in dieser Aus stellung Fotografien monumentaler deutscher, europäischer und nordamerikanischer Industrie anlagen – ein umfassendes Dokumentationswerk, das die Bechers seit Ende der 1950er-Jahre ak ribisch und nach einem enzyklopädischen Ord nungsprinzip erstellten. Der Fotograf Robert Adams kritisierte mit sei ner Dokumentarfotografie in den 1970er-Jahren die hemmungslose Verunstaltung amerikanischer Landschaften durch Verkehrsinfrastruktur, Zer siedlung und Erdraubbau. Im Gegensatz zu diesen analytisch-orientierten Ansätzen entwickelte Andreas Gursky ab den 1980er-Jahren subjektive Darstellungsformen von urbanisierten Topogra fien, die sich unter dem Einfluss von globalem Handel und Netzwerken in anonymisierte Land schaften der Dienstleistungsgesellschaft verwan delten.2
Für Architektinnen und Architekten ist die Fo tografie ein wichtiges Instrument der Auseinan dersetzung mit komplexen Gegebenheiten und künftiger Stadtentwicklung. Anders als Pläne, haben die Fotografie und das Bewegtbild die Fä higkeit, harte und weiche Qualitäten des urbanen Raums vermitteln zu können. Die wegweisende urbane Studie von Denise Scott Brown, Robert Venturi und Steven Izenour, die mit Studierenden der Yale University erarbeitet und 1972 als Publi kation «Learning from Las Vegas»3 herausgege ben wurde, zeigte die formalen Erscheinungen gebauter Umgebung, urbaner Ikonografie und Semantik auf. Diese bildhafte Recherche hat den postmodernen Architekturdiskurs wesentlich mitgeprägt. Auch die 1976 von Scott Brown initi ierte Ausstellung «Signs of Life» thematisierte die historischen und zeitgemässen Symbole und Zei chen nordamerikanischer Landschaften und Le benssphären – alles Inspirationsquellen für das Projekt «Genius Loci» des Bachelors Camera Arts. Die mobile Technologie erweiterte unsere men tale Kartografie und unsere Orientierung im Raum und in der Gesellschaft. In der vernetzten medi alen Welt navigieren wir auf unseren Smartpho nes von Window zu Window durch virtuelle Geo grafien, online Communities und semantische Felder. Wo der amerikanische Architekturtheo retiker Kevin Lynch in seinem 1960 erschienenen Buch «Image of the City» noch Routen, Unterbre chungen im Stadtbild, Nachbarschaften, urbane Knotenpunkte und Landmarks als wichtige Ele mente für das Stadtbild und die Orientierung aus machte,4 kommen heute Variablen wie Likes oder Tweets hinzu. Locative Media, die Machine-to-Ma chine-Kommunikation, Algorithmen und Big Data werden Lesart, Wahrnehmung und Selbstver ständnis des urbanen Alltags weiter verändern.
Urbane Transformation und Kulturwandel Ein wichtiges Verfahren von Kulturproduktion ist Transformation. Emmenbrücke als sich verän dernder Ort bietet Kreativen inspirierende An knüpfungspunkte für künstlerische Positionen. Der Umzug der Hochschule Luzern – Design & Kunst ist nicht nur ein lokales Ereignis. Mit ihrem Umzug nimmt sie aktiv teil an der Überführung der industriellen Produktionsstätten des global exportierenden Unternehmens Monosuisse in die tertiäre Nutzung. Die Folgen der ausgelagerten Produktion in Billiglohnländer konfrontieren die Studierenden direkt mit der Realität globaler Wirt schaft. Der Einzug von Kreativwirtschaft und der Hochschule Luzern verhilft den Industriebauten zu einem zweiten Leben, wird aber auch eine Gen trifizierung in der Form einer «Studentifizierung» auslösen.
Mit dem hundertjährigen Narrativ von Aufstieg und Niedergang des Industrie- und Arbeitervor ortes sowie der postindustriellen Wiederbele bung befindet sich Emmenbrücke, wie viele Schweizer Gemeinden, in einem tiefgreifenden Transformationsprozess. Die ökonomischen, so zialen und urbanen Strukturen spiegeln diese Entwicklung wider. Neben pensionierten Indus triearbeitern leben Pendler mit Jungfamilien und andere Zugezogene in einer zunehmend kulturel len und religiösen Vielfalt. Kreative wohnen und arbeiten in Emmenbrücke wegen noch günstiger Mieten und vorhandener grossräumiger Ateliers. Im nahen Umland bewirtschaften Bergbauern eine Landschaft an der Grenze zur Stadt. Zwi schen weidenden Kühen stellt RUAG Space die Nutzlastverkleidungen für die ESA-Trägerrakete her. Diese Gegensätze sind exemplarisch für die gegenwärtige Schweiz und werfen viele Fragen der Zukunftsgestaltung auf. Zwar lehnte die Be völkerung von Emmen im Jahr 2012 den Anschluss an die Stadt Luzern ab, doch die urbane Integra tion von Luzern Nord ist nicht aufzuhalten. Die Gebiete des westlichen Vierwaldstättersees und der Alpennordseite gehören zu den sich am stärksten verändernden Landschaften der Zent ralschweiz. Das Verdichtungskonzept «Emmen Urban Hybrid» des Rotterdamer Architekturbüros MVRDV soll die fortschreitende Zersiedelung auf halten. Die ETH-Studie «Switzerland – an Urban Portrait»5 von 2006 beschreibt Emmenbrücke als «shady side» des Raums Luzern, gezeichnet von Urbanität, Shoppingzentren und Grossindus trie, mit Anschluss an alle Mobilitätsnetze.
Interessen, Methoden und Formate Design- und Kunstschaffende haben die Fähigkeit, gesellschaftliche Veränderungen frühzeitig zu spüren. Sie manifestieren latente Vorzeichen als künstlerisch-gestalterische Positionen und geben diese an ihr Publikum zurück. Mit ihren persönli chen Interpretationen entwickeln sie subjektive alternative Narrative. Auch die studentischen Arbeiten im Rahmen des Projekts «Genius Loci» erproben neue Herangehensweisen. Interesse6 an Menschen, Gruppen und Gemein schaften zählt wohl zu den wichtigsten Motiven, fotografisch-visuelle Medien professionell einzu setzen. Design- und Kunstschaffende einer en gagierten Medienpraxis haben ein Interesse am Drin-, Dabei- und Verwickeltsein. Sie mischen sich ein, als informierte Teilnehmende, als Schöp fende und Fürsprechende. In gewählter Verlang samung nähern sich Visual Storyteller dem Men schen oder einer Sache – im Gegensatz zur schnelllebigen Fotografie.
Etwas fotografieren ist ein performativer Akt gegenüber einem Gegenstand, einer vorgefun denen Situation oder einem Subjekt. Technische Versiertheit allein reicht heute nicht mehr aus. An Bedeutung gewinnt das Gestalten sozialer und inhaltlicher Bezüge zwischen den Fotografieren den, Fotografierten und den Bildrezipierenden. Fotografierende wechseln ihre Rollen, mal sind sie Kuratierende, mal Moderierende. Bildproduk tion und Zirkulation bezeichnen sie als social currency. Fotografierende sind Beteiligte, sie re gen mit visuell-medial geführten Verhandlungs prozessen Bedeutungsbildung an. Das Interagie ren im Spannungsfeld zwischen Observieren, Handeln und Vermitteln erweist sich als Heraus forderung: Bildkonsumierende werden Bildpro duzierende und Laien Experten für ihre ange stammten Stadtviertel. Die Identität von Emmenbrücke ist immer we niger von langfristigen Verwandtschafts-, Freun des- und Nachbarschaftsbeziehungen geprägt; ein Ort für neue Arbeits- und Lebensformen ent steht. Auch Kunstschaffende arbeiten an der Fra ge, welche für Emmenbrücke typischen Traditi onen beibehalten werden sollten, welche verschwinden dürfen, und mit welchen Impulsen sich neue Identität bilden könnte. Heimat, das Verhältnis zwischen Stadt und Land, die Eigen heiten als Vorort, Agglomeration und Indust riestandort werden ebenso ergebnisoffen thema tisiert wie die Gegenüberstellung geplanter und gewachsener Stadtraumstrukturen. Im Grunde wird schon der Findungsprozess dieser urbanen und kulturellen Identität Bestandteil der neuen Emmenbrücker Identität. In diesem Sinn verstehen wir unsere Langzeitbeobachtungen als Interakti on, gleichsam als Labor in vivo ange wandter künstlerischer visueller Prak tiken wie Fotografie, Moving Image, Visualisierung sowie interaktiver Offund Online-Experimente. Fragen zu kommunizieren ist ebenso wichtig wie das Gestalten themenbezogener trans disziplinärer Beziehungsnetze. Mit die sem auch selbstkritischen Hochschul labor werden wir Teil der Viscosistadt und der Gemeinde Emmen. Von uns geplante Störungen dürfen unerwartete Reaktionen hervorrufen, kleine urbane Akupunktureingriffe grös sere Bewegungen anstossen, Projekte Gedanken austauschen, auch jeweils über den eigenen Tellerrand hinaus: Während der Recher chen entdeckten wir den beabsichtigten Abbruch des hundertjährigen Tramhauses am Central, was zur Gründung einer Stiftung führte. Das 230 Ton nen schwere ikonische Gebäude konnte 2015 vor
5 Switzerland – an Urban Portrait, hrsg. von Roger Diener, Jacques Herzog u.a., Basel 2006. 6 lat. interesse: dazwischen sein.
«Fotografie rende wechseln ihre Rollen, mal sind sie Kuratierende, mal Moderierende.»
den Abriss gerettet und verschoben werden, so dass es nun für die Gemeinschaft erhalten bleibt. Wie der rasante Umbau von Paris im 19. Jahr hundert im Auftrag Napoleons III. so wird sich auch die Transformation von Emmenbrücke in nur fünfzehn bis zwanzig Jahren vollziehen. Doch Städte sind schneller gebaut als kulturelles Leben entsteht, welches sich kaum mittels Engineering beschleunigen lässt. Umso wichtiger werden Kri terien für Konzeption, Produktion und Anpassung kultureller Entstehungsprozesse. Durch das Projekt «Genius Loci» werden Stu dierende mit diesen komplexen Herausforder ungen vertraut. Sie üben sich in reflexiver Distanz, um lokalen Interessen und Emmenbrücker Ge pflogenheiten gerecht zu werden. Ausgehend vom vermittelten stadtästhetischen Basiswissen visualisieren sie ihren eigenen künftigen Studienort.
↑ Claudia Schildknecht, Studentin Camera Arts an der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Drawing with needles, 2014.
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Vorstellungen jenseits des Status quo Während in der öffentlichen Kommunikation über den Emmenbrücker Wandel kommerziell moti vierte generische Bilder ohne Zusammenhang vorherrschen, haben wir eine Vielzahl kontext bezogener Materialien hervorgebracht, die für die Ortsentwicklung von visionärer Bedeutung sein können. Damit bereichern wir die öffentliche Debatte mit kunst- und designbezogenen Positi onen. Mit Bildern laden wir Entwickler und Ein wohnerinnen ein, ihre Vorstellungen über ihren Lebensraum in die Zukunft zu richten. Mit unse rem Projekt «Genius Loci» zeigen wir auf, wie sich Design- und Kunstschaffende sowie Kunsthoch schulen kreativ, argumentativ und strategisch aufrüsten, um sich als Partner an urbanen Trans formationsprozessen beteiligen zu können.
Mit Dank an Lukas Einsele, Dozent, sowie an die Studierenden der Studienrichtung Camera Arts, Hochschule Luzern – Design & Kunst für ihre inhaltlichen und visuellen Anregungen. Evert Ypma ist Design Strategist, Designforscher und Studienrichtungsleiter der BachelorStudienrichtung Camera Arts an der Hochschule Luzern – Design & Kunst. Die Studienrichtung beschäftigt sich mit Fotografie im Kontext von Kunst, Design, Medien sowie Gesellschaft und erprobt fotografisch-visuelle und trans mediale Strategien.
Nordwärts – Erinnerungen an die Zukunft Paul Huber
Nordwärts radelte mein Vater sechs Mal wö chentlich von der Sentimatt in Luzern, wo er als Dreher arbeitete, nach Emmen in die Feldbreite. Bis 1958 sein Arbeitgeber, die Aufzüge-Fabrik Schindler AG, seinen Sitz nach Ebikon verlegte und das Zentralschweizerische Technikum in die verlassenen Fabrikhallen einzog. Nordwärts, vorbei am ehemaligen Volkshaus II beim Kreuzstutz, wo sich die radikalen Linken trafen, die Kommunisten von der Partei der Arbeit (PdA). Die, welchen die Sozialdemokraten und die Gewerkschaften mit Friedenspflicht und Ge samtarbeitsverträgen zu brav waren, Verräter am wahren Sozialismus. Nordwärts, zwischen den Tramschienen, die gerade einmal 40 Zentimeter Platz zwischen Trot toir und Schiene liessen. Fürchterliche Stürze waren nicht selten, wenn sich ein Velorad im Ge dränge der nach Hause eilenden Scharen von Arbeitern in der Schiene verfing. Nordwärts, mit Zwischenhalt beim Konsumladen in Reussbühl, um Brot für die Familie zu kaufen. Vorbei an den Sheddächern des Küchen herstellers Salvis, vormals der Standort der Florettseiden-Spinnerei beim Zollhaus. Nordwärts, über die Emmen-Brücke Richtung Emmen Dorf zur Arbeitersiedlung Feldbreite. Ne gerdörfli genannt, wegen der dunkelbraun ge beizten Fassaden der kleinen Holzhäuser, oder Schindler-Dörfli, wegen der Firma, von deren Lohn die kinderreichen Familien der meist aus der Luzerner Landschaft in die Vorstadt migrierten Arbeiter abhingen.
→ Fotografien: Randy Tischler
Vorstadtlüfte … seien die schlimmsten aller Düfte, meinte mein Geschichtslehrer am Lehrerseminar im ländlichen Hitzkirch. Eine auf die soziale Herkunft gemünzte, unerträgliche Beleidigung, die nach Widerspruch und trotzigem Behaupten rief. In Emmen zu woh nen, das war in den Nachkriegsjahrzehnten eine zwiespältige Angelegenheit. Zum einen waren wir stolz auf unsere Heimat gemeinde. Stolz zu sein auf Emmen war fast wie ein Schulfach. Emmen – mit Tausenden von Ar beitsplätzen die grösste Industriegemeinde der Zentralschweiz. Die Zahl von Arbeitsplätzen der einzelnen Firmen wurde im Fach Heimatkunde abgefragt: Viscosi, mehr als 3000; von Moos Stahl, fast 3000; Flugzeugwerke 800, Eisen giesserei Emmenbrücke 500; Weber Elektro, mehr als 300; Allegro; AMP… Die wichtigsten Betriebe entsandten Kadermitarbeiter in den Ein wohnerrat, um für industriefreundliche Rahmen bedingungen zu sorgen. Von der Viscosefabrik gespendete Glocken gaben von allen Kirchen den Ton an und wohl auch, was es geschlagen hatte. Wir waren stolz, dass Emmen dank der Steuern der Industriebetriebe die schönsten Sportanlagen hatte, die neuesten Schulhäuser, die besten Leh rerlöhne, das erste Freibad in der Zentralschweiz.
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Emmen war fortschrittlich. So brachten uns das die Lehrer bei. Und so war es wohl auch. Die Zu kunft fand im Norden statt. Aber es gab auch das Andere, die Kehrseite: Der allgegenwärtige Fluglärm, an dem sich nur jene Emmerinnen und Emmer Kritik erlaubten, die damit leben konnten, sich den Ruf von Antimili taristen und verkappten Landesverräterinnen einzuhandeln. «Schlüsselkinder», die wegen der unterschied lichen Schichtzeiten ihrer Eltern diese kaum je gemeinsam sahen. Ghettos, wo die in Italien angeheuerten jungen Arbeiter wohnten und sich zu zweit Barackenver
schläge von sechs bis acht Quadratmeter Wohn fläche teilten. Ohne Bleibeperspektive, fern von Frau und Kindern und mit dem Ruf, potenziell – so ein zu Zeiten der Schwarzenbach-Initiative übli ches Vorurteil – Messerstecher zu sein. Der Schwefelgeruch der Viscosefabrik, der je nach Wetterlage gelegentlich jedes Emmer Quar tier, am häufigsten aber die Gerliswilstrasse, heimsuchte. Darüber durften sich in erster Linie die «Auswärtigen» mokieren. Die Einheimischen hatten mit dem, von wem auch immer erdachten, Sinnspruch zu leben: «Wenn d’Viscosi nömme stinkt, deh stinkts», eine unterschwellige War nung vor zu viel Kritik an der Industrie, die sich ja auch anderswo wohlfühlen könnte.
Das Alte stürzt … Es kam dann die Zeit, als die Viscosi wirklich nicht mehr stank. Zunächst war dies dem technischen Fortschritt und der Aufgabe der Kunstseidepro duktion geschuldet, dann zunehmend der Ausla gerung von Produktionszweigen ins günstigere Ausland und mehrfachen Besitzerwechseln. Die Viscosi wurde im wahrsten Sinn des Wortes zur Société Anonyme, die schon fast organische Ver bindung von Betrieb und Gemeinwesen wurde gekappt. Die Viscosefabrik wurde zur Viscosuis se, zu Rhône-Polenc, Rhodia SA, Rhodia Filtec, Nexis Fibers, Monosuisse – eine Metamorphose, jedes Mal verbunden mit massivem Personalab bau. Und was sich bei der Viscosefabrik abspiel te, wiederholte sich bei fast allen traditionellen Industriebetrieben. Die Tertiarisierung der Schweizer Wirtschaft hatte Emmen mit voller Wucht getroffen. Tausende von industriellen Ar beitsplätzen verschwanden.
… es ändert sich die Zeit … Zukunftsangst machte sich breit. Die Stimmung in Emmen wurde depressiv und repressiv. Nur noch die riesigen halb oder nicht genutzten In dustriebauten zeugten von vergangenem Zu kunftsglauben. Nordwärts fuhren nun die Stadtluzerner, in die auf der grünen Wiese hochgezogenen Emmer Fachmärkte und Shoppingcenter, für die von den Behörden, in der Hoffnung auf teilweise Kompen sation der weggebrochenen Steuereinnahmen, der rote Teppich ausgerollt wurde. Nordwärts an die besseren Wohnlagen zogen nun Mittelstandsfamilien, die sich ein Häuschen in einem der auf der grünen Wiese hochgezoge nen Einfamilienhaus-Quartiere mit Alpensicht erstehen konnten. Nordwärts zogen auch die Immigrantenfamili en aus dem kriegsversehrten Balkan und liessen sich im von der Industriearbeiterschaft verlasse
nen billigen Wohnraum nieder. Auch in meinem Schindler-Dörfli. Der Integrationswille der Migran ten und Migrantinnen stiess auf den Widerstand der Einheimischen und brachte der Gemeinde Emmen wegen ihrer restriktiven und manchmal willkürlichen Bürgerrechtspraxis während Jahren schweizweit negative Schlagzeilen. Zur ökonomischen und gesellschaftspoliti schen Krise gesellte sich im Jahr 2005 eine wei tere Katastrophe. Nordwärts strömten im regen reichen Sommer 2005 riesige Wassermassen aus dem Entlebuch und suchten sich ihren Weg zur Reuss in einem dafür viel zu kleinen Bachbett. Die Schäden im Industriequartier an der Emme waren verheerend und beschleunigten den sich seit Jah ren hinziehenden Planungsprozess zur Umnut zung und Revitalisierung der Industriebrachen im Norden der Stadt Luzern.
… und neues Leben wächst aus den Ruinen.1 Als zarte Pflänzchen hatten sich in den leerste henden Fabrikhallen seit zwei Jahrzehnten zahl reiche Kunstschaffende eine Nische eingerichtet. Sie hatten zusammen mit ein paar kleinen mittel ständischen Gewerbebetrieben die Chancen erkannt, die in diesen günstig zu mietenden Hal len lag. Dass die Hochschule Luzern – Design & Kunst als early mover diese Entwicklung aufnimmt und ein sichtbares Signal für einen neuen Aufbruch in die Zukunft setzt, ist für den von der Deindus trialisierung schwer gebeutelten Norden der Ag glomeration Luzern von unschätzbarem Wert. Der beabsichtigte sorgsame und geschichtsbewuss te Umgang mit der vorhandenen Bausubstanz bringt Altes und Neues zusammen. Erinnerung und Zukunft – Erinnerungskultur im besten Sinne. Paul Huber, *1947. Geboren, aufgewachsen und wohnhaft während Jahrzehnten in Emmen. Studium der Geschichte an der Universität Zürich, Doktorat in Wirtschaftsgeschichte. Berufliche Laufbahn: CurriculumEntwicklung am Erziehungsdepartement des Kantons Luzern, Zentral sekretär bei der Gewerkschaft VPOD. 1987 bis 2003 Regierungsrat des Kantons Luzern, Justiz- Gemeindeund Kulturdepartement. Nach der politischen Laufbahn, verschiedene Mandate in der Privatwirtschaft und in den Bereichen Soziales, Bildung und Kultur. Vorsitz des Beirats der Hochschule Luzern – Design & Kunst.
1 «Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, und neues Leben wächst aus den Ruinen.» – Friedrich Schiller. → Merhaba Metzgerei (Gerliswilstrasse, Emmenbrücke). Fotografie: Wolfgang Möhrle
Luzern Nord – ein Garten Beat Portmann
← Japanischer Zierahorn (Haldenstrasse, Emmenbrücke). Fotografie: Wolfgang Möhrle
Luzern Nord, das ist Emmenbrücke rund um den Seetalplatz. Wo sich die kleinräumige Topografie der Voralpen gegen Norden, Westen, Osten hin öffnet. Ein Flussübergang, der dem Ort seinen Namen gab. Schauplatz einer neuen Epoche, ei nes neuen Selbstverständnisses. Die identitäts stiftende Tätigkeit industrieller Produktion beid seits der Kleinen Emme. Luzern Nord. Natürlich könnte man sich an dem Begriff reiben. Allein die
Grössenverhältnisse verbieten es, im Gegenzug von Emmen Süd zu sprechen, wenn vom Sied lungsgebiet reussaufwärts die Rede ist. Luzern Nord also. Ein technokratischer Begriff zweifels ohne, von Stadtplanern erdacht. Um wie viel stim miger nimmt sich da die Viscosistadt aus, die auf den Volksmund hört. Auch schön, weil sinnfällig: die Verbotene Stadt, die sich nach Jahrzehnten des beschränkten Zutritts der Bevölkerung öffnet.
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Ich möchte sie mir als einen Garten denken, einen Garten, der gerade erst als solcher begrif fen wird und sich für lange Zeit im Zustand der Planung befindet. Das setzt ein Denken in grossen, in grosszügigen Dimensionen voraus. Ja grösser als die dreissig Jahre, die der Besitzer dem Areal zur Entwicklung einräumt – was als Glücksfall gewertet werden muss in einer Gemeinde, die ihre Landreserven Stück für Stück zu veräussern pflegt. Ein Denken, das sich an der landschaftli chen Öffnung orientiert und über Legislaturperi oden und Wirtschaftszyklen hinausreicht. Verschiedentlich habe ich die Wesenheit von Emmenbrücke zu beschreiben versucht. Gele gentlich auch beschwört. Meine unscharfe, intuitive Wahrnehmung von Weite und Rohheit, die etwas Einschüchterndes, mitunter Abschrecken des haben. Klar, hier ist die Heimat nicht so nied lich und hübsch und sauber wie in ihrem zu Stein und Holz gewordenen Selbstbildnis am Ausfluss der Reuss. Statt dessen Béton brut, Stahlskelett bau, Kalksandstein, funktionalistische Wohn- und Einkaufsarchitektur. Gleichwohl geht davon eine Faszination aus, der man sich schwer entziehen kann. In all dem Rohen, Unfertigen, mitunter Ge sichtslosen liegt eine bescheidene Form der Welt läufigkeit, die sich in einer fast schon egalitären Mentalität niederschlägt. Möglich also, dass es sich in der Agglomeration ein klein wenig freier atmen lässt. Ich stelle mir eine planende Instanz vor, die sich mit all ihren Sinnen auf den Ort des künftigen Gartens einlässt. Die sich Zeit nimmt, einfach nur schaut, viele Stunden lang. Die auch einmal eine Nacht im Freien verbringt. Wacht. Auf Licht und Schatten achtet. Auf den Horizont – die Berge, die Wälder, die glaziologisch modellierten Hügelzüge, die Rauchsäule des Stahlwerks. Die alles in sich aufsaugt und in Bezug zueinander setzt und sich so nach und nach befähigt, den Garten zu lesen. Um festzustellen, dass er in seinen Grundzügen bereits angelegt ist. Dass er lange existierte, be vor ihn jemand zu denken begann. Die Brache, auf der eine Familie ein Picknick macht, eine Gruppe Jugendlicher den Feierabend verbringt, zwei Spa ziergänger auf einen Schwatz stehen bleiben, diese Brache ist bereits ein Park, ohne dass er zu einem solchen erklärt werden musste. Wenn unsere imaginierte Instanz nun den Gar ten weiterliest, wird sie herausfinden, an welcher Stelle – um im Bild zu bleiben – ein Baum gepflanzt, ein Sitzplatz gebaut, ein Weg angelegt werden soll. Aber auch, wo sie Raum lassen muss, Raum für die Dynamik des Unvorhergesehenen und für den Gestaltungswillen der künftigen Nutzerinnen und Bewohner. Ich stelle mir einen Garten vor, für dessen Ge deihen viele besorgt sind. Einen Garten, in dem die verschiedensten Lebensformen ihren Platz,
ihre Nische finden. In dem man sich auf die Lang samkeit organischen Wachstums einlässt. Nicht zurückschreckt vor der Kühnheit der eigenen Ge danken und Visionen. Ein Spannungsfeld zwi schen Alt und Neu, Schön und Hässlich, Kommerz und Kreativität, Industrie und Intuition. Wo auch das Unfertige, das Provisorische Platz hat. Wo das Vermächtnis der Industrie als widerständiger Geist gegen die Unverbindlichkeit des Digitalen begriffen wird. Als anachronistische Sinnlichkeit von Produktion und Gegenständlichkeit. Stahl und Garn statt nur Bits und Bytes. Wo man den Verfall wie auch die stetige Veränderung zulässt und den Lauf der Dinge im Auge behält. Eines Tages könnte sich das Zeitfenster wieder schliessen. Das einzigartige Ambiente aus Ge werbe und Industrie, Kreativ- und Gastwirtschaft, Sein und Wohnen könnte dem eigenen Erfolg zum Opfer fallen. Die pulsierende Urbanität weckt Be gehrlichkeiten: Investoren, internationale Han delsketten, eine kaufkräftige Klientel, die sich mit Vorliebe einer organisch gewachsenen Umge bung bedienen. Die attraktiven Nischen geraten durch steigende Bodenpreise unter Druck, das Nebeneinander weicht einem Verdrängungs kampf. Das ist der Lauf der Dinge. Die Gesetze von Aufbruch und Verfall, Aufbau, Aufwertung und Überhitzung, in einem Wort: Gentrifizierung. Aber vielleicht liegt genau hier die einmalige Chance der Viscosistadt. Denn solange die Indus trie vor Ort ist, Lärm macht, stinkt, selbst in der Nacht nicht ruht, solange hält sie, um es ein we nig pathetisch zu formulieren, ihre schützende Hand über den künftigen Garten. Sie ist und bleibt der Schrittmacher in dem neuen Stadtteil, der mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst ein kon geniales Gegenstück erhält. Beat Portmann, geboren 1976 in Luzern. Vorkurs an der Jazzabteilung der Musikhochschule Luzern, lebt als freier Autor und Songschreiber in Emmenbrücke. Er wurde mit einem Werkpreis des Kantons und der Stadt Luzern sowie mit dem Emmer Kulturpreis ausgezeichnet.
Nummern
Impressum
Unter dem Titel «Nummern» erscheinen jährlich ein bis zwei Magazine, die aktuelle Themen der Hochschule Luzern – Design & Kunst beleuchten. Die Publikation vereint dabei Texte und Bilder aus Forschung, Ausbildung und Weiterbildung sowie zu speziellen Ereignissen, Symposien und Jubiläen.
Hochschule Luzern – Design & Kunst
Bisher erschienen sind:
Beiträge Claudia Acklin, Carola Antón, Ursula Bachman, Laura Bider, Rolf Born, Karl Bühlmann, François Chalet, Gabriela Christen, Fanni Fetzer, Cony Grünenfelder, Jürgen Haas, Silvia Henke, Markus Hodel, Alain Homberger, Paul Huber, René Hüsler, Jana Jakoubek, Michael Kaufmann, Vera Leisibach, Rachel Mader, Kurt Messmer, Charles Moser, Daniel Niggli, Siri Peyer, Beat Portmann, Corina Schaltegger, Peter Spillmann, Thomas Stadelmann, Eveline Suter, Fred Truniger, Susanne Truttmann, Benedikt von Peter, Andrea Weber Marin, Alex Willener, Evert Ypma, Gesa Ziemer
Nummer 1 urban.art.marks Kunst erforscht den Raum der Stadt Nummer 2 Destination Kultur Die Kultur des Tourismus Nummer 3 Postdigitale Materialität Vom Dialog des Handwerks mit den Optionen des Virtuellen Nummer 4 Made by … Textilien im Zentrum Nummer 5 Ultrashort, Reframed
Nummer 6 – September 2016 Nordwärts Herausgeberin Gabriela Christen
Redaktion Christian Schnellmann Korrektorat Nicole Habermacher, punkto.net Gestaltungkonzept Velvet Creative Office, Luzern Gestaltung und Satz Markus Odermatt Mühlebach Fotgrafien Umschlag Titelseite, Rückseite innen: Randy Tischler Titelseite innen, Rückseite: Wolfgang Möhrle Druck Druckerei Odermatt, Dallenwil Bindung Schumacher AG, Schmitten Das Werk ist einschliesslich all seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ausserhalb der engen Grenzen des Urheber rechtsgesetzes ist ohne Zustimmung der Herausgeberschaft unzulässig und strafbar. Das gilt besonders für Vervielfältigungen, Überset zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeiche rung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbiblio thek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Hochschule Luzern – Design & Kunst hslu.ch/designkunst ISBN 9783033055193 Wir bedanken uns bei der zeugindesignStiftung, Luzern, für die grosszügige Unterstützung dieser Publikation.
Nummer 6 «Nordwärts» Die Hochschule Luzern - Design & Kunst zieht nordwärts in die Viscosistadt nach Emmenbrücke. Hier forschen, lehren und arbeiten ab September 2016 rund zwei Drittel der Mitarbeitenden und Studierenden in einer ehemaligen Fabrik. Der «Bau 745» trägt die Spuren seiner industriellen Vergangenheit auf seinen Böden und Wänden, und das Gebäude mit den hohen Ateliers, den riesigen Fenstern und den exzellenten Fachinfrastrukturen bietet den Ausbildungen in Design, Film und Kunst ideale Räume. Die Publikation «Nordwärts» aus der Magazinreihe «Nummern» begleitete den historischen Umzug, reflektiert über die Geschichte der Viscosistadt und entwirft zusammen mit Partnern aus Politik, Bildung und Kultur Visionen für Luzern Nord als wachsendes Zentrum für die Krea tivwirtschaft.