Sandra Kostner (Hg.)
Die Wir-gegen-die-Gesellschaft Warum der von Arthur M. Schlesinger vor 30 Jahren diagnostizierte Samen der identitätspolitischen Spaltung aufgegangen ist Debattenband zu Arthur M. Schlesingers Buch ‚Die Spaltung Amerikas‘
Impulse. Debatten zu Politik, Gesellschaft, Kultur herausgegeben von Sandra Kostner, Stefan Luft und Elham Manea Die Reihe Impulse bietet ein Forum für unterschiedliche Standpunkte zu aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten. Debattengrundlage ist jeweils ein Impulstext, auf den Autorinnen und Autoren Repliken verfassen. Ziel der Reihe ist es, ein möglichst breites Spektrum an Standpunkten abzubilden und die Begründungen, die für diese Standpunkte vorgebracht werden, durch die direkte Konfrontation mit Gegenargumenten einem Test zu unterziehen. Durch die Zusammenfassung unterschiedlicher Standpunkte in den Debattenbänden soll den Leserinnen und Lesern die Möglichkeit gegeben werden, sich in komprimierter Form einen Überblick über die Bandbreite an Standpunkten und die Stichhaltigkeit von Argumenten zu verschaffen. Die Reihe will zudem einen Beitrag dazu leisten, Debatten zu umstrittenen und emotional aufgeladenen Themen zu versachlichen. Denn hier sollen nur die Kraft und die Stringenz der Argumente zählen und nicht moralische Haltungen, ideologische Überzeugungen oder gar persönliche Diskreditierungen. Die Reihe richtet sich an die interessierte Öffentlichkeit wie auch an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und Verantwortliche in Politik, Verwaltung und Medien.
1 Sandra Kostner (Hg.) Identitätslinke Läuterungsagenda Eine Debatte zu ihren Folgen für Migrationsgesellschaften ISBN 978-3-8382-1307-1
2 Arthur M. Schlesinger Die Spaltung Amerikas Überlegungen zu einer multikulturellen Gesellschaft ISBN 978-3-8382-1434-4
3 Sandra Kostner, Elham Manea (Hg.) Lehren aus 9/11 Zum Umgang des Westens mit Islamismus ISBN 978-3-8382-1583-9
Sandra Kostner (Hg.)
DIE WIR-GEGEN-DIE-GESELLSCHAFT Warum der von Arthur M. Schlesinger vor 30 Jahren diagnostizierte Samen der identitätspolitischen Spaltung aufgegangen ist
Debattenband zu Arthur M. Schlesingers Buch ‚Die Spaltung Amerikas‘
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Printed in the EU
Für Paul Nellen (1947–2022), dem die Übersetzung von Arthur M. Schlesingers The Disuniting of America ins Deutsche zu verdanken ist.
Inhaltsverzeichnis Einleitung Sandra Kostner Der Samen der Spaltung ist aufgegangen. Wie identitäre Transformationspolitik westliche Gesellschaften auseinanderdividiert ........................................................................... 11 Repliken Barbara Zehnpfennig Ein Blick in den Spiegel. Schlesingers Analyse der amerikanischen Identitätspolitik – 30 Jahre später gelesen ........... 37 Anton Sterbling Gesellschaftliche Spaltungsgefahren und die Bedeutung einer Leitkultur. Arthur M. Schlesingers Einsichten zur modernen Nationenbildung und zum Fortbestand von Nationen am Beispiel des Sonderfalls USA ............................................................. 51 Egon Flaig „Geschichte als Waffe“ ....................................................................... 73 Vojin Saša Vukadinović Vom Benutzen der Historie für Ideologeme der Gegenwart. Anmerkungen zu Schlesingers Überlegungen zum „Kampf der Schulen“ ................................................................................................ 87 Josette Baer Eine Hommage an Arthur M. Schlesinger Jr. Die Spaltung Amerikas. Eine Sonde in den identitätspolitischen Aktivismus an US-Universitäten ................................................................................. 95 Frank Furedi Die Spaltung Großbritanniens ......................................................... 113
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Henning Nörenberg Spaltung oder ein neuer Absolutismus? Eine Hypothese zu Arthur Schlesingers Diagnose ......................................................... 131 Oleg Dik Die Dilemmata und die Zukunftsfähigkeit des Liberalismus ..... 159 Peter Unfried Was ist das linke Problem mit Identitätspolitik? .......................... 179 Nils Heisterhagen Mit republikanischer Identität gegen Identitätspolitik ................ 191 Levent Tezcan „Antimuslimischer Rassismus“ als Drohung? .............................. 195 Alan Davison Kulturrelativismus, ethnischer Essentialismus und selbstbewusste Religionen in Australien: Die anhaltende Relevanz von Arthur M. Schlesingers Die Spaltung Amerikas...... 209 Stefan Luft Der Firnis der Zivilisation ist dünn. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in der Pandemiepolitik ............................ 227 Autorinnen und Autoren ................................................................. 263
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Einleitung
Der Samen der Spaltung ist aufgegangen. Wie identitäre Transformationspolitik westliche Gesellschaften auseinanderdividiert Sandra Kostner Den ersten Band der Debattenreihe Impulse gab ich vor vier Jahren heraus. Er widmete sich dem titelgebenden Thema: Identitätslinke Läuterungsagenda. Eine Debatte zu ihren Folgen für Migrationsgesellschaften – ein zugegebenermaßen auf den ersten Blick sperriger Begriff, den ich aber deshalb gewählt habe, weil er genau das Phänomen auf den Punkt bringt, das ich analysieren und zur Debatte stellen wollte. Mit dem Begriff „identitätslinke Läuterungsagenda“ bezeichne ich eine spezifische Form der Identitätspolitik, die von Personen vorangetrieben wird, die sich selbst politisch links verorten, aber im Kern eine rechte Politik verfolgen. Das ist deshalb der Fall, weil sie die starre Orientierung an unveränderbaren Merkmalen fortführen, die von Rechten genutzt wurde, um die Ungleichbehandlung von Nichtweißen, Migranten und Frauen zu rechtfertigen. Einzig die Richtung der Ungleichbehandlung drehten Identitätslinke um, so dass nun, zur Wiedergutmachung historischen Unrechts, von den ehemals bevorzugten Identitätsgruppen verlangt wird, dass sie Ungleichbehandlungen über sich ergehen lassen sollen und müssen. Anders gesagt: Menschen werden in dieser linken Form der Identitätspolitik weiterhin nicht als Individuen, sondern als kollektive Merkmalsträger behandelt. Ein früher Diagnostiker dieser spalterischen Identitätspolitik, die nunmehr sämtliche westliche, liberaldemokratisch verfasste Staaten erfasst hat, war der Historiker und Berater von US-Präsident John F. Kennedy, Arthur M. Schlesinger Jr., der 1991 in seiner so hellsichtigen Schrift The Disuniting of America vor der ethnischen Spaltung der USA gewarnt hat; bereits 1998 schob er eine aktualisierte Ausgabe nach, welche in deutscher Übersetzung Anfang November 2020 unter dem Titel Die Spaltung Amerikas erschien. 11
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Das zentrale Spaltungspotenzial dieser Politik liegt darin, dass sie Menschen kollektive Identitäten aufgrund eines Abstammungsmerkmals aufzwingt und sie aufgrund dieser aufgezwungenen Identitäten nicht als Individuen, sondern als Merkmalsträger behandelt. Wer ein Abstammungsmerkmal aufweist, das ihn einer Opfergruppe zuweist, gilt als grundsätzlich benachteiligt und darf materielle und symbolische Kompensationsleistungen von denjenigen einfordern, denen zugeschrieben wird, dass ihr Abstammungsmerkmal sie per se privilegieren würde. Die spalterische Wirkung dieser schematischen Gruppenzuteilung von Menschen resultiert vor allem daraus, dass Träger von Opferidentitäten pauschal zu Anspruchsberechtigten und Träger von Schuldidentitäten pauschal zu Anspruchserfüllern erklärt werden – komplett unabhängig von ihrer individuellen Lage. Und ohne dass man dieser Rollenzuteilung entrinnen kann, denn sie hängt ja von einem Abstammungsmerkmal ab. Das bedeutet, dass ein schwarzer Amerikaner, der über Macht, Geld und Einfluss verfügt, wie beispielsweise der ehemalige US-Präsident Barack Obama, als nicht privilegiert, und ein weißer Amerikaner, der im Trailerpark lebt, als privilegiert betrachtet wird. Das klingt absurd, ist aber die logische Konsequenz des Narrativs des strukturellen Rassismus, das zum gesellschaftspolitisch schlagkräftigsten Schwert der in den 1980er-Jahren an der Harvard Law School von aktivistischen Wissenschaftlern entwickelten „Critical Race Theory“ (CRT) geworden ist. Die Funktion des Begriffs struktureller Rassismus ist es, staatliche Interventionen zu begründen, mit deren Hilfe rassistisches Unrecht wiedergutgemacht werden soll. Als erreicht gilt das Ziel, wenn in allen für die Macht- und Ressourcenverteilung relevanten gesellschaftlichen Bereichen Nichtweiße mindestens ihrem Bevölkerungsanteil entsprechend repräsentiert sind. Das Adjektiv „strukturell“ dient dazu, die Verantwortung für Ungleichverteilungen auf die Anspruchserfüller zu verlagern. Dies erfolgt nicht auf einer individuellen, sondern auf einer abstrakten Ebene. Und zwar auf diese Weise: Es wird die Behauptung aufgestellt, dass alle von Weißen geschaffenen Systeme von rassistischen Strukturen durchzogen seien. Der Grund: Weiße hätten die Systeme so aufgebaut,
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dass sie auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet seien und dem Erhalt ihrer Privilegien dienten. Dabei sei es unwesentlich, ob Weiße dabei absichtsvoll gehandelt hätten oder ob die Benachteiligung, die sich daraus für alle Nichtweißen ergebe, unbeabsichtigt ihre Wirkung entfalte. Es zählt einzig die Behauptung, dass Weiße per se wegen ihrer Hautfarbe privilegiert seien („white privilege“). Als Beleg für diese Behauptung wird jeder statistische Unterschied insbesondere beim Bildungserwerb, bei der Arbeitsmarktplatzierung, bei der Einkommens- und Vermögensverteilung und bei der Zusammensetzung von Parlamenten und Regierungen gewertet. Dass diese Behauptung keiner empirischen Überprüfung standhält, hat dem Erfolg des Narratives, der sich im Wesentlichen aus seinem moralischen Anspruch ableitet, keinen Abbruch getan. Hätten Weiße die Systeme wirklich so ausgerichtet, dass sie bevorzugt und andere benachteiligt würden, müssten Weiße in allen Teilsystemen der Gesellschaft erfolgreicher sein als Nichtweiße. Ferner dürften sich keine massiven Unterschiede zwischen Gruppen auftun, die als Nichtweiße klassifiziert werden. Alles, was das Narrativ widerlegt, wird deshalb geflissentlich ignoriert oder moralisch diskreditiert. Letzteres mit dem Vorwurf, dass wer den strukturellen Rassismus „leugne“, nur nicht bereit sei, seine Privilegien zu hinterfragen und zugunsten der von strukturellem Rassismus Betroffenen Verzicht zu üben. Ersteres geschieht beispielsweise im Hinblick auf Daten, die zeigen, dass die Kinder von Einwanderern aus Subsahara-Staaten zu den erfolgreichsten im US-Bildungssystem, die Kinder von Afroamerikanern aber zu den am wenigsten erfolgreichen gehören. Oder Daten, die offenlegen, dass ein erheblicher Teil der Afroamerikaner im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt sehr erfolgreich ist, während anderen der Aufstieg nicht gelungen ist. Zudem werden Daten ignoriert, die zeigen, dass asiatischstämmige Amerikaner beim Bildungserwerb um einiges erfolgreicher sind als Weiße, und auch ein deutlich höheres Haushaltseinkommen (101.418 US-Dollar) als diese (71.033 US-Dollar) erzielen.1 Wie sehr sich dennoch das Narrativ, dass die Hautfarbe bestimmt, welche Bedürfnisse Menschen haben und welche Kompe-
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tenzen man von ihnen erwarten kann, in der US-Gesellschaft verankert hat, illustriert die Entscheidung der New Yorker Stadtverwaltung, einen 27 Jahre währenden Rechtsstreit über die behauptete Benachteiligung nicht-weißer Lehrkräfte bei einer Eignungsprüfung mit einer Entschädigungssumme von 1,8 Milliarden USDollar zu beenden.2 Zwischen 1990 und 2014 verlangte der Bundesstaat New York, dass Lehramtskandidaten und Lehrer einen 80 Fragen umfassenden Multiple-Choice-Test bestehen sowie einen kurzen Aufsatz verfassen mussten. Diesen „Liberal Arts and Sciences Test“ zu bestehen war Voraussetzung dafür, um als Lehrer eingestellt zu werden und um die Lehrbefugnis zu behalten. Im Jahr 1996 wurde eine Sammelklage von schwarzen und hispanischen Lehramtsanwärtern und Lehrern eingebracht, die den Test nicht bestanden hatten. Ihrer Argumentation, dass der Test eine Diskriminierung nicht-weißer Kandidaten darstelle, mochte zunächst kein New Yorker Gericht folgen. Der Wendepunkt kam, als 2012 die New Yorker Richterin Kimba Wood sich dem Diskriminierungsvorwurf der Kläger anschloss. Sie stützte ihr Urteil darauf, dass die Schulbehörde nicht in der Lage gewesen sei, eine direkte Verbindung zwischen dem Testergebnis und der Fähigkeit zu unterrichten nachzuweisen. Da es somit keinen Sachgrund für den Test gäbe, seien die Unterschiede in der Bestehensquote zwischen weißen und nicht-weißen Kandidaten als Diskriminierung zu werten, weshalb die Schadensersatzforderungen der Kläger gerechtfertigt seien. Die Stadt New York stemmte sich juristisch neun weitere Jahre gegen diese Forderungen, lenkte aber 2021 ein. Die Vermutung ist naheliegend, dass der Zeitpunkt kein Zufall war, sondern dass die nach dem Tod George Floyds im Mai 2020 allgegenwärtigen Rassismusbezichtigungen, Selbstanklagen und Besserungsgelöbnisse eine Rolle dabei spielten, die Schadensersatzforderungen zu akzeptieren. Die Diskriminierung wurde dem Postulat der Critical Race Theory entsprechend daran festgemacht, dass im Durchschnitt gut 90 Prozent der weißen Kandidaten den Test bestanden, aber nur circa 55 Prozent der schwarzen und 50 Prozent der hispanischen Kandidaten. Da die Hautfarbe das entscheidende Merkmal für die Feststellung war, dass der Test eine diskriminierende Wirkung
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habe, gelten auch nur die 5.200 schwarzen und hispanischen Kandidaten als schadensersatzberechtigt, die den Test (auch nach mehrfachen Wiederholungen) nicht bestanden, und nicht die weißen Kandidaten, die durchfielen. Wie immer, wenn das Narrativ des strukturellen Rassismus angewendet wird, bleibt man eine empirisch belastbare Erklärung dafür schuldig, warum die Hautfarbe das Testergebnis beeinflussen sollte. Man ersetzt Empirie mit der Behauptung, dass der Test Weiße privilegieren würde, weil er auf „weiße Wissensbestände“ fokussiere. Was das genau sein soll, wird offengelassen. Gleichermaßen wird über die Frage hinweggegangen, warum Fach- und Allgemeinwissen, das sich am High-School-Curriculum orientiert, von Weißen leichter erworben werden können sollte als von Nichtweißen; zumal alle Kandidaten über einen High-School- und einen Studienabschluss verfügten, den sie ohne das an Schule und Hochschule gelernte „weiße“ Wissen nicht hätten erwerben können. Dass ein Hinterfragen nicht mehr stattfindet, ist das Ergebnis von jahrzehntelangen Diskussionen über die Benachteiligung nicht-weißer Schüler durch „weiße“ Curricula. Schlesinger hat sich mit diesen Diskussionen, die ethnische Identität und Lernerfolg als untrennbar verbunden darstellen, in den Kapiteln „Geschichte als Waffe“ und „Der Kampf der Schulen“ intensiv beschäftigt und viele Beispiele dafür aus den 1980er- und frühen 1990er-Jahren angeführt. Noch einmal zurück zu der erfolgreichen Schadensersatzklage von durchgefallenen Lehramtskandidaten und Lehrern: Welches Signal senden solche Schadensersatzzahlungen für das Nichtbestehen von Tests an die Gesellschaft? Zum einen, dass Versagen letztlich belohnt wird, weil im Zweifelsfall ein Abstammungsmerkmal wichtiger ist als individuelle Leistung. Indem der Staat den Schadensersatzforderungen nachkommt, räumt er implizit ein, dass die von ihm verwendeten Tests diskriminierend waren, was Menschen zu verstehen gibt, dass der Grund für das Nichtbestehen nichts mit der individuellen Leistung zu tun hat, ergo: dass andere für das persönliche Versagen verantwortlich sind. Diese Verantwortungsbefreiung von Individuen trägt zwar massiv zur Spaltung
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der Gesellschaft bei, aber nicht dazu, Menschen zu motivieren, ihre Leistungen zu verbessern. Noch fataler im Hinblick auf das Spaltungspotenzial sowie die Motivation, über Leistung voranzukommen, ist der vom kalifornischen Gouverneur Gavin Newsom im September 2020 gemachte Vorstoß, Empfehlungen für Reparationszahlungen an schwarze Amerikaner für die Sklaverei erarbeiten zu lassen. Die dazu eingesetzte Arbeitsgruppe legte ihre Empfehlungen im Mai 2023 vor. Newsoms Initiative stand 2020 ganz im Zeichen der Black-LivesMatter-Proteste in Folge des Todes von George Floyd. Nachdem die Arbeitsgruppe ihre sehr detaillierten Empfehlungen für Reparationszahlungen drei Jahre später präsentiert hatte, positionierte sich Newsom deutlich verhaltener – wohl, weil die BLM-Proteste stark nachgelassen hatten und weil die Gesamtsumme der Zahlungen mit 800 Milliarden US-Dollar den Haushalt des Bundesstaates enorm belasten würde. Es liegt nun an der kalifornischen Legislative, die Empfehlungen anzunehmen oder zu verwerfen.3 Die Diskussionen über Reparationen, die in den USA seit Jahrzehnten immer wieder und nunmehr in Kalifornien mit besonderer Intensität geführt werden, illustrieren die spalterischen Effekte, die damit unweigerlich einhergehen. Die US-übergreifende Frage ist: Warum sollten Menschen Reparationen für ein Unrecht erhalten, von dem sie selbst oder ihre unmittelbaren Vorfahren nie betroffen waren, weil es vor 160 Jahren endete? In Kalifornien kommt die Frage hinzu: Warum sollte ausgerechnet dieser Bundesstaat, der nie ein Sklavenstaat war, Reparationen an Menschen zahlen, die nachweisen können, dass einer ihrer Vorfahren in den USA versklavt war? Wer auf diese intergenerationale Weise für „racial justice“ sorgen und somit einen Teil der amerikanischen „Erbsünde“ abtragen möchte, leistet vor allem der Spaltung der Menschen in Abstammungsgruppen Vorschub. Die Wahrscheinlichkeit, dass bei Implementierung solcher Reparationszahlungen Ressentiments gegen die Empfänger aufkämen, darf als hoch eingestuft werden – einfach, weil diese Zahlungen von vielen als ungerecht empfunden würden. Insbesondere von denjenigen, die erst nach Abschaffung der Sklaverei in die USA migrierten und/oder von denjenigen, die
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wie Asiaten gerade in Kalifornien ebenfalls lange Zeit Opfer diskriminierender Gesetze waren. Diese beiden aktuellen Beispiel verdeutlichen, wie tief das ursprünglich Ende der 1960er-Jahre von Aktivisten entwickelte identitätspolitische Denken heutzutage in den staatlichen Strukturen der USA verankert ist. Je mehr sich der Staat mit seinen Institutionen und seinem Machtapparat dieses Denken zu eigen macht und entsprechende Gesetze und Verordnungen erlässt, desto stärker entfaltet sich das Spaltungspotenzial der identitätslinken Läuterungsagenda, wie sich unschwer an den Ereignissen in den Vereinigten Staaten ablesen lässt.
Ergebnisgleichheit – ein spalterisches Importprodukt Identitätslinke Aktivisten in Deutschland haben das in den USA entworfene CRT-Instrumentarium übernommen, mit dessen Hilfe die Gesellschaft so transformiert werden soll, dass Ergebnisgleichheit zwischen bestimmten Gruppen herrscht. Das Narrativ des strukturellen Rassismus wurde in Deutschland wahlweise auf „Menschen mit Migrationsgeschichte“, „als muslimisch gelesene Menschen“, „Personen mit muslimischen Identitätsbezügen“ oder, stärker im Einklang mit dem US-amerikanischen „Original“ stehend, auf „Menschen of Color und Schwarze Menschen“ übertragen. Die Narrativübertragung dient dazu, Bevorzugungsoptionen, allen voran in Form von Quoten und quotenanalogen Instrumenten, für die mit den vorgenannten Bezeichnungen belegten Gruppen einzuführen. Allein eine Betrachtung der Gruppen zeigt an, dass auf paritätische Repräsentation ausgerichtete Forderungen schnell immer kleinteiliger werden, weil verschiedene Interessensgruppen ihren spezifischen Benachteiligungsgrad geltend machen, um Unterquoten zu rechtfertigen.4 So forderten die Neuen Deutschen Organisationen in einem im Februar 2020 vorgelegten Manifest für eine plurale Gesellschaft: „Ein verbrieftes Recht auf Teilhabe“. Die Begründung dafür lautete: „Parteien, Behörden, Wohlfahrtsverbände und viele andere Bereiche sind 2020 immer noch überproportional weiß. Die Gleichstellung aller Menschen im Land muss Priorität bekommen und auf
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gesetzliche Grundlage gestellt werden (Partizipationsgesetz). Wir brauchen außerdem eine Quote für People of Color und Schwarzen [sic] Menschen, denn freiwillig funktioniert es offenbar nicht.“5 Die Mitglieder des vom Bundesinnenministerium eingesetzten Unabhängigen Expertenkreises Muslimfeindlichkeit (UEM) empfahlen der Bundesregierung im Jahr 2023 eine Strategie „zur nachhaltigen Entwicklung und Förderung von gleichberechtigter Teilhabe und Repräsentation von Personen mit muslimischen Identitätsbezügen in allen staatlichen Einrichtungen und Handlungsstrukturen. Der Staat sollte eine Vorbildfunktion einnehmen und dieser mit bindenden Zielvorgaben, Öffentlichkeitsarbeit und gezielten Kampagnen gerecht werden.“6 Und unter der Überschrift „Muslimische Repräsentanz in deutschen Parteien und im Bundestag“ führt der UEM aus, dass zum „Institutionellen Rassismus […] auch die Verhinderung des Zugangs und der Partizipation von Minderheiten im politischen System und anderen Organisationen“ zähle, weshalb „die Ermöglichung aktiver Repräsentation und Partizipation bis hin zu Quotenregelungen“ notwendig sei.7 Als Indikator für institutionellen Rassismus zieht der UEM die Verteilung nach Migrationshintergrund – wohlgemerkt nach Migrationshintergrund und nicht nach „muslimischen Identitätsbezügen“ (wie immer letzteres auch festgestellt werden soll) – im Bundestag heran; dort haben gegenwärtig nur 8,2 Prozent der Parlamentarier einen Migrationshintergrund, während ihr Bevölkerungsanteil bei 26 Prozent liegt. Dabei überzeichnet der UEM in CRT-typischer Manier die Repräsentationslücke gewaltig, weil wichtige Faktoren wie die Staatsangehörigkeit ausgeblendet werden. So verfügen 2023 mit 51 Prozent nur etwas über die Hälfte der statistisch als „mit Migrationshintergrund“ erfassten Personen über die deutsche Staatsangehörigkeit, wobei der Anteil nichtdeutscher Staatsangehöriger gerade seit 2015 aufgrund der hohen Zuwanderung stark zugenommen hat.8 Die bis dato umfassendste Ausarbeitung einer Menschen nach ethnischer Abstammung quotierenden Gesellschaft hat die Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen (BKMO) mit dem Entwurf eines Bundespartizipationsgesetzes im Jahr 2021 vorgelegt. Das Gesetz zielt darauf ab, „die tatsächliche Durchsetzung der
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Gleichberechtigung von Personen mit Migrationsgeschichte“ zu fördern, um so „strukturelle Benachteiligungen“ zu beseitigen.9 Als „Person mit Migrationsgeschichte“ gilt, wer einen Eltern- oder Großelternteil hat, der „außerhalb des heutigen Gebietes der Bundesrepublik Deutschland“ geboren wurde.10 Mithilfe dieser Definition wird der perspektivisch zu repräsentierende Bevölkerungsteil deutlich erweitert im Vergleich zur gegenwärtig gültigen amtlichen Definition, welche Menschen einen Migrationshintergrund zuordnet, wenn ein Elternteil nicht von Geburt an die deutsche Staatsangehörigkeit hatte. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass der Bund „die Erhöhung des Anteils der Beschäftigten mit Migrationsgeschichte entsprechend ihrem Anteil an der Bevölkerung“ anstrebt.11 Dies kommt einer De-facto-Quote gleich, vor allem in Kombination mit einem nachstehenden Absatz, in dem es heißt, dass, wenn „Personen mit Migrationsgeschichte in einem bestimmten Bereich“ unterrepräsentiert sind, „die Dienststelle oder das Unternehmen sie bei der Vergabe von Ausbildungsplätzen, bei Einstellung und beruflichem Aufstieg bevorzugt zu berücksichtigen“ hat, vorausgesetzt, sie weisen die gleiche Qualifikation wie Mitbewerber auf und es gibt nicht andere Bewerber, die aufgrund eines Merkmals (genannt wird Geschlecht) zu berücksichtigen sind. Bei einem solchen Zielkonflikt soll die Person bevorzugt werden, „in deren Gruppe die größere Unterrepräsentation besteht“.12 Mithilfe einer Änderung der Bundeshaushaltsordnung soll das Gebot der paritätischen Repräsentation zudem auch auf Organisationen ausgedehnt werden, die „Zuwendungen in Höhe von mehr als 100.000 Euro in einem Jahr“ erhalten. Diese müssen einen Integrationsförderplan vorlegen, der „Angaben über den Anteil von Personen mit Migrationsgeschichte an der Gesamtzahl der Beschäftigten sowie über Maßnahmen enthalten“ muss, „wie der Anteil von Personen mit Migrationsgeschichte unter den Auszubildenden und Beschäftigten gesteigert werden kann, bis er mindestens dem Anteil der Personen mit Migrationsgeschichte entspricht, der in dem Bundesland besteht, in dem die Betriebsstätte liegt“.13 Überdies soll ein Bundespartizipationsrat eingeführt werden, der „zu allen Gesetzesvorhaben und Verordnungsentwürfen der
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Bundesregierung zu hören“ ist, „die die soziale, wirtschaftliche und politische Partizipation von Personen mit Migrationsgeschichte“ berühren. Außerdem soll dieser Bundespartizipationsrat, dessen Mitglieder mindestens zur Hälfte Frauen und zur Hälfte Menschen mit Migrationsgeschichte sein sollen, das Recht haben, „der Bundesregierung und dem Deutschen Bundestag Vorschläge für Gesetzesvorhaben und andere Maßnahmen zu unterbreiten“.14 Da im Grunde alle Gesetze und Verordnungen so interpretiert werden können, dass sie Menschen mit Migrationsgeschichte betreffen, würde solch einem Gremium ein Ausmaß an Mitsprache eingeräumt, das „normale“ Bürger nicht haben. Als Begründung reicht der BKMO der vage Verweis auf „strukturelle Benachteiligungen“ aus, was den Eindruck verstärkt, dass sich ihre Mitglieder einen vom Souverän unabhängigen Zugang zur Macht sichern wollen. Implizit gesteht die BKMO das mit der Formulierung ein, dass sie „das Recht“ hat, für den Bundespartizipationsrat „Mitglieder vorzuschlagen“.15 Die spalterischen Folgen eines solchen Gremiums liegen auf der Hand, werden aber ignoriert oder negiert, weil das offenkundige Streben nach Selbstermächtigung im Zentrum steht. Um Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes auszuhebeln, welcher den anvisierten Quoten mit seinem Verbot, Menschen aufgrund ihrer Abstammung, Rasse, Heimat oder Herkunft zu benachteiligen oder zu bevorzugen, entgegensteht, sieht der Gesetzentwurf die Einfügung eines neuen Staatsziels in Artikel 20 vor. Dieses soll lauten: „Die Bundesrepublik Deutschland anerkennt die Vielfalt ihrer Bevölkerung, fördert die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen und bekämpft jede Form von Rassismus und Diskriminierung.“16 Die Einfügung dieses Staatsziels, schreiben die Autoren des Gesetzentwurfs ganz offen, dient dem Zweck, „ein politisches Signal für die Gesetzgebung“ zu senden, „die ein Staatsziel auch zur Rechtfertigung möglicher Grundrechtseingriffe heranziehen kann“. Ferner sollen sie „für Verwaltung und Rechtsprechung eine Richtschnur“ im Hinblick auf die konkrete Anwendung von Gesetzen darstellen.17 Quoten und quotenanaloge Vorgaben, so behaupten die Autoren, würden „auf jeden Fall dann verfassungsrechtlich zulässig, wenn in Artikel 20b GG der Auftrag zur Förde-
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rung der Teilhabe ausdrücklich verankert wird“.18 (Gleichberechtigte) Teilhabe wird hier ganz selbstverständlich mit Ergebnisgleichheit in eins gesetzt, was das Ausmaß der Übernahme der CRT-Narrative in deutschen Aktivistenkreisen veranschaulicht. Würden die Vorschläge der BKMO-Autoren Verfassungswirklichkeit, liefe das auf eine Transformation von Artikel 3 Absatz 3 GG hinaus, denn Träger dieses Grundrechts wären nicht mehr Individuen, sondern merkmalsbasierte Kollektive. Die Wahrscheinlichkeit, dass zentrale Element solcher aus Aktivistenfeder stammender Gesetzentwürfe Realität werden, ist aktuell relativ groß, da mit Bündnis 90/Die Grünen und der SPD Parteien die Bundesregierung stellen, die ein offenes Ohr für die entsprechenden Forderungen haben. So haben die Parteien der Ampelregierung in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, dass sie, um „mehr Repräsentanz und Teilhabe“ zu verwirklichen, „ein Partizipationsgesetz vorlegen“ und einen Partizipationsrat einführen möchten. Obendrein wollen sie in „der Bundesverwaltung und in den Unternehmen mit Bundesbeteiligung“ eine „ganzheitliche Diversity-Strategie mit konkreten Fördermaßnahmen, Zielvorgaben und Maßnahmen für einen Kulturwandel“ einführen.19 Träte ein Gesetz in Kraft, das die wesentlichen Aspekte des BKMO-Entwurfs übernimmt, hätte dies weitreichende Folgen. Erstens, weil Quoten, die sich am in-/ausländischen Geburtsort der Eltern und/oder Großeltern orientieren, dazu führen, dass Menschen die Erfahrung machen, dass sie nach nationalstaatlich-ethnischer Herkunft bevorzugt oder benachteiligt würden. Pointierter gesagt: Es würde dergestalt eine Form der ethnischen Diskriminierung institutionalisiert werden. Zweitens beschädigt man in einem liberal-demokratisch verfassten Gemeinwesen nachhaltig das Vertrauen der Menschen in den Staat und seine Institutionen, wenn sie erleben, dass sie nicht als Individuen gesehen und als solche behandelt werden. Drittens animiert man Menschen zu einem Konkurrenzkampf um staatliche Privilegierungsmöglichkeiten (Frauen, Menschen mit wahlweise Migrationsgeschichte, muslimischen Identitätsbezügen oder of Color), der absehbar in einer Wir-gegen-die-Mentalität mündet.
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Und viertens steht zu befürchten, dass diejenigen, die staatlicherseits Benachteiligungen verordnet bekommen, darauf mit Ressentiments reagieren, die sich nicht nur gegen den Staat, sondern auch gegen die Profiteure der Quotenregelungen richten. Dass es insbesondere zu Benachteiligungen von Menschen kommt, die keinem zu bevorzugenden Kollektiv angehören, ist schon allein deshalb zwangsläufig der Fall, weil der Rekrutierungspool für verschiedene berufliche Tätigkeiten nicht deckungsgleich mit dem Bevölkerungsanteil ist. So hat die hohe Neuzuwanderung der letzten Jahre den Anteil der mithilfe von Quoten zu bevorzugenden Menschen mit Migrationsgeschichte beachtlich erhöht. Allerdings: Vielen Neuzuwanderern mangelt es an den erforderlichen Sprachkenntnissen, am Qualifikationsprofil und teilweise auch am Interesse, im öffentlichen Dienst zu arbeiten, weil die Privatwirtschaft als Arbeitgeber bevorzugt wird. Hinzu kommt, dass bei Neuzuwanderern aus dem Nahen und Mittleren Osten die Neigung zur Erwerbsbeteiligung von Frauen erheblich geringer ausfällt.20 All diese Aspekte werden von den Verfechtern von Quotenregelungen ignoriert. Die nachteilig davon Betroffenen werden Quoten, die maßgeblich vom verfügbaren Rekrutierungspool abweichen, als noch unfairer empfinden, als dies bei einem weitgehend ausgeglichenen Rekrutierungspool der Fall wäre. Die absehbare Folge davon ist, dass sich die Bereitschaft, Migranten mit Offenheit zu begegnen und weitere Einwanderung zu akzeptieren, spürbar verringert. Denn: Warum sollten Menschen Einwanderung befürworten, wenn damit für sie staatlich verordnete Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt verbunden wären? Zusammenfassend lässt sich zur Wirkung von CRT-Instrumenten, die der Herstellung von Ergebnisgleichheit im Namen der Gerechtigkeit und des Antirassismus dienen sollen, festhalten: Wer eine Gesellschaft zutiefst und unüberwindbar spalten will, der greift auf Abstammungsmerkmale zurück, um Menschen Zugänge zu Ressourcen zu verschaffen oder sie davon auszuschließen.
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Was hat sich in den USA seit den 1990er-Jahren verändert?21 Betrachtet man die Entwicklungen seit der Publikation von Schlesingers Schrift, drängt sich der Gedanke auf, dass die mittlerweile eingetretene Spaltung der USA so tiefgehend ist, dass sie selbst einen so weitsichtigen Analytiker wie Schlesinger mit Erstaunen erfüllen würde. Denn neben die Spaltung in ethnische Abstammungsgruppen trat in den letzten Jahren mit enormer Wucht die Spaltung nach Geschlecht und nach Genderidentitäten. Überdies hat das von Schlesinger beschriebene Auseinanderdividieren der Gesellschaft in Identitätsgruppen im Lauf der letzten drei Jahrzehnte eine „Wir-gegen-die-Mentalität“ befördert, die zunehmend unversöhnliche Züge annimmt. Liest man Schlesingers Text aus der heutigen Perspektive, springen drei Punkte ins Auge: Erstens, wie konstant die Gründe, die zur Rechtfertigung der Spaltungspolitik herangezogen werden, sind. Der wichtigste Grund heißt „Gerechtigkeit“, genauer gesagt „Rassengerechtigkeit“ („racial justice“). In den 1990er-Jahren wie heute ist den Befürwortern dieser Identitätspolitik zur Erreichung dieses Ziels so gut wie jedes Mittel recht – Nebenwirkungen, auch solche, die das Land tief und nachhaltig spalten, werden billigend in Kauf genommen. Vor genau diesen Nebenwirkungen warnte Schlesinger. Dass er leider mit seinen Warnungen nicht durchdrang, zeigen die in den Repliken analysierten Entwicklungen der vergangenen Jahre: sowohl die USA als auch andere westliche Gesellschaften, wie Deutschland, das Vereinigte Königreich und Australien betreffend. Zweitens ist eine Verlagerung der zum Einsatz gebrachten Hauptinstrumente zur Verwirklichung einer identitätsbasierten Form der Gerechtigkeit erkennbar: Im Zentrum steht nun die oben anhand von einigen aktuellen Beispielen analysierte CRT-inspirierte Herstellung von Ergebnisgleichheit; wobei die von Schlesinger als Hauptmittel der Spaltung in Abstammungsgruppen identifizierten Lehrplanreformen weiterhin verfolgt werden (dazu unten mehr). Letzteren kommt nunmehr hauptsächlich die Funktion zu,
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den Boden für die Akzeptanz von Maßnahmen zur Herstellung von Ergebnisgleichheit zu bereiten. Drittens fällt bei der Lektüre von Schlesingers Text auf, wie sehr das rhetorische Arsenal der Identitätspolitik zwischenzeitlich ausgebaut wurde. Zentrale (Kampf-)Begriffe, mit denen heutzutage die spalterische Identitätspolitik vorangetrieben wird, wie „woke“ (besondere Wachsamkeit für Rassismus), „cancel culture“, „safe spaces“, „Triggerwarnungen“, „kulturelle Aneignung“, „Twitter-Mob“, „Black Lives Matter“, „BIPoC“ (Black, Indigenous and People of Color), „toxische Männlichkeit“, „Social Justice Warrior“ oder auch die Idee, dass es Dutzende von unterschiedlichen Genderidentitäten gibt, konnten noch keinen Eingang in Schlesingers Analyse finden. Als Arthur M. Schlesinger im Jahr 2007 verstarb, war dieses Vokabular noch nicht im Umlauf. All diese erst in den letzten Jahren geprägten Begriffe sind Ausdruck dafür, dass Identitätspolitik nunmehr einem Hochgeschwindigkeitszug gleicht, der kontinuierlich weiter Fahrt aufnimmt und an den immer mehr thematische Wagen angekoppelt werden. Die fortwährend ergänzte Palette an Neologismen stellt eine Erweiterung des sprachlichen Instrumentariums dar, mit dessen Hilfe Identitätspolitik umgesetzt werden soll. Neu sind die Begriffe, altbekannt – und von Schlesinger hervorragend auf den Punkt gebracht – sind die mit ihnen verfolgten Ziele (vornehmlich die Einschränkung der Redefreiheit mittels eines moralisch erzeugten Konformitätsdrucks) und die gesellschaftlichen Nebenwirkungen (wie vor allem die Spaltung der Gesellschaft). Das Hauptziel war in den 1990er-Jahren wie auch heute, Begriffe zur Hand zu haben, mit deren Hilfe Menschen in moralisch Gute und Schlechte unterteilt werden können. Damals wie heute gilt als moralisch hochwertig, wer die richtige Sprache spricht und sich so als Unterstützer der identitätspolitischen Agenda zu erkennen gibt. Als moralisch minderwertig wird derjenige herabgewürdigt, der Kritik an der Agenda übt. Wer beispielsweise nicht hinnehmen möchte, dass zur Schaffung von „safe spaces“ für Opfergruppen, allen voran BIPoCs, Frauen und Menschen mit nicht-he-
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teronormativer Genderidentität, die Meinungs-, Presse- und Wissenschaftsfreiheit eingeschränkt wird, dem wird unterstellt, dass er damit den genannten Opfergruppen ein Gefühl von Sicherheit, Wohlbefinden und Zugehörigkeit verweigere, ja, dass er in Kauf nehme, dass diesen Menschen sprachliche Gewalt angetan wird. Den Begriff „safe space“ kannte Schlesinger noch nicht, das Phänomen, dass für Opfergruppen Schutzräume geschaffen werden, zum Beispiel in der Form von Wohngebäuden nur für Afroamerikaner auf dem Gelände von Universitäten, floss avant la lettre in seine Analyse ein. Wäre Schlesinger noch am Leben, sähe er sich heutzutage wohl als „alter weißer Mann“ diskreditiert, der mit seinen Analysen und Mahnungen nur eines bezwecke: seine „weißen, männlichen und heteronormativen Privilegien“ abzusichern. Zudem fände er seine Prognosen bestätigt – vielleicht auf eine Art und Weise, die selbst einen luziden Analytiker mit Entsetzen darüber erfüllte, in welchem Ausmaß es die amerikanische Gesellschaft zugelassen hat, dass sich die zerstörerischen Kräfte der Identitätspolitik nahezu ungehindert entfalten konnten. Ein Austausch mit Schlesinger als jemandem, der das Unheil früh heraufziehen sah, über die gegenwärtigen Entwicklungen wäre sicher sehr erkenntnisreich und gewinnbringend. Zwei Feldern, die maßgeblich dafür verantwortlich sind, dass das Spaltungs- und Zerstörungspotenzial der Identitätspolitik so stark an Fahrt aufnehmen konnte, hat Schlesinger jeweils ein eigenes Kapitel gewidmet: „Geschichte als Waffe“ und „Der Kampf der Schulen“. Schlesinger hat anschaulich dargelegt, warum und mit welchen Methoden identitätspolitische Aktivisten versuchen, „Geschichte als Waffe“ einzusetzen. Das sie leitende Motto lautet: Wer die Deutungsmacht über die Vergangenheit hat, kann auch die Gegenwart und Zukunft prägen. Grundsätzlich gilt: Wer Geschichte als identitätspolitische Waffe einsetzt, dem geht es nicht um Fakten. Es geht ihm nicht darum, vergangenes Geschehen möglichst akkurat zu rekonstruieren. Ganz im Gegenteil: Es geht ihm darum, die Vergangenheit in ideologische Narrative zu pressen. Auf der iden-
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titätsrechten Seite handelt es sich um weiße Überlegenheitsnarrative, die allerdings nur noch von kleineren Gruppen am gesellschaftlichen Rand offensiv vertreten werden. Auf der identitätslinken Seite geht es um moralisch hochwirksame Opfer- und Schuldnarrative. Das identitätslinke Narrativ, das inzwischen viele Bildungsinstitutionen dominiert, lautet so: Heute lebende Menschen, die aufgrund ihres Abstammungsmerkmals einer Schuldgruppe zugewiesen werden, müssen anderen heute lebenden Menschen, die einer Opfergruppe zugeteilt werden, Bevorzugungsmöglichkeiten gewähren, um die Schuld ihrer Vorfahren abzutragen. Die enorme Komplexität historischer Vorgänge wird also auf einen einzigen Aspekt reduziert. Begründet wird dies damit, dass dieser aus moralischen Gründen der einzig relevante sei. Diese interessengeleitete Simplifizierung und Moralisierung der Vergangenheit, die Schlesinger bereits in den 1990er-Jahren feststellte und die dazu führt, dass Geschichtswissen durch Narrativwissen ersetzt wird, hat im Jahr 2019 mächtig Auftrieb erfahren. Im August 2019 veröffentlichte das New York Times Magazine eine Initiative namens 1619 Project. Die Initiatoren erklärten das Jahr 2019 zum 400. Jahrestag der Sklaverei in Amerika und das Jahr 1619 zum eigentlichen Ausgangspunkt der US-Geschichte. Dass es beim 1619 Project nicht um Fakten, sondern um eine ideologiekonforme Geschichtsschreibung und somit um die Verfügungsmacht über das nationale Narrativ geht, geben die Initiatoren freimütig zu. Ziel des Projektes ist es, wie die Initiatoren auf der Website des New York Times Magazine schreiben, Sklaverei und den erzwungenen Beitrag der Afroamerikaner zum wirtschaftlichen Erfolg des Landes ins Zentrum der nationalen Erzählung zu rücken.22 US-Amerikaner sollen Rassismus als unauslöschliches Kainsmal sehen. Amerikaner sollen davon überzeugt werden, dass nichts so sehr die USA geprägt habe wie Rassismus und dass Rassismus der Wesenskern des Landes sei. Das Opfer-und-Schuld-Narrativ soll politisch, institutionell und gesellschaftlich als einzig gültiges verankert werden – mit dem Ziel, dass sich Afroamerikaner ermächtigt fühlen und ihnen die Möglichkeit gegeben wird, unter
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Verweis auf ihren Opferstatus, dauerhaft Wiedergutmachung einzufordern – sei es in symbolischer Form, indem sich Weiße zu ihrem Rassismus, ihrem privilegierten Weißsein oder ihrer schuldbehafteten Hautfarbe bekennen, sei es in materieller Form. Unter letztere fallen sowohl Bevorzugungen bei Stellenbesetzungen als auch Reparationszahlungen für die 1865 beendete Sklaverei. Wie gut der Boden für dieses nationale Narrativ inzwischen in den USA bereitet ist, wird daran ersichtlich, dass es den Initiatoren innerhalb von acht Monaten gelungen ist, dass rund 4.500 Schulen das Narrativ des 1619 Projects in ihren Lehrplan übernommen haben.23 Dies bedeutet nichts anderes, als dass jungen Menschen an diesen Schulen simplifizierende und moralisierende Narrative beigebracht werden anstelle von komplexen und sich Eindeutigkeiten entziehenden Fakten. Überdies spaltet dieses Geschichtsbild die Schülerschaft in Träger von Opfer- und Schuldidentitäten auf. Die eigentliche Funktion eines nationalen Narrativs, etwas Gemeinsames und Verbindendes zu schaffen, wird damit konterkariert. Und aufgrund dessen, dass diese nationale Erzählung eine Erbsünde festschreibt, kann aus der Geschichte auch zukünftig nichts Verbindendes mehr entstehen. Hinzu kommt, dass, wer jungen Menschen beibringt, ihr Land sei auf rassistischem Unrecht gegründet und seine ganze Geschichte sei nur davon geprägt, ihre Identifikation mit diesem Land erschwert. Insofern ist es kein Wunder, dass immer mehr junge Menschen ihr Land als nichts anderes als einen rassistischen Unrechtsstaat sehen, dessen Systeme auf Rassismus gründen und daher sozusagen „unheilbar“ an Rassismus erkrankt sind. Insofern ist es wenig verwunderlich, dass der von radikalen Aktivisten geforderte grundlegende Systemwechsel bei einer steigenden Zahl an vor allem jungen, gutausgebildeten Menschen auf fruchtbaren Boden fällt. Der als notwendig erachtete Systemwechsel steht in enger Verbindung mit der Verbreitung des Narrativs des strukturellen Rassismus. Vom Glauben, dass von Weißen geschaffene Systeme per se rassistisch sind, ist es kein allzu großer Schritt zur als einzig möglich perzipierten Lösung: dem Systemwechsel. Wer Menschen einerseits einen Schuldstatus verordnet, weil Personen mit ihrem Abstammungsmerkmal Systeme aufgebaut haben, und Menschen
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andererseits einen Opferstatus zuteilt, weil ihre Vorfahren keine Mitsprache bei der Strukturierung der Systeme hatten, sollte sich nicht wundern, wenn die Lösung für diejenigen, die ihrem Schuld/Opferstatus entkommen möchten, heißt: Macht kaputt, was euch zu Schuldigen beziehungsweise Opfern macht.24 Sklaverei und Rassismus sind wichtige Bestandteile der Geschichte der USA und müssen daher auch einen Platz im Nationalverständnis haben. Nur: Sklaverei und Rassismus sind weitverbreitete, sich durch erhebliche Teile der Menschheitsgeschichte ziehende Phänomene. Die Gründung eines Staates auf individuellen Freiheitsrechten, zu deren Absicherung ein demokratischer Rechtsstaat etabliert wurde, stellt hingegen historisch betrachtet eine Ausnahme dar. Umso fataler ist es, wenn jungen Amerikanern in Schule und Universität ein nationales Narrativ vermittelt wird, in dem die eigentlich für die USA konstitutiven Freiheitsrechte entweder unberücksichtigt bleiben oder als so befleckt von der rassistischen Erbsünde dargestellt werden, dass Menschen dazu verleitet werden, die Eckpfeiler ihrer Gesellschaft abzulehnen. Zumal es sich dabei um genau die Eckpfeiler handelt, die letztendlich das Unrecht der Sklaverei (1865) und später die Jim-Crow-Gesetzgebung in den Südstaaten (1964) unhaltbar machten und so überhaupt erst zur Abschaffung dieser Unrechtsstrukturen führten. Die Initiatoren des 1619 Projects folgen der Maxime „catch ’em young“, um sicherzustellen, dass die nächste Generation in den ideologisch gewünschten Bahnen denkt. Die Bildungsinstitutionen sind dafür, wie auch Schlesinger schrieb, der ideale Indoktrinationsort. Was er für die 1990er-Jahre feststellte, trifft hinsichtlich der Ziele und Methoden auch Anfang der 2020er-Jahre zu. Und wie vor 30 Jahren bilden Universitäten die Speerspitze der identitätspolitischen Bewegung. In ihnen werden die Konzepte und Begrifflichkeiten entwickelt und wird Studierenden das identitätspolitische Programm als wissenschaftliche Erkenntnis vermittelt. „Westliche“ Bildungsinhalte stehen noch umfassender als in den 1990er-Jahren unter einem rassistischen Generalverdacht. Mit immer größerer Intensität erschallt der Ruf nach einer „Dekolonialisierung des Curriculums“, wobei dies im Grunde nur ein neuer
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Begriff für die Forderung nach einer Überwindung des eurozentrischen Curriculums ist, deren Manifestationen in Schulen und Universitäten bereits Schlesinger kritisch beleuchtete. Bildung soll somit weiterhin, wie Schlesinger pointiert bemerkte, als Therapiemittel eingesetzt werden, um das Selbstbewusstsein von Minderheiten zu stärken. Ob dadurch Separatismus und Antagonismus entstehen, interessiert die Verfechter dieser Lehrplanreformen heute so wenig wie damals.25 Ihnen geht es auf der Schuldseite ausschließlich darum, sich als geläutert vom rassistischen Erbe des Westens zu präsentieren, während es denjenigen auf der Opferseite darauf ankommt, das eigene Kollektiv als durch „westliche“ Bildungsinhalte benachteiligt darzustellen. Die Lösung lautet auf beiden Seiten: kritische Auseinandersetzung mit allem, was als „weiß“ klassifiziert wird, sowie die Fokussierung auf von Nichtweißen erbrachte Leistungen. Nachdem zunächst, wie von Schlesinger beschrieben, die naheliegenden Fächer wie Geschichte ins Visier genommen wurden, sollen jetzt auch Fächer wie Mathematik „de-kolonialisiert“ oder gar „rehumanisiert“ (sprich: ent-westlicht) werden.26 Diese Bestrebungen haben ihren Weg aus den aktivistischen Zirkeln an Universitäten in die Praxis gefunden, wie Pläne für den Schulbezirk von Seattle zeigen. Im Mathematikunterricht sollen die Schüler lernen, dass sich die „westliche Kultur“ Mathematik angeeignet und diese dazu genutzt habe, Macht- und Unterdrückungssysteme zur Marginalisierung von „people of color“ zu begründen. Dementsprechend lauten die zu erreichenden Lernziele: „Schüler erkennen, wie Mathe dazu genutzt wurde und weiterhin benutzt wird, um Menschen und Communitys of Color zu unterdrücken und auszugrenzen“; „Schüler können erklären, wie Mathematik ökonomische Unterdrückung bestimmt“; oder: „Schüler erkennen die standardisierten Testverfahren inhärenten Ungerechtigkeiten, die genutzt werden, um Menschen und Communitys of Color zu unterdrücken und zu marginalisieren“.27 Ein Mathematikunterricht, der die Schülerschaft nach Abstammungsmerkmalen in Unterdrücker und Unterdrückte spaltet, kann zu einer schweren Belastung für die sozialen Beziehungen der Schüler untereinander
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werden. Je mehr Fächer den Fokus auf CRT-Dogmen legen, desto mehr wird der Samen der Spaltung zwischen ihnen gesät. Wie leicht entflammbar eine in der Gesellschaft tief etablierte Schuld-/Opferkultur ist, vor der Schlesinger warnte, führten die Ereignisse in den USA infolge des durch einen Polizeieinsatz herbeigeführten Todes von George Floyd vor Augen. Das identitätspolitische Pulver zündete im Frühsommer 2020 mit erheblicher Intensität auf beiden Seiten: also aufseiten derjenigen Afroamerikaner, die sich grundsätzlich als Opfer sehen, und aufseiten der Weißen, die von ihrem Schuldstatus aufgrund ihrer Hautfarbe überzeugt sind. Beide sahen, angeheizt von der BLM-Bewegung, den Tod Floyds als stellvertretend für den ungebrochenen Rassismus, der in ihrer Wahrnehmung in den USA grassiert. Erstere sahen sich in ihrem Opferstatus, letztere in ihrem Schuldstatus bestätigt. In diesem von nicht hinterfragbaren Schuld-/Opfernarrativen dominierten gesellschaftlichen Klima wagte kaum jemand, der nicht als Rassist gebrandmarkt und sanktioniert werden wollte, darauf hinzuweisen, dass die von einer Passantin gefilmte Szene, die das Knie eines weißen Polizisten auf dem Hals des am Boden liegenden Afroamerikaners Floyd zeigt, nicht offenbart, ob für den Polizisten Rassismus ein handlungsleitendes Motiv war. Die meisten beeilten sich, der Kurzschlussreaktion – weißes Knie auf schwarzem Hals – Folge zu leisten und den Tod Floyds als rassistisch motivierten Mord zu verurteilen: Manche taten dies aus Überzeugung, andere, um nicht selbst ins Visier der äußerst kampagnenstarken Aktivisten zu geraten.28 Zahlreiche Institutionen – allen voran Universitäten – gingen noch einen Schritt weiter. Sie übten sich in kollektiven Selbstbezichtigungen und gelobten öffentlichkeitswirksam Besserung. Die institutionelle Selbstanklage war immer gleichlautend: Unsere Institution ist rassistisch, weil ihre Strukturen aufgrund dessen, dass sie von Weißen geschaffen wurden, per se rassistisch sind. Ein Beispiel soll dieses mittlerweile an US-Universitäten institutionalisierte Appeasement-Klima illustrieren: Vincent Price, Präsident der Duke University, kündigte im Juni 2020 ein umfassendes Programm an, um die rassistischen Strukturen zu beseitigen, welche die Erfahrungen nicht-weißer Hochschulangehöriger tagtäglich prägten.29 Wie
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viele sich ähnlich äußernde Universitätspräsidenten ließ Price offen, wie genau sich der angeblich so tief in die Strukturen eingeschriebene Rassismus auf Hochschulangehörige auswirkt.30 Allerdings: Wären sie konkret geworden, hätten Price und seine Kollegen sich fragen lassen müssen, wie es sein kann, dass sie wussten, dass an ihren Universitäten rassistische Strukturen vorherrschen, und sie dennoch bis dato nichts dagegen unternommen haben. Zumal sie damit zugegeben hätten, gegen die Antidiskriminierungsgesetzgebung verstoßen zu haben. Sie mussten jedoch gar nicht befürchten, dass sie aufgefordert würden, ihre Aussagen zu konkretisieren, weil alle wissen, dass es bei diesen Aussagen nicht darum geht, durch die Benennung konkreter Fälle möglichst genaue Ansatzpunkte für die Bekämpfung von Rassismus zu gewinnen, sondern darum, die Aktivisten unter den Hochschulangehörigen durch performative Schuldbekenntnisse und Besserungsgelöbnisse zu besänftigen. Die Kurzschlussreaktion weißer Polizist – schwarzes Opfer führte nicht nur in den USA zu heftigen Debatten, Protesten (inklusive gewalttätiger Ausschreitungen und Plünderungen) sowie Selbstbezichtigungsgesten, sondern auch in Europa, Kanada und Australien. Daran zeigt sich, wie wirkmächtig das Opfer-undSchuld-Narrativ mittlerweile in westlichen Gesellschaften ist. Zur Illustration nur ein Beispiel: Wenn in den USA ein Afroamerikaner bei einem Polizeieinsatz sein Leben verliert und der kanadische Premierminister Justin Trudeau deshalb auf die Knie geht, tut er dies nicht, weil er mit dieser Demutsgeste seine Schuld für eine von ihm begangene Tat ausdrücken möchte, sondern er tut dies einzig und allein aufgrund seiner Hautfarbe und einer vermeintlich daran gekoppelten Kollektivschuld.31 Eine solche Geste heißt und soll heißen: Alle Weißen sind schuld am Tode George Floyds, denn ohne weißen Rassismus wäre Floyd noch am Leben. Auch diese aus ideologischen Kurzschlüssen resultierenden Entwicklungen hat Schlesinger in ihren Grundzügen schon vorausgesehen. Ganz sicher hätte er zum Stand der Spaltung der US-Gesellschaft und den aktuellen Vorgängen kluge Analysen beizutragen. Da er nicht mehr unter uns weilt, müssen sozusagen seine in-
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tellektuellen Nachfolger diese Aufgabe übernehmen. Aus lizenzrechtlichen Gründen konnten die Repliken nicht im gleichen Band wie die deutsche Übersetzung von Schlesingers The Disuniting of America erscheinen, weshalb der vorliegende Replikenband separat veröffentlicht wird. Im Zentrum des Replikenbandes stehen die Folgen der identitären Spaltungspolitik, wie sie sich in den USA und, inspiriert von den Entwicklungen dort, in anderen westlichen Ländern manifestieren. Abgerundet wird der Band mit einer Replik, die über das identitätspolitische Spaltungspotenzial hinausgeht und sich mit den durch die Pandemiepolitik verursachten gesellschaftlichen Spaltungen auseinandersetzt.
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https://www.statista.com/statistics/233324/median-household-income-in-t he-united-states-by-race-or-ethnic-group/. Für den Bildungserfolg siehe: Arthur Sakamoto, Ernesto F.L. Amaral, Sharron Xuanren Wang und Courtney Nelson, „The Socioeconomic Attainment of Second-Generation Nigerian and Other Black Americans: Evidence from the Current Population Survey, 2009 to 2019”, Socius 7 (2021), S. 1–18; Amy Hsin und YU Xie, „Explaining Asian Americans’ academic advantage over whites”, The Proceedings of the National Academy of Sciences 111 (23) (2014), S. 8416–8421. Die Schilderung der Klage folgt dem am 15. Juli 2023 in der New York Post erschienenen und von Rich Calder, Susan Edelman und Deirdre Bardolf verfassten Artikel: „Black, Hispanic NYers who failed teacher’s text strike $1.8B in NCX settlement”: https://nypost.com/2023/07/15/nyc-bias-suitblack-hispanic-teachers-and-ex-teachers-rich/. Wendy Fry, Erica Yee und Rya Jetha, „California is the first state to tackle reparations for Black residents. What that really means“, CalMatters, 29. Juni 2023: https://calmatters.org/explainers/reparations-california/; Taryn Luna, „California’s slavery reparations plan: Eligibility, payments and other details, Los Angeles Times, 29. Juni 2023: https://www.latimes.com/california/story/ 2023-06-29/la-me-california-slavery-reparations-plan; Karen Breslau, „California’s plans to pay reparations for slavery’s legacy could include payments of up to $1.2m per person”, Fortune, 7. Juni 2023: https://fortune.com/2023/06/ 07/california-plans-pay-reparations-slavery-legacy-payments-12-million-per son/; The Government of California, „Governor Newsom Signs Landmark Legislation to Advance Racial Justice and California’s Fight Against Systemic Racism & Bias in Our Legal System”, 30. September 2020: https://www.gov. ca.gov/2020/09/30/governor-newsom-signs-landmark-legislation-to-advanc e-racial-justice-and-californias-fight-against-systemic-racism-bias-in-our-legal -system/; Jeremy B. White, „Cash for slavery reparations in California draws
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cool response from Newsom”, Politico, 10. Mai 2023: https://www.politico. com/news/2023/05/10/slavery-reparations-california-newsom-00096211. Siehe dazu beispielsweise: Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen, Anti-Rassismus Agenda 2025 – für eine rassismusfreie und chancengerechte Einwanderungsgesellschaft. Maßnahmenkatalog des Begleitausschusses der BKMO, 31. August 2020: https://bundeskonferenz-mo.de/wp-content/uploa ds/2020/08/200831_Antirassismus-Agenda-2025_BKMO.pdf. Auf Seite 4 wird als Maßnahme benannt: „Etablieren einer gemeinsam (mit Betroffenen) entwickelten Arbeitsdefinition von Rassismus auf Bundes- und Landesebene.“ Als Indikator für die Umsetzung der Maßnahme wurde benannt: „Die erarbeitete Definition wird bis September 2022 veröffentlicht und berücksichtigt strukturellen und institutionellen Rassismus.“ Unabhängiger Expertenkreis Muslimfeindlichkeit: Muslimfeindlichkeit – Eine deutsche Bilanz 2023 (Berlin: Bundesministerium des Innern und für Heimat, Juni 2023): https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/the men/heimat-integration/BMI23006-muslimfeindlichkeit.pdf?__blob=publica tionFile&v=17. Neue Deutsche Organisationen. Das postmigrantische Netzwerk, Manifest für eine plurale Gesellschaft, 20. Februar 2020: https://neue deutsche.org/de/artikel/manifest-fuer-eine-plurale-gesellschaft-1/. Neue Deutsche Organisationen, Manifest für eine plurale Gesellschaft. Unabhängiger Expertenkreis Muslimfeindlichkeit: Muslimfeindlichkeit – Eine deutsche Bilanz 2023, S. 16. Ebd., S. 255. Siehe dazu auch: Sandra Kostner, „Quoten und Paritätsgesetze. Steht der Interventionsstaat ante portas?“, in Thomas Walter Köhler und Christian Mertens (Hrsg.), Jahrbuch für politische Beratung 2019/2020 (Wien: edition mezzogiorno, 2020), S. 76–85, hier v.a. S. 84. Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen, Entwurf des Gesetzes zur Förderung von Teilhabe und Partizipation und zur Bekämpfung der rassistischen Diskriminierung (Bundespartizipationsgesetz), 2021: http://s890498910.online. de/wp-content/uploads/2021/11/Gesetzentwurf_Bundespartizipationsges etz_V4b_Nov2021.pdf, S. 4. Ebd. und S. 18. Ebd., § 3 Interkulturelle Öffnung Absatz 1, S. 5. Ebd., Absatz 3, S. 6. Ebd., Artikel 8 Änderung der Bundeshaushaltsordnung, Absatz 1, S. 11. Ebd., § 6 Bundespartizipationsrat, Absatz 3 und Absatz 4, S. 7. Ebd., § 6 Bundespartizipationsrat, Absatz 4. Ebd., Teil I Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes, Absatz 1, S. 3. Ebd., S. 20. Ebd., S. 22. Koalitionsvertrag 2021–2025 zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit: https://www.bundesregierung.de/resource/blob/974430/1990812/1f422c605 05b6a88f8f3b3b5b8720bd4/2021-12-10-koav2021-data.pdf?download=1, S. 118. Siehe dazu auch: Sandra Kostner, „Keine Macht den Quoten“, IPG, 2. März 2021: https://www.ipg-journal.de/rubriken/demokratie-und-gesellschaft/ artikel/keine-macht-den-quoten-5014/.
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Bei diesem Textteil handelt es sich um eine leicht erweiterte Fassung meines Vorworts zur deutschen Übersetzung von Arthur M. Schlesingers The Disuniting of America: Sandra Kostner, „Vorwort“ in Arthur M. Schlesinger, Die Spaltung Amerikas. Überlegungen zu einer multikulturellen Gesellschaft, aus dem Amerikanischen übersetzt von Paul Nellen (Stuttgart: ibidem, 2020), S. 7–15. https://www.nytimes.com/interactive/2019/08/14/magazine/1619america-slavery.html; Jake Silverstein, „Why We Published The 1619 Project”, The New York Times Magazine, 20. Dezember 2019: https://www.nytimes.com/ interactive/2019/12/20/magazine/1619-intro.html. Siehe dazu auch: Jake Silverstein, „The 1619 Project and the Long Battler Over U.S. History”, The New York Times Magazine, 12. November 2021: https://www.nytimes.com/2021/ 11/09/magazine/1619-project-us-history.html. https://pulitzercenter.org/blog/nikole-hannah-jones-wins-pulitzer-prize-16 19-project. Siehe ausführlicher dazu: Sandra Kostner, „Schuld und Sühne“, IPG, 3. August 2020: https://www.ipg-journal.de/regionen/nordamerika/artikel/schuld-u nd-suehne-4501/. Schlesinger, Die Spaltung Amerikas, S. 31f, 74 und 91f. Seattle Public Schools, „K-12 Math Ethnic Studies Framework (20/08/2019)”: https://www.k12.wa.us/sites/default/files/public/socialstudies/pubdocs/ Math%20SDS%20ES%20Framework.pdf; Imani Goffney, Rochelle Guitiérrez und Melissa Boston, „Rehumanizing Mathematics for Black, Indigenous and Latinex Students”, Annual Perspectives in Mathematics Education, 2018: https://smep.sites.arizona.edu/sites/smep.sites.arizona.edu/files/Gutierrez %20%282018%29%20The%20Need%20to%20Rehumanize%20Mathematics_N CTM%20Annual%20Perspectives%20Intro.pdf. Seattle Public Schools, „K-12 Math Ethnic Studies Framework”. Dieser Absatz sowie die nachfolgenden zwei Absätze sind aus meinem in der NZZ am 1. Dezember 2020 erschienen Beitrag entnommen „Wer den strukturellen Rassismus leugnet, muss selbst ein Rassist sein – Analyse eines äußerst gefährlichen Denkfehlers“: https://www.nzz.ch/feuilleton/struktur eller-rassismus-analyse-eines-gefaehrlichen-denkfehlers-ld.1589216. „Price: Juneteenth to Be a Day of Reflection and the Beginning of Eliminating Racism”, Duke Today, 17. Juni 2020: https://today.duke.edu/2020/06/pricejuneteenth. Für weitere Beispiele siehe: Heather Mac Donald, „Conformity to a Lie“, City Journal, 16. August 2020: https://www.city-journal.org/article/conformityto-a-lie. Leah Asmelash, „Justin Trudeau takes a knee at Black Lives Matter demonstration on Parliament Hill”, CNN, 6. Juni 2020: https://edition.cnn. com/2020/06/05/us/justin-trudeau-kneel-black-lives-matter-trnd/index. html.
Repliken
Ein Blick in den Spiegel. Schlesingers Analyse der amerikanischen Identitätspolitik – 30 Jahre später gelesen Barbara Zehnpfennig Man kann nur hellsichtig nennen, was der Historiker und ehemalige Präsidentschaftsberater Arthur Schlesinger vor nunmehr 30 Jahren an gesellschaftlichen Entwicklungen in den USA wahrnahm und auch für die Zukunft prognostizierte: die Gefahr einer sich immer weiter vertiefenden Spaltung des Landes, verursacht durch eine Identitätspolitik, die mit ihrer Überordnung von Gruppeninteressen über die Rechte von Individuen an den Grundfesten der amerikanischen Demokratie rüttelt. Dass die Demokratie, die dem Einzelnen so viel Freiheit gewährt wie keine andere politische Ordnung, stets von Partikularinteressen bedroht ist, gehört zu den zentralen Einsichten der Demokratietheorie. Schon in einem der wichtigsten Gründungsdokumente der Vereinigten Staaten von Amerika, den „Federalist Papers“ von 1787/88, warnen die Autoren Hamilton, Madison und Jay vor der unheilvollen Wirkung von „factions“, gesellschaftlichen Gruppierungen, denen das Eigene wichtiger ist als das Gemeinsame. Sie durch den Oktroi einer einheitlichen Meinung unschädlich zu machen, hielten die Federalists für eine Therapie, die schlimmer ist als die Krankheit. Statt Homogenität empfahlen sie deshalb das Gegenteil, nämlich Diversifikation. Wenn die Zahl der factions nur groß genug wäre, würden sie sich gegenseitig in Schach halten und so auf gesellschaftlicher Ebene das System der „checks and balances“ reproduzieren, welches die amerikanische Verfassung bereits für die politische Ordnung etabliert hatte. Allerdings gingen die Federalists bei ihrem Konzept einer in sich austarierten gesellschaftlichen Vielfalt davon aus, dass alle Beteiligten die eine basale Prämisse der neuen Ordnung teilten: Das 37
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Individuum und seine Rechte sind die nicht hintergehbare Grundlage des Systems. Eben dies aber ist durch die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, die Schlesinger so scharfsinnig analysiert, fraglich geworden. Die neuen factions verstehen sich nicht mehr als Zusammenschlüsse von Individuen, die mittels des Zusammenschlusses bestimmte Interessen durchsetzen wollen, sondern als identitätsstiftende Kollektive, bei denen es um nicht weniger als Sein oder Nicht-Sein der gesamten Gruppe geht. Das macht den Kampf der Kollektive mit der Gesamtgesellschaft, aber auch den Kampf zwischen den Kollektiven so hart und unerbittlich. Immer steht gleich das Ganze auf dem Spiel: Es werden nicht bestimmte Inter– essen schwarzer Menschen unzureichend geachtet, sondern die schwarze Identität wird negiert. Es werden nicht einzelne muslimische Regeln oder Verhaltensweisen kritisiert, sondern der Islam schlechthin wird abgelehnt. Und weil das identitätsstiftende Element (Schwarz-Sein, Frau-Sein, Schwul-Sein) nicht nur die Identität des Kollektivs bezeichnet, sondern auch die Identität der ihm Angehörenden, weil sie sich also selbst primär aus ihrem SchwarzSein, Frau-Sein, Schwul-Sein heraus verstehen, befinden sie sich ebenfalls als Person im Überlebenskampf, obwohl sie ihr Individuum-Sein doch gegen eine Kollektivexistenz eingetauscht haben. Aber das ist nur eine von vielen Paradoxien, die mit der Identitätspolitik verbunden sind. Schlesingers Analyse weist noch diverse andere aus, die nachfolgend unter den Aspekten betrachtet werden sollen, ob mit ihnen typisch und ausschließlich Amerikanisches bezeichnet ist und ob sich seit Schlesingers Betrachtungen über die amerikanische Gesellschaft der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts Wesentliches verändert hat.
Amerika und Europa – die Unterschiede Was Schlesinger in The Disuniting of America als Tendenz in den damaligen USA schildert, kommt dem heutigen europäischen Betrachter sehr bekannt vor: ein Multikulturalismus, der zur Segregation der Kulturen voneinander, nicht zu einem harmonischen Miteinander führt; eine Art Tribalismus, ein Stammesdenken, das sich mit der Grundlage der westlichen Kultur, dem Universalismus, nur
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schwer vereinbaren lässt; eine von den verschiedenen Gruppen betriebene Geschichtspolitik, durch die gegenwärtige Ansprüche aus einer nachträglich konstruierten Vergangenheit legitimiert werden sollen; das Auseinanderdriften von Bevölkerung und (akademischen) Eliten, auf deren Wirken die Entstehung der identitätspolitischen Agenda wesentlich zurückgeht; die Verschiebung der früheren Frontlinie zwischen Rechts und Links, weil auf einmal die Linke eine Gruppenhomogenität vertritt, die zu vertreten früher das Privileg der Rechten war, usw. Das alles sind Phänomene, die es von den USA nach Europa geschafft haben, so, wie Europa immer begierig war und ist, amerikanische Denk- und Lebensweisen zu übernehmen, auch wenn das in merkwürdigem Kontrast zu dem weit verbreiteten Anti-Amerikanismus steht. Doch so ähnlich das Bild auf den ersten Blick ist – die Ausgangsbedingungen weisen in den USA und in Europa deutliche Unterschiede auf, die dann die jeweilige Erscheinungsweise der Identitätspolitik prägen. Amerika war, nachdem man die indigene Bevölkerung fast ausgerottet hatte, worauf Schlesinger mehr als deutlich hinweist, ein reines Einwanderungsland. Alle Immigranten brachten ihre eigene Kultur mit, alle waren zunächst Fremde. Es blieb also gar nichts anderes übrig, als eine multikulturelle Gesellschaft herauszubilden, wobei die Kulturen sich allerdings nicht gleichgewichtig entfalten konnten. Es gab eine eindeutig überprivilegierte und eine erbarmungslos unterprivilegierte Gruppe: Die angelsächsischen Einwanderer waren dominant, und den aus Afrika importierten Sklaven wurde ein Status unterhalb des Mensch-Seins zugewiesen: ein Drittel Sache, zwei Drittel Mensch. Nach diesem Modus legte die Verfassung von 1788 die Zahl der in jedem Bundesstaat zu repräsentierenden Schwarzen fest, eine Konzession an die Südstaaten, die zur Makulatur wurde, als der amerikanische Bürgerkrieg gut 70 Jahre später zur Sklavenbefreiung führte. Auf jeden Fall findet diese Grundstruktur der Dominanz der WASPs („White AngloSaxon Protestants“) auf der einen, der Unterdrückung der Schwarzen auf der anderen Seite ihren Widerhall in der Identitätspolitik, wie sie Schlesinger erlebte: Diese war primär ein Aufstand gegen die „anglozentrierte Kultur“1 und äußerte sich vor allem im „Afrozentrismus“ oder der „Afrozentrizität“2, eine Umkehrung dessen,
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was man der Gegenseite vorwarf. Nun sollte die (als einheitlich unterstellte) afrikanische Kultur zum Maß aller Dinge werden, und die ehemaligen Unterdrücker sollten ihre Schuld ihr gegenüber bekennen sowie durch massive Bevorzugung der vormals Unterdrückten auszugleichen versuchen, was sie durch massive Benachteiligung an Unrecht verübt hatten. Schlesinger lässt keinen Zweifel daran, dass der Rassismus, der sich vor allem gegen die Afroamerikaner, aber auch gegen Indianer, Juden etc. richtete, tief in der DNA der Vereinigten Staaten verankert ist. „Historisch gesehen, war Amerika eine rassistische Nation“3, konstatiert er unumwunden, und er hält die alten Denkund Verhaltensmuster auch nach wie vor für virulent, wenn auch nicht mehr für so wirkmächtig wie früher. Seine Kritik richtet sich aber gegen die Methode, die überkommenen Muster überwinden zu wollen. An die Stelle eines respektvollen Miteinander der verschiedenen Kulturen, geeint durch das gemeinsame AmerikanerSein, tritt ein Gegeneinander von ethnisch definierten, voneinander segregierten Gruppen, die sich in puncto Opferstatus gegenseitig zu übertrumpfen versuchen und Hass säen. Seine Befürchtung ist, dass aus dem amerikanischen „melting pot“ der „Turm zu Babel“4 wird, eine Regression in tribalistische Strukturen, die man schon endlos lange hinter sich gelassen hatte, als man vom europäischen auf den amerikanischen Kontinent wechselte. Erkennbar anders ist die Situation in Europa, dem Herkunftskontinent der ersten amerikanischen Siedler. Hier haben sich Nationen mit eigenen Kulturen herausgebildet, zu denen Migranten hinzukommen. Natürlich sind auch diese Kulturen Ergebnis von Verschmelzungsprozessen, doch sie sind eben schon da, wenn Einwanderer aus nicht-europäischem Umfeld zu ihnen dazustoßen. Das Gefälle zwischen „Leitkultur“ und Zuwanderungskultur ist also größer als in einem Land, in dem letztlich nahezu alle Zuwanderer waren und die Multikulturalität Tradition hat, trotz aller Dominanz der Angelsachsen. Zudem ist der Rassismus in Europa diffuser – er fokussiert sich nicht so stark auf eine „Rasse“ wie in den USA –, und er war kein basales Element im Prozess des „NationBuilding“. Dass er in Deutschland in Gestalt des Judenmords eliminatorische Konsequenzen, noch dazu in diesem Umfang, gezeitigt
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hat, stellt einen Ausnahmefall dar. Einen Ausnahmefall stellt allerdings auch der Umgang mit der eigenen Schuld dar: ein rückhaltloses Bekenntnis zu ihr und der Versuch, sie auf allen denkbaren gesellschaftlichen und politischen Ebenen abzutragen, in dem Bewusstsein, dass eine wirkliche Wiedergutmachung nicht möglich ist. Wesentliche Unterschiede zwischen Europa und den USA, auf welche die jeweilige Identitätspolitik reagiert, sind also, dass die massive Einwanderung in Europa neueren Datums ist, auf Nationen trifft, die sich zumindest in ihren Ursprüngen nicht als multikulturell verstanden haben, und vorrangig aus Migranten nicht-europäischer Herkunft besteht. Insofern dürfte in Europa das Empfinden des Neuen der Situation und des Fremd-Seins im Hinblick auf die Zuwanderer größer sein als in den USA. Ein weiterer Unterschied ist, dass es in Europa keine ethnische Gruppe gibt, die wie die Schwarzen in den USA als „Sklavenrasse“ ausersehen war und von daher einen viel weiteren Weg zur Anerkennung als Gleichberechtigte zurücklegen musste als die Angehörigen anderer Ethnien. Deshalb erscheint der ethnisch motivierte Identitätskampf in Europa breiter angelegt als in den USA. Zwar pochen auch dort Hispanics, Asiaten, Indianer etc. auf ihre Rechte, doch im öffentlichen Bewusstsein sind es vor allem die Afroamerikaner, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wie sich zum Beispiel an der ständig anwachsenden Bewegung Black Lives Matter zeigt. Was sich seit Schlesingers Betrachtungen in den USA verändert hat und von Europa übernommen wurde, ist eine Vervielfältigung der identitätsstiftenden Motive über das Thema „Multikulturalismus“ hinaus. Angelegt war es zwar bereits zu Schlesingers Zeit, dass neben ethnischen und kulturellen Differenzen auch die Geschlechterfrage Gesellschafts-spaltende Kraft entfalten könnte. Aber durch die Gendertheorie und Bewegungen wie LGBTQ hat sich die Zahl derer, die sich in den verschiedensten Gruppen organisieren, weil sie sich aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit oder sexuellen Orientierung benachteiligt fühlen, immer weiter erhöht. Der durchschlagende Erfolg der postkolonialen Theorie hat wiederum zu einer Verschärfung des Konflikts zwischen Opfern
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und Tätern des Kolonialismus geführt, wobei der Täter- und Opferstatus offenbar erblich ist; immerhin fiel das letzte europäische Kolonialreich nach dem Zweiten Weltkrieg. Weil sich in der Identitätspolitik aber das berechtigte Aufbegehren gegen gesellschaftliche Benachteiligung und historisches Unrecht mit ideologisch aufgeladenen Theorien verbindet, können neue Fakten, neue Realitäten geschaffen werden wie beispielsweise eine die Zeiten überdauernde Kollektivschuld. Diese wird den „Weißen“ schlechthin zugeschrieben, ein weiteres Paradox, da damit im Namen des Antirassismus Kollektive gemäß rassischen Kategorien definiert werden. Doch Ideologie und Logik standen schon immer auf Kriegsfuß miteinander, und auch Ideologie und Fakten vertragen sich schlecht. Schlesinger macht das besonders gut sichtbar an der identitätspolitisch motivierten Geschichtspolitik in den USA – auch hier war Amerika Vorreiter eines Trends, der dann Europa erfasste.
Geschichtspolitik Zu Recht weist Schlesinger darauf hin, dass es kein neues Phänomen ist, sich einer ‚kreativen‘ Geschichtsschreibung zu bedienen, um politische Interessen durchzusetzen. Er unterscheidet zwischen einer „exkulpatorischen“ Geschichtsschreibung, die vergangene Untaten der herrschenden Gruppe beschönigt oder leugnet, und einer „kompensatorischen“5, die vergangene Großtaten der unterlegenen Gruppe übertreibt oder erfindet. Beides sind also Formen der Geschichtsfälschung, und beides dient dazu, gegenwärtige Ansprüche zu legitimieren: im ersten Fall das Recht auf Dominanz, im zweiten Fall das Recht auf Wiedergutmachung. Da die Identitätspolitik Politik zugunsten von Opferkollektiven ist, greift hier also das kompensatorische Modell. Doch warum ist es so wichtig, mittels Umdeutung und Umschreibung Macht über die Geschichte zu gewinnen? Offenbar genügt die Gegenwart, genügt der gegenwärtige Zustand nicht, um das, was man für sich beansprucht, zu begründen. Wenn man sich als Opfer sieht, muss nachgewiesen werden, dass man tatsächlich Opfer ist und dass der Opferstatus schreiendes Unrecht bedeutet.
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Nun könnte man den Nachweis auch durch sachliche Argumente erbringen. Doch erstens würde eine sachliche Argumentation wahrscheinlich zu Differenzierungen führen, die es fraglich werden ließe, ob sich die Konstruktion eines Opferkollektivs in der bestehenden Form rechtfertigen lässt. Und zweitens lebt der politische Kampf von Emotionalisierung, von Mythenbildung, von Heldentum und Schurkentum. Bereits zu Schlesingers Zeiten hatte das Moralisieren das Argument ersetzt, und eine Vorgeschichte, in der die Guten und die Bösen klar identifizierbar sind und sich geradezu genremäßig verhalten, verleiht dem aktuellen Anliegen eine ganz besondere Wucht. Schlesinger zeigt das sehr eindrücklich am Kampf gegen den angeblichen „Eurozentrismus“, dem in den USA unter anderem ein „Afrozentrismus“ entgegengesetzt wurde. Bemerkenswert ist daran bereits, dass hier offenbar der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben werden soll. Warum aber sollte der eine Anspruch auf hegemoniale Deutung der Vergangenheit besser sein als der andere, zumal dann, wenn er wie im Fall des Eurozentrismus nur unterstellt wird, im Fall des Afrozentrismus aber gewollt ist? Gerade wenn man sich, wie in der Identitätspolitik üblich, mit Vorliebe moralisierender Kategorien bedient, erscheint der Großmut gegenüber den eigenen moralisch fragwürdigen Vorgehensweisen unmotiviert. Wie sieht die afrozentrische Geschichtskonstruktion nun aus, und welche Konsequenzen werden aus ihr abgeleitet? Schlesingers Darstellung ist schon deshalb erhellend, weil sie am konkreten Fall allgemeine Muster sichtbar macht – Muster, die sich auch auf andere Fälle übertragen lassen. Grundlage der Geschichtskonstruktion ist ein klares SchwarzWeiß-Bild, in unmittelbarem wie in übertragenem Sinn: Die weiße Vorherrschaft beruht demnach nicht zuletzt auf einer eurozentrischen Perspektive, die sich selbst alle historischen Errungenschaften zuschreibt und die Schwarzen schlicht aus ihrem Geschichtsbild eliminiert. Mit dieser „weißen“ Geschichtssicht domestizieren die Weißen das schwarze Bewusstsein, sie dekulturalisieren die Afroamerikaner und nötigen ihnen Denk- und Verhaltensweisen auf,
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die ihnen kulturell fremd sind und ihre eigene Kultur herabwürdigen. Dagegen soll nun die afrozentrische Perspektive gesetzt werden: „Die menschliche Zivilisation entstammt dem Hochland von Ost-Afrika“6, und es waren Afrikaner, die „Wissenschaft, Medizin und die Künste nach Europa“ brachten sowie, lange vor Kolumbus, Amerika entdeckten.7 Außerdem gab es in Westafrika große Imperien, die sich durch eine aufgeklärte Verwaltung und beeindruckende Universitäten und Bibliotheken auszeichneten, welche aber durch die Mauren zu Fall gebracht und von europäischen Sklavenhändlern ihrer Bürger beraubt wurden.8 Die Geschichte wird also umgeschrieben: Dass sich die Kennzeichen unserer Gegenwart, nämlich die Vorherrschaft von Wissenschaft und Technik und die Entwicklung einer effizienten Verwaltung und funktionierenden Staatlichkeit, von Europa aus über die Welt verbreitet haben, ist ein europäischer Mythos. Tatsächlich war es umgekehrt, Europa hat die genannten Errungenschaften Afrika gestohlen. Grundlage dieser Umkehrung der Faktenlage ist der Verweis auf die Kultur des alten Ägypten, das nonchalant zum schwarzafrikanischen Land erklärt und als Ursprungsort jener wissenschaftlichen und philosophischen Leistungen deklariert wird, die normalerweise mit der griechisch-römischen Antike verbunden werden. Hier trifft man auf ein weiteres Paradox in den identitätspolitischen Prämissen: Einerseits soll Afrika der Ursprung all dessen sein, was unsere moderne Wirklichkeit ausmacht. Andererseits sind die dominierenden Kennzeichen der Gegenwart rein weißwestlich-europäisch und vergewaltigen das spezifisch Afrikanische. Dabei werden, wie Schlesinger zu Recht betont, Schwarzafrikaner und Afro-Amerikaner in einen Topf geworfen, als wären Menschen, deren Vorfahren vor mehr als vierhundert Jahren nach Amerika gebracht wurden, noch immer in ihrem Herkunftskontinent verwurzelt und sozusagen Fremde im eigenen Land, nämlich in den USA. Zudem wird, auch dies ein Monitum Schlesingers, dem afrikanischen Kontinent eine Einheitlichkeit unterstellt, welche die reale Vielfalt der Traditionen und Kulturen völlig ignoriert. Auf jeden Fall zeigt sich darin eine Ambivalenz, die bisher noch jeden Aufstand gegen „den Westen“ charakterisiert hat: Man
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beklagt die Dominanz spezifisch europäischer Denkweisen und Einrichtungen, die der eigenen Kultur angeblich Gewalt antun, und möchte sie doch zugleich für sich reklamieren, weil man durchaus ihre Effizienz und wohlstandsfördernde Wirkung wahrnimmt. Das gilt nicht nur für den Afrozentrismus. Das gilt auch für den Islamismus (beispielsweise Sayyid Qutb), der alle entscheidenden Kulturleistungen den muslimischen Arabern zuschreibt, das gilt für den türkischen Nationalismus eines Recep Tayyip Erdoğan, der Entsprechendes über das Osmanische Reich behauptet, und das gilt für den chinesischen Nationalismus unter Xi Jinping, der eine Umschreibung der Geschichte zugunsten einer allumfassenden chinesischen Kulturschöpfung vornimmt. Es ist ein geradezu glücklicher Umstand, dass diese Konstruktionen einer Vergangenheit, die es nie gegeben hat, gleichzeitig und in Konkurrenz zueinander auftreten. Wenn man nicht auch noch die Logik für eine westliche, das nicht-westliche Denken knechtende Erfindung hält (was allerdings auch schon geschehen ist), dann belegt bereits die Unvereinbarkeit dieser Geschichtsdeutungen die Abwegigkeit ihrer Annahmen. Doch nun zu den Konsequenzen des Afrozentrismus, die Schlesinger bereits vor dreißig Jahren beobachtete: Wenn man eine Dekulturalisierung durch weiße Dominanz beklagt, muss man seinerseits eine autochthone Kultur geltend machen, die bisher unterdrückt wurde. Im vorliegenden Fall wird jedoch nicht nur eine andere Kultur, sondern sogar eine ihr zugrundeliegende andere Natur ins Feld geführt. Das reicht von der Behauptung, schwarze Hirne funktionierten genetisch anders als weiße, über die Zuschreibung des Emotionalen zur schwarzen, der Vernunft zur hellenischen Kultur bis zu der Forderung, die Erziehung schwarzer Kinder müsste sich auf „Riten, Musik und Mantras“ stützen, weil diese Kinder „durch Rhythmus und Rappen“ lernen würden.9 Im Namen des Afrozentrismus wird also das gesamte Arsenal rassistischer Stereotype aufgefahren, die früher der Abwertung der Schwarzen dienen sollten. Nun sollen sie deren Aufwertung dienen. Aus der Betonung des Anders-Seins wurden, wie Schlesinger berichtet, weitere unmittelbare Forderungen abgeleitet, beispielsweise dass man schwarze Kinder, um ihr Selbstbewusstsein zu heben, gezielt in „schwarzem Englisch“10 unterrichten solle, was
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nichts anderes bedeutet, als sie in Straßen-Slang sprechen zu lassen. Auch für die Hispanics in den USA verlangte man schon zu Schlesingers Zeiten die Einführung eines bilingualen Unterrichts. Genau das aber würde ihren untergeordneten gesellschaftlichen Status zementieren, denn indem man sie schon sprachlich von der Mehrheitsgesellschaft trennt, nimmt man ihnen von vorneherein die Chance des gesellschaftlichen Aufstiegs. Die Segregation, die in der Konsequenz der Identitätspolitik liegt, ist das Gegenteil dessen, was früher die Emanzipationsbewegung der Schwarzen und anderer ethnischer Minderheiten antrieb: Sie strebten nach Akzeptanz, gleichberechtigter Teilhabe und sozialem Aufstieg durch Integration. Wird bald wieder ein busing, der Transport afroamerikanischer Schüler aus ihren schwarzen Ghettos zu bisher rein weißen Schulen, stattfinden, diesmal in umgekehrter Richtung – zum Zweck erneuter Rassentrennung?
Ursachensuche und Ausblick Wenn man Schlesingers Buch liest, aus dem hier nur einige Aspekte herausgegriffen wurden, staunt man, wie lange sich in den USA jene Tendenzen schon vorbereitet hatten, die sich nun in Europa so massiv geltend machen und genau das herbeizuführen drohen, was Schlesinger prophezeit hatte: zunehmender Hass der identitätspolitisch definierten Gruppen auf die Mehrheitsgesellschaft, eine Konkurrenz der Opferkollektive untereinander und eine tiefgehende Spaltung der Gesellschaft. Dabei haben die Themen „Geschlecht“ und (islamische) „Religion“ gegenüber dem Thema „Ethnizität“ deutlich an Bedeutung gewonnen; die Gründe, die Gesellschaft in miteinander unversöhnliche Partikularismen zu zerlegen, haben sich vervielfältigt. Wie aber konnte es dazu kommen? Weshalb zerfleischen sich die liberalen Demokratien – denn nur dort findet sich das genannte Phänomen – so genüsslich selbst? Diese Frage ist natürlich schwer zu beantworten. Ein Grund ist sicherlich, dass die historische Benachteiligung der nicht-weißen Bevölkerung, der Frauen, der Schwulen, der Muslime etc. tatsächlich der Aufarbeitung und Korrektur bedurfte. Nur in einem liberalen System ist Derartiges aber möglich. In muslimischen Ländern
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besteht die brutale Unterdrückung von Frauen, Homosexuellen und Angehörigen anderer Religionen unvermindert fort; in Afrika gibt es nach wie vor Sklaverei; in vielen Ländern werden Jesiden, Christen und Kopten verfolgt und massakriert; Rassismus ist auch in nicht-weißen Ländern verbreitet, man denke nur an die Behandlung der Asiaten in den Vereinigten Arabischen Emiraten, den Umgang mit den Uiguren in China, das Kastenwesen in Indien etc. Es ist ein Spezifikum des Westens, sich mit den eigenen Ungerechtigkeiten auseinanderzusetzen, sich zu ihnen zu bekennen und zu versuchen, sie zu überwinden. Statt das als Stärke zu sehen, statt das Erreichte an dem zu messen, was in anderen Teilen der Welt vor sich geht, fixiert sich der Blick jedoch auf die realen oder vermeintlichen Defizite im eigenen Land – weil liberale Gesellschaften das im Gegensatz zu autoritären Systemen und Diktaturen zulassen. Ein weiterer Zusammenhang des Phänomens mit seinem liberalen Untergrund mag die Tatsache sein, dass der Individualismus, der zu den Wesenszügen des liberalen Systems zählt, meist als das Ausleben der je eigenen Bedürfnisse verstanden wird. Individualität zeigt sich am einfachsten und sichersten in den jeweiligen Präferenzen. Diese kann man wiederum politisch deutlich besser geltend machen, wenn man nicht alleine, sondern in der Gruppe auftritt. Ist aber der Kollektivismus, der in der Identitätspolitik praktiziert wird, nicht das anti-individualistische Prinzip schlechthin? Verschwindet die Individualität nicht gerade hinter dem Frau-Sein, Schwarz-Sein etc., so dass der hier nahegelegte Zusammenhang sich von selbst widerlegt? Es könnte aber auch sein, dass die Vereinzelung und Vereinsamung, die mit der Hyperindividualisierung in den modernen westlichen Gesellschaften einhergehen, den Umschlag in ihr Gegenteil provozieren. Einem Kollektiv anzugehören, verschafft ein wohliges Zusammengehörigkeitsgefühl, potenziert die eigene Stärke, verringert die eigene Verantwortung. Ein Kollektiv, noch dazu eines, das einem Identität anbietet, ist auch ein gutes Bollwerk gegen die unüberschaubaren Globalisierungsprozesse und -strukturen, gegenüber denen man als Einzelner vollends bedeutungslos zu werden droht. Das Eingesperrt-Sein in die monadische Existenz auf der einen Seite, das Überwältigt-Werden durch gigantisch
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große, undurchschaubare Global-Zusammenhänge auf der anderen Seite – diese Konstellation mag einen Anreiz dafür liefern, sich unter die Fittiche eines Kollektivs zu begeben, dem anzugehören nicht nur Identitätsfindung, sondern auch Entschädigung für tatsächlich oder vermeintlich erlittenes Unrecht verspricht. Als Verstärker für Anwürfe, Anklagen und Ansprüche dienen zweifellos die neuen Medien, die es jedermann erlauben, sich öffentliche Aufmerksamkeit zu verschaffen, ohne eine Zugangsschranke passieren zu müssen. Das hat auch zur Beschleunigung der geschilderten gesellschaftlichen Prozesse geführt, und es ermöglicht eine globale Vernetzung, welche die Wirkmächtigkeit weiter erhöht. Aus dem Blick gerät dabei leicht, dass die Urheber der Identitätspolitik kleine Minderheiten waren und sind: Das Ganze ist keineswegs eine Graswurzelbewegung, sondern es beruht auf Theorien, die dem akademischen Milieu entstammen. Nur eine Minderheit der Aktivisten hat wohl Frantz Fanon, Léopold Senghor, Michel Foucault, Edward Said oder Judith Butler gelesen. Aber aus diesem Repertoire speisen sich Postkolonialismus, AntiRassismus und Gendertheorie. Schlesinger hat genau beobachtet, welche Bedeutung den Universitäten und in der Folge dann auch den anderen Bildungseinrichtungen bei der Erfindung und Verbreitung dieses Gedankenguts zukommt. Dass es intellektuelle Eliten in Universitäten und Medien waren, denen das identitätspolitische Programm zu verdanken ist, ist ein wesentlicher weiterer Grund für die Spaltung der westlichen Gesellschaften. Das Gros der Bevölkerung hat andere Probleme, als sich mit Fragen zu befassen, die mit ihrer Lebenswirklichkeit wenig zu tun haben. Die meisten oder doch sehr viele Menschen müssen mit den immer härter werdenden Wettbewerbsbedingungen in einer globalisierten Wirtschaft kämpfen. Da zählt die Verwendung des Gender-Sternchens nicht zu ihren primären Sorgen. Warum aber fühlen sich so viele Intellektuelle zu den neuen Ideologien hingezogen? Intellektuelle waren immer schon besonders ideologieanfällig, das ist also nicht neu. Immerhin bewegen sie sich auf ihrem ureigenen Terrain, dem der geistigen Verarbeitung der Wirklichkeit, wenn sie sich mit Welterklärungstheorien befassen. Dass diese Theorien im Fall der Ideologien unterkomplex sind,
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ist zwar in wissenschaftlicher Hinsicht beklagenswert, birgt aber in anderer Hinsicht unschätzbare Vorteile: Sie sind politisch schlagkräftig. Gerade weil Ideologien so radikal reduktionistisch sind, lassen sie sich im politischen Kampf viel wirkungsvoller einsetzen als Theorien, die sachlich abwägen, differenzieren und sichtbar machen, dass die Dinge nicht so einfach sind wie erhofft. Will man, indem man sich zum Vordenker von Theorien mit gesellschaftlicher Durchschlagskraft macht, endlich einmal aus dem stillen Wirken im Hintergrund heraustreten und seinen Platz im öffentlichen Leben behaupten? Will man die öffentliche Bedeutung erlangen, die demjenigen vorenthalten bleibt, der ernsthafte und aufopferungsvolle Forschung betreibt, ohne dabei unbedingt spektakuläre Ergebnisse hervorzubringen – jedenfalls solche, die jeder auch als solche erkennen würde? Ist es die Sehnsucht danach, etwas zu bewirken und nicht immer nur zu denken? Natürlich ist das reine Spekulation – eine Spekulation über Motive, welche die Auseinandersetzung in der Sache keinesfalls ersetzen kann. Diese Auseinandersetzung muss jetzt aber geführt werden, wenn man die Hoffnung nicht gänzlich aufgeben will, den Kampf der Partikularismen, der unsere Gesellschaften zu zerreißen droht, eindämmen und langfristig auch wieder beenden zu können. So wie der ins Extrem getriebene Individualismus die Gemeinschaft und den inneren Zusammenhalt bedroht, gefährdet ihn auch der partikularistische Kollektivismus. Zusammenhalt muss jedoch auch in einer Gesellschaft möglich sein, die in vielfältiger Hinsicht plural ist. Es zeugt von einem merkwürdig statischen Verständnis von Kultur, wenn die identitätspolitisch konstruierten Kollektive meinen, sich in totale Konfrontation mit der in ihren Augen dominanten Kultur begeben zu müssen, statt die konstruktive Auseinandersetzung mit ihr zu suchen. Kultur ist nichts Statisches, sie ist immer Ergebnis von unterschiedlichsten Einflüssen und Entwicklungsprozessen. Insofern ist sie nicht Gegner, sondern Gestaltungsraum. Die Behauptung, Machtstrukturen verhinderten die Möglichkeit der Mitgestaltung und Veränderung (Foucault lässt grüßen!), wird schon durch die gegenwärtig beobachtbare Tendenz Lügen gestraft, den Kollektiven überall, soweit es geht, entgegenzukommen.
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Unsere liberale Gesellschaft lässt größtmögliche Vielfalt zu, sie bietet hinreichend Platz für das gemeinsame Ringen um den richtigen Weg, sie ermöglicht permanente Weiter- und Fortentwicklung. Was sie nicht erträgt, sind Hegemonieansprüche, Dogmatismus und rigide Exklusion. Kollektive, die dies alles befürworten, rechnen offenbar damit, dass sie diejenigen sein werden, die davon profitieren. Sie könnten aber auch diejenigen sein, die es zu erleiden haben. Die liberale Gesellschaft versucht zum Wohl aller stets zu verhindern, dass es zum Verfall in Dogmatismus, Kollektivegoismus und brutale Selbstdurchsetzung kommt. Darin verdient sie unbedingte Unterstützung – als Garant einer Meinungsfreiheit, die gerade diejenigen zerstören wollen, die sich ihrer am ausgiebigsten bedienen.
Anmerkungen 1
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Arthur M. Schlesinger, Die Spaltung Amerikas. Überlegungen zu einer multikulturellen Gesellschaft. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Paul Nellen (Stuttgart: ibidem, 2020), S. 56. S. 77. S. 27. S. 32. S. 67. S. 77, Zitat von Molefi Kete Asante. S. 81, Zitat von Asa Hilliard. S. 82, Paraphrase von John Henrik Clarke. S. 98. S. 75.
Gesellschaftliche Spaltungsgefahren und die Bedeutung einer Leitkultur. Arthur M. Schlesingers Einsichten zur modernen Nationenbildung und zum Fortbestand von Nationen am Beispiel des Sonderfalls USA Anton Sterbling Die Nationenbildung in den Vereinigten Staaten von Amerika, die man wohl unbestritten als weitgehend erfolgreich betrachten kann, stellt zugleich einen Sonderfall und in mehreren Hinsichten wohl auch einen Grenzfall dieses fundamentalen politischen Entwicklungsgeschehens in der Geschichte moderner Gesellschaften dar. Das Bedenkliche und möglicherweise auch Verhängnisvolle der gegenwärtigen politischen und intellektuellen Diskussionen dürfte darin liegen, dass es vielfach unterschiedlich motivierte und nicht selten historisch weitgehend unreflektierte Bestrebungen der Überwindung der modernen Nationen gibt, ohne dass dabei auch nur annähernd begriffen wird, worin die unbestreitbaren und im Sinne freiheitlich-demokratischer Wertüberzeugungen nahezu alternativlosen Vorzüge dieses historisch spezifischen Typus der politischen Vergesellschaftung bestehen. Die Kenntnis und kritische Reflexion dieser Gegebenheiten schließt natürlich ein, dass man die historischen Ausgangspunkte, besonderen Voraussetzungen und Grundlagen der Nationenbildungen wie auch deren Schwierigkeiten und Schwachpunkte und ebenso deren Alternativen, etwa in der Gestalt imperialer oder hegemonialer dynastischer oder autoritärer Vielvölkerstaaten, gründlicher kennt und angemessen in Rechnung stellt. Nicht selten trifft man gegenwärtig indes auf eine kurzschlüssige Gleichsetzung von Nation oder nationalstaatlicher und nationalkultureller Verfassung und Orientierung mit Nationalismus wie auch auf die Einschätzung der Nation als einer Entität,
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die längst obsolet oder unbedingt zu überwinden sei, ohne dass allerdings tragfähige und überzeugende Vorstellungen über mögliche Alternativen vorzufinden wären.1 Man kann es vor diesem Hintergrund als eines der großen Verdienste des Buches Die Spaltung Amerikas von Arthur M. Schlesinger ansehen, dass dieses am historisch spezifischen und als Sonderfall zugleich besonders aufschlussreichen Beispiel der Herausbildung und Entwicklung wie auch der Spaltungsgefahren der amerikanischen Gesellschaft und Nation die Grundzüge, Probleme, Schwächen und Gefährdungsmomente moderner Nationenbildung wie in einem Brennglas sichtbar macht.2 Dies soll in diesem Diskussionsbeitrag, den inhaltlichen Schwerpunkten und Grundlinien des Buches Schlesingers folgend, aufgezeigt werden, allerdings nicht im Sinne einer systematischen Rekonstruktion der gesamten Argumentationszusammenhänge, sondern in der Form punktueller konstruktiver und weiterführender Diskussionen der einzelnen Problemschwerpunkte. Als solche werden folgende behandelt: Zunächst sollen die Besonderheiten der amerikanischen Nationenbildung unter Berücksichtigung ihrer historischen Ausgangs- und Rahmenbedingungen und insbesondere ihrer grundlegenden Wertideen im vergleichenden Kontext moderner Staaten- und Nationenbildung wie auch unter Berücksichtigung des dabei in spezifischer Weise wirksamen Spannungs- und Verschränkungsverhältnisses von Ethnos und Demos in groben Zügen umrissen werden. In einem folgenden Gedankenschritt geht es um die Rolle der Geschichte, der Geschichtsschreibung und der Geschichtsmythen als Quelle nationaler Sinnprojektionen, Loyalitäten und Leidenschaften. In einem dritten Überlegungsschritt wird die Bedeutung der Schulen und des Bildungswesens im Hinblick auf die Wertintegration, Wertevermittlung und kollektive Identitätspolitik behandelt. Schließlich sollen im Anschluss daran Spaltungsgefahren und Desintegrationstendenzen moderner Gesellschaften am amerikanischen Beispiel aufgezeigt sowie fallbezogen und verallgemeinernd diskutiert werden. Hierbei soll unter Rückgriff auf einschlägiges soziologisches Grundlagenwissen dargelegt werden, dass die Grundkonflikte und
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Integrationsprobleme ethnisch einigermaßen homogener und multiethnischer Gesellschaften in der Regel unterschiedlich gelagert sind.3 Stehen in Gesellschaften des ersten Typus vor allem mehr oder weniger tiefgreifende Interessen- und Verteilungskonflikte und in bestimmten Fällen natürlich auch grundlegende Herrschaftskonflikte im Mittelpunkt, so besteht bei multiethnischen Gesellschaften – zumindest unter bestimmten Rahmenbedingungen – die oft real gegebene Möglichkeit, dass fundamentale Wert- und Identitätskonflikte strukturdominant in Erscheinung treten und damit auch die Gefahr der staatlichen Sezession oder des Zerfalls einer Gesellschaft selbst bedeuten können. Unter diesem Blickwinkel kann auch eine grundsätzliche und zugleich zu einem recht eindeutigen Ergebnis führende Beurteilung der Problematik des Multikulturalismus und der Notwendigkeit einer gesamtgesellschaftlichen Leitkultur erfolgen.4
Das amerikanische Fallbeispiel und die moderne Staaten- und Nationenbildung im Spannungs- und Verschränkungsverhältnis von Ethnos und Demos Nach der Loslösung von Großbritannien und der Unabhängigkeitserklärung der dreizehn Kolonien in Nordamerika im Jahre 1776 entstanden nicht nur die Vereinigten Staaten als ein souveräner Staatenbund, sondern wurden auch die Grundlagen einer neuen und zugleich neuartigen Nation gelegt. Dazu heißt es bei Schlesinger unter Rückgriff auf Gedanken Alexis de Tocquevilles und Gunnar Myrdals zum „amerikanischen Credo“ oder den Grundwerten dieser Nationenbildung: Amerikaner „aller nationalen Herkünfte, Regionen, Bekenntnisse und Hautfarben“ schrieb Myrdal 1944, haben „das am explizitesten ausformulierte System allgemeiner Ideale“ aller Länder des Westens gemein: nämlich die Ideale der grundsätzlichen Würde und Gleichheit aller Menschen, der unveräußerlichen Rechte auf Freiheit, Gerechtigkeit und Chancen.5
Das Besondere der amerikanischen Nationenbildung liegt nicht nur in der expliziten Bedeutung dieser Grundwerte in der politischen Vergesellschaftung und der Entstehung eines neuen Demos, die
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eine entschiedene Abhebung vom Ethnos, den einzelnen ethnischen Wurzeln des neuen Staatsvolkes bedeutet, sondern in der neuartigen Konstellation von Ethnos und Demos, die damit geschaffen wurde.6 Dabei vergisst Schlesinger allerdings nicht auf die großen Ausgangsprobleme dieser Nationenbildung hinzuweisen, die insbesondere im Erbe der Sklaverei und der Zurückdrängung der indianischen Ursprungsbevölkerung Nordamerikas und den Schwierigkeiten ihrer späteren Integration in die Nation zu sehen sind; wie ebenso in den fortlaufenden kulturellen Assimilationsund Loyalitätsproblemen immer neuer Wellen ethnischer Zuwanderungsgruppen, zunächst aus Nord- und Westeuropa und später aus Ost-, Süd- und Südosteuropa und aus anderen Teilen der Welt an die angelsächsisch geprägte Kultur und Wertordnung. Um diese Grundlagen und Besonderheiten der amerikanischen Nationenbildung nochmals analytisch gründlicher zu fassen, soll im Folgenden an drei grundlagentheoretische Gedanken erinnert werden, die hierbei eine maßgebliche Rolle spielen: erstens an die bereits angesprochene analytische Unterscheidung von Ethnos und Demos, zweitens an das komplizierte Verhältnis von Staaten- und Nationenbildung in der Modernisierung und drittens an die eben exemplarisch angedeutete Bedeutung von Wertideen für die Konstruktion gesellschaftlicher Ordnungen. Zunächst wollen wir M. Rainer Lepsius folgen, der zu der von Emerich K. Francis7 so klar herausgearbeiteten und betonten Unterscheidung von Ethnos und Demos, von Volk im ethnischen Sinne und Staatsvolk im Sinne des modernen Nationenbegriffs, feststellte: Seine Unterscheidung von „Ethnos“ und „Demos“ ermöglichte die begrifflich klare Herausarbeitung unterschiedlicher Bezugssysteme für die im deutschen Sprachgebrauch sich vermischenden Begriffe von Volk und Nation. Die durch die Doktrin von der Volkssouveränität herausgehobene politische Bezugsebene des Volkes als Träger der politischen Herrschaftsrechte steht in vielfältigen Spannungsverhältnissen zu anderen Bezugsebenen des Volkes als ethnischer, kultureller, sozio-ökonomischer Einheit.
Dem schließt sich die entscheidende Aussage an: „Die Anerkennung dieser Spannungsverhältnisse ist die Basis für eine Zivilgesellschaft demokratischer Selbstlegitimation.“8 Demos als Träger
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demokratischer Legitimation und Souveränität und als Solidarverband ist der Typus moderner politischer Vergesellschaftung, um den es bei der Nationenbildung geht. Dies zeigt das Fallbeispiel der Vereinigten Staaten in geradezu paradigmatischer Weise. Dabei bleibt allerdings das Spannungsverhältnis zu den anderen Bezugsebenen des Volksbegriffs zu berücksichtigen und zu klären, das im Falle der USA durch deren spezifische Geschichte als Einwanderungsgesellschaft mit ihren erwähnten historischen Eigenheiten und Belastungen eine besonders komplizierte Spannungskonstellation und Integrationsproblematik aufweist. Dieses Fallbeispiel unterstreicht zugleich nachdrücklich: „Die politische Verfassung des ‚Demos‘ ist eine eigene Wertentscheidung, die sich nie auf ein spezifisches ‚Schicksal‘ eines Volkes zurückführen läßt.“9 Die sicherlich vielfach nicht ganz spannungsfreie kollektive Doppelidentität von Demos und Ethnos, so zeigt und belegt Schlesinger anschaulich, ermöglichte es den Einwanderern nicht nur, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen, sich gleichsam kollektiv neu zu erfinden und im Schmelztiegel der amerikanischen Gesellschaft aufzugehen, wobei das angesprochene Wertesystem wie auch die gemeinsame Sprache eine maßgebliche Rolle spielten, sondern gleichzeitig doch auch, und zwar nicht selten über mehrere Generationen, Identitätsbezüge und davon geprägte soziale Beziehungen ihrer Herkunftsmilieus zu bewahren.10 Der Sonderfall der amerikanischen Nation ist, trotz einer zunächst starken angelsächsischen Zentrierung entsprechender kultureller Assimilationsprozesse, doch hauptsächlich von dem den „Demos“ definierenden neuen demokratischen und freiheitlichen Wertesystem bestimmt. Wie Karl W. Deutsch darlegte, geht die Entstehung moderner Nationalstaaten nicht nur notwendig mit Prozessen der sozialen und psychischen Mobilisierung und zum Teil auch mit solchen der sprachlichen und kulturellen Assimilation einher, sondern dabei sind zumeist auch Völker, also ethnische Einheiten, bestrebt, die politische Kontrolle über einen Staat zu erlangen und sich damit als Nation zu formieren.11 Daher erscheint es sinnvoll, die besondere Spannungskonstellation und Entwicklungsdynamik von Ethnos und Demos in den Vorgängen der Nationalstaatenwerdung vergleichend zu betrachten und in diesem Zusammenhang zugleich
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die moderne Staaten- und Nationenbildung zumindest analytisch klar zu unterscheiden.12 Bei der Betrachtung dieser beiden fundamentalen Vorgänge der Modernisierung sollte man nicht nur von historisch vielfach verschränkten und sich überlagernden Prozessen ausgehen, sondern zugleich auch von deutlichen Unterschieden, die nicht selten in einem Verhältnis der Ungleichzeitigkeit wie auch tiefgreifender Spannungen und Konflikte auftreten können. Folgt man Theodor Schieder, so lassen die mitunter recht komplizierten historischen Beziehungen und Verlaufsformen der modernen Staaten- und Nationenbildung in Europa drei Typen der Entstehung von Nationalstaaten erkennen: den demokratisch-revolutionären Typus wie beispielsweise im Falle Englands oder Frankreichs, in dem der Staat bereits bestand und durch eine Revolution demokratisch umgeformt wurde, den unitaristischen Typus wie im Falle Deutschlands und Italiens, wobei in diesen Fällen die Kulturnationen schon weit entwickelt waren und es erst verspätet zu einer staatlichen Einheit kam, und den sezessionistischen Typus wie im Falle ostmittel- und südosteuropäischer Nationalstaaten, die in der Folge von Abtrennungsbestrebungen beziehungsweise des Zerfalls von Vielvölkerimperien entstanden sind.13 Der Prozess der modernen Nationenbildung erscheint zudem vielfach – und dies sollte keineswegs vergessen werden – mit fundamentalen Vorgängen der Demokratisierung eng verbunden. Dieser komplexe Gesamtvorgang schafft nicht nur veränderte kollektive Identitäten, sondern damit auch eine neue Legitimitätsgrundlage der staatlich verfassten politischen Herrschaft, indem entsprechende Identifikationen und Loyalitäten der in ihren Rechten und Pflichten grundsätzlich gleichgestellten Staatsbürger begründet und verstärkt werden.14 Diese bilden in demokratisch verfassten politischen Systemen und für auf allgemeiner Solidarität beruhende Sozial- und Wohlfahrtsstaaten wichtige und geradezu unverzichtbare Legitimationsressourcen.15 Die USA als Nationalstaat sind, wie bereits erwähnt, durch die Loslösung und Unabhängigkeitserklärung von der ehemaligen Kolonialmacht Großbritannien wie zugleich – wie ebenfalls bereits ausgeführt – durch eine eigene
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Wertentscheidung, ein eigenes Credo, als Demos entstanden. Dieser Aspekt der Begründung politischer Verfassungen und gesellschaftlicher Ordnungen aus Wertideen soll an dieser Stelle nochmals grundlagentheoretisch vertieft werden, denn dies verhilft uns später, die Problematik der Multikulturalität einer ethnisch sehr heterogenen und durch einschlägige historische Belastungen geprägten Einwanderungsgesellschaft besser zu verstehen.
Kleiner grundlagentheoretischer Exkurs zu „Wertideen“ als Grundlage gesellschaftlicher Ordnungen Unsere Überlegungen können auch diesmal16 ihren Ausgangspunkt bei Max Webers berühmten Sätzen nehmen: „Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die ‚Weltbilder‘, welche durch ‚Ideen‘ geschaffen werden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte.“17 Wertideen und Interessen, in ihrem jeweils besonders gearteten Zusammenwirken, sind nicht nur maßgebliche Beweggründe hinter dem „subjektiv gemeinten Sinn“18 menschlichen Handelns, sondern kulturspezifische Wertideen strukturieren auch die wichtigsten Rahmenbedingungen und bestimmen mithin die „Bahnen“ des sinngeleiteten Handelns und Interaktionsgeschehens der Menschen. In der kultur- und religionssoziologischen wie auch in der kulturanthropologischen Forschung ist nicht selten festgestellt worden, dass die fundamentalen Wertbestände nahezu aller Kulturen und Religionen – nicht zuletzt der Hochkulturen seit der „Achsenzeit“19 –, auf einer hinreichend hohen Abstraktionsstufe von Sinnprojektionen betrachtet, ähnlich erscheinen. Das heißt: In den verschiedenen Kulturen und Religionen sind zumindest ähnliche abstrakte Grundwerte vorzufinden und über verschiedene Vermittlungen sozial handlungsrelevant. Wodurch sich einzelne Kulturen und Religionen und insbesondere verschiedene Kulturkreise
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aber zum Teil wesentlich unterscheiden, das sind die Wertbeziehungen, das heißt mithin die Wertprioritäten, die Vor- und Nachrangigkeitsverhältnisse, die wechselseitigen Affinitäten, Bezüge und Verbindungen und ebenso die Geltungsbereiche sowie die spezifischen Deutungsmodi und Konkretisierungs- und Vermittlungsformen einzelner Werte – oder mit anderen Worten gesagt: die jeweiligen Wertordnungen.20 Kulturspezifische Werte und entsprechende Wertordnungen strukturieren, koordinieren und bestimmen mithin das soziale Handeln in mehrfacher Hinsicht: als Begründungs- und Legitimationsgrundlage normativer Systeme und insbesondere geltender Rechtsordnungen, als entsprechende Grundlagen gegebener Institutionensysteme, bei denen vor allem auch auf die interinstitutionellen Komplementaritätsbeziehungen und Konflikte einschließlich der Regelungen interinstitutioneller Konflikte zu achten ist, wie auch als unmittelbar oder mittelbar sinngebende sozialmoralische und alltagsästhetische Leit- und Orientierungsmuster des menschlichen Handelns. Bestehende Gesellschaftsordnungen als historische Formationen und damit als Strukturzusammenhänge der gesellschaftlichen Praxis beruhen insofern weitgehend auf spezifischen Konfigurationen kultureller Wertideen, auf Wertbeziehungen und Wertordnungen, in deren Rahmen oder „Bahnen“ sich die Dynamik der Interessenauseinandersetzungen wie auch die Macht- und Herrschaftskonflikte entfalten, wie man in der Denktradition Max Webers argumentieren kann.21 Dabei ist das Universum kulturell und sozial maßgeblicher Wertvorstellungen durch zwei wichtige Merkmale charakterisiert: Erstens durch die Tatsache, dass zwischen bestimmten Grundwerten oder letzten Wertmaximen häufig tiefgreifende Gegensätze oder Spannungen bestehen oder – in den Worten Max Webers – ein Polytheismus der Werte und ein ewiger und unlöslicher Kampf vorherrscht.22 So lassen sich vor allem – und diese Spannungsdimension erscheint im Hinblick auf die Verfassung sozialer Ordnungen besonders relevant – tiefe und institutionell nur schwierig vermittelbare Gegensätze zwischen den Grundwerten der (individuellen) Freiheit, die in der angelsächsisch-amerikanischen Kultur be-
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sonders betont wird, einerseits und der sozialen Gleichheit und kollektiven Sicherheit andererseits feststellen – oder beispielsweise auch die letztlich unaufhebbaren Unvereinbarkeiten zwischen dem grundlegenden Wert des unabdingbaren Glaubens an einen bestimmten Gott und dem Grundwert der uneingeschränkten religiösen Glaubensfreiheit.23 Auch zwischen Wertvorstellungen, die sich auf die kollektive Identität und subjektive Selbstzurechnung zu sozialen Einheiten beziehen, bestehen in der Regel gewisse Spannungen sowie Inklusions- und Exklusionsbeziehungen, die vor allem in den Prozessen der modernen Staaten- und Nationenbildung konfliktreich in Erscheinung traten und treten und die vielfach auch heute noch virulent sind oder sogar neu aufleben und betont handlungs- und konfliktrelevant werden können, wie von Schlesinger sehr anschaulich aufgezeigt wird. Das Universum kulturell bedeutsamer Werte ist zweitens aber auch dadurch gekennzeichnet, dass die potenziellen Wertgegensätze in den einzelnen Kulturen oder Religionen durch einen zumindest teilweise verbindlichen Konsens über Wertprioritäten, Interpretationsmodi, Geltungsbereiche und Konkretisierungsformen der Werte entschärft und so in eine mehr oder weniger konsistente, hierarchisch strukturierte Wertordnung gebracht werden. Die Eigentümlichkeit und Besonderheit einzelner Kulturen besteht nicht zuletzt – wenn auch nicht ausschließlich – darin, welche Wertprioritäten und Wertbeziehungen sich in der betreffenden Kultur mehr oder weniger übereinstimmend und zumeist auch weitgehend unhinterfragt festgelegt finden und welche kollektiven Identitätsvorstellungen sich damit hauptsächlich verbinden.24 Die Stabilisierung und Perpetuierung der für eine Kultur und Gesellschaft geltenden Wertkonstellationen als abstrakte Sinnprojektionen wiederum wird durch ihre handlungsrelevante Konkretisierung geleistet, insbesondere in der Gestalt normativer und institutioneller Ordnungen sowie alltagsmoralischer Überzeugungen und vorherrschender ästhetischer Wertmaßstäbe.
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Geschichte, Geschichtsschreibung und historische Mythen Wenn der aus dem rumänischen Banat stammende Schriftsteller Richard Wagner schreibt: „In jeder Debatte mit einem Osteuropäer fällt von vornherein das Wort Geschichte – nicht als Stichwort, sondern als magisches Wort“, so erfasst er damit etwas für die Prozesse der Nationenbildung und die nationalen Leidenschaften im östlichen Europa ganz Auffälliges, nämlich die ständige Berufung auf die Geschichte, um politische Ziele, Anliegen und Forderungen zu begründen wie auch entsprechende Leidenschaften zu entfachen.25 Dies ist keineswegs einmalig, wie Schlesinger gleichsam auch am amerikanischen Beispiel aufzeigt.26 Dabei geht es stets weniger um wissenschaftliche Geschichtsschreibung als ein objektives und damit bestimmten methodischen Regeln und Standards folgendes Unterfangen, sondern vielmehr um durch spezifische Interessen und Weltanschauungen grundierte Auffassungen und Deutungen der historischen Vergangenheit bis hin zu stark wertgeleiteten historischen Anschauungen und Mythen.27 „Geschichte ist für eine Nation ungefähr das Gleiche, was die Erinnerung für das Individuum ist“, meint Schlesinger. Und dies bedeutet mithin: „Als ein Mittel, nationale Identität zu definieren, erscheint Geschichte zugleich auch als Möglichkeit, die Geschichte zu formen.“28 Von der Möglichkeit der politischen Instrumentalisierung der Geschichte wurde und wird von Nationen wie auch ethnischen Gruppen reichlich Gebrauch gemacht. Bei der lange Zeit gegebenen „anglozentrischen Dominanz“ in der amerikanischen Geschichtsschreibung und in den Lehrbüchern müssen gleichwohl zwei Dinge unterschieden werden: einerseits die apologetische Neigung zur Idealisierung, Verfälschung und Verdrängung historischer Tatsachen im Sinne eines selektiv konstruierten und retuschierten Geschichtsbildes, aber andererseits auch die objektive Tatsachenfeststellung, wer die „maßgeblichen Entscheidungen in der Geschichte dieses Landes“ getroffen hat.29 Dabei ist natürlich ungeschönt einzuräumen: Im Verlauf beinahe der ganzen amerikanischen Geschichte betrachteten die meisten weißen Amerikaner ihre farbigen Landsleute schlicht als minderwertig und nicht assimilierbar. Erst in der 1960er-Jahren wurde Integration
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als ein weitgehend akzeptiertes politisches Ziel begriffen. Aber auch damals, als die gesetzlichen Hindernisse für die Integration fielen, blieb es bei sozialen, ökonomischen und psychologischen Widerständen.30
Wie sehr damit auch unbestreitbare Gründe für eine „Wiedergutmachung“ und eine Korrektur der amerikanischen Geschichtsauffassung gegeben und eine nichts beschönigende oder weglassende „objektive“ Geschichtsschreibung und Geschichtsaufarbeitung gefordert sind, so ist doch in der Sache wenig gewonnen, wenn die „anglozentrische“ Grundorientierung der Geschichtsbetrachtung durch „afrozentrische Programme“ und andere ethnozentrische ideologische Ausrichtungen ergänzt oder gar ersetzt werden, denn auch diese verfehlen gleichermaßen oder sogar noch auffälliger eine um „Objektivität“ bemühte Geschichtsschreibung und ein entsprechend geklärtes und aufgeklärtes Verhältnis zur (eigenen) Geschichte und machen zugleich neuen bedenklichen Geschichtsmythen und deren ideologischen und politischen Instrumentalisierungsmöglichkeiten Platz.31
Was steckt hinter dem „Kampf“ um Schulen und Curricula? Der angesprochene Geschichtsrevisionismus entfaltet seine Wirkung nicht zuletzt über das Bildungswesen. Insofern meint Schlesinger: „Doktrinäre Ethnizität im Allgemeinen und ihre dogmatische schwarze Ausprägung im Besonderen werfen nichtsdestotrotz Fragen auf, die einer sorgfältigen und nüchternen Erörterung bedürfen.“ Dabei geht es nicht um kulturellen Pluralismus, der notwendig zu jeder „ethnisch vielfältigen Gesellschaft“ gehört, sondern um die kritische Frage, ab welchem Punkt der „als Reaktion auf den Anglo- und Eurozentrismus“ aufkommende Multikulturalismus selbst in einen Ethnozentrismus eigener Prägung umschlägt.32 Die sich anschließende weitergreifende Frage ist: „Ab wann erwächst aus der Obsession um ethnische Unterschiede eine Gefahr für die Idee einer alles überspannenden amerikanischen Nationalität?“33 Oder, im Anschluss an die vorhin entwickelten Überlegungen, eine Gefährdung der amerikanischen Nation als wertbegründeter Demos?
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Schlesinger hält nicht nur zutreffend fest, dass die schwarze Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre und das damit erwachende Selbstbewusstsein der Schwarzen in den USA wichtige Impulse durch die Entstehung unabhängiger afrikanischer Staaten und die Ausbreitung eines eigenen Nationalismus in diesen erhielt, sondern auch: Der tiefere Grund für die afrozentrische Kampagne besteht in der Annahme, dass der Zweck von Geschichtsunterricht in der Schule im Wesentlichen therapeutischer Natur ist – nämlich dazu dient, ein Selbstwertgefühl unter Kinder von Minderheiten aufzubauen. […] Ethnisches Bewusstsein und Stolz auf die eigene Gruppe sollen hingegen den Sinn für Identität und Selbstachtung unter den nicht-weißen Schülern und Studenten stärken.34
Die Beispiele, die von Schlesinger für die afrozentrische Geschichtsbetrachtung aufgeführt werden, erinnern übrigens stark an den im Rahmen einer extrem nationalistischen Ideologie vertretenen Protochronismus in den finsteren Jahren der Ceauşescu-Diktatur, der gewissermaßen besagte, dass alle wichtigen Erfindungen, künstlerischen Ausdrucksweisen und kulturellen Errungenschaften zeitgleich oder bereits früher in der dako-romanischen oder rumänischen Geschichte erfolgten und das rumänische Volk und seine Vorläufer damit gleichsam die Wiege der Weltkultur seien.35 Auch diese Ideologie war durch ein starkes Zurücksetzungs- und Minderwertigkeitsgefühl begründet, das durch eine solche Selbstüberhöhung und Selbstüberschätzung kompensiert werden sollte. Wichtig erscheint zudem die Feststellung Schlesingers: „Afrozentristen sind nicht etwa Fürsprecher des Multikulturalismus, sondern des schwarzen Ethnozentrismus.“36 All dies zusammen lässt erkennen, dass mit der Ersetzung eines Ethnozentrismus durch einen anderen, wie gut die aus den Betrachtungen und Belastungen der Geschichte sich ergebenden psychologischen Motive dafür auch nachvollziehbar sind, letztlich nichts gewonnen ist. Daher kann man sich auch nur ganz entschieden der Konsequenz Schlesingers anschließen: Der Zweck der Geschichtsschreibung ist nicht die Beförderung von Gruppenbewusstsein, sondern die Welt und ihre Vergangenheit zu verstehen, lei-
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denschaftslose Analysen, Urteile und Perspektiven hervorzubringen, Respekt für unterschiedliche Kulturen und Traditionen zu zeigen und unbeirrt für den Schutz der einheitsstiftenden Ideen von Toleranz, Demokratie und Menschenrechten einzutreten, die freies historiographisches Forschen erst möglich machen.37
Warum es zu keiner strukturdominanten „Klassenbildung“ in den USA kam Die Frage nach der Sozialstruktur der amerikanischen Gesellschaft und insbesondere, warum es in den USA allenfalls Ansätze der Klassenbildung, aber keine sozial formierte und politisch geschichtsmächtig handlungsfähige Klassen gab und gibt, hat die Soziologie vielfach beschäftigt und dabei auch zu aufschlussreichen Ergebnissen geführt. In diesem Zusammenhang finden sich zwei unterschiedlich gelagerte, aber zugleich miteinander kompatible und sich gleichsam ergänzende Erklärungsansätze, die beide auf die USA als eine besondere Einwanderungsgesellschaft abheben. Der eine Ansatz argumentiert, wie unter anderen John H. Goldthorpe dies in seinen mobilitätssoziologischen Überlegungen vertreten hat, dass die Herausbildung sozialer Klassen eine bestimmte, zeitlich dauerhafte und stabile, also damit auch generationenübergreifende demographische Identität der Klassenlagen als Marktlagen im Sinne Max Webers voraussetze.38 Zwar dominieren Marktbeziehungen in der amerikanischen Gesellschaft durchgängig, aber bereits Karl Marx erkannte in der strukturellen Tatsache, dass die Lohnarbeit Mitte des 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten für die Mehrzahl „nur ein vorübergehender Zustand war, den sie früher oder später verlassen würden“, einen wesentlichen Grund, der „eine fortschreitende Bildung von Klassen“, also eine Weiterentwicklung der „Klassen an sich“ in „Klassen für sich“, und damit auch eine rasche Erstarkung der Arbeiterbewegung behinderte.39 Dabei spielt nicht nur eine Rolle, dass die USA eine relativ mobilitätsoffene Gesellschaft waren und sind, sondern auch und wohl noch entscheidender, dass sich die individuellen Erwartungen und sozialen Aspirationen, nicht zuletzt der Einwanderer, an verbreiteten Vorstellungen sozialer Aufstiegschancen orientierten
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und daher ihre Beschäftigung als Lohnarbeiter subjektiv vielfach nur als Durchgangsstatus wahrgenommen und verstanden wurde. Ein zweiter Erklärungsansatz bezieht sich darauf, wie Joseph A. Schumpeter plausibel darlegte und beispielsweise auch Max Haller und andere empirisch nachzuweisen suchten, dass Klassenbildung als dominantes Strukturprinzip ethnische Homogenität in einer Gesellschaft erforderlich erscheinen lässt, denn ansonsten überkreuzen sich vielfach ethnische und sozioökonomische Differenzierungslinien, wobei dies nicht selten zu einer Dominanz ethnischer Gegensätze und Spannungslinien führen kann.40 Beide, komplementär verstandene Erklärungsansätze machen verständlich, weshalb sich Klassenbildung in der amerikanischen Einwanderungsgesellschaft nicht als strukturdominantes Vergesellschaftungsprinzip durchsetzen konnte und damit, gleichsam als Kehrseite davon, auch strukturelle Voraussetzungen ethnischer Spaltungen gegeben waren und blieben.
Die „Spaltung“ und der „Zerfall“ Amerikas – kritische Anmerkungen zum „Multikulturalismus“ Einer der bekanntesten amerikanischen Soziologen, Talcott Parsons, betrachtet die Wertintegration und die Wertevermittlung (im Sozialisationsprozess) als die wichtigste Stabilitätsgrundlage eines sozialen Systems.41 Ist diese Wertgrundlage bedroht, ist auch der Bestand einer Gesellschaft gefährdet. Der Multikulturalismus als Ideologie und gesellschaftliche Praxis zielt in seinen Konsequenzen genau auf diesen gesellschaftlichen Zerfall, wie wir Schlesingers Ausführungen entnehmen und abschließend dann nochmals mit unseren Überlegungen zu kulturellen Wertordnungen und der Notwendigkeit einer Leitkultur verknüpfen können. Schlesinger schreibt: Der Ethnizitätswahn im Allgemeinen und der Afrozentrismus im Besonderen lenken nicht nur von den echten Bedürfnissen ab, sie verschärfen die Probleme auch noch. […] Der Ethnizitätskult überhöht Differenzen, verstärkt Ressentiments und Antagonismen. Er treibt die schrecklichen Keile zwischen den Ethnien und Nationalitäten noch tiefer. Am Ende beschert er uns nur Selbstmitleid und Selbstghettoisierung.42
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Selbst Universitäten in den USA sind davon massiv angesteckt. Zwar erkennt Schlesinger die „nachvollziehbare Reaktion“ von Minderheitengruppen an, sich zusammenzuschließen. „Aber institutionalisierter Separatismus erzeugt nur ethnische Differenzen und verschärft die Spannungen unter den Ethnien.“43 Begleiterscheinungen davon sind Ethnozentrismus, Borniertheit, Engstirnigkeit, Rationalitätsverluste und zugleich massive Einschränkungen der Denkfreiheit durch Dogmen einer moralisch grundierten und immer weiter und irrationaler um sich greifenden politischen Korrektheit. Auch die Forderung nach Bilingualismus, etwa spanischer Einwanderungsgruppen, hat die Kehrseite, dass mit der gewonnenen kulturellen Autonomie gleichzeitig aber auch soziale Aufstiegswege behindert oder versperrt werden können, wie man dies ähnlich im Falle ethnischer Minderheiten in europäischen Gesellschaften beobachten kann.44 „Eine andere Sprache außer Englisch zu sprechen verdammt Menschen dazu, in der amerikanischen Gesellschaft Bürger zweiter Klasse zu sein.“45 Die Sprache ist nun einmal der Schlüssel der kulturellen Assimilation und mithin der vollwertigen sozialen Integration. Und „[d]ie amerikanische Synthese ist unvermeidlich angelsächsisch gefärbt, sie ist aber schon lange nicht mehr die Ausübung angelsächsischer Dominanz.“46 Die Missachtung dessen oder die Verachtung der europäischen Kultur überhaupt bringt niemanden weiter, kann aber die Zerfallstendenzen der amerikanischen Nation durchaus massiv fördern und beschleunigen. „Selbsternannte ,Multikulturalisten‘ sind allerdings sehr häufig ethnozentrische Separatisten, die jenseits westlicher Verbrechen nur wenig im westlichen Erbe zu erblicken vermögen.“47 Vor diesem Hintergrund hebt Schlesinger nachdrücklich hervor: Ein entscheidender Unterschied bleibt aber zwischen westlichen und anderen Traditionen. Im Gegensatz zu anderen Kulturen hat der Westen Ideale entwickelt und umgesetzt, die seine eigenen Missetaten bloßstellen und bekämpfen. Keine andere Kultur hat Selbstkritik in ihr ureigenes Wesen eingebaut.
Und dem fügt er hinzu: „Beispielsweise sind die Freiheit der Wissenschaft, Forschung und Lehre sowie die Kunstfreiheit westliche
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Werte.“48 Deren Infragestellung, Bedrohung oder gar Aufhebung durch multikulturalistische Ansprüche und weitreichende entsprechende Konzessionen erscheint grundsätzlich bedenklich und ist daher letztlich auch nicht hinnehmbar, will man die eigenen Selbstverständnisse, den erreichten Zivilisationsstand und die vielfältigen immateriellen und materiellen Errungenschaften der abendländischen Kultur nicht leichtfertig aufgeben.49 Der Demos, das Staatsvolk oder die Nation, heben sich vom Ethnos durch spezifische Wertsetzungen ab, durch die Übernahme und Akzeptanz einer das politische System und die gesellschaftliche Ordnung einschließlich des Rechts- und Institutionensystems prägenden und legitimierenden verbindlichen Wertekonstellation, die zugleich mit bestimmten kollektiven Identitätsvorstellungen verschränkt ist und die Stabilität einer Gesellschaft sichert. Daher kann eine derart wertintegrierte, demokratisch verfasste Gesellschaft zwar kulturell pluralistisch in Erscheinung treten, aber nie die Gestalt voll entfalteter Multikulturalität annehmen.50 Mit Schlesinger können wir vertreten, dass kultureller Pluralismus, den wir in freien westlichen Gesellschaften weit entfaltet vorfinden, etwas anderes als Multikulturalismus ist, denn dieser ist notwendig mit dem fundamentalen Anspruch einer vollwertigen Gleichstellung aller Kulturen und ihrer jeweils spezifischen Wertordnungen verbunden. Mehrere gleichzeitig und gleichermaßen uneingeschränkt geltende kulturelle Wertordnungen in einer Gesellschaft würden aber notwendig auch mehrere konkurrierende Verfassungen, Rechtsordnungen, institutionelle Systeme usw. bedeuten. Ein solches soziales Gebilde, dem ein allgemein verbindlicher Konsens über seine (verfassungsmäßigen) Grundwerte fehlt, wäre als moderne, funktional differenzierte, demokratisch koordinierte und gesteuerte Gesellschaft wohl nicht dauerhaft bestandsfähig. Multikulturelle, vorwiegend segmentär differenzierte, dynastisch, kolonial oder hegemonial verfasste staatliche Gefüge oder politische Einheiten sind historisch lediglich als vormoderne, weitgehend traditionale Gesellschaften in Erscheinung getreten. Moderne Gesellschaften als werteintegrierte Sozialsysteme können sich nur dann in voll entfaltete multikulturelle Gebilde transformieren, wenn sie ihre demokratische Wertintegration aufgeben und die
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funktionale Differenzierung durch eine vorwiegend segmentäre abgelöst wird.51 Damit beantwortet sich zugleich auch die Frage nach der Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Leitkultur in modernen Gesellschaften, die für eine demokratische Wertintegration eben unverzichtbar erscheint.
Multikulturalismus oder Leitkultur – ein Ausblick Zum Schluss noch eine Anmerkung aus meiner Sicht als Modernisierungs- und Migrationsforscher, der sich vor allem mit Blick auf ost- und südosteuropäische Gesellschaften vielfach mit den komplizierten Spannungs- und Verschränkungsverhältnissen traditionaler und moderner Strukturelemente, Wertvorstellungen und Verhaltensweisen beschäftigt hat.52 Natürlich waren demokratisch und nationalstaatlich verfasste Gesellschaften nicht immer gegeben, noch ist ihr Bestand für ewig gesichert. Zum Beispiel können massive Zuwanderungen vorwiegend traditionaler Bevölkerungsgruppen aus anderen Kulturkreisen folgenreiche Ethnisierungsund Retraditionalisierungsschübe in modernen Aufnahmegesellschaften – mit allen denkbaren strukturellen und kulturellen Auswirkungen – herbeiführen. Dabei hängt es dann nicht nur vom Umfang der Zuwanderungen im Verhältnis zu den gesellschaftlichen Integrationskapazitäten ab, wie gut die Folgeprobleme solcher Massenzuwanderungen zu absorbieren und zu bewältigen sind, sondern auch und nicht zuletzt von einer die kulturelle Assimilation leistungsfähig stützenden Leitkultur.53 Wer eine solche Leitkultur mit einem verbindlichen Wertekern zu Gunsten eines entfesselten und gleichsam unbegrenzten Multikulturalismus aufgibt, so lehrt uns das Buch Arthur M. Schlesingers, nimmt nicht weniger als den Zerfall der Gesellschaft und der Nation billigend in Kauf – oder führt diesen natürlich auch in voller politischer Absicht herbei.
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Das leichtfertige Gerede vom „Impfnationalismus“ ist zum Beispiel Ende des Jahres 2020 ein bezeichnender Ausdruck solcher ideologisch fixierter und politisch instrumentalisierter Überdehnungen des Nationalismusbegriffs. Der Nationalismusvorwurf geht dabei ganz schlicht und sachlich völlig unreflektiert an dem Begriff der Nation als relevanter Bezugseinheit vorbei. Anton Sterbling, Die antwortlose Gesellschaft. Zeitfragen (Düren: Shaker Verlag, 2021), S. 115ff. Die fehlenden Alternativen zeigen sich auch und ausgerechnet dort, wo Alternativen noch am greifbarsten erscheinen, nämlich im Falle der Europäischen Union. In diesem Zusammenhang werden offene und öffentlich geführte Diskussionen der grundlegenden Frage tunlichst vermieden, ob dieses politische Gebilde als „Vertrags-, Werte- und Interessengemeinschaft“ von Nationalstaaten, also als „Staatenbund“ oder „Staatenverbund“, fortbestehen oder zu einem „Bundesstaat“ weiterentwickelt werden soll. Noch viel weiter ist man von klaren und transparenten demokratischen Entscheidungsverfahren und Abstimmungsregeln in dieser „europäischen Schicksalsfrage“ entfernt. Siehe zu dieser Problematik eingehender: M. Rainer Lepsius, Demokratie in Deutschland. Soziologisch-historische Konstellationsanalysen (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1993), hier S. 249–285; M. Rainer Lepsius, Institutionalisierung politischen Handelns. Analysen zur DDR, Wiedervereinigung und Europäischen Union (Wiesbaden: Springer VS, 2013), hier S. 185–252; Maurizio Bach, Die Europäisierung nationaler Gesellschaften. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 40, 2000; Maurizio Bach, Europa ohne Gesellschaft. Politische Soziologie der europäischen Integration, 2. Aufl. (Wiesbaden: Springer VS, 2014); Sterbling, Die antwortlose Gesellschaft, hier S. 106ff. Arthur M. Schlesinger, Die Spaltung Amerikas. Überlegungen zu einer multikulturellen Gesellschaft (Stuttgart: ibidem, 2020). Anton Sterbling, Nationalstaaten und Europa. Problemfacetten komplizierter Wechselbeziehungen (Dresden: Neiße Verlag, 2018), hier S. 36ff; Anton Sterbling, Einführung in die Grundlagen der Soziologie (Stuttgart: ibidem, 2020), hier S. 439ff. Bassam Tibi, Europa ohne Identität? Europäisierung oder Islamisierung (Stuttgart: ibidem 2016). Schlesinger, Spaltung Amerikas, hier S. 41. In diesem Zusammenhang ist an die Erkenntnis Alexis de Tocquevilles zur grundlegenden Bedeutung der Wertideen der Freiheit zu erinnern: „Nur die Freiheit vermag die Bürger aus der Vereinzelung, in der gerade die Unabhängigkeit ihrer Lage sie leben lässt, herauszuziehen, um sie zu nötigen, sich einander zu nähern. Sie, die Freiheit, erwärmt und vereinigt sie jeden Tag aufs Neue durch die Notwendigkeit, sich in der Behandlung gemeinsamer Angelegenheiten miteinander zu besprechen, einander zu überzeugen, und sich wechselseitig gefällig zu sein.“ Alexis de Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution (Reinbek: Rowohlt, 1969), hier S. 13. Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, 2. Aufl. (München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1984). Emerich K. Francis, Ethnos und Demos. Soziologische Beiträge zur Volkstheorie (Berlin: Duncker & Humblot, 1965). Dazu auch: Friedrich Heckmann, Ethnische Minderheiten, Volk und Nation. Soziologie inter-ethnischer Beziehungen (Stuttgart: Enke, 1992).
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M. Rainer Lepsius: „,Ethnos‘ und ,Demos‘. Zur Anwendung zweier Kategorien von Emerich Francis auf das nationale Selbstverständnis der Bundesrepublik und auf die Europäische Einigung“, in M. Rainer Lepsius, Interessen, Ideen und Institutionen (Opladen: Westdeutscher Verlag, 1990), S. 247–255, hier S. 249. Lepsius, „,Ethnos‘ und ,Demos‘“, in Lepsius, Interessen, Ideen und Institutionen, hier S. 253. Schlesinger, Spaltung Amerikas, hier S. 37–56. Karl W. Deutsch, „Soziale Mobilisierung und politische Entwicklung“, in Wolfgang Zapf, Wolfgang (Hrsg.), Theorien des sozialen Wandels, 3. Aufl. (KölnBerlin: Kiepenheuer & Witsch, 1971), S. 329–350; Karl W. Deutsch, Nationenbildung, Nationalstaat, Integration (Düsseldorf: Bertelsmann Universitäts-Verlag, 1972). Gabriel A. Almond und Sidney Verba, The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations (Princeton: Princeton University Press, 1963). Theodor Schieder, „Typologie und Erscheinungsformen des Nationalstaates in Europa“, in Heinrich August Winkler (Hrsg.), Nationalismus, 2. Aufl. (Königstein/Ts.: Athenäum, 1985), S. 119–137; Theodor Schieder, Nationalismus und Nationalstaat (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1991). Die Vereinigten Staaten von Amerika bilden auch in dieser Hinsicht insofern einen Sonderfall, als weder die durch die Sklaverei gegebene schwarze Bevölkerung noch die zurückgedrängte indianische Ursprungsbevölkerung diese Staatbürgerrechte von Anfang an zuerkannt bekamen. Dies ist vielmehr erst später schrittweise erfolgt und charakterisiert in spezifischer Weise die bereits angesprochenen Besonderheiten der amerikanischen Nationenbildung. Ähnliche „Exklusionen“ gibt es natürlich auch in anderen Fällen der modernen Nationenbildung. Dies lässt zugleich einen gewissen Vorteil der Nationenbildung auf vorwiegend ethnischen Grundlagen erkennen, deren Voraussetzungen allerdings nur in wenigen historischen Fällen tatsächlich gegeben waren. Samuel N. Eisenstadt und Stein Rokkan (Hrsg.), Building States and Nations (Beverly Hills: Sage, 1973) (2 Bd.); Heinrich August Winkler und Hartmut Kaelble (Hrsg.), Nationalismus – Nationalitäten – Supranationalität (Stuttgart: Klett-Cotta, 1993); Elmar Holenstein, Kulturphilosophische Perspektiven. Schulbeispiel Schweiz, Europäische Identität auf dem Prüfstand, Globale Verständigungsmöglichkeiten (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1998); Stein Rokkan, Staat, Nation und Demokratie in Europa. Die Theorie Stein Rokkans aus seinen gesammelten Werken rekonstruiert und eingeleitet von Peter Flora (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2000). Genauer besehen, verfügen die modernen, national verfassten Sozial- und Wohlfahrtsstaaten über drei wichtige und sich zugleich ergänzende Legitimitätsquellen: die Legitimation durch demokratische Verfahren, die Identifikation und Loyalität ihrer Bürger und das programmatische Formulieren und die (partielle) Erfüllung von Sozialund Wohlfahrtsversprechen, mit den bekannten Grenzen der Finanzierung und dem abnehmenden „Grenznutzen“ der Sozial- und Wohlfahrtsleistungen. Dabei übernimmt in den einzelnen Fällen zu verschiedenen Zeitpunkten jeweils eine andere Quelle die Hauptlast der Legitimation der demokratischen politischen Herrschaft. Sterbling, Nationalstaaten und Europa, hier S. 110ff.
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Anton Sterbling, Bürgerliche Gesellschaft, ihre Leistungen und ihre Feinde (Stuttgart: ibidem, 2020), hier S. 57ff; Sterbling, Die antwortlose Gesellschaft, hier S. 90ff. Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, 9. Aufl. (Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 1988), hier S. 252; Friedrich H. Tenbruck, „Das Werk Max Webers“, in Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 27 (1975), S. 663–702. Grundlegend: Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl. (Tübingen J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 1976), hier S. 1ff. Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte (München: Pieper, 1949); Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie (Berlin: Suhrkamp, 2019) (2 Bd.). Zum Begriff der „Wertbeziehungen“ und zum Verständnis von durch diese konstituierten „Wertordnungen“: Johannes Weiß, Max Webers Grundlegung der Soziologie. Eine Einführung (München: Verlag Dokumentation Saur, 1975), hier S. 33ff. M. Rainer Lepsius, „Modernisierungspolitik als Institutionenbildung: Kriterien institutioneller Differenzierung“, in M. Rainer Lepsius, Interessen, Ideen und Institutionen (Opladen: Westdeutscher Verlag, 1990), S. 53–62; Eisenstadt spricht in diesem Sinne auch von „symbolischen Codes“ und „Codekonfigurationen“ und deren grundlegenden Bedeutung für „institutionelle Arrangements“ und die „Konstruktion makrosozialer Ordnungen“. Samuel N. Eisenstadt, Tradition, Wandel und Modernität (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1979), hier S. 7ff; Sterbling, Nationalstaaten und Europa, hier S. 106ff; Anton Sterbling, „Das „Weber-Paradigma“ als Grundlage eines historisch-vergleichenden Analyseansatzes“, in Anton Sterbling, Verwerfungen in Modernisierungsprozessen. Soziologische Querschnitte (Hamburg: Krämer Verlag, 2012), S. 113–127. Max Weber, „Wissenschaft als Beruf“, in Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 7. Aufl. (Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 1988), S. 582– 613, hier S. 603; Max Weber, „Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“, in Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, S. 146–214; Max Weber, „Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften“, in Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, S. 489–540. Sterbling, Bürgerliche Gesellschaft, hier S. 67ff; Sterbling, Die antwortlose Gesellschaft, hier S. 141ff. Anton Sterbling, „Collective Identities”, in Raj Kollmorgen, Wolfgang Merkel und Hans-Jürgen Wagener (Hrsg.), Handbook of Political, Social, and Economic Transformation (Oxford: Oxford University Press, 2019), S. 416–420. Richard Wagner, „Osteuropa oder die permanente Kollaboration“, in Kursbuch 115 (1994), S. 175–181, hier S. 175. Richard Wagner, Mythendämmerung. Einwürfe eines Mitteleuropäers (Berlin: Rotbuch Verlag, 1993). Schlesinger, Spaltung Amerikas, hier S. 57–84. Man kann dabei die Feststellung Lucian Boias unterstreichen: „Bei den Mythen herausfinden zu wollen, was ,wahr‘ und was ,unwahr‘ ist, ist der falsche Problemansatz.“ Und er fügt dem hinzu: „Mythen haben eine eigene Struktur,
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und es ist im Grunde genommen gleichgültig, ob diese aus realem oder aus erdachtem Material bestehen oder aus einem Gemisch beider. Wichtig ist allein, daß die Mythen der Logik des Imaginären gehorchen.“ Lucian Boia, Geschichte und Mythos. Über die Gegenwart des Vergangenen in der rumänischen Gesellschaft (Köln-Weimar-Wien: Böhlau, 2003), hier S. 3. Schlesinger, Spaltung Amerikas, S. 57. Ebd., S. 65. Ebd., S. 69. Ebd., S. 81ff. Ebd., S. 85. Ebd., S. 87. Ebd., S. 91f. Alexandru Zub (Hrsg.), Temps et changement dans l’espace roumain. Fragments d’une histoire des conduites temporelles (Iaşi: Editura Universităţii Al. I. Cuza, 1991); Katherine Verdery, What was socialism, and what comes next? (Princeton/New Jersey: Princeton University Press, 1996); Boia, Geschichte und Mythos. Schlesinger, Spaltung Amerikas, S. 108. Ebd., S. 112. John H. Goldthorpe, „Soziale Mobilität und Klassenbildung. Zur Erneuerung einer Tradition soziologischer Forschung“, in Hermann Strasser und John H. Goldthorpe (Hrsg.), Die Analyse sozialer Ungleichheit. Kontinuität, Erneuerung, Innovation (Opladen: Westdeutscher Verlag, 1985), S. 174–204. Rudolf Andorka, Einführung in die soziologische Gesellschaftsanalyse. Ein Studienbuch zur ungarischen Gesellschaft im europäischen Vergleich (Opladen: Leske + Budrich, 2001), hier S. 191–232; Max Weber stellte diesbezüglich fest: „Immer aber ist für den Klassenbegriff gemeinsam: daß die Art der Chance auf dem Markt diejenige Instanz ist, welche die gemeinsame Bedingung des Schicksals der Einzelnen darstellt. „Klassenlage“ ist in diesem Sinn letztlich: „Marktlage““. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 532. Goldthorpe, „Soziale Mobilität und Klassenbildung“, in Strasser und Goldthorpe (Hrsg.): Die Analyse sozialer Ungleichheit, hier S. 175. Werner Sombart, Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus? (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1969). Joseph Schumpeter, „Die sozialen Klassen im ethnisch homogenen Milieu“, in Joseph Schumpeter, Aufsätze zur Soziologie (Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 1953), S. 147–213; Max Haller, „Klasse und Nation. Konkurrierende und komplementäre Grundlagen kollektiver Identität“, in Soziale Welt, 44, (1993), S. 30-51; Max Haller und Anja Eder, Ethnic Stratification and Economic Inequality around the World. The End of Exploitation and Exclusion? (London-New York: Routledge, 2016). Am Beispiel der Sozialstrukturanalyse südosteuropäischer Gesellschaften: Anton Sterbling, „Zur Sozialstruktur südosteuropäischer Gesellschaften und den Grenzen klassentheoretischer Analysekategorien“, in Berliner Journal für Soziologie 6, 4 (1996), S. 489–499. Talcott Parsons, The Social System (Glencoe Ill.: Free Press, 1951); Talcott Parsons, Gesellschaften. Evolutionäre und komparative Perspektiven (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1975), hier S. 14ff. Schlesinger, Spaltung Amerikas, S. 113.
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Ebd., S. 116. Zu diesem „Dilemma“ von Angehörigen ethnischer Minderheiten zwischen kultureller Identitätswahrung und sozialen Aufstiegschancen: Anton Sterbling, „Kulturelle Identitätsfragen und Minderheitenlagen. Das Beispiel der Banater Schwaben in Rumänien“, in Matthias Theodor Vogt, Jan Sokol, Dieter Bingen, Jürgen Neyer und Albert Löhr (Hrsg.), Minderheiten als Mehrwert (Frankfurt a. M.: Peter Lang, 2010), S. 249–278. Schlesinger, Spaltung Amerikas, S. 121. Ebd., S. 132. Ebd., S. 138. Ebd., S. 142. Dazu auch: Anton Sterbling, Wege der Modernisierung und Konturen der Moderne im westlichen und östlichen Europa (Wiesbaden: Springer VS, 2015), hier S. 7 ff. Anton Sterbling, „Abendländische Rationalisierung, Kunst, Integration“, in Matthias Theodor Vogt, Erik Fritzsche und Christoph Meißelbach, Ankommen in der deutschen Lebenswelt. Migranten-Enkulturation und regionale Resilienz in der Einen Welt. Europäisches Journal für Minderheitenfragen 9, 1-2 (2016), S. 267–276. Ruud Koopmans, Assimilation oder Multikulturalismus? Bedingungen gelungener Integration (Berlin: LIT Verlag, 2017); Sterbling, Bürgerliche Gesellschaft, hier S. 125ff. Vor allem: Parsons, The Social System. Zur „segmentären“ und „funktionalen Differenzierung“ grundlegend: Emile Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, 2. Aufl. (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988). Dazu auch: Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Band 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1981), hier S. 173ff. Niklas Luhmann unterscheidet indes bekanntlich zwischen den Typen „segmentär“, „hierarchisch“ und „funktional“ differenzierter Gesellschaften. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1984). Anton Sterbling, Widersprüchliche Moderne und die Widerspenstigkeit der Traditionalität (Hamburg: Krämer Verlag, 1997); Sterbling, Wege der Modernisierung, hier S. 87ff. Anton Sterbling, Zuwanderungsschock – Deutschland und Europa in Gefahr? Probleme der Zuwanderung und Integration (Hamburg: Krämer Verlag, 2016); Gerd Vonderach (Hrsg.), Das Zuwanderungsproblem. Was kommt auf Europa zu? (Aachen: Shaker Verlag, 2017).
„Geschichte als Waffe“ Egon Flaig Die USA haben sich konstituiert mit dem Selbstverständnis eines völligen Neubeginns der menschlichen Geschichte. Dem entsprach die Vorstellung, dass sämtliche Bürger, ob alteingesessen oder neu zugewandert, ihre ethnischen und kulturellen Eigenarten aufgeben und ihre religiösen Zugehörigkeiten zumindest so weit hintanstellen, dass sie sich als Glieder einer neuen großen Gemeinschaft verstehen konnten. Dieses Imaginäre verlangte, die eigene Vergangenheit hinter sich zu lassen, und fand seinen sinnfälligen Ausdruck im Wahlspruch E pluribus Unum. Arthur Schlesinger behandelt in seinem späten Werk Die Spaltung Amerikas die Faktoren, die im 20. Jahrhundert diese Gemeinschaft auseinanderreißen und spalten. Denn nun droht Ex Uno plura. Dabei spielen die Historie und das historische Bewusstsein eine kardinale Rolle. Im Kapitel „Geschichte als Waffe“ behandelt Schlesinger die identitätskonstitutive Funktion von Historie und historischer Erinnerung. Und er legt dar, wohin es führt, wenn die historische Erinnerung an therapeutischen Zwecken ausgerichtet wird, um das Selbstbewusstsein von unterdrückten Minderheiten zu heben. Historiker – so beginnt der Autor – müssen sich sowohl bemühen, den Standards ihrer Wissenschaft zu genügen, als auch zu reagieren auf die unablässige Verschiebung der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit hin zu neuen Themen, weshalb sie die Geschichte ihrer Nation ständig umzuschreiben haben.1 Er zitiert Eric Foners Diktum, wonach sich die Notwendigkeit, Geschichte umzuschreiben, daraus ergibt, dass eine neue Zukunft auch eine neue Vergangenheit benötigt. So sollte die giftige Anglophobie der US-Amerikaner nach dem Ersten Weltkrieg gedämpft werden, indem man die schulischen Curricula im Fach Geschichte umschrieb, was allerdings in einzelnen Bundesstaaten regelrechte Memorialkämpfe auslöste und sogar zu ‚Gesetzen zur Reinhaltung’ der Historiographie führte.2 Die „Anrufung“ der Geschichte sei unverzichtbar für
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die Selbstfindung von Kollektiven; kompensatorische Geschichtsschreibung diene den Unterdrückten, um ihrem Selbstbewusstsein aufzuhelfen. Schlesinger folgert: „Geschichtsschreibung ist eine Waffe“.3 Historiker müssen folglich leben mit dem Widerspruch zwischen historischer Erkenntnis und dem Gebrauch der Geschichte zum Zwecke der Identitätsstiftung. Eben darum sei es wichtig, sich der eigenen Vergangenheit zu stellen, denn – hier bemüht er ein geflügeltes Wort von Vaclav Havel – „wer Angst davor hat, sich seiner eigenen Vergangenheit zu stellen, muss notwendigerweise das fürchten, was vor ihm liegt“. Und es sei unabdingbar, sich dabei an die historische Wahrheit zu halten, denn „aufrichtige Geschichtsschreibung ist die Waffe der Freiheit“.4 Zwar übertrieben ethnische Minderheiten ihren Beitrag zum Gedeihen der USA bombastisch; doch wenn ihre Angehörigen in offiziellen Funktionen mitbestimmten, wie die Curricula in den Schulen aussehen sollten, dann verhielten sie sich extrem loyal und neigten dazu, den traditionellen Kanon zu verteidigen. Eben dies verändert sich seit den 1980er-Jahren. Denn während Iren und Juden es schafften, als Amerikaner angenommen zu werden, konfrontieren Schwarze und Indianer die Demokratie mit ihrer „tragischsten Herausforderung“. Beide Gruppen „haben allen Grund, eine historische Wiedergutmachung anzustreben“.5 Eine problematische Aussage, wie sich unten zeigen wird. Schlesinger gibt schwarzen Amerikanern „jedes Recht, eine bejahende Bestimmung ihrer Vergangenheit zu suchen“6; denn sie quält ein „verzweifeltes Bedürfnis, ihre eigene Identität zu verteidigen“. Nun böte sich an, schwarze Parallelfiguren ausfindig zu machen, die sich neben den weißen Heroen auszeichneten, sei es in den Kriegen gegen die Engländer oder bei anderen Prüfungen, denen die junge Republik ausgesetzt war. Doch das genügte einzelnen schwarzen Akademikern und Amtsträgern nicht. Diese beklagten sich vielmehr, dass die Weißen „die Produktion von Wissen“ kontrollierten, und entschieden sich dafür, einen radikal differenten Kanon für die schulische Bildung zu etablieren. Dem Direktor eines universitären „Black Education Programs“ zufolge habe der Eurozentrismus in den Bildungsanstalten die afroamerikanischen Studenten „vollständig dekulturalisiert“.7
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Zwar reduzierten Reformer in den 1980er-Jahren den Anteil der europäischen Geschichte im schulischen Unterricht und im Rahmen der ‚Global Studies’ rigoros, doch das genügte schwarzen Aktivisten nicht. Ein von solchen geleiteter Bericht Gleichheit und Exzellenz von 1989 war bereits rassentheoretisch grundiert und benannte die Therapierung der psychisch verletzten Schwarzen als Erziehungsziel8; er negierte die sozialisierenden Effekte von Kultur überhaupt, weil die Europäische Kultur die Psychen der nicht-europäischen Kinder behindere. Das eurozentrische Curriculum – so Molefi Kete Asante – „tötet [...] unsere Kinder, es löscht ihr Bewusstsein aus“. Seltsamerweise kommentiert Schlesinger nicht die hier fassbare rassisch-identitäre Zuschreibung von Kultur, welche jener der NS-Ideologen ähnelt, die in analoger Weise lehrten, jüdische Kunst und Literatur sei absolut schädlich für ‚arische‘ Psychen. Beunruhigt ist Schlesinger dagegen, weil der besagte Bericht die amerikanische Verfassung abwertet; deswegen erhebt er gegen die Autoren den Vorwurf, sie interessierten sich nicht für das Problem, wie eine Republik der Vielfalt zusammenzuhalten sei, vielmehr billigten und vertieften sie ethnische Spannungen.9 Tatsächlich ist eine neue afrozentrische Geschichtsvision entstanden, die eine mythenbestückte ruhmreiche Vergangenheit Afrikas propagiert10; und zunehmend beanspruchen Schwarze das alleinige Recht, über afrikanische Geschichte zu schreiben.11 Diese vollkommene Missachtung von historischer Wahrheit bedauert Schlesinger mit der merkwürdigen Aussage, Geschichtsschreibung als Waffe sei „ein Missbrauch der Geschichte“;12 um diese fatale Entwicklung zu erklären, greift Schlesinger zu einer schmerzhaften Dialektik: Je tragischer die Ausgrenzung bestimmter Gruppen war, desto intensiver deren Bedürfnis nach Selbstbestätigung. Die verspätete Anerkennung der Ungerechtigkeiten führe „zum Phänomen des weißen Schuldgefühls – in vieler Hinsicht keine schlechte Sache, allerdings auch eine Schwachstelle, die zu zynischer schwarzer Ausbeutung und Manipulation einlädt“.13 Und genau um diese Ausbeutung geht es; denn sie bewirkt die ‚Enteinigung‘ der USA. Wenn man das Buch ein Vierteljahrhundert nach seinem Erscheinen liest, beklemmt einen die prognostische Treffsicherheit des Autors; das Auseinanderbrechen der amerikanischen Nation
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vollzieht sich vor unseren Augen. Aber reicht sein diagnostisches Instrumentarium aus, um die kulturrevolutionäre Dynamik zu erfassen, der wir nun ausgesetzt sind? Zunächst fehlt die von Alfred Heuß 1959 eingeführte Unterscheidung zwischen Geschichtswissenschaft und kollektiver Erinnerung.14 Diese ist immer das partikulare Gedächtnis von Gruppen, Gemeinschaften und Völkern; es ist bezogen auf eine konkrete Identität. Es dient der politischen und kulturellen Orientierung; es stabilisiert Normen und Erwartungen; und es hilft vor allem, die uns umgebenden Dinge zu bewerten. Es ist konnektiv; es integriert die Individuen in die Sozialdimension und in die Zeitdimension. Dazu benötigt es ein Narrativ, eine historische Erzählung, und wäre sie noch so rudimentär. Der Exodus aus Ägypten ist der fundierende Mythos Israels, der Rütli-Schwur die fundierende Erzählung der Schweiz, der Sturm auf die Bastille jene des revolutionären Frankreichs. Ob solche Narrative historisch wahr sind oder nicht, spielt für ihre „Mythomotorik“ keine Rolle. Das kollektive Gedächtnis dient also dem Leben von Gemeinschaften. Die Historie tut das nicht, weil sie Wissenschaft ist und nach Erkenntnissen trachtet. Als Wissenschaft unterwirft sie sich den Regeln des Bewahrheitens, weshalb ihre Erkenntnisse universale Gültigkeit beanspruchen. Dieser Unterschied ist Schlesinger nicht vertraut; und diese Nichtvertrautheit führt zu Schwächen, die sich zeigen in seinem Gebrauch der Trias von Identität, Wiedergutmachung und historischer Schuld. Schlesinger befürwortet, dass Schwarze (und Indianer) eine „bejahende Bestimmung ihrer Vergangenheit“ suchen und bringt Verständnis auf für deren „verzweifeltes Bedürfnis, ihre eigene Identität zu verteidigen“. Indes, worin sollte diese bestehen? Diese beiden Gruppen weisen eine historische Besonderheit auf. Weil Europäer und Asiaten freiwillig in die USA einwanderten, integrierten sie sich freiwillig in eine Nation von Einwanderern. Indianer und Afroamerikaner sind die einzigen, deren Vorfahren nicht freiwillig in das gelobte Land kamen. Die Indianer waren schon längst eingewandert, ihr Land wurde erobert; und die Schwarzen wurden in Ketten hergebracht. Diese Unfreiwilligkeit beim Prozess des Eingliederns in die Bevölkerung Nordamerikas kann wissenschaftlich aufgearbeitet werden. Wenn sie jedoch zum Kern eines kollektiven
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Selbstverständnisses wird, dann ist die Desintegration unvermeidlich und muss sich immer weiter verschlimmern. Wenn die Schwarzen ihre eigene Identität aus diesem Abschnitt der Vergangenheit schöpfen, dann bestimmen sie sich in erster Linie als unterdrückte Minderheit. Wenn eine solche Identität von einer forcierten Anerkennung bestätigt wird, und wenn die Ansicht sich ausbreitet, die Diskriminierten seien berechtigt zu positiver Diskriminierung, dann verstetigt sich das Bedürfnis, sich vor allem als Opfer zu verstehen und die Mehrheitsgesellschaft pauschal als Täter anzusehen. Dies zeitigt freilich kulturelle Effekte, die man beim Gedanken der Wiedergutmachung nicht im Blick hatte. Denn die Opfergruppe verstärkt immer weiter ihre partikulare Identität, weil sie damit das Recht erwirkt, anzuklagen und einzufordern. Ihre Fürsprecher verlangen Wiedergutmachung auf der finanziellen und sozialen Ebene; zudem beanspruchen sie Sonderrechte im Sinne der umgekehrten Diskriminierung, welche der kanadische Philosoph Charles Taylor befürwortete, schon ein Jahrzehnt bevor Schlesinger dieses Buch schrieb.15 Opfergruppen fordern Sonderrechte auf der symbolischen und kulturellen Ebene, vor allem das Recht, überall angehört zu werden und auf besondere Weise zur Geltung zu kommen. Dem dient eine Memorial-Industrie, welche ganz unverhohlen der Gruppenkohäsion dient. In ihr agieren ,Moralentrepreneureʻ, nämlich Theologen als Versöhnungsexperten, Therapeuten als Traumaexperten, Pädagogen als Sozialexperten; sie geben die Stichworte und sorgen für mediale, legislatorische und gerichtliche Impulse. Zudem entwerfen sie Wahrnehmungstechniken, die es ermöglichen, sich unentwegt als diskriminiert zu erfahren.16 Damit bewirken sie desintegrative Sozialisationen bei der Gruppe, unabhängig von den sozialen Lagen der einzelnen. Denn das gruppale Sonderbewusstsein erzeugt Schemata der Wahrnehmung, mit denen immer neue Formen von Diskriminierung erlebt und wahrgenommen werden; und diese Schemata werden innerhalb der Gruppe wechselseitig verstärkt und habitualisiert. Ist dieser Prozess in Gang gesetzt, dann werden die gleichen sozialen Misserfolge, die bei Angehörigen der Mehrheit als Konsequenz subjektiven Versagens gel-
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ten, nun auf das Konto von anhaltender Diskriminierung geschrieben. Unweigerlich werden immer mehr soziale Felder unter die Aufsicht des Diskriminiertwerdens gestellt; obendrein intensiviert sich das subjektive Gefühl, diskriminiert zu werden, weiter, obwohl das Diskriminieren sich seit den 1960er-Jahren auf der sozialen Ebene dramatisch reduziert hat und auf der Ebene des Rechts zur Gänze verschwunden ist und obwohl die Effekte der positiven Diskriminierung sogar gewisse soziale Privilegien nach sich ziehen. Das Tocqueville-Paradoxon, wonach die zunehmende rechtliche und politische Gleichheit eine immer schärfere Sensibilität für die verbleibenden Ungleichheiten erzeugt, wirkt im Falle von ethnischen, rassischen oder kulturellen Minderheiten in grotesk übersteigertem Maße. Gewiss, ein Großteil der schwarzen Amerikaner ist sozial benachteiligt. Doch die Ursachen dieser Benachteiligung verschieben sich immer weiter zu den Mechanismen der Selbstexklusion. Andere Minderheiten, vor allem die neu Eingewanderten – obschon notwendigerweise ebenfalls sozial benachteiligt –, überwinden diese Benachteiligung weitaus erfolgreicher. Die Asiaten und die Latinos zeigen, dass man seine eigene Identität verändern kann, indem man die sozialen Chancen wahrnimmt und die eigene Lage verbessert; freilich ist es dabei unumgänglich, sich in die amerikanische Leitkultur zu integrieren. Doch die segregatorische Ideologie so vieler schwarzer Wortführer verhindert genau das. Indem eine hohe Quote der Afroamerikaner sich eingerichtet hat in ihrer Identität als beleidigte Opfer, verstetigt sich ihr Sonderstatus und wird kulturell immer umfassender. Er schafft so eine ähnliche Segregation wie jene von den Jim-Crow-Gesetzen hergestellte. Schlesinger sieht zwar, wie verheerend diese schwarze Identitätserzeugung sich auswirken wird auf den Zusammenhalt der amerikanischen Nation. Doch er bemerkt nicht, dass just der Gebrauch der Konzepte Wiedergutmachung und Schuldgefühl die geschichtstheoretische Basis abgibt für jenes Auseinanderbrechen der Memorialkulturen in den USA. Schlesinger geht unbefangen davon aus, dass es historische Gerechtigkeit geben müsse, obschon er das Wort selber nicht benutzt. Und eben diese implizite Annahme ist das Problem.
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Nehmen wir das Beispiel der Sklaverei. Sie war zweifelsohne ein furchtbares historisches Übel. Aber war sie ein historisches Unrecht? Dazu wird sie erst, wenn man sie unter die Postulate der historischen Gerechtigkeit stellt. Aber lässt sich diese konsistent denken?17 Sobald wir die Frage nach der Kompensation für historisches Unrecht stellen, kommen die Aporien des Konzeptes zum Vorschein. Denn wer soll zahlen? Wenn das Konzept eine rechtliche Basis haben soll, dann müssen jene mehr zahlen, die das größere Unrecht angerichtet haben. Bei der Sklaverei sind drei Vorgänge von unrechtmäßigem Charakter zu unterscheiden: zuerst das gewaltsame Sklavenmachen, dann der Sklavenhandel mit seinen Deportationen, dann die Sklavenhaltung mit ganz unterschiedlichem Gebrauch der versklavten Menschen. Von diesen drei Übeln der Sklaverei ist das erste bei Weitem das schlimmste, denn die Sklavenrazzien und Versklavungskriege versetzen freie Menschen in den Zustand extremer Unfreiheit und radikaler Alterität. Somit müssen am meisten die Versklaver zahlen, erst an zweiter Stelle die Sklavenhändler und zuletzt die Sklavenhalter. Denn die Jagd auf Sklaven, die Kriege, um Menschen zu fangen, ihre Dörfer und Städte zu erobern und dabei eine erhebliche Quote der Besiegten zu töten, die Überlebenden als Sklaven abzutransportieren, das sind fürchterlich gewaltsame und extrem grausame Vorgänge. Nun wissen wir, dass in Afrika nur die Portugiesen den kurzfristigen Versuch machten, selber Menschen zu versklaven. Die Versklaver vom 6. bis zum 19. Jahrhundert waren afrikanische, sehr kriegerische Ethnien, denen sich ab dem 10. Jahrhundert die muslimischen Emirate im Sahelgürtel hinzugesellten. Demnach müssten vor allem Ethnien in Mali, im Tschad, im Sudan, aber auch in Ghana, Nordnigeria und Benin unvorstellbare Entschädigungen an die Nachfahren ihrer Opfer zu entrichten. Sie hätten weit höhere Summen zu bezahlen als die sklavenimportierenden Zonen, also an erster Stelle der islamische Kulturraum nördlich der Sahara, an zweiter die transatlantischen europäischen Ex-Kolonien. Doch diese Nachfahren sind zum größten Teil ausgelöscht. Damit kommen wir zur zweiten Aporie. An wen soll die Wiedergutmachung gehen? Angenommen, man wollte die heute exis-
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tierenden Ethnien pauschal für das historische Unrecht der Sklaverei entschädigen, dann beginge man ein grausiges Unrecht. Denn wer erhielte dann Entschädigung? Die jetzt existierenden Stämme sind Überlebende einer Situation grausamster Versklavungskriege. Kriegerisches Versklaven bewirkt entweder sofort oder durch die Wiederholung das Erlöschen der bejagten Stämme. Versklavungskriege sind tendenziell oder de facto Genozide. Wir können nur ahnen, wie viele afrikanische Ethnien ausgelöscht wurden; aber es waren sicherlich viele Hunderte, vielleicht gar Tausende. Die Versklaver hingegen haben als historische Sieger überlebt. Wenn man den heute noch existierenden Ethnien in Afrika Kompensationen für vergangenes Unrecht zahlte, dann erhielten just die Nachkommen der Versklaver den Löwenanteil der Wiedergutmachung. Damit würden die historischen Opfer ein zweites Mal gedemütigt und vernichtet. Die dritte Aporie betrifft das Konzept des Nachfahren. Die Gedächtnispolitik von Opfergruppen verwischt den Unterschied zwischen Opfern und Nachfahren; und sie selektiert die Vorfahren entsprechend der Identitätskonstruktion.18 Indem die heutigen sich so bezeichnenden Nachfahren sich als Opfer gebärden, konstruieren sie sich zu einem zeitübergreifenden Kollektivsubjekt, das gelitten hat und dafür fordern darf. Ein solches transgenerationelles Kollektivsubjekt mit moralischen Ansprüchen ist freilich eine mnemopolitische Fiktion. Wer sich als ‚Nachfahre von’ bezeichnet, wählt unter Tausenden von Vorfahren einige wenige aus. Solche Selektion geschieht stets mit einer spezifischen Absicht. Jene Afro-Amerikaner, die sich Nachfahren von Sklaven nennen, meinend, damit seien sie eine Opfergruppe, täuschen sich darüber hinweg, dass ihre Vorfahren in den USA höchstens sieben Generationen lang Sklaven waren, dass sie aber seit 1865 in der fünften Generationen Nachfahren von freien – obschon diskriminierten – Menschen sind. Ferner vergessen sie, dass sie vor dem 18. Jahrhundert Vorfahren in Afrika hatten, die nicht nur zu den besiegten und versklavten Stämmen gehörten, sondern auch zu siegenden und versklavenden Ethnien. Niemand weiß, wie viele von den knapp 300.000 in die späteren USA verkauften Sklaven selber Sklavenjäger oder Nachfahren
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von solchen waren. Wenn diese Menschen heute nach Entschädigung für damals rufen, dann sind sie umgekehrt auch in der Pflicht, für die Verbrechen ihrer Vorfahren Kompensation zu leisten. Darüber spricht man nicht, weil andernfalls das Konzept der historischen Gerechtigkeit sich als Unsinnswort erwiese. Dieses entfällt vollständig mit dem dekonstruierten Konzept des Nachfahren. Die vierte Aporie ist die nächstliegende: Wer behauptet, Sklaverei müsse, weil sie heute ein Verbrechen ist, es auch um 1600 gewesen sein, und die Sklaverei um 1600 ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit nennt, ist gezwungen zuzugeben, dass sie ein solches Verbrechen schon vor 5000 Jahren war. Wollte man gar die Schuld aufrechnen, so wäre ein Regress bis Noah und Ham zwingend. Wenn wir dieses furchtbare historische Unheil zu einem rechtlich einklagbaren Sachverhalt und somit zum ‚historischen Unrecht‘ machten, wer sollte dann für all dieses historische Unrecht einstehen, haften und es finanziell kompensieren? Das bloße Postulat, für historisches Unrecht müsse Entschädigung geleistet werden, schüfe eine Schuldknechtschaft bis ans Ende der Zeiten. Ein solcher Regress ist nicht allein phylogenetisch unmöglich, sondern auch kognitiv, weil uns zum einen die Dokumente fehlen und weil zum anderen die menschlichen Kollektive ihre Identitäten unentwegt veränderten und fast nirgendwo kulturelle Gemeinsamkeiten mit ihren biologischen Vorfahren bewahrten. Wir müssten den selbstgebastelten Legenden von Ethnien und Kulturen glauben, als seien es rechtsfähige Dokumente. Und für jene Tausende von Ethnien, die im Laufe der Geschichte genozidär ausgelöscht wurden und von denen wir überhaupt keine Dokumente und keine Nachricht haben, für sie wäre es eine neue Erniedrigung, wenn die Nachfahren ihrer Vernichter Entschädigungen erhielten. Aus der Aporie lässt sich schlussfolgern: Unrecht zu korrigieren ist ein Gebot der korrektiven Gerechtigkeit, aber dieses Gebot wird nur wirksam, falls man sicher sein kann, wer die realen Täter waren und dass die realen Opfer noch leben. Für die Nachgeborenen ändern sich alle Fragen. Der Begriff der Gerechtigkeit lässt sich nur mit Mühe länger als eine Generation in die Vergangenheit ausdehnen. Verlängert man seine Geltung, dann gerät man in Aporien, die weder philosophisch noch juristisch zu lösen sind.
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Schließlich bringt das Konzept des ‚historischen Unrechts‘ eine Paradoxie zum Vorschein: Die menschliche Geschichte ist eine Abfolge von entsetzlichen, kollektiv begangenen Taten, welche wir als Verbrechen einstufen, die jedoch von den historischen Akteuren als größte Selbstverständlichkeit hingenommen wurden, weil ihr semantischer Horizont nicht bloß solches Handeln legitimierte, sondern obendrein Alternativen undenkbar machte. Wenn nun die Akteure sich der verbrecherischen Qualität ihres Tuns nicht bewusst waren, kann es sich nicht um ‚Unrecht‘ handeln, sondern um historische Übel. Historisches Übel bringt keine Schuld mit sich; historisches Unrecht hingegen bedeutet Schuld und auch Haftung. Solches Übel wird zum Unrecht, sobald die Akteure einsehen, dass ihr Tun ein Verbrechen ist.19 Alles hängt von diesem Bewusstsein ab, und das ist ein kulturell bedingtes. Anders gesagt: Dieses Bewusstsein ist korreliert mit einer moralischen Kompetenz, die sich einstellt innerhalb eines menschenrechtlichen Horizontes. Folglich wird eine Kultur desto mehr ‚schuldig‘, je moralisch kompetenter sie ist. Logischerweise müsste man retrospektiv diejenigen, die als Täter aus Überzeugung gehandelt haben, freisprechen; hingegen würden alle Kulturen zu ‚schuldigen‘, in denen ein Abolitionismus entstanden ist und in denen dieser mit größten intellektuellen und moralischen Anstrengungen darum gekämpft hat, eine legitime soziale Institution zu einem Unrecht zu machen. Zu dieser Konsequenz wird getrieben, wer die Vergangenheit ins Recht einholen will, ohne sich Rechenschaft darüber abzugeben, dass dieses Recht selber ein Produkt der Geschichte ist. Kant und Hegel hielten es beide für sinnwidrig, die Geschichte moralisch zu beurteilen, weil das ein unaufgeklärtes Moralisieren gegen jenen Verlauf wäre, der unsere Maßstäbe allererst zu plausiblen und kulturell gültigen Maßstäben gemacht hat. Andernfalls müsste man die Sinnsysteme der vergangenen Generationen vollständig missachten, um diese selber als moralische Wesen zu verachten.20 Sollte die Weltgeschichte sich in dieser Form des Weltgerichtes erfüllen, dann hörte die menschliche Gattung auf, als diachrone Gesamtheit ideell zu existieren. Indem wir die Vergangenheit der Zuständigkeit unserer Gerichte unterwerfen, radieren
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wir die Tatsache aus, dass die Menschheit sich in historischen Prozessen zu dem entwickelt hat, was sie heute ist oder sein könnte. Wir widerrufen genau jenen Prozess, dem wir es verdanken, dass wir universale moralische Maßstäbe besitzen, mittels derer wir heute in der Lage sind, Verbrechen gegen die Menschlichkeit festzustellen. Diesen Prozess tilgen hieße die jetzige Generation zum absoluten Subjekt ohne kulturelle Genese erheben und die Geschichte selber auslöschen. Wenn der Druck einer auf historische Gerechtigkeit zielenden Gedächtnispolitik weiter anhält, dann wird die Historie als Wissenschaft die nächsten fünfzig Jahre nicht überleben und die politische Vernunft absterben. Und genau das führt uns Arthur Schlesinger vor Augen. „Geschichtsschreibung als Waffe ist ein Missbrauch der Geschichte“, so verurteilt Schlesinger am Ende des Kapitels die immer abstruser werdenden Geschichtsklitterungen der Black Studies21; und er fügt hinzu, dass der Zweck der Geschichte nicht das „Geltendmachen von Identität“ sei. Hier spricht er von histoire, der Geschichte als Wissenschaft, denn die mémoire soll ja eben die kollektive Identität sichern. Da ihm der konzeptionelle Unterschied nicht klar ist, konnte er am Beginn des Kapitels noch sagen, die Diskriminierung der Schwarzen verschlimmere sich durch Missachtung der „schwarzen Geschichte“.22 Indes, jene schwarze Geschichte zu achten, schafft ein nicht bewältigbares Problem. Denn diese Geschichte von Schwarzen für Schwarze hat eine therapeutische Funktion. Und dazu hat Alain Finkielkraut im Streit um das Curriculum an französischen Schulen so prägnant gesagt: „Die Schule des Wissens weicht der Schule des Therapierens durch die Lüge.“23 Die Fake History der schwarzen akademischen Aktivisten ist inzwischen zu einer Rassenideologie zweiten Grades geworden. Und sie illustriert besonders krass das kulturelle Phänomen des mythonarrativ erzeugten Leidens ganzer Kollektive, ein Leiden, welches einzig und allein innerhalb einer spezifischen Gedächtnispolitik existiert, insofern die Akteure sich vorbehaltlos identifizieren mit ‚ihrem Volk‘ und dessen jahrhundertelanger Unterdrückung. Solche gedächtnispolitisch induzierten Leiden werden von eigens darauf angesetzten Psychologen zu historischen Traumata erklärt,
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womit sich der Zirkel des Bewahrheitens schließt: Das Vorhandensein des kollektiven Traumas bestätigt die Wahrheit der erlittenen Geschichte; und die memorialpolitische Vergangenheit erklärt die Existenz des kollektiven Traumas.24 Ohne diese immer neu geschürten Leiden würde das Kollektiv schnell auseinanderbrechen und sich auflösen in andere soziale Zugehörigkeiten. Die Fake History der Black Studies liefert Erinnerungen für Entrüstete und Entrüstungen für Unwissende. Hier ist Nietzsches Warnung aktuell geworden: „Niemand lügt so viel als der Entrüstete.“25 Die Aussage enthält eine Prämisse: Wer sich einen Sonderstatus zumisst, der ihn moralisch ‚unschuldig macht‘, will sich nicht mehr nötigen lassen zu bewahrheiten, was er sagt. Eine bequeme Taktik ist es, Verweise auf historische Sachverhalte wegzuwischen, indem man sie einer ‚weißen Perspektive‘ zuschreibt; dabei übernimmt der ‚Rassenstandpunkt‘ die ehemalige Funktion des ‚Klassenstandpunktes‘.26 Ein prächtiges Beispiel hat Charles W. Mills in seinem Werk The Racial Contract geliefert, welches im selben Jahr erschien wie das hier besprochene von Schlesinger. Es bietet eine Uminterpretation der Weltgeschichte auf rassenkämpferischer Basis im Stil der NSIdeologie, obschon angereichert mit institutionsgeschichtlichen Versatzstücken. Schlesinger geht davon aus, dass die USA eine Leitkultur benötigen, gerade weil sie ohne solche zu einem multikulturellen Agglomerat zerstieben würden. Eine Leitkultur bedeutet nicht die Dominanz einer Ethnie. Die westliche Kultur eignet sich als Leitkultur besser als alle anderen, weil sie erstens einen extremen Universalismus hervorgebracht hat und zweitens in sich eine Dynamik systematischer Selbstkritik birgt.27 Deswegen hat sie das „innere Potential zur Wiedergutmachung“. Aber eine solche Wiedergutmachung kann eben nicht darin bestehen, dass historische Schuld konstruiert und zugewiesen wird, um dann die Begleichung finanziell, sozial, symbolisch und kulturell einzufordern. Sie kann nur bestehen in einer rechtlichen und politischen Gleichheit, also in der gleichen Chance für alle, durch Leistung oder Versagen sozial und ökonomisch ungleich zu werden. Ohne eine gemeinsame Geschichte gibt es keine gemeinsame Zukunft. Sich integrieren in eine Nation heißt eben immer, sich von
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der eigenen Vergangenheit verabschieden und eine neue Vergangenheit annehmen. Damit Angehörige der unterschiedlichsten Ethnien in den USA zu Amerikanern werden können, kommen ihre Wortführer nicht umhin, die eigene nationale, religiöse oder rassische mémoire zu depotenzieren, um stattdessen einzutreten in eine gemeinsame Geschichte und Tradition, auch wenn diese weit überwiegend anglo-amerikanisch ist. Es schien unwahrscheinlich, aber kulturell möglich, dass die Kelten und Germanen Nordeuropas sich eines Tages eine religiöse Memorialkultur gaben, in welcher Nazareth, Bethlehem und Jerusalem wichtiger waren als die Walstätten der Umgebung. Unwahrscheinlich? Eher war dies der Normalfall in der Geschichte. John Stuart Mill hat 1846 erklärt, die Schlacht bei Marathon, in welcher die Athener das persische Invasionsheer besiegten, übertreffe als „Ereignis der englischen Geschichte“ sogar die Schlacht von Hastings. Mill zögerte nicht, jene griechische Polis zum Paten der englischen Freiheit zu erheben. Damit entfrachtete er die Geschichte von jedweder Genealogie oder Gemeinschaft ‚im Blute‘ und bestimmte die Nation als Konsensgemeinschaft, die sich im täglichen Plebiszit verjüngt und ihre republikanische und freiheitliche Identität in die Zukunft verlängert, indem sie sich jener Vergangenheit versichert, die kulturell und politisch als maßgebliche Quelle dieser Identität gilt. Die Schlacht bei Marathon fällt in den kulturellen Besitz all jener, die sich einreihen in die republikanische Prozession hin zu demokratischen Ordnungen – selbst unter menschenrechtlichen Vorzeichen. Keine Rasse und kein Blut hindern Individuen daran, sich einzureihen. Wenn die Bürger der USA nun die gemeinsame Geschichte verlieren, dann wird ihnen keine gemeinsame Zukunft beschieden sein. Aber ob dies geschieht oder nicht, das hängt jetzt in höchstem Maße von den gedächtnispolitischen Kämpfen ab, in den Bildungsanstalten, in den Medien, in der alltäglichen Kommunikation und letztlich im Geiste jedes einzelnen Bürgers.
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Schlesinger, Die Spaltung Amerikas. Überlegungen zu einer multikulturellen Gesellschaft (Stuttgart: ibidem, 2020; das Original erschien 1991 und wurde vom Autor 1998 aktualisiert, die aktualisierte Fassung ist die Grundlage für die deutschsprachige Übersetzung), S. 58. Schlesinger, S. 65. Schlesinger, S. 63. Schlesinger, S. 64. Schlesinger, S. 69. Schlesinger, S. 71. Schlesinger, S. 74. Schlesinger, S. 79f. Schlesinger, S. 81f. Schlesinger, S. 82. Schlesinger, S. 83. Schlesinger, S. 84. Schlesinger, S. 83. Alfred Heuß, Verlust der Geschichte (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1959), S. 32‒61; ähnlich schon Maurice Halbwachs, La mémoire collective (Paris: Générique, 1997, Erstveröffentlichung 1939), S. 136. Charles Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung (Frankfurt: suhrkamp, 1993.) John Torpey, Making Whole what Has Been Smashed. On Reparation Politics (Cambridge, Mass./London: Harvard University Press, 2006), S. 19–21. Egon Flaig, „Memorialgesetze und historisches Unrecht. Wie Gedächtnispolitik die historische Wissenschaft bedroht“, Historische Zeitschrift 302, Heft 2 (2016), S. 297–339. Kerwin Lee Klein, „On the Emergence of Memory in Historical Discourse”, Representations 69, 2000, S. 127‒150, hier S. 145. Michael Schefczyk, Verantwortung für historisches Unrecht. Eine philosophische Untersuchung (Berlin/New York: De Gruyter, 2012), S. 98–119. Siehe dazu: Flaig, „Memorialgesetze“, S. 337. Schlesinger, S. 84. Schlesinger, S. 69. Alain Finkielkraut „L'école des savoirs cède sa place à l'école de la thérapie par le mensonge“, Figaro, 11. Mai 2015. Egon Flaig, „Warum gibt es kein historisches Trauma? Einen nonsense-Begriff verabschieden“, MERKUR 747 (2011), S. 670f. Friedrich Nietzsche, „Jenseits von Gut und Böse, II § 26“, in: Werke in drei Bänden, Bd. 2 (München: Hanser, 1954), S. 592. Siehe dazu Torpey, Making Whole, S. 21, 26, 72ff. Schlesinger, S. 142.
Vom Benutzen der Historie für Ideologeme der Gegenwart. Anmerkungen zu Schlesingers Überlegungen zum „Kampf der Schulen“ Vojin Saša Vukadinović Dass ein Übermaß an Geschichte dem Individuum schadet, ist bereits von Friedrich Nietzsche festgestellt worden. In Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben firmiert der von der Vergangenheit beschwerte Mensch als „Lebendige[r]“, der sich gegen die Last des Alten zu wehren habe, weil dieses das Leben „durch die Erinnerung an seine Fesseln“ einschränke: „Das Uebermaass von Historie hat die plastische Kraft des Lebens angegriffen, es versteht nicht mehr, sich der Vergangenheit wie einer kräftigen Nahrung zu bedienen.“1 Das damit gemeinte Übermaß an Menschheitsgeschichte, das auf dem Einzelnen lastet, kennt diverse Ausprägungen. Eine davon ist die Überidentifikation mit den Akteuren historischer Verbrechen und den Opfern der davon ausgelösten Verheerungen und deren leidvollen Erfahrungen, ohne deren historischen Charakter anzuerkennen. Daraus resultiert bisweilen der Überschwang, es nachträglich besser machen zu wollen – was mitunter dazu führt, dass jenes Übermaß politische Gestalt annimmt: als Agenda etwa, die ein taktisches Verhältnis zur Vergangenheit unterhält, damit die Gegenwart radikal umgedeutet werden kann. Ein offenkundiges Beispiel hierfür ist der aktivistische Rekurs auf die Ära des Kolonialismus, an der weniger die Machtasymmetrie zwischen den europäischen Imperien und deren Kolonien interessiert als vielmehr die Möglichkeit, Opponenten oder Andersdenkenden mit Hinweis auf diese Herrschaftsform rhetorisch anzulasten, Vergangenes bruchlos fortzuführen. Verfechter dieser Taktik wähnen sich nicht nur ihren Mitmenschen überlegen, sondern fühlen sich selbst besser. Ohne diese gruppenpsychologische Komponente erschließt sich das Phänomen nicht. 87
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„Geschichtsschreibung als Therapie zu verwenden bedeutet, die Geschichtsschreibung als solche zu korrumpieren“, bemerkte Arthur M. Schlesinger in seinem Kapitel zum „Kampf an den Schulen“.2 Die seinerzeit als Tendenz bemerkbare ideologische Indoktrination US-amerikanischer Jugendlicher an einigen staatlichen High Schools ist in den Jahrzehnten, die seit der Publikation von Die Spaltung Amerikas verstrichen sind, zum veritablen Problem angewachsen. Schlesinger, der in Generationen dachte, hatte dies geahnt; ihm galt die aufziehende „Kultur der Ethnizität“ als „kein gutes Omen“.3 Mittlerweile hat sich das Vorzeichen auf radikal rückwärtsgewandte Weise eingelöst, denn im 21. Jahrhundert hat eine Deutung der Vergangenheit obsiegt, in der Kollektivität alles ist, während die Zukunft nunmehr nach dem Bild modelliert werden soll, welches man sich vom verklärten Vergangenen macht. Abzulesen ist dies unter anderem an Vorstellungen, die um Topoi wie Gemeinschaft und Herkunft kreisen, welche in durchweg vormoderner Weise affirmativ verstanden werden und an den Hochschulen nunmehr Oberhand haben, wenn es um die Interpretation der Vergangenheit wie der Gegenwart geht – zwar nicht in der Geschichtswissenschaft, wohl aber in jüngeren und kleineren Disziplinen. Wer sich durch die entsprechenden wissenschaftlichen Sparten liest, kann sich die zugehörigen Produkte in breiter Auswahl zu Gemüte führen. Dies gilt insbesondere für den englischsprachigen Raum, wo Veröffentlichungen von Verlagen wie Routledge und Duke University Press eindrücklich zeigen, inwiefern man es nunmehr mit einer unangefochtenen Dominanz zu tun hat, was die Auslegung von Themen wie race, Migration, sexuelle Minderheiten usw. anbelangt. Dass die zugehörigen Arbeiten gleichwohl verschleiern, dass ihre Dominanz keineswegs empirisch gestützt wird, d.h. nicht aus wissenschaftlich klar nachvollziehbaren Gründen an jenem Punkt angelangt ist, an dem sie sich nun befindet, gehört zum Programm. Diese Monographien und Sammelbände überdimensionieren soziale Kategorien und operieren zugleich mit Moral, indem sie nahelegen, dass hier Gewichtiges geschehe, dem die Mehrheit deshalb keine Aufmerksamkeit schenke, weil ihr Blick aus historischen Gründen verstellt sei. Widerspruch kennen sie
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nicht, und der Umstand, dass die vermeintlichen Minderheitenthemen zwischenzeitlich von den großen Verlagen bedient werden, löst ebenfalls keine Zweifel aus. Der Kampf um das Klassenzimmer galt in den Vereinigten Staaten des späten 20. Jahrhunderts allen Bildungseinrichtungen, folglich auch dem Seminarraum. Dass sich Schlesinger auf das High-School-System konzentrierte, mag angesichts der immensen Debatte um Political Correctness, die den US-amerikanischen Kulturbetrieb der 1990er prägte, etwas verwundern. Im Vergleich zu den akademischen Problemen der 2020er-Jahre wirkt seine rhetorische Frage, ob das öffentliche Schulsystem nicht besser daran täte, weniger „nach Ethnie und Hautfarbe getrennte Subkulturen [zu] stärken und [zu] perpetuieren“, als den Versuch zu wagen, „unsere Jungen und Mädchen dazu zu bringen, eine gemeinsame amerikanische Kultur mitzugestalten“, fast schon zahm. Schlesinger antwortete sich hierauf selbst, dass es „sicherlich nicht die Funktion des öffentlichen Schulwesens“ sein könne, „künstlichen ethnischen Chauvinismus zu befördern“.4 Die Rede von einem solchen „Chauvinismus“ klingt zunächst weitaus aggressiver als der Stil, in dem Diversitätsbelange in der Regel vorgetragen werden. Und dennoch sollte Schlesinger Recht behalten. Denn der Anspruch, alle Lebensbereiche zu durchdringen und – in diesem Fall „ethnisch“ – zu deuten, wird seitens des gegenwärtigen Aktivismus forciert und zugleich von der Vorstellung gespiegelt, Diskriminierung sei „strukturell“, da alle Menschen von jenen Kategorien geprägt seien, die mittlerweile sinnentstellend als „Intersektionalität“ geläufig sind. Hieran werden wiederum Erwartungen geknüpft, welche die vermeintliche Authentizität einer Person danach bemessen, ob sie sich identisch zu sich selbst verhält. Erläutern lässt sich das an einem kleinen biographischen Detail. Schlesinger wies darauf hin, dass zu Martin Luther Kings Vorbildern auch Henry David Thoreau gezählt hatte.5 Dies erscheint vor allem deshalb bedeutsam, weil King – Christ mit universalistischem Anspruch – damit einen Philosophen des 19. Jahrhunderts als ethischen Vorstreiter ausgewiesen hatte. Zwar ist Thoreau eben-
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falls dafür bekannt, zum Ungehorsam gegenüber dem Staat aufgerufen zu haben, sein Glauben war allerdings deutlich diesseitig orientiert und galt insbesondere der sinnlich erfahrbaren Aura der Natur.6 Somit legte King jenen, die sich an seinen eigenen Reden und Taten orientierten, einen weißen Protagonisten der US-amerikanischen Kulturgeschichte als Vorbild nahe – eine Geste, die nach dem Triumph des identitätspolitischen Denkens und Fühlens im antirassistischen Aktivismus einem Frevel gleichkommt. Dies gilt nicht nur für die Vereinigten Staaten, sondern auch für Deutschland. In der ideologisch verbrämten Gegenwart ist es ohnehin schon schwierig, eine minoritäre Person des öffentlichen Lebens auszumachen, die zugleich ausdrücklich als nicht-identitätspolitisches Vorbild wirkt, das sich den populistischen Konventionen des Zeitgeists widersetzt. Es ist kaum vorstellbar, dass eine solche Person in einer mit Kings Empfehlung vergleichbaren Geste migrantischen Jugendlichen beispielsweise Georg Christoph Lichtenberg oder Iris von Roten zur Orientierung anraten würde. An solch kleinen Momenten verrät sich das Ausmaß der indes errichteten identitären Zäune, die jene symbolischen Trennungen forcieren, die unter dem Rubrum „Diversität“ unentwegt das Gegenteil suggerieren. Schlesinger hatte diese Verschiebung weg von einer gemeinsam gestalteten Gesellschaft hin zu einer ideologisch segregierten bereits an der Aufforderung festgemacht, US-amerikanische Schüler hätten nicht nur „sich selbst auf ihr kulturelles Erbe hin zu befragen“, sondern auch noch „stolz auf dieses Erbe [zu] sein“ – statt gründlich „die amerikanische Kultur zu verstehen, in der sie aufwachsen und in der sie sich auf eine aktive Rolle vorbereiten, um diese Kultur zu formen“.7 Hervorzuheben ist hier, dass „Erbe“ in diesem pädagogischen Kontext einzig eine kollektive Erbschaft meinte und nicht individuelle Anstrengungen oder Leistungen, die von einzelnen Angehörigen mancher Minderheitenkulturen erbracht worden waren. An dieser Stelle ist allerdings auch darauf hinzuweisen, dass Vorformen jener identitären Tendenzen, die sich im Falle der USA mitunter lange vor der Bürgerrechtsbewegung bemerkbar gemacht hatten, nie unwidersprochen geblieben waren.
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Was bei Schlesinger kaum zur Sprache kommt, sind Individuen, die sich dem Trend zur Selbstethnisierung gründlich widersetzen, indem sie jedwedem Gruppendenken eine scharfe Abfuhr erteilen. In den Vereinigten Staaten war diese Haltung prominent von der Schriftstellerin Zora Neale Hurston (1891 bis 1960) vertreten worden, die politisch allenfalls dem werdenden Libertarismus zuzurechnen wäre. Im ideologisch verbrämten Denken des 21. Jahrhunderts folgt die postume Rüge für diese Haltung, die nur noch als Abweichung ausgelegt werden darf, unverzüglich. So lautet ein aufschlussreicher Vorwurf, Hurston sei aufgrund ihres Einsatzes für den Individualismus und ihres Zweifels am schwarzen Kollektivismus eine „Spitzenkandidatin für weiße intellektuelle Vergötzung“8. Hieran zeigt sich, dass die nachträgliche Verspottung Einzelner noch nicht einmal vor einer Person haltmacht, die sich Zeit ihres Lebens mit den Ungeheuerlichkeiten und Zumutungen der Rassentrennung auseinandersetzen musste, die auf die Sklavengesellschaft des 19. Jahrhunderts gefolgt war, und die diese Zustände literarisch dokumentiert und damit für die Nachwelt erfahrbar gemacht hat.9 Dass „schwarze Verwundungen so viel tiefer gehen als weiße“, war auch von Schlesinger anerkannt worden.10 Doch dass diese Verwundungen retrospektiv beiseitegeschoben würden, um lieber eine angebliche „Vergötzung“ seitens ominöser Weißer zu beklagen, übersteigt seine pessimistische Prognose noch. Unfähig dazu, „sich der Vergangenheit wie einer kräftigen Nahrung zu bedienen“, um beispielsweise mit Hurstons Romanen den Verstand für die Probleme der Gegenwart zu schärfen, wird die notwendige Aufgabe, „die Welt und ihre Vergangenheit zu verstehen, leidenschaftslose Analysen, Urteile und Perspektiven hervorzubringen, […] die freies historiographisches Forschen erst möglich machen“, wie Schlesinger richtig bilanzierte, lieber dem „Gruppenselbstbewusstsein“ geopfert.11 Dieses geht mit jenem Übermaß an Geschichte einher, das Nietzsche als Niedergang des denkenden Individuums ausgemacht hatte, weil die Beschäftigung mit dem Bild, das man sich von der Vergangenheit macht, den Blick für das Ganze verstellt. Wo das
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Vergangene nur noch aus Unrecht, Herrschaft und sinistren Mehrheiten besteht und jeder Charakterzug und jede Handlung in Gruppen angelegt scheint, wird nicht nur das Individuum preisgegeben, sondern die Wahrheit gleich mit. Objektivität, die Nietzsche noch als „positive Eigenschaft“12 galt, wurde 2001 vom US-amerikanischen Aktivistenduo Kenneth Jones und Tema Okun auf eine Liste vermeintlicher Auswüchse weißer Vorherrschaft verbannt, wo sie seither gemeinsam mit „Entweder-Oder-Denken“, „Fortschritt“ oder auch „Individualismus“ als bekämpfenswerter Bestand verweilt, an dem es sich im Dienste einer kommenden antirassistischen Gesellschaft abzuarbeiten gelte.13 Das Dokument dient politischen Zusammenschlüssen, Lehrkräften und gesellschaftlichen Institutionen seither als Orientierungshilfe. Es wird mit dazu beigetragen haben, dass das Selbstverständnis des „kulturellen Pluralismus“, das heute in vielen Bildungseinrichtungen von der Grundschule bis zur Universität vorherrscht, ganz selbstverständlich intellektuelle Monotonie meint. Ihren Verteidigern gilt dieser Zustand als Errungenschaft. Sie wird gewahrt, um missliebige Individuen mit größter Selbstverständlichkeit abzustrafen und neue soziale Barrieren exakt dort zu errichten, wo sie bereits im Verfall begriffen waren – vornehmlich in der Mitte der Gesellschaft, dort also, wo die entsprechenden Losungen keinerlei Anstrengung voraussetzen und auch keine Sanktionen zu fürchten sind. Im selben Zuge werden allen Menschen neue Regeln aufgebürdet, die um die unentwegte Anrufung unveräußerlicher Merkmale kreisen und zur moralischen Legitimation auf ein Zerrbild der Vergangenheit setzen, das nur noch Kontinuitäten und Kollektive kennt. Aus dem Nutzen der Historie für das Leben ist das Benutzen historischer Versatzstücke für Ideologeme der Gegenwart geworden. Deren effektivster Schauplatz sind die Bildungseinrichtungen, in denen das unentwegte Anrufen identitärer Zugehörigkeitsmarker institutionalisiert wird und die immer mehr Gruppen hervorbringen, die sich selbst nur noch als antagonistisch wahrnehmen können. Die Folgen dieser Spaltung, von Schlesinger prognostiziert und von John McWhorter nunmehr analysiert, werden so leicht
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nicht zu beseitigen sein.14 In den USA, in denen das Selbstverständnis als Einwanderungsland bei allen zugehörigen Problemen nie zur Disposition stand, ist der gesellschaftspolitische Schaden, der aus der Kombination von ethnischer Selbstabschottung und historischer Überidentifikation resultierte, schon jetzt fatal: sei es, was die Erosion der öffentlichen Debattenkultur und alltäglichen Interaktion anbelangt, sei es, weil sämtliche Fragen, die gesellschaftliche Institutionen wie die Polizei betreffen oder aber mit Migration verbunden sind, vermutlich auf Jahre von dieser Entwicklung geprägt bleiben werden. Im Falle Deutschlands wiederum, das sich allen Evidenzen zum Trotz lange nicht als Einwanderungsgesellschaft begreifen wollte, deckt sich das identitätspolitische Anliegen gar mit dem alten Selbstbild, das feinsäuberlich zwischen „uns“ und „denen“ unterschied und auf ein Nebeneinander ausgerichtet war. Zwar hatten die Gastarbeiterverträge das soziale Antlitz der alten Bundesrepublik erheblich verändert, nicht aber das politische Bewusstsein, das die vermeintlichen „Gäste“ mit dem symbolischen Status der „Anderen“ umgeben hatte, was später im Begriff des „Multikulturalismus“ unfreiwillig auf die Spitze getrieben wurde (der bei Schlesinger allerdings eine etwas andere Konnotation hat). Das identitätspolitische Programm, das sich auch im hiesigen „Kampf der Schulen“ artikuliert, kann bequem auf diese alte Logik setzen, indem die Nachkommen der vormaligen Anderen sowie die seither Hinzugekommenen zum permanenten Anders-Sein angeregt werden. Entscheidend ist eben nicht, dass das Minoritäre „gehört“ wird, wie es im Jargon in der Regel heißt, denn daran gäbe es selbstredend nichts auszusetzen – entscheidend ist, dass biographische Aspekte überbewertet und als einer vermeintlichen Kollektivität zugehörig deklariert werden, mit der das Selbstbewusstsein Heranwachsender abermals einer Instanz unterworfen wird, die über das Dazugehören entscheidet, während die Frage, in welcher Gesellschaft sie leben möchten, zur Verteilungsgeschichte verklärt wird. „Ist es wirklich eine gute Idee, Kindern von Minderheiten Mythen zu erzählen – oder Mythen als Fakten auszugeben?“, heißt es in Die Spaltung Amerikas diesbezüglich.15 Dass das Leben so, durch die „Erinnerungen an seine Fesseln“, auf Kurs gebracht wird,
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ist ein Aspekt dieser zeitgenössischen Mythologie, die kontinuierliche Parzellierung der Gesellschaft ein weiterer. Der damit einhergehenden „Wohlfühl-Geschichtsschreibung“16, wie Schlesinger das Problem nannte, kann nur die „Vermehrung der Wahrhaftigkeit“17 entgegengehalten werden – egal, wie ungewiss der Ausgang dieses Konflikts auch sein mag.
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Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (Ditzingen 2018 [Leipzig 1874]), S. 107. Arthur M. Schlesinger Jr., Die Spaltung Amerikas. Überlegungen zu einer multikulturellen Gesellschaft (Stuttgart: ibidem, 2020), S. 105. Ebd., S. 85. Ebd., S. 102. Ebd., S. 104. Henry David Thoreau, Über die Pflicht zum Ungehorsam gegenüber dem Staat (Zürich 2010 [Boston/New York 1849]); Walden. Ein Leben mit der Natur (München 1999 [Boston 1854]). Schlesinger, Die Spaltung Amerikas, S. 101. David Ikard, „Ruthless Individuality and the Other(ed) Black Women in Zora Neale Hurston‘s, „‘Their Eyes Were Watching God‘“, CLA Journal, Vol. LIII, No. 1, September 2009, S. 1–22, hier S. 3 (Übersetzung aus dem Englischen von mir, VSV). Siehe insbesondere Zora Neale Hurston, Their Eyes Were Watching God (Philadelphia 1937). Schlesinger, Die Spaltung Amerikas, S. 85. Ebd., S. 112. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, S. 61. Kenneth Jones und Tema Okun, Dismantling Racism. A Workbook for Social Change Groups, o. O., 2001. John McWhorter, Die Erwählten. Wie der neue Antirassismus die Gesellschaft spaltet (Hamburg: Hoffmann und Campe, 2022). Schlesinger, Die Spaltung Amerikas, S. 91. Ebd., S. 111. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, S. 112.
Eine Hommage an Arthur M. Schlesinger Jr. Die Spaltung Amerikas. Eine Sonde in den identitätspolitischen Aktivismus an US-Universitäten1 Josette Baer Der Druck in Richtung auf den neuen Kult der Ethnizität kam weniger aus Richtung der ethnischen Minderheiten in ihrer Gesamtheit als vielmehr von ihren oft selbsternannten Fürsprechern. Die meisten Angehörigen ethnischer Gruppen, Weiße wie Nicht-Weiße, sahen sich selbst vornehmlich als Amerikaner. „Die Begierde nach ‚geschichtlicher Identität‘“, so Gunnar Myrdal auf dem Höhepunkt der ethnischen Begeisterung, „ist in keinerlei Hinsicht eine Volksbewegung. Solche Sehnsüchte wurden durch wenige, gut etablierte Intellektuelle, Professoren und Autoren geweckt – meist, wie ich vermute, solchen der dritten Generation.“ 2 Mit diesen Worten setzte der Historiker und Publizist Arthur M. Schlesinger Ton, Tempo und Inhalt seines berühmten Buches Die Spaltung Amerikas. Überlegungen zu einer multikulturellen Gesellschaft. Das schiere Ausmaß der Ereignisse, die ab circa 2014 an US-Universitäten begannen, dominantes Kult-Verhalten und eine gewalttätighysterische Mob-Mentalität, konnte er nicht voraussehen. Er legte sein Augenmerk jedoch auf einen Trend, der die Spaltung Amerikas verursachte, beschleunigte und legitimierte mit der Begründung der sozialen Gerechtigkeit und der Ausgleichung-Heilung von Diskrimination und Unterdrückung in der Vergangenheit. Seine Analyse ist uns heute ein Fanal, das seine Weitsicht und intellektuelles Format als Historiker bestätigen. Schlesinger identifizierte eine ethnische Eskalation (ethnic upsurge),3 welche sich als Protestbewegung gegen die anglozentrische Kultur manifestiert, also gegen die Dominanz der WASP-Bürger, d.h. weiß, von angelsächsischer Provenienz und protestantisch. In Kapitel 4 spricht Schlesinger die Rolle der Universitäten an, also 95
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von Institutionen, die eine friedliche Integration von ethnisch, religiös und ökonomisch unterschiedlichen jungen Individuen in eine tolerante Gemeinschaft des Wissens garantieren sollten. Das Gegenteil ist geschehen: Doch die universitären Campusse sind in den vergangenen Jahren in geradezu spektakulärer – und beunruhigender – Weise zersplittert in eine Vielzahl ethnischer Organisationen. Man stößt auf schwarze Studentenwohnheime, schwarze Studentengewerkschaften, schwarze Studentenverbindungen [Fraternities und Sororities, A. d. Ü], schwarze Handels- und Anwaltskammern, schwarze Schwulen- und Lesbengruppen, schwarze Esstische in den Mensen.4
Es wäre absichtlich bösartig, Schlesinger hier Rassismus vorzuwerfen. Er kritisiert nicht ein neues Selbstbewusstsein der schwarzen oder asiatischen Studentenschaft, aber die Segregation der Studenten in Gruppen, die auf der Basis der Hautfarbe erfolgt. Das amerikanische Schul- und Universitätssystem, welches die Chancengleichheit für alle Schüler und Studenten garantieren soll, wird zunehmend fragmentiert. Betroffen von diesem Trend sind nicht nur die Studenten, sondern auch der Lehrkörper: Institutionalisierte Segregation fördert die Zementierung von Unterschieden und vergrößert inter-ethnische Spannungen,5 insbesondere wenn die Hautfarbe über die Besetzung der Professorenschaft und das universitäre Curriculum entscheidet. Identitätspolitische Aktivisten sind der Ansicht, nur schwarze Professoren sollten die Geschichte der Schwarzen unterrichten dürfen, da ein weißer Professor die historischen Erfahrungen der Sklaverei6 prinzipiell nicht verstehen könne. Diese Ansicht wird auch auf andere Fächer angewandt, zum Beispiel die Geschichte der Frauen, die nur von Professorinnen verstanden werden könne.7 Diese Doktrin hält auch Einzug in den Künsten: Die Ansicht, dass nur ein homosexueller Schauspieler einen homosexuellen Charakter spielen kann, verneint direkt das Talent eines jeden heterosexuellen Schauspielers und schadet dem Drama, der Komödie und dem Film immens. Ein Beispiel: Die Amerikanerin Meryl Streep gewann den Oscar für ihre Darstellung der katholischen Polin Zofia Zawistowski (Sophie) im Film Sophie’s Choice (1982) nicht,8 weil sie eine katholische Polin ist – Streep ist als Presbyterianerin erzogen
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worden –, sondern aufgrund ihrer großartigen Schauspielkunst. Gemäß der verwirrt-unausgegorenen Nicht-Logik des Prinzips der Kongruenz von Identität des Schauspielers mit der Rolle hätte Streep zudem ein Nazi-Konzentrationslager überlebt haben müssen, was weder biologisch noch historisch möglich ist, da sie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geboren wurde. Der Gedanke, dass nur ich als Frau, als Opfer, die Geschichte der weiblichen Emanzipation unterrichten kann und meine männlichen Kollegen nicht, weil sie ja die Täter sind, ist eine Attacke auf die Prinzipien der Gleichheit der Bürger, die Meritokratie im Berufsleben und die Freiheit der Kunst. Diese Attacke verunmöglicht zudem das allgemeinmenschliche Verständnis für andere: Die Prämisse, dass ich als Schweizerin die Geschichte Russlands prinzipiell (!) nicht verstehen kann, obwohl ich die Sprache spreche und die Geschichte Russlands studiert habe, ist falsch, weil sie auch das Freiheitsprinzip, also meine freie Berufswahl, verletzt. Zudem verunmöglicht diese identitätspolitische Praktik die Brüderlichkeit, also das Kennenlernen und Verständnis für andere Kulturen. Als Historiker halten wir uns an den wissenschaftlichen Kodex der bestmöglichen Objektivität in unseren Analysen und an den internationalen wissenschaftlichen Standard einer professionellen Interpretation unseres Archivmaterials. Werden diese drei Prinzipien, Errungenschaften der Französischen Revolution, negiert, wodurch werden sie, gemäß dem moralisierenden Diktat der SJW (social justice warriors), der Aktivisten für soziale Gerechtigkeit, ersetzt? Ich denke nicht, dass die oft intellektuell schwachen, aber hochmotivierten SJW vorausgesehen haben, wozu ihr Aktivismus geführt hat. Die von Schlesinger konstatierte Spaltung Amerikas hat seit circa 2014 massiv zugenommen, und man könnte von einer Tribalisierung (tribalism)9 nicht nur der Universitätslandschaft, sondern auch der amerikanischen Gesellschaft sprechen. Für ein klassisches Einwanderungsland wie die USA, die sich als Schmelztiegel (melting pot) verstehen, ist dieser Trend gefährlich, weil er an den Grundwerten der Verfassung rüttelt: Gleichheit vor dem Gesetz, Freiheit der Bürger im Sinne von Schutz vor dem Eingriff des Staates in das Privatleben und, nota bene, die Universitäten sowie letztlich das Streben nach Glück. Der Klassizist
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und Militärhistoriker Victor Davis Hanson hat in seinem letzten Buch eindringlich auf die Gefahr der Tribalisierung hingewiesen.10 Was ist seit 2014 geschehen? Im gegenwärtigen anti-liberalen Klima auf dem Campus sind Professoren bedroht, wenn sie eine offene Debatte mit den Studenten vorschlagen: Sie können ihre Anstellung und Karriere (tenure) verlieren, wenn sie dem Druck des Studenten-Mobs nicht nachgeben und ihre Aufgabe als Lehrer ernstnehmen, namentlich Toleranz und die Meinungsfreiheit, das erste Prinzip der US-Verfassung, aufrechtzuerhalten.11 Ein Beispiel: Im Jahre 2015 fragte Erika Christiakis, Dozentin am Yale Child Study Center, die Universitätsadministratoren in einer E-Mail, ob es angemessen sei, die Studenten zu ihrer Wahl der Halloween-Kostüme zu instruieren.12 Sie hielt das für eine Einmischung der Universitätsadministration in das Privatleben der Studenten und forderte diese zu einer Debatte auf. Die Folge ihrer gutgemeinten Anfrage war eine aggressive und paranoide Hexenjagd: Einige Studenten interpretierten Christiakis’ Reaktion als Beweis, dass sie rassistische Kostüme verteidige. Eine Gruppe von circa 150 Studenten versammelten sich in Christiakis’ Garten. Ihr Gatte Nicholas, auch Dozent an der Universität Yale, kam heraus und hörte den Studenten zu, verteidigte aber das Recht seiner Frau auf ihre eigene Meinung. Die Studenten schrien ihn an und beschimpften ihn. Er solle seinen Job verlieren: „In einer Szene, die im Internet viral ging, schrie ein Student: ‚Wer, f.…, hat Dich angestellt? Du solltest zurücktreten. Hier geht es nicht um die Schaffung eines intellektuellen Raums. Nein! Es geht darum, hier ein Zuhause zu schaffen‘.“13 Ein Zuhause an der Uni? Oder die Uni als Zuhause? Universitäten sollten die Studenten auf das Berufsleben vorbereiten mit akademischem Unterricht und Spezialisierung in zahlreichen Fächern. Ist die junge Generation, welche die Generationspsychologin Jean M. Twenge (*1971) als iGen14 bezeichnet, zu behütet aufgewachsen und deshalb unfähig, den Schritt in ein selbständiges, elternloses Leben zu machen? Mein Text ist folgendermaßen strukturiert: Ich präsentiere zunächst die theoretischen Grundlagen der Identitätspolitik, also die
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postmoderne Theorie. Dann stelle ich zwei Phänomene des identitätspolitischen Aktivismus an US-amerikanischen Hochschulen vor: sichere Räume (safe spaces) und Hexenjagden (witch-hunts). In der Schlussbetrachtung beantworte ich meine Forschungsfrage: Sind europäische Universitäten vom gewalttätigen identitätspolitischen Aktivismus bedroht?
Was ist Identitätspolitik? Die Ablehnung von Wissenschaft Identität ist ein Konzept, wie ich mich selbst verstehe, aber auch wie andere sich selbst und mich beschreiben. Wie kann ein deskriptives Instrument zu einer politischen Agenda werden? „Ein fundamentale Veränderung im menschlichen Denken ereignete sich in den 1960ern. Mehrere französische Denker werden […] mit ihr assoziiert, unter ihnen Michel Foucault, Jacques Derrida und Jean-François Lyotard. […] Sie hatten ein radikal neues Verständnis der Welt und unserem Verhältnis zu ihr, revolutionierten die Sozialphilosophie und vielleicht alles Soziale.“15
Während Postmodernismus als philosophische Richtung und Ära, die zwischen 1950 und 1970 lokalisiert werden kann, notorisch schwierig zu beschreiben ist, können wir Schlüsselbegriffe wie Narrativ, Dekonstruktion und Machthierarchien als theoretische Basis der Identitätspolitik verstehen, die sich in der ersten Dekade des dritten Jahrtausends zu formieren begann. Vor allem Jacques Derridas (1930–2004) Methode der Dekonstruktion16 eines Textes wird weitgehend von Akademikern in den Geistes- und Sozialwissenschaften als analytisches Instrument akzeptiert. Glücklicherweise kann diese ‚Methode der Analyse’ nicht auf die Naturwissenschaften angewandt werden, in welchen Fakten und Zahlen herrschen. Naturwissenschaften operieren auf der Basis von Hypothesen, Experimenten und Theoriebildung. Eine Theorie ist so lange gültig, bis sie widerlegt wird mit einer überzeugenderen Theorie, die das Forschungsobjekt besser erklärt. Physik, Medizin, Biologie und Pharmakologie versuchen, die Welt zu verstehen, wie sie ist, nicht wie ich sie gerne hätte. Kein Arzt, Biologe oder Epidemiologe würde
100 JOSETTE BAER COVID-19 als Produkt, Konstrukt oder Verschwörung einer weißen männlichen Gruppe von Wissenschaftlern ansehen, die das Virus verbreitet haben, um ihre Machtpositionen in der Pharma-Industrie und ihre hohen Gehälter abzusichern – so ähnlich würde ein identitätspolitischer Aktivist argumentieren. Anders ist es jedoch in der Sexualforschung bestellt. Die kanadische Neurologin Debra Soh kritisiert die Mythen, die Transgender-Aktivisten verbreiten: Sie verneinen das Faktum, dass es zwei biologische Geschlechter gibt, das weibliche und männliche.17 Gemäß deren pseudowissenschaftlichen Behauptungen sind Geschlecht (sex) und Gender (gender) ein Kontinuum zwischen männlich und weiblich. Transgender-Aktivismus hat ernsthafte Konsequenzen für Kinder, Teenager und Eltern, die verwirrt sind: Er sagte mir […], er habe eine Transgender-Tochter. Sie war als Junge geboren, war jedoch stets von Dingen für Mädchen angezogen. […] Sie hasste es, ein Junge zu sein, und fragte ständig, warum sie kein Mädchen werden könne. Nach reiflicher Überlegung ging er mit ihr zu einem Gender-Spezialisten, und sie nimmt jetzt Pubertätsblocker. […] Ich erklärte ihm die Grundlagen meiner Schlussfolgerungen, fasste einige wissenschaftliche Studien zusammen und betonte, wie politisiert das Thema ist. Meiner Meinung nach war es sehr wahrscheinlich, dass er keine Transgender-Tochter hat – er hat einen homosexuellen Sohn.18
Vier Themen des Postmodernismus Helen Pluckrose und James Lindsay identifizieren vier Themen des Postmodernismus: erstens das Verwischen von Grenzen, zweitens die Macht der Sprache, drittens kultureller Relativismus und viertens der Verlust des Individuums und des Universellen.19 Erstens, die rationale Methode hält die Grenzen zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen aufrecht. Wenn ich Shakespeares Der Kaufmann von Venedig mit der psychoanalytischen Methode von Sigmund Freud analysiere, gehe ich interdisziplinär vor, und der Unterschied zwischen literaturwissenschaftlicher Analyse und der Freud’schen Methode ist mir bewusst. Das Verwischen der Grenzen der wissenschaftlichen Disziplinen hängt mit der postmodernen, hyper-skeptischen Sicht von Objektivität und Subjektivität zusammen. Gemäß dem postmodernen Denken unterliegt akademisches Forschen bestimmten Machthier-
EINE HOMMAGE AN DIE SPALTUNG AMERIKAS 101 archien, die der Öffentlichkeit seit Jahrhunderten ihr eigenes Wertesystem aufgezwungen haben. Die Grenze zwischen Objektivität, also bewiesenen Fakten, und Subjektivität, meiner eigenen Meinung, wird verwischt mit der haltlosen Behauptung, Objektivität und Subjektivität seien altmodisch-ausgediente Kategorien einer erdrückenden Machthierarchie. Ein Beispiel: Identitätspolitische Aktivisten würden die Geschichte der kommunistischen Tschechoslowakei folgendermaßen interpretieren. Das „Narrativ“ der sowjetischen Okkupation von 1968 bis 1990 stellt eine Missinterpretation dar, da es im Dienste der weißen, männlichen Machthierarchie des politischen Westens stand, die den Kalten Krieg mit dem nuklearen Gleichgewicht aufrechterhielt und davon finanziell profitierte. Aus der postmodernen Sicht ist die ganze Welt ein Konstrukt der Mächtigen und ihrer Hierarchien, und die identitätspolitischen Aktivisten propagieren ihre verzerrte Wahrnehmung der Welt als Lösung eines Problems, das sie selbst geschaffen haben mit ihrer Ignoranz wissenschaftlicher Methoden in den Geistes- und Naturwissenschaften. Zweitens, die Macht der Sprache: Ideen, die bis anhin als objektiv wahr galten, werden nun als „schiere Konstrukte der Sprache“20 verstanden. Sprache ist angeblich so mächtig, dass sie unsere Art zu denken beeinflusst. Deshalb ist Sprache gefährlich, und ein Text ist ein Konstrukt des Autors, der seine Machtposition erhalten möchte. Ein Diskurs oder Narrativ muss daher dekonstruiert werden. Für Derrida ist Bedeutung stets relational und verweisend; sie kann nie verstanden werden und existiert nur in Relation zum Diskurs, in welchem sie eingebettet ist. Derrida argumentiert, dass Sprache, weil sie nicht zuverlässig ist, Realität weder repräsentieren noch kommunizieren kann. Sprache operiert in binären Hierarchien, indem sie ein Element über ein anderes stellt, um Bedeutung herzustellen. Zum Beispiel ist ‚Mann’ definiert in Opposition zu ‚Frau’ und wird als überlegen verstanden.21
Wäre Derrida ein seriöser Akademiker gewesen, der Wahrheit verpflichtet, und hätte er seine Methode der Dekonstruktion auf seine eigenen Texte angewandt, hätte er gesehen, dass er nichts Signifikantes zu sagen hatte. Leider wenden heute Kohorten von Professoren und Studenten seine unsinnige Dekonstruktions-Doktrin an
102 JOSETTE BAER beliebige Themen an und finden keine realistischen Lösungen für reale Probleme, zum Beispiel Kriegsflüchtlinge. Die frühen russischen Nihilisten,22 deren Denken im Skeptizismus verankert war, hatten wenigstens Konsistenz anzubieten – sie verfolgten keine Ziele und verachteten alles, aber sie anerkannten Realität, die reale Welt. Drittens, kultureller Relativismus als postmodernes Prinzip predigt, dass es unmöglich ist, ein Urteil zu fällen über eine Kultur, ihre Werte und Normen. „[Die] Theorie insistiert, dass kein Gefäß kultureller Normen als überlegen bezeichnet werden kann.“23 Ein Beispiel: Ich, eine Feministin, in einem westlichen demokratischen Staat aufgewachsen, kritisiere die weibliche Genitalverstümmelung, die in einigen afrikanischen Staaten immer noch praktiziert wird. In meiner Kultur ist diese Praktik an Barbarismus kaum zu überbieten, eine Verletzung der Menschenrechte. Bin ich aufgrund meiner Kritik vorurteilsbehaftet? Fühle ich mich der afrikanischen Kultur überlegen? Nein, ich anerkenne lediglich die ethische Bedeutung der Menschenrechte, die universal gültig sein sollten, und kritisiere diese Praktik, nicht die ganze afrikanische Kultur. Kultureller Relativismus ignoriert das Leiden Anderer und verunmöglicht internationale Solidarität mit denjenigen, die tatsächlich unterdrückt sind, nicht wie identitätspolitische Aktivisten, die einer imaginären Unterdrückung durch eine imaginäre Machthierarchie unterworfen sind. Viertens, das Individuum und das Universelle sind nichts anderes als Produkte des Denkens der Macht, des Narrativs, das ein Konstrukt der Machthierarchie ist. In der verwirrt-unausgegorenen Irrationalität der Anhänger des Postmodernismus existieren weder Individuen noch Autonomie, weder Freiheit noch Menschenrechte. Weil das Individuum nicht existiert, gibt es keine Rechte und somit keine universal gültigen Rechte für alle Menschen. „Die postmoderne Sicht verneint die kleinste und größte Einheit der Gesellschaft: Individuum und Humanität. Sie konzentriert sich stattdessen auf kleine lokale Gruppen als Hersteller von Wissen, Werten und Diskursen.“24 Ein Beispiel: Fat Studies und die HAES-Bewegung. 25 Identitätspolitische Aktivisten verneinen die Resultate medizinischer
EINE HOMMAGE AN DIE SPALTUNG AMERIKAS 103 Forschung, die massives Übergewicht als lebensbedrohlich definiert. Fat Studies entstanden in den 1970er-Jahren in einer kleinen Gruppe von radikalen lesbischen Feministinnen. Die Fat-Aktivistinnen bekämpfen die Warnungen der Mediziner als Macht-Narrativ eines weißen Patriarchats, das vor allem übergewichtige Frauen unterdrückt und ein ästhetisches Ideal der Frau propagiert. Medizinerinnen und Ernährungsberaterinnen werden von den HAESAnhängern als fat phobic bezeichnet und der Diskriminierung von Übergewichtigen beschuldigt. Fat-Aktivisten haben keine medizinische Qualifikation, werten ihre Ignoranz zur body positivity auf und werfen Spezialisten, die jahrelang zu morbider Fettleibigkeit geforscht haben, body fascism vor.26
Sichere Räume (Safe Spaces) und Hexenjagden (Witch-Hunts) Sichere Räume (Safe spaces) Was ist ein sicherer Raum? Der pragmatische allgemein-menschliche Verstand würde sagen, dass ein sicherer Raum ein Ort ist, in welchem ich nicht physisch attackiert oder gar getötet werden kann, zum Beispiel der Panikraum in meinem Haus oder die kameraüberwachte Tiefgarage in meinem Wohnblock. Identitätspolitische Aktivisten verstehen unter sicheren Räumen speziell markierte Zonen auf dem Campus, die ausschließlich Minderheiten zur Verfügung stehen, die verbal diskriminiert werden könnten. Die Soziologen Bradley Campbell und Jason Manning zum Konzept und seiner Bedeutung: Die Bedeutung des safe space variiert. Er entstammt der Bewegung der Frauen-Emanzipation und entstand als Forum, in welchem bestimmte emanzipatorische Probleme diskutiert werden konnten. Die LBTQ-Bewegung übernahm den Begriff, damit Angehörige sexueller Minderheiten einen Raum zur Verfügung haben, in dem sie sicher vor Vorurteilen und diskriminierenden Bemerkungen sind. […] Aktivisten in Princeton besetzten im Jahre 2015 das Büro des Präsidenten der Universität und präsentierten ihm verschiedene Forderungen, unter anderem „einen klar abgegrenzten Bereich auf dem Campus, in welchem die schwarzen Studenten sicher sind.“ (Knapp 2015).27
104 JOSETTE BAER Diese diskriminierungsfreien Räume sollen Studenten, die einer sexuellen, ethnischen oder Trans-Minderheit angehören, Schutz gewähren vor der Mehrheit der Studentenschaft, die automatisch als diskriminatorisch und feindlich angesehen wird. Die Konsequenz dieser Un-Denkweise hat Schlesinger bereits erkannt, als safe spaces als Begriff noch unbekannt war: zunehmende Segregation der Studentenschaft mit Hilfe der Universität, also eine Einmischung der Institution in das Privatleben der Studenten. Gegen einen Raum auf dem Campus, der nur schwarzen, chinesischen, homosexuellen oder lesbischen Studenten zur Verfügung steht, ist grundsätzlich nichts einzuwenden, ja, ein solcher ist begrüßenswert, wenn die Studenten sich selbst organisieren. Vereine, politische Parteien und Clubs basieren auf dieser bürgerlichen Selbstorganisation seit dem Vormärz in Europa und der Amerikanischen Revolution von 1776. In Princeton ist jedoch etwas anderes geschehen: Identitätspolitische Aktivisten haben dem Präsidenten Forderungen diktiert. Dies war keine friedlich-zivilisierte und freundliche Bitte; die Besetzung des Büros und die nachfolgende Proklamation der Forderungen war, schlicht und einfach, eine Erpressung. Junge Erwachsene, die später im Berufsleben funktionieren sollten, diktierten der Universität, sie zu beschützen. Wovor? Rassismus, Anti-LBTQ etc., also vor allem, was ihnen nicht gefiel. Da Sprache in der verwirrt-unausgegorenen Irrationalität der identitätspolitischen Aktivisten als Gewaltinstrument verstanden wird, gilt jede negative Bemerkung über lesbische, schwarze oder Transgender-Personen als ein Akt der Gewalt. Sicherlich ist es nicht angenehm, wenn ich als homosexueller schwarzer junger Mann von einem heterosexuellen weißen jungen Mann oder einer asiatisch-lesbischen Transgender-Frau auf dem Campus beschimpft werde, aber Beschimpfungen von Minderheiten sind bloße Worte von unzivilisierten, intoleranten und meist intellektuell schwachen Personen. Beschimpfungen und Verunglimpfungen verletzen mich zwar emotional, sind aber keine Gewaltakte. Ständiges Mobbing eines Individuums kann jedoch zu psychologischem Trauma führen und muss wie physische Attacken als Gewaltakt verstanden und gemäß dem Gesetz bestraft werden.
EINE HOMMAGE AN DIE SPALTUNG AMERIKAS 105 Weshalb aber gehen Rektoren, Dekane, Präsidenten und Professoren auf die Forderungen studentischer identitätspolitischer Aktivisten ein? Die Finanzstruktur28 und Budget-Politik spielen hier eine bedeutende Rolle. Universitäten sind entweder staatlich oder privat. Im Vergleich zu europäischen Universitäten ist ein Studium in den USA sehr teuer, auch an staatlichen Universitäten; die meisten Studenten müssen einen student loan bei einer Bank aufnehmen und beginnen ihr Berufsleben nach dem Abschluss mit der Abzahlung des loans. Da mein Studium so teuer ist und ich später den Kredit abzahlen muss, handle ich völlig rational, wenn ich erstens meine Studentenzeit in vollen Zügen genieße und zweitens als Kunde Forderungen an meine Universität stelle. In diesem System eines freien Universitätsmarktes habe ich zudem die Möglichkeit, die Universität zu wechseln und mein Geld in eine andere zu investieren. Die Universitätsleitungen sind somit einem finanziellen Druck ausgesetzt und in ständiger Konkurrenz untereinander: Viele Campusse sind heute weniger Klöster des Lernens denn luxuriöse „country clubs“. Ein perfektes Beispiel für diesen Trend ist die Louisiana State University mit ihrem 163,37 m langen „lazy river“, dessen Konstruktion 85 Millionen US-Dollar kostete und mit Immatrikulationsgeldern bezahlt wurde. […] Anlässlich der Eröffnung des „lazy river“ erklärte der Präsident der LSU, wie seine Vision von Studium Konsumerismus und Sicherheitsprimat verbindet: „Offen gesagt, ich möchte nicht, dass ihr den Campus je verlasst. Also, was immer wir tun müssen, um euch hier zu behalten, wir werden euch hier Sicherheit garantieren. Wir sind da, um euch alles zu geben, was ihr braucht.“29
Hexenjagden (Witch-Hunts) Die Soziologen Emile Durkheim (1858–1917) und Albert Bergesen haben zu modernen politischen Hexenjagden geforscht und drei Elemente identifiziert: Erstens, sie entstehen blitzschnell, zweitens, sie manifestieren sich als Anklagen eines Individuums, das ein angebliches Verbrechen gegen die Gruppe begangen hat, und drittens sind diese Beschuldigungen oft trivial und fabriziert.30 Greg Lukianoff und Johnathan Haidt haben ein viertes Element gefunden: die Angst der Gruppenmitglieder, den Angeklagten coram publico zu verteidigen.31
106 JOSETTE BAER Die postmoderne Hexenjagd von identitätspolitischen Aktivisten konzentriert sich meist auf ein unschuldiges Mitglied einer Gruppe, das als Verräter und Gefahr für die Gruppe angesehen wird. Auch wenn die Mehrheit der Gruppe weiß, dass der Angeklagte unschuldig ist, verteidigen sie ihn nicht und stimmt in die Mob-Hysterie ein. Weshalb? Die Gruppenmitglieder haben Angst, ihre Stellung in der Gruppe zu verlieren, zum nächsten Angeklagten-Verräter gebrandmarkt zu werden, und bekunden ihre Solidarität mit dem Opfer, das sich verteidigt, meist in privaten E-Mails oder SMS, also hinter dem Rücken der Gruppe. Die politische Hexenjagd kann als Element des Tribalismus verstanden werden, weil eine offene und sachliche Debatte in dieser hysterisch aufgeladenen Atmosphäre nicht mehr möglich ist. Ein Beispiel einer politischen Hexenjagd ereignete sich im Mai 2017 am Evergreen State College im Bundesstaat Oregon.32 Evergreen hat den Ruf, eine der liberalsten Universitäten der USA zu sein. Im Mai feiert Evergreen jeweils seinen traditionellen Absenztag (day of absence), an dem nicht-weiße Professoren, Studenten und Universitätsmitarbeiter das Recht haben, nicht auf dem Campus zu erscheinen, damit ihre Absenz bedauernd bemerkt wird. Der Absenztag soll das Bewusstsein der weißen Mehrheit schärfen für die Existenz der nicht-weissen Minderheit. In kritischer Reaktion zur Wahl Donald J. Trumps zum US-Präsidenten forderte die Administration weiße Studenten und Professoren auf, am Absenztag dem Campus fernzubleiben. Bret Weinstein, ein Biologie-Professor, kritisierte diese Anordnung mit der Begründung, es gebe einen großen Unterschied zwischen dem Entscheid einer Gruppe, ihre Absenz kundzutun, und dem Diktat der Administration, eine andere Gruppe solle nicht auf dem Campus erscheinen. Am 23. Mai besetzte eine Gruppe von Studenten Weinsteins Klasse: Sie beschimpften ihn, nannten ihn „ein Stück Sch…“ und er solle „f... off“. […] Der Mob, der „um sein Leben fürchtete“, marschierte zum Gebäude der Administration, wo er Präsident Bridges vor seinem Büro fand und ihn konfrontierte. Videos zeigen, dass die Protestierenden zum Präsidenten sagten „f... you, George, wir wollen kein gottverdammtes Wort von Dir hören, Du f... hältst den Mund“.33
EINE HOMMAGE AN DIE SPALTUNG AMERIKAS 107 Die Anarchie dauerte bis Juni; die Administration unternahm nichts gegen den Mob, der materiellen Schaden anrichtete und physisch Studenten angriff, die Weinstein verteidigten. Der Mob forderte Weinstein ständig auf, zurückzutreten, und bedrohte Präsident Bridges verbal. Im September einigten sich die Universität und Weinstein und seine Frau Heather Heying, eine Biologie-Professorin, auf ein finanzielles Abkommen, und beide Professoren traten zurück. Neben Heying unterstützte nur Mike Paros, Professor für Veterinärmedizin, Weinstein; alle anderen Kollegen schwiegen. Präsident Bridges stellte später einen der Rädelsführer des studentischen Mobs als Mitglied des präsidialen Ausschusses der Universitätsleitung an.
Schlussbetrachtung Was wir von Lukianoffs, Haidts, Campbells, Mannings, Pluckroses und Baldwins Analysen gelernt haben: Identitätspolitische Aktivisten schufen eine hysterisch-gewalttätige Atmosphäre auf verschiedenen Campussen; Studentenmobs engagierten sich in psychologischer Einschüchterung und physischen Attacken auf Andersdenkende, Studenten, Rektoren, Präsidenten und Professoren. In einer solchen Atmosphäre war eine offene, tolerante Diskussion nicht mehr möglich, auch weil sich die Universitätsleitungen vom Mob erpressen ließen. Falls Präsidenten und Universitätsverwaltungen weiterhin studentische Mobs gewähren lassen, diktiert eine Minderheit der Mehrheit, was sie zu denken und zu tun hat. Aber: Das Faktum, dass die von mir zitierten Wissenschaftler Analysen publiziert haben, die zu Bestsellern geworden sind, lässt uns hoffen, dass dieser neo-totalitäre Spuk bald zu Ende geht. Zudem kann die Finanzstruktur von amerikanischen Universitäten, die ein Grund war, dessentwegen die Präsidenten und Universitätsverwaltungen dem Druck der identitätspolitischen Aktivisten nachgaben, auch als Gegendruck dienen. Hat eine Universität einen solch schlechten Ruf, dass die Anzahl der fresh men, also der Neu-Immatrikulierten, von Jahr zu Jahr deutlich abnimmt, muss das Rektorat sich dem Prob-
108 JOSETTE BAER lem der sinkenden jährlichen Einnahmen stellen. Wäre ich amerikanische Bürgerin und so gutverdienend, dass ich meine Kinder ans College schicken kann, würde ich sicherstellen, dass sie eine Universität auswählen, die nicht nur einen ausgezeichneten wissenschaftlichen Ruf hat, sondern auch eine sichere Atmosphäre garantiert, so dass meine Kinder in Ruhe und Toleranz ihr Studium zu Ende bringen können. Eine weitere Möglichkeit wäre, sie zum Studium nach Europa zu schicken. Meine Forschungsfrage: Sind europäische Universitäten vom identitätspolitischen Aktivismus bedroht? Können Szenen wie in Princeton, Yale und Evergreen auch an meiner UZH, der FU Berlin, der Pariser Sorbonne oder der Prager Karls-Universität geschehen? Ich denke, es ist eher unwahrscheinlich, dass die europäischen Studenten zu gewalttätigem identitätspolitischem Aktivismus aufgehetzt werden können, aus folgendem Grund: Ein Studium in Europa führt nicht zu der Verschuldung der jungen Erwachsenen. Weil sie vom Steuerzahler finanziert werden, sind die meisten europäischen Universitäten nicht merkantilisiert wie die amerikanischen; europäische Studenten haben deshalb keinen Grund, Forderungen an ihre Universität zu stellen, denn sie werden wie Studenten behandelt, nicht wie Klienten. Sie bezahlen die niedrigen Immatrikulationskosten entweder mit Teilzeit-Jobbing oder haben wohlhabende Eltern. Was heißt es, erwachsen zu werden? John G. Roberts chief justice am Obersten Gerichtshof der USA34 an der Matura-Feier seines Sohns im Juni 2017: Von Zeit zu Zeit, in der Zukunft, hoffe ich, dass ihr unfair behandelt werdet, so dass ihr den Wert von Gerechtigkeit erkennt. Ich hoffe, ihr werdet Verrat erleiden, der euch lehrt, was Loyalität ist. Es tut mir leid, dies zu sagen, aber ich hoffe, ihr seid ab und zu einsam, so dass ihr Freunde und Freundschaft schätzen lernt. Ich wünsche euch, ab und zu, Pech, damit ihr die Rolle der Chancen im Leben schätzt und versteht, dass euer Erfolg nicht allein euer Verdienst ist und dass Andere für ihr Versagen nicht allein verantwortlich sind. Und wenn ihr verliert, was ihr werdet, ab und zu, dann hoffe ich, dass euer Feind sich ob eurer Niederlage freut, denn so werdet ihr verstehen, was Sportlichkeit ist. Ich hoffe, ihr werdet ignoriert, so dass ihr erkennt, wie wichtig es ist, anderen zuzuhören, und ich hoffe, dass ihr genügend Schmerz erleidet, um zu lernen, was Mitleid ist. Ob ich diese Dinge für euch wünsche oder nicht, sie werden geschehen. Und ob ihr von ihnen für euch
EINE HOMMAGE AN DIE SPALTUNG AMERIKAS 109 selbst lernt oder nicht, hängt von eurem Vermögen ab, die Botschaft zu verstehen, das euer Pech euch schickt.35
Schlesinger erkannte in den späten 1990er-Jahren, welch gefährliche Tendenz sich auf dem amerikanischen Campus zu verbreiten begann: der Fokus auf Unterschiede, nicht universale Gemeinsamkeiten, und auf Verbote anstatt Debatten. Wenn wir heute von Tribalismus, Identitätspolitik und Social Justice Warriors sprechen, sollten wir Schlesingers weise Warnung verinnerlichen, die universal gültig ist, überall und zu jeder Zeit, nicht nur auf dem Campus: "Niemand braucht den ersten Zusatzartikel mehr als diejenigen, die versuchen, die Gesellschaft zu verändern. […] 'Eine Idee zu verschweigen, weil sie eine Minderheit beleidigen könnte, schützt diese Minderheit nicht. Sie beraubt sie vielmehr des Werkzeugs, dessen sie am meisten bedarf: des Rechts auf Gegenrede.' […] Es entbehrt nicht der Ironie, dass das, was die Multikulturalisten als fröhliches Feiern der Diversität gestartet haben, als grimmiger Kreuzzug für Konformität endet."36
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Teile dieses Textes sind erschienen in meinem Artikel „The Salemization of the US Campus? A Liberal Critique of Identity Politics (IP)“, COMENIUS Journal of Euro-American Civilization 8 no. 1 (2021). S. 89–107. Ausser den SchlesingerZitaten sind alle Zitate von englischen Texten von der Authorin. Arthur M. Schlesinger Jr., The Disuniting of America. Reflections on a Multicultural Society. Revised and Enlarged Edition (New York, London: Norton & Company, 1998), S. 48. Zitiert nach der deutschen Ausgabe (Die Spaltung Amerikas, ins Deutsche übersetzt von Paul Nellen, Stuttgart 2020, ibidemVerlag), S. 55 Gunnar Myrdal (1898–1987) war ein schwedischer Ökonom und Soziologe; https://www.nobelprize.org/prizes/economic-sciences/1974/myrdal/bio graphical/. Schlesinger 1998, S. 49. Schlesinger 1998, S. 107f. Zitiert nach der deutschen Ausgabe (Schlesinger 2020), S. 115. Schlesinger 1998, S. 108. Eine exzellente Analyse der Sklaverei in den USA, ihren Ursprüngen und eine überzeugende Kritik der affirmative action policy nach 1968 ist Ökonom Thomas Sowell, Black Rednecks and White Liberals (New York: Encounter Books, 2005). Schlesinger 1998, S. 109. Sophie’s Choice auf https://www.imdb.com/title/tt0084707/.
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Der Merriam-Webster Dictionary definiert tribalism als „tribal consciousness and loyalty“, also als Stammesbewusstsein und Stammesloyalität. Ich bin loyal primär zu meinem Stamm, meiner In-Gruppe, https://www.merriam-webs ter.com/dictionary/tribalism. Diese Steinzeit-Stammesloyalität identifiziert mich als Mitglied eines Stammes und verneint meine Individualität als Bürger in einem modernen Staat. Der Stammeshäuptling erlaubt mir nur, mitzuschreien und loszubrüllen uni sono mit anderen Stammesmitgliedern, nicht rational und individuell zu entscheiden. Wage ich es, eine andere Meinung zu haben, und selbige kundzutun, werde ich gecancelt, also hingerichtet auf den social media. Victor Davis Hanson, The Dying Citizen. How Progressive Elites, Tribalism and Globalization are destroying the Idea of America (New York: Basic Books, 2021). Freedom of Speech in der US-Verfassung auf https://constitutioncenter.org/ interactive-constitution/amendment/amendment-i#:~:text=Congress%20 shall%20make%20no%20law,for%20a%20redress%20of%20grievances. Greg Lukianoff und Jonathan Haidt, The Coddling of the American Mind. How Good Intentions and Bad Ideas are Setting Up a Generation for Failure (New York: Penguin, 2019), S. 56. Ebd. Jean M. Twenge, iGen: Why Today's Super-Connected Kids Are Growing Up Less Rebellious, More Tolerant, Less Happy – and Completely Unprepared for Adulthood – and What That Means for the Rest of Us (New York: Atria, 2018). Twenge hat den Begriff iGen geschaffen; er bezeichnet die erste Generation von Amerikanern, die mit dem Internet und smart phones aufgewachsen, also zwischen 1995 und 2012 geboren sind. Helen Pluckrose und James Lindsay, Cynical Theories. How Activist Scholarship Made Everything about Race, Gender, and Identity – and Why This Harms Everybody (Durham, NC: Pitchstone, 2020), S. 21. https://plato.stanford.edu/entries/derrida/. Der Protest-Brief von Cambridge Professoren gegen die Verleihung eines Ehrentitels an Derrida auf http://ontology.buffalo.edu/smith/varia/Derrida_Letter.htm. Debra Soh, The End of Gender. Debunking the Myths about Sex and Identity in our Society (New York: Threshold Editions, 2020), 15-38. Soh erachtet intersex nicht als drittes Geschlecht, sondern als sehr seltene genetische Variante eines Geschlechtes. Empfehlenswert ist Abigail Shrier, Irreversible Damage. The Transgender Craze Seducing Our Daughters (Washington D.C.: Regnery Publishing, 2020). Soh, S. 140. Pluckrose und Lindsay, S. 31. Ebd., S. 39f. Ebd., S. 40. Eine ausgezeichnete Analyse des russischen Nihilismus und seinem inhärenten Paradox auf https://link.springer.com/article/10.1007/s11212019-09319-4. Pluckrose und Lindsay, S. 41; die Autoren verwenden Theorie im Verständnis von postmoderner Theorie. Ebd., S. 42.
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Health At Every Size Bewegung auf https://asdah.org/health-at-every-sizehaes-approach/. Eine Definition von Body Fascism kann auf dem folgenden Link gefunden werden: https://www.oxfordlearnersdictionaries.com/definition/english/ body-fascism. Bradley Campbell und Jason Manning, The Rise of Victimhood Culture. Microaggressions, Safe Spaces, and the New Culture Wars (Cham: Palgrave McMillan, 2018), S. 79f. Lukianoff und Haidt sprechen von einer Pekunisierung der Universitäten, die zur Haltung geführt hat, dass der Kunde, also die Studentenschaft, immer recht hat, S. 197ff. Lukianoff und Haidt, S. 199, zitiert nach Carlson, „What’s the payoff for the ‚country club“ college?“, The Chronicle of Higher Education: https://www.chronic le.com/blogs/buildings/whats-the-payoff-for-the-country-club-college/32477. „Making a splash: College recreation now includes pool parties and river rides“, The New York Times://www.nytimes.com/2014/09/21/fashion/college-recre ation-now-includes-pool-parties-and-river-rides.htlm. J. Stripling, „The lure of the lazy river“, The Chronicle of Higher Education, 15. Oktober 2017: www.chroni cle.com/article/The-Lure-of-the-Lazy-River/241434. Lukianoff und Haidt, S. 101f. Ebd. S. 102. Ebd., S. 114–119. Lukianoff und Haidt, S. 114f, zitiert nach Johnathan Haidt, „Andy Archive (Producer). Black power activist students demand white professor resigns over ‚racism‘ (27. Mai 2017): https://youtube.be/ERd-2HvCOHI?t=4m2s. https://www.supremecourt.gov/about/biographies.aspx. Lukianoff und Haidt, S. 193, zitiert nach K. Reilly, „‘I wish you bad luck.‘ Read Supreme Court Justice John Robert’s unconventional speech to his son’s graduating class“, Time, 5. Juli 2017: http//time.com/4845150/chief-justicejohn-roberts-commencement-speech-transcipt. Schlesinger, S. 162. Er zitiert den Schriftsteller Norman Corwin (1910–2011), der in den 1930er und 1940er Jahren ein Radioprogramm zur Bill of Rights moderierte.
Die Spaltung Großbritanniens Frank Furedi Wenn man Schlesingers Die Spaltung Amerikas dreißig Jahre nach der Veröffentlichung im Jahr 1991 liest, kann man sich nur schwer der Schlussfolgerung entziehen, dass dieses Buch zwar vorausschauend, aber auch unzeitgemäß ist. Obwohl sich Schlesinger der spalterischen Wirkung bewusst war, die mit der Abwendung von den Idealen des Schmelztiegels und der Hinwendung zum Multikulturalismus einherging, neigte er wie viele andere dazu, den dauerhaft zersetzenden Einfluss der Identitätspolitik zu unterschätzen. Schlesinger hoffte, dass „Geschichte ein Gefühl für nationale Identität vermitteln“ kann und dass die Werte der Vergangenheit die Grundlage für die nationale Einheit bilden können.1 So traf er die von Optimismus getragene Aussage: „Ich glaube, dass die Kampagne gegen die Idee gemeinsamer Ideale und genau einer Gesellschaft scheitern wird.“2 Wäre er heute am Leben, er wäre schockiert über die Intensität der kulturellen und identitätsbezogenen Polarisierung in der US-amerikanischen Gesellschaft. Schlesinger vertrat die Ansicht, dass Identitätspolitik nicht das Potenzial habe, in Amerika tiefe Wurzeln zu schlagen, und dass sich ihr Einfluss wahrscheinlich auf relativ kleine Gruppen von Aktivisten beschränken werde. Er schrieb, dass die meisten Einwanderer „vollwertige Amerikaner“ sein wollen, und er fügte hinzu: „Für die Identitätspolitik und den Kult der Ethnizität noch fataler ist die einfache Tatsache, dass viele, wahrscheinlich die meisten Amerikaner von gemischter Herkunft sind.“3 Wie die spätere Erfahrung zeigt, hat sich nur sehr wenig als tödlich für die Identitätspolitik erwiesen – im Gegenteil, ihr Einfluss hat sich nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern in der gesamten anglo-amerikanischen Welt ständig ausgeweitet. Schlesinger war beileibe nicht der einzige, der die Macht der Identitätspolitik immer wieder unterschätzt hat. Seit den 1970erJahren gab es auf beiden Seiten des Atlantiks eine bemerkenswerte
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114 FRANK FUREDI Tendenz, ihren Einfluss falsch einzuschätzen. In Kommentaren wurde die Identitätspolitik häufig in der Vergangenheitsform dargestellt und ihr baldiger Untergang prophezeit. Die Autoren des ersten Buches, das sich 1973 auf Identitätspolitik bezog, behaupteten sogar, dass „Identitätspolitik sich selbst aufgegessen habe“4. Der Literaturwissenschaftler Ross Posnock schrieb 1995, dass „nach fünfundzwanzig Jahren Identitätspolitik“ ein „wieder aufkeimender Kosmopolitismus bei den Linken an Boden gewinnt; in der Tat wird die Überzeugung, dass das Ansehen der Identitätspolitik in der Wissenschaft schwindet, schnell zur allgemeinen Weisheit“5. Passend dazu lautete der Titel eines Aufsatzes in der Zeitschrift New Literary History aus dem Jahr 2000: „After Identity Politics: The Return of Universalism“.6 Acht Jahre später stellte Linda Nicholson in ihrer Geschichte der Identität fest, dass „die Identitätspolitik nun weitgehend tot zu sein scheint oder zumindest nicht mehr die Art von öffentlicher Aufmerksamkeit auf sich ziehen kann, die sie von den späten 1960er- bis in die späten 1980er-Jahre hatte“7. Und im Vereinigten Königreich erklärte die Journalistin Janet Daley nach dem Brexit-Referendum und der Wahl von Donald Trump etwas voreilig: „Identitätspolitik ist tot“.8 Das Unvermögen, den ständig wachsenden Einfluss der Identitätspolitik zu erfassen, ist zum Teil auf die Unfähigkeit der traditionellen politischen Kategorien zurückzuführen, diesem Phänomen einen Sinn zu geben. Sie wurde und wird immer noch als eine Art radikaler linker Politik identifiziert. Zum Zeitpunkt ihrer Entstehung in den 1960er-Jahren waren sich Beobachter jedoch darüber im Klaren, dass der Erfolg der Identitätspolitik auf Kosten der Linken ging und dazu beitrug, ihren Niedergang zu beschleunigen. Im Nachhinein ist es offensichtlich, dass sich Teile der Linken allmählich von ihrem traditionellen Engagement für die Klassenpolitik distanzierten und die Politik der kulturellen Identität als Mittel für ihr Überleben annahmen. In Großbritannien ist der Wandel der Labour Party von einer Partei, welche die Sprache der Arbeiterklasse sprach, zu einer Partei, die sich zuvorderst identitätspolitischer Anliegen annimmt, nachgerade paradigmatisch. Der wachsende Einfluss der Politisierung der Identität wirkte sich stets am stärksten auf den Kultursektor und weniger auf die
DIE SPALTUNG GROßBRITANNIENS 115 politischen Institutionen aus. Ein Grund dafür, dass der Wertekonflikt die Vorstellungskraft der politischen Analytiker nicht zu überfordern schien, war, dass die kulturelle Revolte der 1960er-Jahre am stärksten in der vorpolitischen Sphäre wirkte. In einer Zeit des OstWest-Konflikts, der Kriege in Südostasien, der Arbeitskämpfe in Europa und der intensiven Rivalitäten zwischen den bald aussterbenden linken und rechten Parteien wurden die Wertediskussionen in der vorpolitischen Sphäre als zweitrangig gegenüber den großen Themen der Zeit betrachtet. Obwohl viele Kommentatoren über die allmähliche Verbreitung gegenkultureller Werte in der vorpolitischen Sphäre besorgt waren – insbesondere in Bezug auf Familienleben, Erziehung, Sexualität und Geschlecht –, schienen sie sich ihrer Bedeutung nicht bewusst zu sein. Diejenigen, welche die mit der „alten Identität“ verbundenen Werte vertraten, erwiesen sich als unfähig, adäquat auf die identitätspolitisch konnotierten Herausforderungen zu reagieren und so ihre Werte zu verteidigen. Die konservativen und neoliberalen Kritiker der durch die Identitätspolitik vermittelten kulturellen Werte gaben sich der Illusion hin, dass sie die Dinge in den Reagan-Thatcher-Jahren unter Kontrolle hatten. Doch gerade in dieser Zeit, als rechte Regierungen an der Macht waren, gewann die identitätspolitisch motivierte Gegenkultur die Oberhand. Die Rechte mag den Wirtschaftskrieg gewonnen haben, aber sie erlitt einen schweren Rückschlag im kulturellen Bereich. Denn: In den 1980er- und frühen 1990er-Jahren erlangten die Befürworter der Identitätspolitik einen noch nie dagewesenen Einfluss im Hochschulwesen, in Schulen, Kultureinrichtungen, den Medien und in Teilen des öffentlichen Sektors. Ein entscheidender Punkt, den Schlesinger und seine Kollegen in Großbritannien bei ihrer Analyse des Aufstiegs der Identitätspolitik übersehen haben, ist die defätistische Haltung der Eliten dieser Länder gegenüber der Herausforderung, welche die Gegenkultur der 1960er-Jahre darstellte. Folglich waren weder die amerikanische noch die britische politische Klasse in der Lage, eine überzeugende Darstellung eines Lebensstils zu liefern, welcher der Gesellschaft helfen könnte, ein Gefühl der Einheit zu schaffen. Im Falle Großbritanniens wurde die Erosion der nationalen Identität in der Zeit nach dem Kalten Krieg besonders deutlich. Eine Studie über
116 FRANK FUREDI die staatliche Diplomatie Großbritanniens kam zu dem Schluss, dass es weitaus schwieriger ist, die Bürger davon zu überzeugen, die offizielle Linie im Kampf gegen den Terror zu unterstützen, als dies während des Kalten Krieges der Fall war.9 Dieser Verlust an Gewissheit, wie er im Kalten Krieg noch Bestand hatte, ging einher mit dem Bewusstsein, dass die Fähigkeit der Gesellschaft, ihre Bürger zu integrieren, eine starke Beeinträchtigung erfahren hatte. In einer im Jahr 2008 veröffentlichten Studie über die Sicherheitsbedrohung, mit der Großbritannien konfrontiert ist, heißt es, dass „wir uns in einem verwirrten und verletzlichen Zustand befinden“ 10. Ein Grund für dieses Gefühl der Unsicherheit sei, dass „uns die Gewissheit der alten starren Geometrie“ 11 des Kalten Krieges fehle, die der britischen Gesellschaft eine übergreifende moralische Orientierung gegeben und auf diese Weise auch sozialen Zusammenhalt vermittelt habe.12 Der Bericht kam zu dem Schluss, dass sich das Vereinigte Königreich „als Zielscheibe präsentiert, als eine fragmentierte, postchristliche Gesellschaft, die in Bezug auf die Interpretation ihrer Geschichte, ihre nationalen Ziele, ihre Werte und ihre politische Identität zunehmend gespalten ist.“13 Es ist vor allem der Vertrauensverlust des britischen Establishments in sein historisches Erbe, seine Traditionen und Werte, der das kulturelle Terrain geschaffen hat, auf dem Identitätspolitik gedeihen konnte. Die mangelnde Bereitschaft der aufeinanderfolgenden britischen Regierungen, dieses Problem anzuerkennen und anzugehen, hat dafür gesorgt, dass der rasante Aufstieg der Identitätspolitik kaum auf nennenswerte Hindernisse stieß. Und wie in den Vereinigten Staaten erfuhr die Identitätspolitik offizielle Anerkennung und institutionelle Unterstützung.
Der Verlust der britischen Identität Wie in den Vereinigten Staaten war auch in Großbritannien die Voraussetzung für den Aufstieg der Identitätspolitik die allmähliche Auflösung der nationalen Identität. Großbritanniens politisches und kulturelles Establishment hat sich als unfähig und unwillig er-
DIE SPALTUNG GROßBRITANNIENS 117 wiesen, das historische Erbe und die Werte der Nation aufrechtzuerhalten. Zudem agierte das Land um die Wende zum 21. Jahrhundert in Bezug auf seine Rolle in der Welt zunehmend defensiv. In den letzten drei Jahrzehnten hat die politische Klasse Großbritanniens versucht, der Antwort auf die Frage auszuweichen, was es bedeutet, Brite zu sein. Einige haben versucht, dieses Problem zu verdrängen, indem sie sich der Europäischen Union und damit einer europäischen Identität zuwandten, andere haben auf den Multikulturalismus gesetzt, um dieser Frage auszuweichen. Es überrascht nicht, dass das Schwenken von Flaggen aus der Mode gekommen ist und dass die wichtigsten Institutionen der britischen Kultur dazu neigen, jede Form von Patriotismus mit einer gewissen Verlegenheit zu verteidigen. Die arrogante, imperiale Haltung der Vergangenheit war einem neuen Gefühl der Scham gegenüber enthusiastischen Äußerungen über das Britische und gegenüber denjenigen, die stolz auf ihre Nation waren, gewichen. Menschen, deren Identität sich im patriotischen Stolz auf ihre Nation ausdrückt, wurden nicht nur als Relikte der Vergangenheit ausgegrenzt, sondern auch als Rassisten und Fremdenfeinde verurteilt. Ein Vorfall, in den die Labour-Abgeordnete für Islington South, Emily Thornberry, im November 2014 verwickelt war, zeigt deutlich die Verachtung, die große Teile der politischen Klasse Großbritanniens dem patriotischen Stolz der Menschen entgegenbringen. Thornberry twitterte sarkastisch ein Foto von einem Haus mit St.-Georgs-Flaggen und einem weißen Lieferwagen, der während einer Wahlkampfveranstaltung vor dem Haus geparkt war.14 Als Reaktion auf die weit verbreitete Wut und Feindseligkeit, die ihr snobistisches Verhalten hervorrief, trat sie aus dem Schattenkabinett zurück und entschuldigte sich. Ihr Parteivorsitzender Ed Miliband versuchte, die Wogen zu glätten, und erklärte, man solle die englische Flagge mit Stolz tragen. Es war jedoch allen klar, dass Milibands Erklärung eine Form der Schadensbegrenzung in einem hart umkämpften Wahlkampf darstellte. Thornberrys Haltung gegenüber Menschen, welche die Flagge hissen, spiegelt die Stimmung wider, die in den britischen Machtorganen vorherrscht. In der Tat ist die institutionelle Förderung des
118 FRANK FUREDI Zynismus gegenüber dem britischen Volk zu einem festen Bestandteil eines Kulturpakets geworden, das Werte wie Pflicht, Loyalität und Verbundenheit mit der eigenen Gemeinschaft in Frage stellt. Diese Gefühle haben seit den 1970er-Jahren an den Universitäten, in den Schulen, in Kultureinrichtungen sowie in Medien, wie der British Broadcasting Corporation (BBC), Hochkonjunktur. Der Spott über den Union Jack ist für die Mitglieder der britischen Kulturelite zum guten Ton geworden. Ein Beispiel für diesen Trend ist ein Interview im Frühstücksfernsehen der BBC im Frühjahr 2021, in dem sich die Frühstücksmoderatoren, Charlie Stayt und Naga Munchetty, über den Minister für Kommunalverwaltung, Robert Jenrick, lustig machten, weil er den Union Jack in seinem Büro aufgehängt hatte.15 In der Mitte des Interviews mit Jenrick sagte Stayt sarkastisch: „Ich glaube, Ihre Fahne entspricht nicht den Standardmaßen für ein Regierungsinterview. Ich glaube, sie ist ein bisschen zu klein, aber das ist wirklich Ihr Ressort.“16 Im Hintergrund sah man Munchetty in ihre Hand lachen. Offensichtlich war sie der Meinung, dass ein Regierungsminister, der vor der Flagge steht, ein so lächerlicher Anblick ist, dass es in Ordnung ist, sich über sein tölpelhaftes Verhalten lustig zu machen. Als Reaktion auf die Empörung der Zuschauer darüber, dass die BBC die Nationalflagge lächerlich gemacht hatte, sahen sich die beiden Moderatoren gezwungen, sich zu entschuldigen. Aber es gab keinen Zweifel daran, dass ein bedeutender Teil des kulturellen Establishments Großbritanniens die Flagge mit einem Gefühl der amüsierten Verachtung betrachtet. Die Entfremdung der BBC von der britischen Kultur und den Symbolen der nationalen Identität kommt häufig in einem Narrativ zum Ausdruck, das jeden Ausdruck von altmodischem Patriotismus als Zeichen von Fremdenfeindlichkeit betrachtet. Dieses Narrativ ist zu einem integralen Bestandteil der Elitenpolitik geworden, so dass viele der Werte, die dem Leben der einfachen Menschen einen Sinn geben, von der oft als Metropolenelite bezeichneten Gruppe mit Verachtung abgetan werden. Ein Vorfall, der diesen Zustand verdeutlicht, ereignete sich im April 2010. Während des Wahlkampfs wurde der damalige Parteichef von Labour, Gor-
DIE SPALTUNG GROßBRITANNIENS 119 don Brown, dabei belauscht, wie er eine 65-jährige Wählerin namens Gillian Duffy als „bigotte Frau“ bezeichnete. Diese ältere Anhängerin der Labour-Partei hatte ihn in Bezug auf die Politikfelder Wirtschaft und Einwanderung herausgefordert.17 Für Brown hatte jeder, der das Wort Einwanderung nur erwähnte, bereits eine Grenze überschritten. Die Tatsache, dass Brown die Bedenken einer älteren Dame ohne zu zögern auf so grobe Weise abtat, verdeutlicht, wie leichtfertig Beleidigungen wie „bigott“ und „rassistisch“ gegenüber Menschen aus der Arbeiterklasse ausgesprochen werden. Gelegentlich führt das Gefühl der Frustration über den Spott, der gegen einen bestimmten britischen Brauch gerichtet ist, zu einer Gegenreaktion. Der Aufschrei, der im Sommer 2020 durch die Ankündigung der BBC ausgelöst wurde, dass „Rule Britannia“ nicht bei den Proms gesungen wird, ist ein Beispiel für eine solche Reaktion.18 Eine Gegenreaktion ist jedoch per definitionem selten in der Lage, so kraftvoll zu sein wie die, auf die sie reagiert; denn: sie ist ausschließlich reaktiv und damit defensiv. Das Zeitalter der Identitätspolitik zeichnet sich dadurch aus, dass Identitäten generell Anerkennung finden, mit Ausnahme der britischen Identitäten – diese wird verurteilt. So ist mehr als ein Hauch von Triumphalismus unter den Gegnern der „Britishness“ erkennbar, wenn sie erklären, dass die Nation in einer Identitätskrise steckt. Eine glühende Gegnerin der „Britishness“, die Guardian-Kolumnistin Afua Hirsch, hat ein ganzes Buch geschrieben, das der Delegitimierung der britischen Identität gewidmet ist.19 Was all diese Kritiker des Versuchs, die britische Identität zu feiern, gemeinsam haben, ist die Ansicht, dass die Menschen es vermeiden sollten, stolz auf ihre Kultur und ihre Vergangenheit zu sein, weil es wenig gibt, worauf sie stolz sein können. Bereits 1941 bemerkte George Orwell, dass „England vielleicht das einzige große Land ist, in dem sich die Intellektuellen ihrer eigenen Nationalität schämen“20. Lebte er heute noch, wäre selbst Orwell überrascht über die Ausweitung solcher Gefühle von Intellektuellen auf Teile des britischen Establishments.
120 FRANK FUREDI Ein Grund, warum die Kritiker der „Britishness“ die Oberhand behalten, ist, dass sich selbst die Mitglieder des Establishments, die behaupten, die britische Identität zu verteidigen, schwertun, ein überzeugendes Argument für diese Identität zu liefern. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts haben sich mehrere britische Regierungen mit der Frage beschäftigt, wie man nicht nur die nationalen Werte fördern, sondern auch definieren kann, was sie eigentlich umfassen. Diese Frage beschäftigte den New-Labour-Premierminister Tony Blair, nachdem er erkennen musste, dass Großbritannien Gefahr lief, den Kampf der Ideen gegen die radikalen Islamisten zu verlieren; woraufhin er 2006 zur Förderung nationaler Werte aufrief. Auf die Frage „Warum sind wir im Kampf um die Werte noch nicht erfolgreich?“ antwortete er, dass „wir nicht mutig genug, nicht konsequent genug und nicht gründlich genug für die Werte kämpfen, an die wir glauben“21. Es war jedoch alles andere als klar, ob die „Werte, an die wir glauben“, die Blair skizzierte, eine wirkliche Überzeugung oder Bedeutung hatten. Typischerweise vermied es Blair, sich auf das Erbe der britischen Vergangenheit zu berufen. Stattdessen entpuppten sich seine Werte als eine Liste von modischen globalen Anliegen. Die Unterstützung der Entwicklung in Afrika, der Frieden im Nahen Osten, eine gerechte Migration, die Bewältigung des Klimawandels, die Schaffung internationaler Institutionen, die diese Aufgaben erfolgreich bewältigen können – all dies wurde als Beispiel für britische Werte angeführt. Ebenfalls im Jahr 2006 kündigte der damalige britische Finanzminister Gordon Brown Pläne für einen „British Day“ an, um den Fokus auf „geteilte Werte, die Gemeinsamkeit stiften und Gemeinsinn vermitteln“ zu legen.22 Es erwies sich jedoch als eine viel zu schwierige Aufgabe, herauszufinden, was die britische Gesellschaft zusammenhält, und die Labour-Regierung ließ die Idee im Oktober 2008 stillschweigend fallen. Der stille Rückzug der LabourRegierung in dieser Frage war Ausdruck für die Einsicht, dass nationale Traditionen, welche die Öffentlichkeit inspirieren könnten, nicht in Ausschusssitzungen oder durch Konsultationen mit Interessengruppen erfunden werden können. Wenn die Gesellschaft selbst nicht weiß, wofür sie steht, ist es nicht überraschend, dass es
DIE SPALTUNG GROßBRITANNIENS 121 den Schulen an der Fähigkeit mangelt, über die „Seele“ Großbritanniens zu sprechen. Die Verwirrung darüber, was eine Gemeinschaft zusammenhält, nahm 2008 eine karikaturenhafte Form an, als der Plan der Labour-Regierung, ein nationales Liederbuch für Grundschulkinder zu veröffentlichen, still und leise fallen gelassen wurde. Die Regierung wollte eine Sammlung von 30 Liedern herausgeben, die jeder Elfjährige kennen sollte, aber die Idee wurde als zu spalterisch verworfen. Gareth Malone, eine führende Persönlichkeit bei Sing Up, der Organisation, die mit der Umsetzung des Liederbuchprojekts beauftragt war, sagte, dass sich die Experten nicht darauf einigen konnten, welche Lieder aufgenommen werden sollten. Er beschrieb die Liederbuchdebatte als „kulturell heiße Kartoffel“ und fügte hinzu, man müsse realistisch sein und dürfe „nicht zu kulturimperialistisch vorgehen“23. Am Ende entschieden sich die Verantwortlichen, der Kontroverse, welche die Veröffentlichung eines gemeinsamen britischen Liederbuchs ausgelöst hätte, auszuweichen und stattdessen eine „song bank“ mit 600 Liedern einzurichten. Wenn es der britischen Gesellschaft zu peinlich ist, ein nationales Liederbuch zu veröffentlichen, wie kann sie dann erwarten, dass ihre Bürger sich auf Gemeinsamkeiten einigen können?
Der Verlust eines nationalen Ziels Der von Schlesinger so treffend beschriebene Zerfall von E Pluribus Unum in den Vereinigten Staaten hat sich in den letzten Jahren auch in Großbritannien in immer schnellerem Tempo vollzogen. Ein Grund, warum sich die britische Identität so schnell auflöste, ist, dass das Feld, auf dem kulturelle Konflikte ausgetragen werden, von den traditionellen Eliten aufgegeben wurde. Ein bedeutender Teil des britischen Establishments fühlt sich von seiner eigenen Kultur und Vergangenheit abgekoppelt. Die wichtigsten kulturellen Institutionen, die Ideen hervorbringen und vermitteln – die Universitäten, die Medien, die Kirche – haben die Fähigkeit verloren, Loyalität und Stolz gegenüber der Gesellschaft zu erzeugen, der sie eigentlich dienen sollten. In vielen Fällen fühlen sie sich dem
122 FRANK FUREDI historischen Erbe Großbritanniens so weit entfremdet, dass sie unwissentlich – manchmal auch wissentlich – die These vermitteln, dass der Versuch, Großbritannien zu verteidigen, selbst nicht zu verteidigen ist. Ziehen wir zur Illustration die Entscheidung der Universität Edinburgh heran, sich von ihrem wichtigsten geistigen Erbe zu distanzieren: der schottischen Aufklärung! Die Universität hat beschlossen, ihren David Hume Tower umzubenennen, weil Studenten behaupteten, dass Äußerungen des Philosophen aus dem 18. Jahrhundert zum Thema „Rasse“ bei ihnen Unbehagen auslösten. In ihrem Schreiben an die Studenten schrieb die Universitätsleitung, dass „es wichtig ist, dass Campus, Lehrpläne und Gemeinschaften sowohl die gegenwärtige als auch die historische Vielfalt der Universität widerspiegeln und dass sie sich mit ihrem institutionellen Erbe in der ganzen Welt auseinandersetzen“24. Offensichtlich ist die Verwaltung bereit, das einzige institutionelle Erbe zu verwerfen, das dieser Universität einen internationalen Ruf eingebracht hat. Ohne den Beitrag der schottischen Aufklärung wäre sie nur eine weitere provinzielle Bildungseinrichtung. Denn es ist David Hume, der mehr als jeder andere die schottische Aufklärung verkörpert. Die Ablehnung Humes ist daher mehr als nur ein Angriff auf seinen Ruf. Sie stellt einen wichtigen symbolischen Sieg für den identitätspolitischen Kreuzzug gegen das geistige Erbe der menschlichen Zivilisation im Allgemeinen und der Aufklärung im Besonderen dar. Praktisch alle großen Philosophen, die zur Entwicklung des Ideals der Toleranz, der Freiheit und anderer liberaler Ideale beigetragen haben, sind zur Zielscheibe eines Kulturkampfs geworden, der darauf abzielt, die britische Kultur zu entkolonialisieren und die heutige Gesellschaft zu zwingen, sich von ihrem kulturellen und geistigen Erbe zu lösen. Unter diesem Gesichtspunkt ist John Locke, dessen Philosophie zur Entwicklung des Gedankens der Toleranz beigetragen hat, einfach ein Rassist aus dem 17. Jahrhundert. Adam Smith, eine weitere herausragende Persönlichkeit der schottischen Aufklärung, ist ebenfalls nicht mehr als ein verdammenswerter Rassist. So bestand Smiths „Sünde“ in den Augen eines Kritikers aus dem 21. Jahrhundert darin, im 18. Jahrhundert Nationen in „wilde“ und „zivilisierte“ unterteilt zu haben.
DIE SPALTUNG GROßBRITANNIENS 123 Im Vereinigten Königreich verkörpert insbesondere der Erzbischof von Canterbury die Bewegung, die ostentativ die Auslöschung des kulturellen Erbes zelebriert. Dementsprechend kündigte Erzbischof Justin Welby an, dass die Statuen in den großen Gotteshäusern „sehr sorgfältig“ überprüft würden, um herauszufinden, „ob sie auch alle dort sein sollten“25. In seiner Antwort auf die Decolonise Everything-Bewegung erklärte Welby, dass nicht einmal die Kathedrale von Canterbury oder die Westminster Abbey davon verschont blieben, und dass einige ihrer Statuen entfernt würden. Welby benutzte eine kirchliche Doppeldeutigkeit, um seinen Aufruf zur Auslöschung von Teilen der Geschichte seiner Kirche zu rechtfertigen. Er erklärte, Vergebung könne nur gewährt werden, „wenn wir unser heutiges Verhalten ändern und sagen, das war damals und wir lernen daraus und ändern, wie wir uns in der Zukunft verhalten werden“26. Man muss schon über eine besondere Logik verfügen, um den Zusammenhang zu erkennen, den Welby zwischen der Entfernung historischer Denkmäler aus den Kirchen und dem Ausdruck echter Reue und Buße herzustellen scheint. Wenn eine Institution wie die Church of England, die mit der Bewahrung der englischen Tradition betraut ist, beschließt, dass ihre neue Aufgabe darin besteht, das Erbe, das sie schützen soll, in Frage zu stellen, wird deutlich, dass der Kulturkrieg gegen die Vergangenheit nicht nur von Demonstranten geführt wird, welche die Polizei beschimpfen. Und wenn sich die Church of England so sehr für die Auslöschung der Vergangenheit einsetzt, ist es dann nicht verwunderlich, dass sich auch weltliche Kultureinrichtungen diesem „Kreuzzug“ angeschlossen haben? Kuratoren in Kultureinrichtungen und Museen hängen der Vorstellung an, das allem, was mit der britischen Vergangenheit zu tun hat, ein negativer Beigeschmack anhaftet. In diesem Sinne hat das Victoria and Albert Museum in London vor einer Ausstellung über die Geschichte des britischen Humors Schilder aufgestellt, auf denen es heißt: „Diese Ausstellung konfrontiert mit unbequemen Wahrheiten über die Vergangenheit.“27
124 FRANK FUREDI Die Verachtung für Großbritanniens Vergangenheit und seine nationale Identität steht in scharfem Kontrast zur Feier der Vielfalt und einer Vielzahl von „modischen“ Identitäten. Bei den jüngeren Generationen ist es in Mode gekommen, eine Aussage mit den Worten „Ich identifiziere mich als ...“ einzuleiten. Dass sich Menschen fast schon verpflichtet fühlen, ihre Identität nachgerade zur Schau zu tragen, ist symptomatisch für die Bedeutung, die sie im öffentlichen Raum bekommen hat. Ein sichtbares Beispiel dieser Zurschaustellung „modischer“ Identitäten kommt heutzutage der Regenbogenfahne zu, mit der Menschen und mittlerweile auch Institutionen ihre Solidarität mit der Lesben-, Schwulen-, Bisexuellen-, Transgender- und Queer-Bewegung (LGBTQ+) zum Ausdruck bringen. Obwohl die Regenbogenfahne dadurch, dass sie institutionalisiert wurde, über gesellschaftliche Wirkmächtigkeit verfügt, ersetzt sie keine Symbole, die für die Einheit der britischen Bevölkerung steht. Im Gegenteil: Die Identitätspolitik lehnt das britische Volk ab und ist von Natur aus spaltend, da verschiedene Gruppen miteinander um Einfluss konkurrieren. Diejenigen, die sich um die Zukunft der Gesellschaft sorgen, müssen sich eher früher als später mit den Problemen auseinandersetzen, die eine auseinanderdividierte Nation mit sich bringt.
Verlust einer Lebensweise Der ehemalige britische Premierminister Tony Blair war sich der Notwendigkeit bewusst, ein klares Wertesystem zu vermitteln, um im Kampf der Ideen erfolgreich zu sein. „Wenn es um unsere grundlegenden Werte geht, den Glauben an die Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit, die Toleranz, die Gleichbehandlung aller, den Respekt für dieses Land und sein gemeinsames Erbe – dann ist das der Punkt, an dem wir zusammenkommen, es ist das, was uns das Gemeinsame gibt; es ist das, was uns das Recht gibt, uns Briten zu nennen“28, sagte Blair im Dezember 2006. Er fügte hinzu, dass „keine besondere Kultur oder Religion unsere Pflicht verdrängt, Teil eines integrierten Vereinigten Königreichs zu sein“. Dass er eine Erklärung verfassen musste, um die britischen Bürger an ihre
DIE SPALTUNG GROßBRITANNIENS 125 Pflicht zur Loyalität gegenüber der Nation zu erinnern, deutet darauf hin, dass das, was er als „unseren wesentlichen Wert“ bezeichnete, nicht die moralische Tiefe hatte, um wirklich zu bewegen und zu inspirieren. Im 21. Jahrhundert ist Großbritannien nicht nur eine Insel ohne Geschichte, sondern auch ein Ort, der Menschen davon abhält, überhaupt die Debatte darüber zu führen, welche Art von Geschichten erzählt werden sollten. „Die tiefe Garantie für echte Stärke ist unser Wissen darüber, wer wir sind“, so die Autoren der Studie Risk, Threat and Security29. Sehr richtig. Aber wenn, wie heute, die Bedeutung dessen, was es bedeutet, Brite zu sein, zum Gegenstand kultureller Anfechtung geworden ist, ist dieses Verständnis alles andere als offensichtlich. Die Autoren der vorgenannten Studie argumentieren zu Recht, dass die Stärke einer Gesellschaft auf ihrem Glauben an gemeinsame Werte und die Verfolgung geteilter Ziele beruht. Sie stellen fest, dass „das Vertrauen und die Loyalität des Volkes die Quelle sind, aus der die Kraft entspringt, mit der letztlich allen Bedrohungen der Verteidigung und Sicherheit begegnet wird“30. Sie argumentieren, dass sich die Menschen in Großbritannien von den Institutionen der Nation entfremdet haben und dass das, was sie zusammenhält, viel zu schwach ist, um eine „dynamische Gemeinschaft“31 zu bilden. Die Befürchtung eines Vertrauensverlustes in die britische Gesellschaft wurde im vergangenen Jahrhundert natürlich schon oft geäußert. Eine Schlüsselfrage, die von den Autoren implizit gestellt wird, lautet daher: Was ist heute neu? Eine offensichtliche und bedeutsame Entwicklung ist, dass in der Welt nach dem 11. September 2001 der Vertrauensverlust in Verbindung mit dem Fehlen eines übergreifenden moralischen Ziels in der britischen Gesellschaft, ein Gefühl der Bedrohung für die Sicherheit Großbritanniens verstärkt hat. Prins und Salisbury zufolge stellt sich das Vereinigte Königreich „als Zielscheibe dar, als eine fragmentierte, postchristliche Gesellschaft, die in Bezug auf die Interpretation ihrer Geschichte, ihre nationalen Ziele, ihre Werte und ihre politische Identität zunehmend gespalten ist“32. Das mangelnde Selbstvertrauen des Landes stehe in krassem Gegensatz
126 FRANK FUREDI zur Unerbittlichkeit des islamistischen Feindes von innen und außen.33 Dieses Eingeständnis einer kulturellen Verunsicherung angesichts des so genannten Kriegs gegen den Terror zeugt von der Unklarheit darüber, welche Werte, wenn überhaupt, die Menschen zusammenhalten. Auch wenn in diesem Fall die nationale Sicherheit im Mittelpunkt steht, äußern sich Kulturkonflikte auch unmittelbar in der Angst um die individuelle Identität und in Alltagsproblemen. Die Auflösung des normativen Fundaments des öffentlichen Lebens hat eine Situation geschaffen, in der Werte nicht mehr als Instrument zur Erreichung von Einheit dienen, sondern zu einer Quelle von Konflikten werden. In Ermangelung eines auf gemeinsamen Normen basierenden Sinngefüges ist die Art von Spaltung, die Schlesinger vor dreißig Jahren in Bezug auf die Vereinigten Staaten umtrieb, auch in Großbritannien zur Realität geworden.
Es beginnt in den Schulen Schlesinger beklagt in seinem Kapitel „Der Kampf der Schulen“ den Einfluss, den die Identitätsunternehmer auf den Lehrplan der Kinder ausüben können. Es liegt auf der Hand, dass die Gesellschaft zersplittert, sobald junge Menschen mit den Ideen der Identitätspolitik sozialisiert werden, und dass es dann schwierig sein wird, hinreichend Gemeinsamkeiten zu finden, die eine Gesellschaft zusammenhalten. Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten, wo häufig versucht wird, den American Way of Life aufrechtzuerhalten und durchzusetzen, besteht in Großbritannien die Tendenz, öffentliche Äußerungen des Nationalstolzes zu vermeiden. So wurde in einem Bericht von Michael Hand und Jo Pearce vom Londoner Institute of Education die Auffassung vertreten, dass „Patriotismus in der Schule nicht gelehrt werden sollte“34. Der Bericht, der sich auf eine Umfrage unter 300 Lehrern stützt, kam zu dem Schluss, dass Patriotismus nur als „kontroverses Thema“ unterrichtet werden sollte. Hand und Pearce behaupteten weiter, dass Großbritannien mit seiner „moralisch zweideutigen“ Geschichte nicht länger zu einem Objekt der Zuneigung der Schüler gemacht werden sollte.35 Ihre
DIE SPALTUNG GROßBRITANNIENS 127 Studie ist nicht nur eine Kritik an der britischen nationalen Identität, sondern auch an der Loyalität gegenüber den Traditionen, auf denen sie gründet. Sie fragten rhetorisch: „Sind Länder wirklich geeignete Objekte der Liebe?“ und forderten eine implizite kulturelle Feindseligkeit gegenüber „nationalen Geschichten“, die alle „moralisch zweideutig“ zu sein scheinen. Ihr Ratschlag lautet, dass „Dinge zu lieben schlecht für uns sein kann“, insbesondere wenn die „Dinge, die wir lieben, moralisch verdorben sind“36. Die von ihnen vermittelte Botschaft lautet, dass wir jeden Versuch, einen britischen Way of Life zu konstruieren, moralisch verurteilen sollten. Drei Viertel der von Hand und Pearce befragten Lehrer stimmten offenbar mit der Auffassung einer patriotismusfreien Erziehung überein und sagten, sie fühlten sich verpflichtet, ihre Schüler auf die Gefahren patriotischer Gefühle hinzuweisen. Obwohl sich die Autoren später über die „Pressehysterie“ beklagten, die ihre Untersuchung hervorgerufen hatte, ist es offensichtlich, dass sie glaubten, mit ihrer Meinung auf der Höhe der Zeit zu sein. Sie rühmten sich, dass „es Anzeichen dafür gibt, dass die Welle der patriotischen Rhetorik nun an den Ufern der öffentlichen Gleichgültigkeit zu brechen beginnt“ 37. Nach der Aufzählung einer Reihe gescheiterter offizieller Initiativen zur Stärkung der nationalen Identität Großbritanniens besteht für den Leser kein Zweifel mehr, dass die Autoren davon überzeugt waren, die moralische Oberhand zu haben. Es ist offensichtlich, dass viele Schüler die Ansichten von Hand und Pearce verinnerlicht haben. So protestierten beispielsweise im April 2001 Schüler der Pimlico Academy in Südlondon dagegen, dass ihre Schule den Union Jack hisst. Dem schon typischen Defätismus der letzten Jahrzehnte folgend, gab die Schule schnell der Forderung der Kinder nach, den „rassistischen“ Union Jack abzunehmen.38 Wirklich bemerkenswert ist nicht nur die moralische Feigheit der Schulleitung, die sich weigerte, dieses Symbol der „Britishness“ aufrechtzuerhalten und zu verteidigen, sondern auch, dass sich der Schulleiter für das Hissen der Flagge entschuldigte und das Verhalten der Schüler sogar lobte! „Unsere Schüler sind aufgeweckte, mutige und intelligente junge Menschen, die sich leidenschaftlich für die Dinge einsetzen, die ihnen wichtig
128 FRANK FUREDI sind, und die ein feines Gespür für Ungerechtigkeit haben. Ich bewundere sie sehr dafür, auch wenn ich bedauere, dass es so weit gekommen ist“, schrieb Daniel Smith, der Schulleiter.39 Er fügte hinzu: „Wir erkennen an, dass dieses Symbol ein starkes Symbol ist, das oft heftige Reaktionen hervorruft!“40 Ob bewusst oder unbewusst: Diese Worte kommen letztlich einer Anerkennung dessen gleich, dass ein Ausdruck des Hasses auf Großbritannien eine verständliche „heftige Reaktion“ ist! Die Reaktion der Schule auf diesen Vorfall zeigt, dass sie bereit ist, in einer Welt zu leben, in der Äußerungen des Hasses auf das Symbol der Nation auf der gleichen moralischen Ebene stehen wie die der britischen Identität. Das bedeutet zumindest, dass die britische Identität zu einer Identität unter vielen geworden ist. Und das ist ein großer Gewinn für die Identitätspolitik – jedoch nicht für den Zusammenhalt der Nation. Es sieht so aus, als ob zumindest im Moment die Identitätspolitik einen größeren Einfluss auf die Schule ausübt als die mit einer gemeinsamen nationalen Kultur verbundenen Ideale. Schlesinger wusste, dass bei der Schulbildung viel auf dem Spiel steht, und er wäre zweifellos entsetzt über die defätistische Einstellung, die bei allzu vielen Anhängern der britischen Kultur vorherrscht.
Anmerkungen 1
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Arthur M. Schlesinger Jr., The Disuniting of America: Reflections on a Multicultural Society (New York: Norton, 1998), S. 146 (S. 156 in der deutschen Übersetzung). Ebd., S. 136 (S. 146 in der deutschen Übersetzung). Ebd., S. 139 (S. 149 in der deutschen Übersetzung). Robert Paul Wolff (Hrsg.), 1984 Revisited; Prospects for American Politics (New York: Knopf, 1973). Ross Posnock, „Before and After Identity Politics”, Raritan 15 (1), (1995), S. 99. Eris Lott, „After Identity Politics: The Return of Universalism, New Literacy History 31 (4) (2000), S. 665–680. Siehe Linda Nicholson, Identity Before Identity Politics (Cambridge: Cambridge University Press, 2008), S. 4. https://www.telegraph.co.uk/news/2016/11/26/identity-politics-dead-lef ts-entire-electoral-strategy/.
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Mark Leonard, Andrew Small, mit Martin Rose, British Public Diplomacy in the ‘Age of Schisms' (London: Foreign Policy Centre, 2005), S. 11. Gwyn Prins und Robert Salisbury, „Risk, Threat and Security. The case of the United Kingdom”, The RUSI Journal (2008). Ebd. Ebd. Ebd. https://www.theguardian.com/politics/2014/nov/20/emily-thornberry-res igns-rochester-tweet-labour-shadow-cabinet. https://www.standard.co.uk/news/uk/bbc-breakfast-union-jack-flag-b9250 80.html. Ebd. https://www.theguardian.com/politics/2010/apr/28/gordon-brown-bigot ed-woman. https://www.bbc.co.uk/news/entertainment-arts53998584#:~:text=The%20BBC%20has%20reversed%20its,Last%20Night%20o f%20the%20Proms.&text=%22The%20pandemic%20means%20a%20different, said%20in%20a%20new%20statement. Afua Hirsch, Brit(ish). On Race, Identity and Belonging (Vintage, 2018). George Orwell, England Your England, Essay. https://webarchive.nationalarchives.gov.uk/ukgwa/+/http:/www.numbe r10.gov.uk/Page9948. http://www.britishpoliticalspeech.org/speech-archive.htm?speech=316. https://www.upi.com/Entertainment_News/2008/05/04/Britain-split-onnational-song-book-effort/62221209936327/. https://news.google.com/articles/CAIiEDOaFEbmnLt2NE1NL197hQEqGQ gEKhAIACoHCAownKyACzD_r4wDMK-z5AY?hl=en-GB&gl=GB&ceid=GB %3Aen. https://www.bbc.com/news/uk-england-kent-53192662. Ebd. https://www.dailymail.co.uk/news/article-7124947/V-accused-infantilisi ng-visitors-putting-warning-signs-history-exhibition.html. http://www.telegraph.co.uk/news/uknews/1536408/Adopt-our-values-orstay-away-says-Blair.html. Prins und Salisbury, „Risk, Threat and Security“. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Zitiert in: „Patriotism ‚should not be taught at school’”, The Daily Telegraph, 1. Februar 2008. Ebd. Ebd. Michael Hand und Jo Pearce, „Patriotism in British schools: Principles, practices and press hysteria”, Educational Philosophy and Theory 41 (4), (2009), S. 453–465, hier S. 465. https://www.telegraph.co.uk/news/2021/04/01/principal-caves-protesting -students-removes-racist-union-jack/.
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https://metro.co.uk/2021/04/01/pimlico-academy-headteacher-vows-to-ch ange-racist-uniform-rules-14339725/?ito=cbshare. Ebd.
Spaltung oder ein neuer Absolutismus? Eine Hypothese zu Arthur Schlesingers Diagnose Henning Nörenberg Vor dreißig Jahren diagnostizierte Arthur Schlesinger eine „Spaltung“ oder „Entzweiung“ Amerikas.1 Diese Diagnose machte er an bestimmten beobachtbaren Tendenzen seiner Zeit fest. Es scheint, dass sich seitdem jene Tendenzen einerseits noch verstärkt, andererseits aber auch in noch größerer systematischer Deutlichkeit gezeigt haben. Wenn diese Einschätzung stimmt, gibt sie Anlass zu der Frage, ob und inwiefern es wirklich eine Spaltung und nichts anderes ist, was sich da verstärkt und deutlicher zeigt, oder ob nicht in all dem sich auch eine Tendenz zur Vereinheitlichung auf einer neuen Grundlage ausprägt. Diese Frage möchte ich im Folgenden erörtern, indem ich Schlesingers „Spaltung“ mit dem in Verbindung bringe, was ich andernorts sehr viel ausführlicher als einen „Absolutismus des Anderen“ herausgearbeitet habe.2
Schlesinger und die Aufspaltung in kollektive Identitäten Im Oktober 2015 beschäftigt sich die Yale University mit der Frage, ob es ein rassistischer Affront sei, bei der Auswahl geeigneter Halloweenkostüme mehr auf die Eigenverantwortung der Studierenden als auf bestimmte Verzichtsempfehlungen seitens der Universitätsverwaltung zu setzen. Einig waren sich alle Beteiligten darüber, dass bestimmte Kostüme (beispielsweise Turban, Federschmuck, Gesichtsbemalung) die Stereotypisierung nicht-westlicher Kulturen bedeuten und somit Angehörige dieser Kulturen verletzen könnten. Der Dissens betraf eher das Plädoyer der Eheleute Nicholas und Erika Christakis, den jungen Erwachsenen in dem von ihnen geleiteten Wohnheim zuzutrauen oder gar zuzumuten,
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132 HENNING NÖRENBERG die Entscheidung für ein bestimmtes Kostüm verantwortungsbewusst selbst abzuwägen, ein eventuelles Sich-gestört-Fühlen durch bestimmte Kostüme souverän zu ignorieren oder die so Kostümierten anzusprechen und im Gespräch mit ihnen die hier relevanten sozialen Normen weiter auszuhandeln: Haben wir den Glauben an die Fähigkeit junger Leute – Eure Fähigkeit – verloren, selbst abzuwägen, indem Ihr soziale Normen aushandelt, und ebenso an Eure Fähigkeit, Dinge zu ignorieren oder zurückzuweisen, die euch stören?3
Inwiefern die in dieser rhetorischen Frage verpackte Ermunterung zum diskursiven Aushandeln des Zusammenlebens bei einigen der so angesprochenen Studierenden auf Zustimmung gestoßen ist, bleibt schwer auszumachen. Die ungleich auffälligeren Reaktionen bestanden unter anderem darin, dass die Eheleute Christakis lautstark des Rassismus geziehen wurden, sowie in einer von hunderten Studierenden und Mitarbeitern unterzeichneten Forderung, sie aus ihren Tätigkeiten und ihrer Wohnung auf dem Campus zu entfernen.4 Warum? Das Plädoyer für die Eigenverantwortlichkeit sowie die darauf folgenden Versuche der beiden, ihr Anliegen sachlich zu erklären, hätten von den Studierenden verlangt, die Demütigung durch „verletzende Stereotypen“, die eine bestimmte Kostümwahl mit sich bringe, „und die Gewalt, die daraus erwächst, [zu] ignorieren.“5 Dies laufe, so einige hundert Studierende in einer diesbezüglichen Email, letztlich darauf hinaus, „unsere Existenzen auf dem Campus […] für ungültig zu erklären“.6 Gerade als Leiter des Wohnheimes würden sie mit der Ermutigung zum eigenverantwortlichen Lösen von bestimmten Problemen ihre Fürsorgepflicht verletzen und die damit einhergehende Autorität missbrauchen. Studierende, die die Positionen der Christakis’ offen verteidigten, berichten später von Einschüchterungsversuchen durch die andere Seite.7 Dieses Beispiel ist kein Einzelfall, sondern folgt einem Muster, das sich beispielsweise an angelsächsischen Hochschulen öfter beobachten lässt: Junge Erwachsene zeigen sich schockiert angesichts von Sachverhalten, die bis vor kurzem noch im Rahmen eines allgemeinen Konsenses akzeptiert schienen: Menschen zuzutrauen,
SPALTUNG ODER EIN NEUER ABSOLUTISMUS? 133 bestimmte Probleme selbst zu lösen (Yale) oder sich nicht aufgrund seines ethnischen Hintergrundes vom Campus verweisen zu lassen (Evergreen).8 Sie berufen sich dabei auf ihr Erleben, genauer gesagt darauf, dass sie derartige Sachverhalte als Verletzungen erleben und sich selbst als Opfer von mehr oder weniger bewusster Verletzung und Unterdrückung. Diejenigen, die in diesem Erleben die Täter darstellen, sollen dann sanktioniert werden, was zumeist als Kündigungsforderung artikuliert wird. Appelle, sich in der Sache nicht nur auf das eigene Erleben zu berufen, sondern auch andere Perspektiven einzubeziehen, werden in dieser Perspektive als Versuche zur Diskreditierung jenes eigenen Erlebens verstanden und gelten als nahtlose Fortsetzung der vorhergegangenen Verletzungen und Unterdrückungen. Da sich die Hochschulen im angelsächsischen Raum zu einem großen Teil durch Studiengebühren finanzieren, kommen die Verwaltungen in einer Art Dienstleistungsmentalität den Forderungen der Studierenden nach Sanktionen zuletzt oft nach, sofern dies juristisch machbar ist.9 Dies wirkt sich nicht nur dynamisch auf das Statusbewusstsein von allen Beteiligten aus, sondern bewirkt auch, dass das, was hier als Unterdrückung, Rassismus, Hass verstanden wird, Bedeutung und Legitimierung über den konkreten Erlebniszusammenhang hinaus erhält: Wie immer man zu den genannten und ähnlich gelagerten Beispielen stehen mag – sie lassen sich aufgrund ihrer Häufung, ihrer Eigendynamik sowie der Schwere ihrer Konsequenzen nicht als vorübergehende Idiosynkrasien junger Erwachsener abtun. Es handelt sich vielmehr um Bildungserlebnisse einer zukünftigen Elite, die ihren Weg in politische Ämter, Aufsichtsräte, Gerichte, wissenschaftliche Kommissionen, Rundfunkanstalten und Zeitungsredaktionen finden wird. In seinem Buch The Disuniting of America aus dem Jahre 1991 nimmt der Historiker Arthur M. Schlesinger viele Aspekte der angesprochenen Entwicklung vorweg, indem er sie als wahrscheinliche Konsequenzen aus den in seiner Gegenwart beobachtbaren Tendenzen ableitet. Im Verlauf ihrer Geschichte, zu der neben einer auf humanistischen Fortschritt hin angelegten Verfassung nicht zuletzt auch grausame Verbrechen gegen die indigene Bevölkerung wie auch gegen die verschleppten und versklavten Afrikaner und
134 HENNING NÖRENBERG deren Nachkommen, aber auch damit einhergehende Lernprozesse gehören, habe sich in den USA, so Schlesinger, ein besonderes Modell des Zusammenlebens als eine Nation entwickelt: Diversität als Quelle einer „assimilierende[n] und einheitsstiftende[n] Kultur“, die Menschen unterschiedlicher Ethnien miteinander verbinden könne.10 Dieses Modell sei zwar nicht fehlerfrei, sondern angewiesen auf korrigierende Impulse, wie etwa der lange Kampf der AfroAmerikaner um Gleichberechtigung zeige, aber es enthalte die wichtigsten Ressourcen für die Entwicklung und den Ausbau eines friedlichen und fairen Zusammenlebens. Umso alarmierender erscheinen für Schlesinger die Tendenzen seiner Zeit, dieses Modell durch eine in seinen Augen übermäßige Neuthematisierung von kollektiven Identitäten „unterhalb“ jener einheitsstiftenden Kultur, beispielsweise durch ethnische, religiöse, sexuelle Zugehörigkeiten, radikal in Frage zu stellen. Er beschreibt diese Tendenzen unter anderem anhand von Phänomenen, die der Struktur nach dem Eingangsbeispiel sehr nahekommen: die Selbstidentifikation von Studierenden mit kollektiven Identitäten, die auf manchem Campus einer gelebten Segregation nach ethnischem Hintergrund und sexueller Orientierung gleichkomme,11 die Debatte darum, ob bestimmte Rollen nicht nur von Menschen mit geeignetem ethnischen Hintergrund gespielt, bestimmte Regiearbeiten nicht nur von people of color ausgeführt werden könnten,12 und vieles mehr. Wenn Schlesinger derartige Tendenzen unter dem Begriff „Multikulturalismus“ kritisiert, ist damit kein Plädoyer gegen Diversität intendiert, sondern eher die gegenseitige und zumeist konfliktträchtige Überbetonung von kollektiven Identitäten, die die gemeinsamen Grundlagen für das Zusammenleben unter Bedingungen der Diversität gerade zunichtemachen würden: Selbsternannte „Multikulturalisten“ sind allerdings sehr häufig ethnozentrische Separatisten, die jenseits westlicher Verbrechen nur wenig im westlichen Erbe zu erblicken vermögen. Die westliche Tradition ist in ihrer Sichtweise inhärent rassistisch, sexistisch, „klassistisch“ und hegemonisch; unverbesserlich repressiv, unverbesserlich unterdrückerisch. Die Ausbreitung der westlichen Kultur geschah nicht aufgrund einer ihr eigenen Qualität, sondern einfach im Zuge der Ausbreitung der politischen Macht des Westens.13
SPALTUNG ODER EIN NEUER ABSOLUTISMUS? 135 Eine solche Sichtweise, so Schlesinger, übersehe nicht nur die Kraft der westlichen Kultur, eine hohe Diversität an konkreten kulturellen Ausprägungen und den darauf basierenden Ansichten und Interessen langfristig zu integrieren. Sie übersehe auch die der westlichen Kultur inhärenten Ressourcen zur Selbstkritik, durch die es erst möglich werde, Rassismus, Sexismus und Ähnliches als Probleme in der eigenen Kultur zu benennen und mögliche Lösungen zu suchen. Mit anderen Worten, ohne solche Ressourcen könnte man Rassismus, Sexismus und dergleichen zwar „den Anderen“ im Sinne eines „wir gegen die“ vorwerfen, wäre aber nicht in der Lage zu erkennen, inwiefern man selbst Teil des jeweiligen Problems sei. Ohne es sich einzugestehen, zehren jene „Multikulturalisten“, die im Fokus von Schlesingers Kritik stehen, bei der Formulierung ihrer Anliegen in der Hauptsache von der europäischen Intellektualkultur, von der sich beispielsweise Marx, Derrida, Fanon oder Foucault ebenso wenig lösen können wie etwa Hegel, Heidegger, Sartre oder Nietzsche. Diese nicht eingestandene Berufung auf die europäische Intellektualkultur bei ihrer gleichzeitigen Verdammung als „inhärent rassistisch, sexistisch“ usw. führt laut Schlesinger zu absurden Effekten, die es erschweren, jenes Projekt als Ressource zur rationalen Selbstkritik des Westens zu verstehen.14 Schlesinger sieht diese Tendenzen auf eine Spaltung der USamerikanischen Gesellschaft in verschiedene Kollektive zulaufen. Diese Kollektive definieren sich nicht primär durch gemeinsame Interessen, wie man es auf der Grundlage eines arendtianischen Modells von Gemeinschaftsbildung annehmen würde. Vielmehr definieren sich jene Kollektive vorrangig durch Merkmale, an denen die Träger dieser Merkmale – von einigen Ausnahmen abgesehen – so gut wie nichts ändern können: ethnischer Hintergrund, Geschlecht, sexuelle Orientierung, ja sogar die Selbstidentifikation mit einem bestimmten Geschlecht, insofern diese ebenfalls eher als etwas Notwendiges denn dem Belieben des jeweiligen Individuums unterliegend verstanden wird. Um ein Missverständnis zu vermeiden: Die Interessen eines Individuums unterliegen in vielerlei Hinsicht ebenso wenig dessen Belieben. Allerdings spielen Faktoren wie Lebensgeschichte und Lebensführung hier ebenfalls eine
136 HENNING NÖRENBERG wichtige Rolle, wohingegen solche Faktoren keinerlei Einfluss darauf haben, welcher ethnische Hintergrund oder welches Geschlecht konkret vorliegen. Vor diesem Hintergrund ergibt es einen relevanten Unterschied, ob sich ein Kollektiv primär über gemeinsame Interessen definiert oder über ein gemeinsames Merkmal, aus dem dann quasimarxistisch das objektive Interesse des Kollektivs abgeleitet wird. Spaltung würde vor diesem Hintergrund bedeuten, dass sich die Gesellschaft in Gruppen mit tendenziell unverhandelbaren, da „objektiv“ festgelegten Interessen fragmentiert, denen allen es dann jeweils um Sein oder Nichtsein gehen muss. Dies würde auch einen Teil der Verhärtung bei Konflikten wie dem auf dem Campus von Yale erklären können. In diesem Fall, so Schlesinger, „wäre die Republik tatsächlich in ernsthaften Schwierigkeiten“.15 So schlimm werde es aber nicht kommen, da die von Schlesinger herangezogenen demographischen Statistiken die Tendenzen der unterschiedlichen Ethnien zur Assimilation an die US-amerikanische Gesellschaft zeigen.16
Neue Regeln statt Spaltung? Dreißig Jahre nach Schlesingers Diagnose stellt sich allerdings die Frage, ob das Modell der Spaltung einer Gesellschaft nicht einen oder mehrere wichtige Aspekte unterbelichtet lässt. Die Implikationen der gesellschaftlichen Spaltung – „Balkanisierung“ als Tendenz zu schwer entschärfbaren, oft in Gewalt mündenden Konflikten zwischen gesellschaftlichen Gruppen oder „Tribalismus“ als Tendenz, das eigene Kollektiv im Recht zu sehen, weil es das eigene Kollektiv ist – sind freilich ohne jede Frage schlimm. Allerdings scheint vor dem Hintergrund einer ganzen Reihe weiterer Beispiele der angegebenen Sorte auch die Frage erwägenswert, ob nicht im Zuge der Spaltung eher neue Regeln und Maßstäbe zur Entscheidung von gesellschaftlichen Konflikten die zuvor geltenden nach und nach ersetzen. Wo Schlesinger tendenziell ein „Gruppe gegen Gruppe“ und den Verlust der staatlichen Einheit sieht, könnten sich
SPALTUNG ODER EIN NEUER ABSOLUTISMUS? 137 – zumindest mittelfristig – auch neuartige, über weite gesellschaftliche Gruppen hinweg akzeptierte Strategien zur Legitimation und Verteidigung politischer Macht durchsetzen. Bevor ich diese Möglichkeit begrifflich genauer fasse, möchte ich zur Veranschaulichung des Gemeinten ein Beispiel heranziehen, das nicht aus den USA, sondern aus einem europäischen Kontext stammt. Im Jahre 2016 wies die Journalistin Paulina Neuding auf das sehr konkrete und sehr gut recherchierte Problem hin, dass in Schweden eine Reihe von Stadtbibliotheken vorübergehend geschlossen werden mussten, weil jugendliche Gangs aus Eingewanderten und ihren direkten Nachkommen das (überwiegend weibliche) Personal wie auch unter anderem ältere Nutzerinnen und Nutzer mit Gewalt bedrohten oder sogar tätlich angriffen.17 Die Thematisierung des Problems war jedoch zunächst weniger erfolgreich, da verantwortliche Politiker wie der Stockholmer Kommunalrat für Kulturangelegenheiten Roger Mogert erst diskutieren wollten, inwiefern Leute, die monieren, dass es in den Bibliotheken nicht mehr so „still“ („tyst“) sei wie früher, als Schweden noch eine weniger offene Gesellschaft war, nicht auch fremdenfeindliche Untertöne transportierten.18 Was also der einen eine Bedrohung durch gewaltbereite Jugendgangs ist, kann vom anderen im Zusammenhang mit bestimmten Gruppenmerkmalen dieser Gangs – Faustschläge ins Gesicht hin oder Todesdrohungen her – als Störung revisionsbedürftiger Vorstellungen von Ruhe in einer Bibliothek gedeutet werden. Dass Mogert diese Relativierungsstrategie im Ernst überhaupt länger als eine Minute durchhalten kann, könnte ein Indiz für die höhere „Kreditwürdigkeit“ der von ihm vertretenen Perspektive in dem genannten Kontext sein. Was soll das heißen? Wenn dieses und die zuvor genannten Beispiele für eine dominante Tendenz nicht nur in der US-amerikanischen, sondern den westlichen Gesellschaften im Allgemeinen stehen, dann würde das bedeuten, dass die Regeln, nach denen diese Beispiele ablaufen, mehr und mehr gesamtgesellschaftliche Akzeptanz gewinnen.19 Eine dieser Regeln besagt, dass einer Person, die qua Kollektivzugehörigkeit in den Augen der Diskursteilnehmer nachvollziehbar gesellschaftlich benachteiligt, unterprivilegiert oder gar unter-
138 HENNING NÖRENBERG drückt erscheint, die in diesem Sinne also eine Opferrolle einnimmt, erst einmal mehr Glauben zu schenken ist, wenn sie versucht, ihre Perspektive geltend zu machen, als einer Person, die sich aus einer Position vermeintlicher gesellschaftlicher Stärke heraus äußert. Diese Regel lässt sich als eine Antwort auf Erfahrungen der Vergangenheit verstehen, in der der Perspektive vieler aufgrund ihrer jeweiligen Hautfarbe, Sexualität oder Herkunft benachteiligter Personen zweifellos zu wenig Gehör geschenkt wurde. Dem Abhilfe schaffen zu wollen, ist ohne Frage ein berechtigtes wie ehrenwertes Anliegen. Allerdings läuft, wie ich im Folgenden zeigen möchte, dieser Antwortversuch letztlich auf eine hyperbolische Moraltheorie hinaus, in der nicht zuletzt auch jene Arten von Gründen vernachlässigt werden, die mit konkreten gemeinsamen Situationen zu tun haben wie auch mit dem Umstand, dass Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven die Welt miteinander teilen. Ob und inwieweit sich diese These von einem Umbruch der gesamtgesellschaftlich akzeptierten Regeln zur Entscheidung von Konflikten über die in jenen Beispielen beobachtbare Tendenz hinaus auf wissenschaftlich-empirische Weise belegen lässt, ist eine Frage für die soziologische Forschung. Im Zusammenhang meiner Überlegungen kann ich diesen Umbruch nicht anders denn als Hypothese formulieren, die aber immerhin dem in vielen Debatten leider aus der Mode gekommenen Falsifikationskriterium genügen dürfte. Das Argument, das sich im Rahmen meines Kompetenzbereiches hervorbringen lässt, bezieht sich auf die Binnenlogik eines bestimmten Denkmodells, das die an den genannten Beispielen ablesbare Tendenz zu bestimmen scheint. Ich fasse dieses Denkmodell unter dem vielleicht etwas polemisch klingenden Namen „Absolutismus des Anderen“.
Der Absolutismus des Anderen Der Absolutismus des Anderen ist ein nicht mehr ganz so neues Denkmodell der politischen Ethik, das eine asymmetrische soziale Beziehung zur Grundlage für die Bestimmung von Verantwortung und Solidarität erklärt. Es ist entworfen worden als Antwort auf
SPALTUNG ODER EIN NEUER ABSOLUTISMUS? 139 bestimmte Probleme, mit denen moderne Gesellschaften sich konfrontiert sehen, so zum Beispiel die Dominanz instrumenteller Rationalität, Schwund gemeinsamer Werte oder Konformismus. Die Grundthese des Absolutismus des Anderen lautet, dass das moderne ethisch-politische Subjekt und dessen Verantwortung für seine Mitmenschen aus der Beziehung des Ich zum absoluten Anderen verstanden werden müssen. Diese Beziehung kann als eine spezifische Weise der Zugehörigkeit zum anderen Menschen genauer charakterisiert werden, wobei dieser andere Mensch eine geradezu heilig zu nennende Autorität über das Subjekt ausübt. Obwohl es im ersten Moment paradox klingt, soll die Autorität des Anderen ihren Grund in eben jenem Umstand haben, dass der andere Mensch als Opfer eines gewaltsamen Egoismus erscheint. Als Exponenten dieses Denkmodells können die religiös inspirierten Philosophen Emmanuel Levinas, Jacques Derrida, John D. Caputo oder Giorgio Agamben gelten. Ebenso kommt allerdings auch der protestantische Theologe Friedrich Gogarten als Vertreter einer frühen, im gegenwärtigen Kontext jedoch nicht weniger aufschlussreichen Variante des Absolutismus des Anderen in Frage, worauf an späterer Stelle genauer eingegangen werden soll. Zwischen den Positionen der genannten Denker bestehen natürlich wichtige Unterschiede, und keine von ihnen ließe sich ausschließlich auf den Absolutismus des Anderen reduzieren. Dennoch findet sich bei allen an mehr oder weniger zentraler Stelle ein Bekenntnis zur moralisch verbindlichen Autorität des Anderen, die sich daraus speist, dass der Andere als unterdrückt durch gesellschaftliche Strukturen erscheint, als deren Komplize sich das ethisch-politische Subjekt erkennen soll. Levinas drückt dies beispielhaft so aus: Die Kränkung ereignet sich […] als das eigentliche Urteil, wenn sie mich im Antlitz des Anderen ansieht und anklagt – die eigentliche Epiphanie des Anderen besteht aus dieser Kränkung, die er erlitten hat, sie besteht aus seinem Stand als Fremder, Witwe, Waise.20
Diese „Epiphanie des Anderen“ spielt eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, wie das ethische oder politische Subjekt Gründe und Motive dafür erhält, zu Gunsten von anderen zu han-
140 HENNING NÖRENBERG deln. Jenes Subjekt wird nämlich zunächst im Sinne einer klassischen Modernitätskritik als dem Programm einer zerstörerischen egoistischen Selbstbehauptung verfallen verstanden, was die Notwendigkeit einer „Umkehr“ oder „Läuterung“ dieses Subjekts impliziert. So wie Schlesinger nicht umhinkommt zuzugeben, dass sich das, was er unter dem Begriff „Multikulturalismus“ fasst und kritisiert, auf realexistierende Probleme wie Rassismus, Sexismus, Diskriminierung oder gar Verfolgung von Minderheiten antwortet, würde ich im Zusammenhang mit dem Absolutismus des Anderen sagen, dass die Kritik an der egoistischen Selbstbehauptung tatsächliche Problemlagen moderner Massengesellschaften trifft. Es geht hierbei unter anderem um ein Übergewicht der instrumentellen Rationalität zur Steigerung der Produktivkräfte, in deren Zuge die Welt auf einen prinzipiell beherrschbaren Mechanismus reduziert wird, um eine gewisse Unverbindlichkeit im Interesse des Offenhaltens eines Maximums an Möglichkeiten und um die Tendenz, den Lebenssinn eher in dem zu finden, was man aktiv in die Welt projiziert, und weniger in dem Gegebenen, das man und in dem man sich vorfindet. Auch die Tendenz zum Konformismus, die in einem eigentümlichen Zusammenhang mit den zuvor genannten Tendenzen steht, wird von den Vertretern des Absolutismus des Anderen meines Erachtens korrekt gesehen und zu Recht kritisiert. Doch ähnlich wie Schlesinger das von ihm gemeinte Modell des „Multikulturalismus“ sozusagen als verfehlte Antwort auf eine berechtigte Frage kritisieren möchte, würde ich den Absolutismus des Anderen als einen letztlich nicht tragfähigen Lösungsvorschlag zu einem in weiten Strecken korrekt identifizierten, wenn auch zum Teil einseitig beschriebenen Problem ansehen. Die Frage danach, wie dem etwas einseitig beschriebenen Subjekt egoistischer Selbstbehauptung nachhaltig Grenzen aufgezeigt werden können und wie es zur Verantwortung für andere gerufen werden kann, gibt den Startschuss für die Suche nach einem absolutum mit ethisch-politischen Implikationen. In dieser Perspektive wird die „wahre“ souveräne Selbstbehauptung nicht länger im egoistischen Subjekt verortet, sondern im Antlitz eines anderen Menschen, der als das nämliche Opfer dieses gewaltsamen Egoismus
SPALTUNG ODER EIN NEUER ABSOLUTISMUS? 141 erscheint. Das Antlitz seines Opfers behauptet gegen das Ego einen Anspruch auf unbedingte Solidarität. Das Ego selbst muss sich in Scham als Verfolger erkennen: Die Rede und das Begehren, in denen der Andere als Gesprächspartner gegenwärtig ist, als derjenige, dem gegenüber ich nicht können kann, den ich nicht töten kann, bedingen diese Scham; in der Scham bin ich als Ich keine unschuldige Spontaneität, sondern Usurpator und Mörder.21
Dieses ganze Setting ist so angelegt, dass es auf ein Schuldeingeständnis des egozentrischen Subjekts gegenüber dem Anderen hinausläuft. Auf der Grundlage dieses Schuldeingeständnisses soll sich – in Analogie zum religiösen Bekehrungserlebnis – die ethischpolitische Neukonstitution des Subjekts nach den Maßstäben „echter“ Gemeinschaft und „echter“ persönlicher Verantwortung vollziehen. Dies ist das Leitmotiv des Absolutismus des Anderen, das sich durch alle Variationen zieht. Bereits Friedrich Gogarten expliziert das Grundphänomen des Ethischen, das Vernehmen des „Du sollst“, als Ausdruck einer göttlichen Macht, welcher der Mensch „schlechthin hörig“ sein soll.22 Diese Macht zeige sich allerdings weniger in Beziehungen des Vertrauens, des Vergebens, der Treue oder der Liebe als vielmehr in der Beziehung der Schuldigkeit und dem entsprechenden Gefühl des „Zunichtewerdens“ vor dem Anderen als Zeugen – und zugleich als Opfer – meiner Verfehlung.23 Auf dem hier anvisierten Schuldgefühl soll letztlich die Evidenz einer immer schon vorliegenden, aber oft nicht bewussten und somit leicht zu verfehlenden, „schlechthinnigen“ Hörigkeit gegenüber dem Anderen basieren. Unabhängig von Gogarten – und abgesehen von allen sonstigen Differenzen – verfolgen Emanuel Levinas, Jacques Derrida und John D. Caputo in dieser Hinsicht ein ganz ähnliches Projekt: Die Selbstgenügsamkeit des Subjekts soll radikal erschüttert werden, um so einen letzten Rest an harter Realität auszuweisen, der sich nicht zur weiteren Selbstbehauptung instrumentalisieren ließe (wie es dem Ironiker vielleicht noch möglich wäre), sondern im Gegenteil als die Quelle einer unhintergehbaren Evidenz für die Gebundenheit des verantwortlichen Subjekts an die Ansprüche des Anderen in Betracht käme. Als Grundphänomen des Ethischen gilt hier
142 HENNING NÖRENBERG die katastrophale Scham, die einen Verstoß gegen das Gewissen bezeugt und seitens des Subjekts ein derart umfassendes Schuldbewusstsein motiviert, dass es die Ansprüche des Anderen kritiklos als immer schon gerechtfertigt hinnimmt. Ich zitiere exemplarisch aus Totalität und Unendlichkeit: „Der Empfang des Anderen ist ipso facto das Bewußtsein meiner Ungerechtigkeit – die Scham der Freiheit über sich selbst.“24 Der Andere wird im Rahmen dieses Diskurses nicht als ein ebenbürtiger Mitspieler des Subjekts aufgefasst, als einer, der mit dem Subjekt eine gemeinsame Welt teilt und mit ihm auf der Basis einer prinzipiellen Gleichheit um die Initiative ringt, so wie man dies etwa mit Hannah Arendt oder Jan Patočka denken könnte. Der Andere, der Mitmensch, wird vielmehr, wann immer es um ein ethisch relevantes Verhältnis gehen soll, als absolut transzendent vorgestellt und fasziniert allein in der Rolle des Opfers als numinoses Objekt. Dem Beharren auf dem sakrosankten Status des Anderen entspricht dabei eine systematische Entmündigung des Subjekts. Das Ich ist dem Anderen „schlechthin hörig“, eine „Geisel“25 des Anderen, „on the receiving end of a command, dominated by its transcendence, blinded by its power“26. Das Subjekt, das zunächst ausschließlich durch seine autarke Selbstbehauptung definiert worden war, kann nun überhaupt keine Eigeninitiative mehr ergreifen, ohne sich dem Anderen gegenüber radikal schuldig zu fühlen. Vor diesem Hintergrund kann die Freiheit des Subjekts ihren einzig möglichen Ausdruck nur noch in einer Affirmation der Schuldigkeit in Bezug auf die Forderung des Anderen finden,27 so dass es einzig und allein darum geht, den Ansprüchen des Anderen so nachzukommen wie man einen „Befehl“ ausführt.28 Dabei sollen die Ansprüche des absolut Anderen das Ego zu einer selbstlosen Güte (générosité) aufrufen.29 Sie gelten per se als legitim, wie maßlos sie auch sein mögen, und allein schon der Versuch, zwischen angemessenen und unangemessenen Ansprüchen kritisch zu unterscheiden, gilt demgegenüber als gewalttätige Selbstbehauptung.30
SPALTUNG ODER EIN NEUER ABSOLUTISMUS? 143 Dieser Blick, der bittet und fordert – der nur bitten kann, weil er fordert, dem alles mangelt, weil er ein Recht hat auf alles, den man anerkennt, indem man gibt (so wie man ‚die Dinge in Frage stellt, indem man gibt’) – dieser Blick ist nichts anderes als die Epiphanie des Antlitzes als Antlitz.31
Da ein Begriff wie der der Klugheit offenbar einseitig jener Form der Rationalität zugeschlagen wird, die der egoistischen Selbstbehauptung des Subjekts in die Hände spielt, kann man jene unkritische, selbstlose Güte konsequenterweise nur noch als „primordiale Unklugheit“32 oder gar als „Wahn“33 bezeichnen. Kurz: „Echte“ Verantwortung wird hier letztlich als ein willfähriges Erfüllen der Ansprüche des numinosen Anderen gefasst: „Den Anderen anerkennen – heißt geben.“34 Damit formuliert der Absolutismus des Anderen eine hyperbolische Ethik, in der Gründe systematisch unberücksichtigt bleiben, die mit der konkreten gemeinsamen Situation zu tun hätten oder auch nur mit dem Umstand, dass mehrere Menschen die Welt miteinander teilen.
Implikationen für die politische Ethik Wenn ich das in seinen Grundzügen skizzierte Denkmodell als „Absolutismus des Anderen“ bezeichne, so ist das Wort „Absolutismus“ im übertragenen Sinne gemeint. Man denkt bei diesem Wort oft an eine Herrschaftsform, die sich durch bestimmte Merkmale auszeichnet: Der Herrschende ist losgelöst – absolutus – von den Gesetzen, und zwar gerade um seiner moralisch bedeutsamen Aufgabe, für Recht und Ordnung zu sorgen, nachkommen zu können. Das ist die Grundidee der Souveränität, wie sie in der Neuzeit unter anderem von Thomas Hobbes entwickelt worden ist.35 Der Souverän erhält dadurch die Autorität, Agent eines höheren Guts zu sein, das seine Grundlage außerhalb der Welt der Menschen hat und eben in diesem Sinne als absolut gedacht werden soll. Diese Autorität soll er dazu gebrauchen, die Untertanen zu disziplinieren, die im Rahmen dieser Vorstellung ansonsten als Einzelkämpfer im beständigen „Krieg aller gegen alle“ stehen und zum gewaltsamen Missbrauch ihrer Freiheit neigen würden. Die Disziplinierung geschieht dabei im Hinblick auf harmonistische Ideale von Gerechtigkeit und Gemeinschaft: Gerechtigkeit ist dann letztlich
144 HENNING NÖRENBERG die Selbstbeherrschung im Ausleben der eigenen Freiheit im Interesse eines gemeinschaftlichen Friedens, der im Extrem als eine Art Totenstille vorgestellt wird: Alles, was in der Beziehung zwischen Menschen nicht selbstverständlich ist, sondern explizit verhandelt werden muss, gilt dann nicht nur als zu lösendes Problem, sondern als verurteilungswürdige Störung der Eintracht. Der Absolutismus des Anderen ist nun in erster Linie kein Entwurf für eine Staatsverfassung – glücklicherweise, möchte man vielleicht sagen. Zunächst einmal ist er eine bestimmte Theorie darüber, • • • •
wie die Menschen sind: nämlich egoistisch; was das Grundprinzip ihres üblichen Zusammenlebens ist: nämlich Konflikt; was stattdessen sein soll: nämlich harmonische Eintracht mit dem/der/den Anderen; was erforderlich ist, um die Menschen dementsprechend zu disziplinieren: nämlich gewissensmäßige Überwältigung durch die Autorität des Anderen.
Im Unterschied zum real existierenden Absolutismus gewinnt der Andere seine Autorität nicht durch Staatsverträge und stehende Heere oder durch sonst irgendeine Waffe. Das Überwältigungsmoment besteht gerade darin, dass der Andere als Opfer des egoistischen Selbst erscheint, es damit in eben diesem Egoismus ertappt und zugleich am wirkungsvollsten anklagt. Insofern ist der Absolutismus des Anderen erst einmal „nur“ eine Auffassung über das moralische Verhältnis zwischen dir und mir. Allerdings haben viele Verfechter dieses Denkmodells in der Tat daraus auch unübersehbare Konsequenzen für ihre politischen Auffassungen gezogen. Hierbei ist zu beachten, dass sich unter dem Gesichtspunkt politiktheoretischer Implikationen die meisten Variantenbildungen dieses Denkmodells ausmachen lassen. Einig sind sich die zuvor genannten Exponenten noch darin, dass die von mir skizzierte Asymmetrie zwischen Alter und Ego nicht nur eine diskutierbare Hypothese zur Sozialontologie sein soll, sondern vor allem auch normativ gemeint ist: Hörigkeit ist und soll sein; das Zusammenleben der Menschen soll sich auf der Grundlage einer Sensibilität für
SPALTUNG ODER EIN NEUER ABSOLUTISMUS? 145 den erschütternden (und beschämenden) Einbruch des Anderen gestalten. Dieses grundsätzliche Ideal der Gemeinschaftsbildung ist die Invariante in den politischen Implikationen des Absolutismus des Anderen. Freiheit als die Möglichkeit, mit Ebenbürtigen um die Gestaltung der gemeinsamen Situation zu ringen, würde vor dem Hintergrund dieses Gemeinschaftsideals nur stören. Die Differenzen setzen ein, wenn es zur konkreteren Ausgestaltung dieses Ideals kommt. In Friedrich Gogartens Politischer Ethik von 1932 soll die Theorie der Hörigkeit noch begründen, warum es notwendig ist, sich in einen homogenen Volkskörper unter der drohenden Zwangsgewalt des Obrigkeitsstaats einzuordnen.36 Genauer gesagt soll Gogartens Version des Absolutismus des Anderen ein tieferes Verständnis dafür wecken, dass homo homini lupus est. Da Gott den Menschen so geschaffen hat, daß er sein Leben im Vom-Andern-her- und Für-den-Andern-da-sein hat, so ist es schon um des äußeren, zeitlichen Bestandes des Menschen willen nötig, daß dieses Vom-Andernhersein und Für-den-Andern-da-sein wenigstens äußerlich gewahrt bleibt. Oder anders herum gesehen, daß dem Haß und dem Gegeneinandersein der Menschen Schranken errichtet werden, so daß es nicht zum Äußersten kommt und die Menschen sich gegenseitig zerstören und verzehren (Gal. 5,15). Diese Schranken werden aufgerichtet im Staat.37
Unter diesem Gesichtspunkt wird dem Ansatz, nach dem die Erhaltung von Recht und Ordnung im Staatsvolk allein durch die Obrigkeit gesichert wird, so viel Kredit verliehen, dass jede kritische Distanz zur Obrigkeit wie eine Art Ruhestörung wirken muss. Die Obrigkeit wird gedacht als Bollwerk gegen die Tendenzen des Subjekts zum Bösesein, die in der Grunderfahrung des Ethischen aufgedeckt werden, und daher erscheint die Obrigkeit als solche als etwas Gutes. Das Hauptproblem dieses politisch-ethischen Ansatzes ist, dass er weitgehend blind beziehungsweise wehrlos ist gegenüber der Möglichkeit, dass die staatlichen Obrigkeitsstrukturen auch von Menschen in verbrecherischer Absicht missbraucht werden können. Angesichts dieser Möglichkeit bietet Gogartens Theorie relativ wenig kritisches Potential.38 Dies ist gewiss nicht das Problem von späteren, postmoderneren Versionen des Absolutismus des Anderen wie denen, die etwa
146 HENNING NÖRENBERG von Levinas, Derrida, Caputo oder Agamben vorgeschlagen wurden. Ihre Ansätze sind nachhaltig geprägt durch die entsetzlichen Erfahrungen des Totalitarismus. Diesen Autoren geht es selbstverständlich nicht mehr um die Integration in eine homogene Staatsgemeinschaft. Der Andere erscheint mehr und mehr als der „Fremde“, als derjenige, der aus der Gemeinschaft derer, die vom Staat beschützt werden, gewaltsam ausgeschlossen worden ist.39 Die durch den Anderen hervorgerufene Scham wird hier nicht, wie das noch bei Gogarten der Fall ist, zu einer Scheu vor der Obrigkeit sublimiert;40 der Scham wird eine neue Funktion zugewiesen. Bei Emmanuel Levinas wie auch bei Jacques Derrida hat die erschütternd beschämende Begegnung mit dem Anderen zunächst nur insofern eine politische Bedeutung, als sie dazu dient, das Subjekt aus der „Totalität“ der Staatsgemeinschaft herauszubrechen.41 Dieses Herausbrechen wird dann im weiteren Verlauf immer konsequenter als ein Akt der Befreiung aus den angeblich totalitären Strukturen westlicher Gesellschaften propagiert: „only a jewgreek god, only a god that smells, can save us now.“42 Ein gewisser Ethizismus, in dessen Perspektive sämtliche traditionellen politischen Institutionen als illegitim und gewalttätig erscheinen, ist unübersehbar. Demgegenüber geht Giorgio Agamben noch einen Schritt weiter. Die peinliche Begegnung mit dem anderen als dem Ausgeschlossenen und Verfolgten soll den bürgerlich-allzu-bürgerlichen Einzelnen daran erinnern, dass auch er selbst im nächsten Augenblick zum Opfer der willkürlichen Gewalt werden kann, die angeblich immer schon und immerzu von staatlichen Institutionen ausgehe. Der Andere als homo sacer wird hier buchstäblich zum Messias einer neuen Lebensform: Die wahre Gemeinschaft ist die derer, die aller bürgerlichen Rechte beraubt sind.43 Hier allein liege die „wahre“ Freiheit, denn als Träger bürgerlicher Rechte muss man sich schämen. Wofür? Man muss sich schämen für die gewaltsamen Exklusionsmechanismen, die mit der Setzung und Durchsetzung dieser Rechte verbunden sind.44 Der passive Widerstand gegen die angebliche Willkür des Staates ist dann das einzig verbindende Element dieser Gemeinschaft.45 Und mehr dürfen die Beteiligten auch gar nicht gemeinsam haben, da alles andere bereits als totalitäre Gesellschaft gilt.
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Warum der Absolutismus des Anderen ein Problem darstellt So etwas wie der hier vorgestellte Absolutismus des Anderen scheint auch das Grundmodell für den zuvor angedeuteten Umbruch der Regeln zur Entscheidung von Konflikten zu sein: Wo im – eigenen – westlichen Erbe nicht mehr und nichts anderes als die zweifellos furchtbaren Verbrechen des Westens zu sehen ist, erhöht sich vordergründig der Kredit für diejenigen, die im „Stand als Fremder, Witwe, Waise“ wahrgenommen werden, d.h. als Angehörige von Gruppen, die primär durch „objektive Interessen“ definiert sind, welche wiederum als durch die westliche Lebensweise „strukturell unterdrückt“ gelten. Ein für bestimmte Missstände mitverantwortlicher Politiker kann sich dann mit nicht unbeträchtlichen Erfolgsaussichten behaupten, wenn er das Problem in die dem Absolutismus des Anderen gemäße Richtung relativiert: Die mutmaßlich fremdenfeindliche Zumutung westlich tradierter Lärmvermeidungsregeln in Bibliotheken wiegt dann mindestens so schwer wie der tätliche Angriff auf Personal und Nutzerinnen und Nutzer. Ein Internatsleiter, der einen dem Absolutismus des Anderen gemäßen Umbruch der Regeln nicht mitmachen möchte, sondern darauf beharrt, auch die auf bestimmten, mutmaßlich objektiven Gruppeninteressen basierenden Ansprüche von Anderen nicht als per se legitim zu erachten, sondern kritisch zu hinterfragen, erntet lautstarken Protest usw. Trotz dieser hier schon deutlich erkennbaren problematischen Tendenzen ist es wichtig, jenen Umbruch der Regeln im Sinne eines Absolutismus des Anderen differenziert zu bewerten. Zunächst ist zu bemerken, dass einige begrüßenswerte Aspekte mit ihm einhergehen: Die Sensibilität der Mehrheitsgesellschaft gegenüber bislang wenig sichtbaren moralischen Problemen wird in bestimmten Bereichen gesteigert. So sind sicher viele in der Frage: „Wie vermeide ich Fehlverhalten am Arbeitsplatz“ aufmerksamer als noch vor zehn oder zwanzig Jahren, was bestimmte Formen von Mobbing oder Übergriffigkeit angeht, die vordem im Rahmen von durch traditionellere Männlichkeitsvorstellungen geprägte Macht- und Wahrnehmungsstrukturen seltener als moralisch problematisch
148 HENNING NÖRENBERG thematisiert wurden. Überdies verbindet sich mit dem Absolutismus des Anderen eine produktive Hermeneutik des Verdachts, die sich, besonnen angewendet, für das Projekt der Aufklärung nutzbar machen lässt, insofern sie wertvolle Impulse zur kritischen Infragestellung des Status quo gibt. So ist es beispielsweise prinzipiell wichtig und wertvoll, wenn sich die so genannte Mehrheitsgesellschaft die Frage stellt, ob ihrerseits uneingestandene Vorurteile gegenüber Angehörigen von Minoritäten bestehen, die dazu beitragen, dass letztere ihre Fähigkeiten nicht weit genug entwickeln und auf anerkennungswürdige Weise in die Gesellschaft einbringen können. Nicht zu unterschätzen ist auch der Wert der moralpsychologischen Einsichten, die der Absolutismus des Anderen vermittelt, vor allem die Lokalisierung des ethischen Grundphänomens in sozialen Beziehungen anstatt in abstrakt-autonomer Individualität. Selbst wenn man meine Einschätzung der genannten Punkte als begrüßenswerte Aspekte nicht teilen möchte, wird man sicher dennoch sehen, dass sie einen nicht unbeträchtlichen Teil der Erklärung für die offenbar hohe Anziehungskraft des Absolutismus des Anderen darstellen. Wer möchte sich schon gegen eine höhere moralische Sensibilität oder gar gegen die Aufklärung wenden? Dass man die eben geschilderten Aspekte aufgrund der hier nur angedeuteten Argumente grundsätzlich für begrüßenswert erachten sollte, ändert allerdings nichts daran, dass der Absolutismus des Anderen eine Art „Gesamtpaket“ ist, in das noch weitere Aspekte und Tendenzen eingehen, die meines Erachtens sehr kritisch zu sehen sind. Die Kritik am Absolutismus des Anderen betrifft verschiedene Ebenen, unter anderem die Ebenen der sachlichen Korrektheit, der moraltheoretischen wie auch der politiktheoretischen Implikationen. Auf der Sachebene ließe sich beispielsweise an die in meinen Augen an sich korrekte Beobachtung anknüpfen, nach der die Grundphänomene des Ethischen vor allem in sozialen Beziehungen zu suchen seien. Zu kritisieren ist jedoch die Einseitigkeit, mit der nur ein bestimmter Typ von sozialer Beziehung als ethisch relevant angesetzt wird: Allein die Beziehung zum anderen, die durch Scham und Schuldgefühle ausgezeichnet wird, scheint für
SPALTUNG ODER EIN NEUER ABSOLUTISMUS? 149 den Absolutismus des Anderen relevant zu sein. Was ist mit anderen Phänomenen, von denen gelegentlich die Rede ist, zum Beispiel Vertrauen, Vergeben, Versprechen, Loyalität, Konkurrenz oder Konflikt?46 Weisen sie nicht auf ein umfassenderes Verständnis menschlicher Sozialität hin wie auch auf einen komplexeren normativen Zusammenhang, der nicht auf die allgemeine Regel reduziert werden kann, den Ansprüchen des Anderen willfährig zu sein? Trotz einiger Konzessionen in dieser Hinsicht, wird diese Frage von den meisten Vertretern des Absolutismus des Anderen letztlich verneint: So wichtig es für die Ethik wäre, eine genauere Kenntnis der verschiedenen Beziehungen zwischen Menschen zu haben [gemeint sind u.a. Beziehungen des Vertrauens, der Liebe, des Gehorsams, des Vergebens, der Treue – H.N.], wir müssen in unserem Zusammenhang auf eine eigens darauf ausgerichtete Untersuchung verzichten und uns mit dem Aufzeigen des Grundsätzlichen und des Grundschemas dieser Beziehungen [das weiter oben erwähnte Hörigkeitsverhältnis – H.N.] genügen lassen.47 […] I myself hold that flesh is the seat and the site of pain and suffering, but no less of pleasure and joy […]. But my topic just now is disasters and obligation.48
Das Ergebnis dieses Ansatzes ist eine hyperbolische Moraltheorie, in der nicht zuletzt auch jene Arten von Gründen vernachlässigt werden, die mit konkreten gemeinsamen Situationen zu tun haben wie auch mit dem Umstand, dass mehrere Menschen die Welt miteinander teilen. Wo der gesamte normative Gehalt allein auf dem Schuldigsein (dem mutmaßlichen ethischen Grundphänomen) und den entsprechenden Rollenbeschreibungen für die Beziehung zwischen Ego und Alter basiert, dreht sich die Diskussion hauptsächlich darum, was aus dem Tätersein und dem Opfersein folgt. Dies sind zweifellos wichtige Fragen, aber die Frage nach angemessenen Zweck-Mittel-Verhältnissen, die ebenfalls wichtig zu sein scheint, kann im Rahmen dieses Denkmodells kaum sinnvoll gestellt werden. Dies ist so, weil hier immer schon feststeht, dass der Blick des Anderen „ein Recht auf alles“ hat und dass der Versuch, angemessene von unangemessenen Ansprüchen zu unterscheiden, bereits einen erneuten Versuch gewaltsamer Selbstbehauptung des Egos darstellt. Wie bereits angedeutet läuft die systematische Entmündigung des Subjekts auf den Verlust der kritischen Distanz zu jenen
150 HENNING NÖRENBERG Ansprüchen hinaus, die entweder vom Anderen selbst oder – in abgeleiteter Weise – in seinem Namen erhoben werden. Selbst wenn ein Vertreter des Absolutismus des Anderen dem Subjekt ein entsprechendes Recht zur Kritik großzügig in einer Randbemerkung, einer Fußnote oder in einem hinzugefügten Paragraphen in Zukunft einräumen wollte (denn die hier vorgetragenen Konsequenzen wird wohl kaum jemand guten Gewissens unterschreiben), so könnte er dem Subjekt wahrscheinlich keine theoretischen Mittel für eine kritische Auseinandersetzung mit den Ansprüchen des Anderen bereit stellen, da er letztlich kein systematisches Interesse an der Möglichkeit einer solchen Kritik hat. Im Zusammenhang mit diesem Problem stellt auch die von Levinas vorgeschlagene Kategorie des „Dritten“ meines Erachtens keine große Hilfe dar. Zwar ist trotz der unterschiedlichen und zum Teil sogar inkompatiblen Konkretisierungen, die diese Kategorie an verschiedenen Stellen in Levinas’ Werk einnimmt, deutlich erkennbar, dass mit dem Dritten ein zusätzliches Kraftfeld in die Beziehung zwischen Alter und Ego eingeführt und deren Beziehung dadurch etwas modifiziert werden soll. Damit scheint nicht zuletzt eine Abmilderung der Entmündigung des Subjekts anvisiert: Der Dritte soll den Horizont der Verantwortung des Subjekts erweitern, eine Art öffentliche Sphäre und Korrektiv ermöglichen. Dennoch geht es hierbei niemals um das Recht des Subjekts, eigene Ansprüche geltend zu machen, sondern bestenfalls um dessen Recht, zwischen den Ansprüchen zwei verschiedener Anderer zu richten.49 Ebenso problematisch ist, auf welche Weise die Dinge im Absolutismus des Anderen zurechtgelegt werden, damit das Subjekt wirksame Gründe und Motive für die favorisierte Form von Verantwortung und Solidarität erhält. Die „Machtfülle“ des Anderen, wenn ich so sagen darf, hat einen hohen Preis. In jedem „echt“ moralischen Verhältnis darf er – aus systematischen Gründen – allein als Opfer erscheinen. Nur so kann er die ihm zugedachte Rolle spielen und das seinen Selbstermächtigungstendenzen verfallene Subjekt durch katastrophale Scham erschüttern: „Das Seiende, das sich ausdrückt, setzt sich durch; aber es tut dies, indem es mich in seiner Not und seiner Nacktheit – in seinem Hunger – um Hilfe angeht, ohne daß ich für den Anruf taub sein könnte.“50 Dementsprechend
SPALTUNG ODER EIN NEUER ABSOLUTISMUS? 151 sind es die „Witwen und Waisen“, der „jewgreek“ oder der „homo sacer“, die im Mittelpunkt dieser politischen Ethik stehen. Wer nicht als Angehöriger einer durch objektive Merkmale definierten Gruppe auftritt, die ihre „Unterdrückung“ durch die westliche Lebensweise erfolgreich geltend machen kann, hat tendenziell eine geringere ethisch-politische Autorität. Allerdings wird im Rahmen dieses Versuchsaufbaus die Opferrolle instrumentalisiert und eine subtilere Form von Egozentrik maskiert. Damit ist gemeint, dass die absolute Verantwortung, die das Subjekt für den anderen haben soll, keinerlei Konzession an den Gedanken zu machen scheint, dass die Verantwortung, die der Andere für sich selbst hat, außerhalb der Kontrolle des Subjekts liegen könnte. Der Absolutismus des Anderen läuft nämlich unter anderem auch darauf hinaus, jene Disharmonien, die für eine Pluralität der Perspektiven charakteristisch sind, durch das Ideal der harmonischen Gemeinschaft absoluter Singularitäten zu überblenden. Letztlich ist allein das Subjekt verantwortlich für das Leid des Anderen, und darum kann (und muss) sich auch allein das Subjekt autorisiert und ermächtigt fühlen, dieses Leid aus der Welt zu schaffen. Bei derartigen Projekten zur Weltverbesserung kommt der Andere gerade nicht als ein ebenbürtiger Partner in Betracht. Um also die absolute Verantwortung für ihn auf Seiten des Subjekts hervorzurufen, muss der andere Mensch als Anderer die Rolle des unterdrückten Opfers annehmen – und darin bleiben. Im Absolutismus des Anderen wird das Verpflichtende hauptsächlich im unebenbürtigen Verhältnis der Schuld festgemacht und erhält, tendenziell, seine Dringlichkeit vor dem Hintergrund des Desaströsen. Im Rahmen dieses Denkmodells müssen Situationen, in denen sich Subjekt und Anderer zueinander als Ebenbürtige verhalten oder in denen sich kein spektakuläres Desaster andeutet, als ethisch weniger relevant gelten. Tendenziell wird verantwortliches Handeln damit reduziert auf unmittelbare Reaktionen auf Situationen, die das Subjekt stark genug affizieren können. Dies begünstigt nicht gerade das, was man mit Hannah Arendt Handeln unter den Bedingungen der Pluralität nennen könnte. Dies wäre nämlich ein Handeln, bei dem das Subjekt seine
152 HENNING NÖRENBERG Umsichtigkeit unter anderem daraus schöpft, dass es mit der Existenz mehrerer verschiedener Perspektiven auf die gegebene Situation rechnet.51 Unter derartigen Perspektiven mögen nun nämlich auch solche sein, die weniger durch eine direkte Verbindung zum Opfersein und zum Desaster geprägt sind. Wie können diese als weniger relevant für das Verständnis der Situation erklärt werden? Die motivationale Struktur, die sich daraus ergibt, läuft auf eine Art Interventionismus hinaus, der höchst sensibel für die gegenwärtigen „Hotspots“ von Problemen sein mag, dem aber das Sensorium für den weiteren Zeithorizont52 dieser Probleme wie auch ein längerfristiges Verpflichtetsein gegenüber den entsprechenden Situationen abgeht. Vor dem Hintergrund dieser Einwände scheint mir der Absolutismus des Anderen als das Gesamtpaket, das er ist, kein tragfähiger ethisch-politischer Ansatz zu sein. Dabei beabsichtigt die hier versuchte Kritik im Übrigen keineswegs, unsere spontanen Impulse zur Hilfe Notleidender zu entwerten. Ebenso wenig soll das, was man die Perspektive des Opfers nennen könnte, diskreditiert werden. Meine Kritik zielt eher auf eine meines Erachtens verkehrte Verabsolutierung und Instrumentalisierung der Opferperspektive und auf den spezifischen Maßstab der Gewissensbildung, der an diese Verabsolutierung geknüpft ist. Philosophische Kritik scheint mir missverstanden, wenn sie uns dahin bringen möchte, dass uns nichts mehr heilig ist. Die Aufgabe besteht vielmehr darin, das Verantwortungsbewusstsein im Umgang mit dem, was uns heilig oder was uns Gewissensangelegenheit ist, zu wecken oder weiter zu schärfen – nicht zuletzt in einem wohlverstandenen Interesse an jenen Lebensmöglichkeiten, die das gemeinsame In-derWelt-sein von Menschen wie Du und Ich bietet. Um im angerissenen Bild zu bleiben: Man kann die argumentativen Schwächen eines Gottesbeweises kritisieren – und muss es auch. Damit bricht man aber nicht schon den Stab über religiöse Menschen, sondern kann ihnen idealerweise dabei helfen, sich in ihrem Verhältnis zu dem, was ihnen heilig ist, besser zu verstehen.
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Schlussbemerkungen: Ein nicht mehr ganz so neues Modell von Einheit und Autorität? Wenn die eingangs referierten Beispiele eine reale, womöglich sogar dominante Tendenz in westlichen Gesellschaften der Gegenwart treffen, dann ist der Absolutismus des Anderen als politische Ethik nicht allein von akademischem Interesse. „Hörigkeit“ und „Wahn“ sind dann keineswegs harmlose Verrücktheiten, die ohne Einfluss auf unsere gemeinsame Lebenswelt bleiben. In dieser haben wir es ja in der Tat mit wichtigen Fragen des Austarierens von Solidarität, individueller Freiheit und verschiedenen Loyalitäten zu tun. Lösungsvorschläge, die darauf hinauslaufen, „wahre“ individuelle Freiheit zu verstehen als Affirmation von Ansprüchen, die entweder vom absolut Anderen oder aber im Namen von geeigneten kollektiven Identitäten hervorgebracht werden, bleiben dann nicht ohne Einfluss auf den öffentlichen Vernunftgebrauch, auch wenn sie wohl selten bewusst in allen hier vorgestellten Konsequenzen vertreten werden. In der Tat sind verschiedene politisch-historische Konkretisierungen des hier beleuchteten Absolutismus des Anderen unter oft nicht weniger polemisch klingenden Titeln wie etwa „white guilt“, „industrial white savior complex“, „victimhood culture“, „identitätslinke Läuterungsagenda“ oder „masochistic nationalism“ diskutiert worden.53 In diesen Zusammenhängen wird argumentiert, dass die „Gewinner“ jener Regeländerung zur Entscheidung von Konflikten oft ganz andere sind als jene „Fremden, Witwen und Waisen“, in deren Interesse sich diese Regeländerung eigentlich vollzogen haben soll.54 Das eigene politische Handeln im Namen der jeweils über breite gesellschaftliche Gruppen hinweg als „Witwen und Waisen“ akzeptierten Kollektive zu kommunizieren, verleiht den traditionellen Institutionen – Universitätsverwaltungen, Berufspolitikern für kulturelle wie auch für viele andere Angelegenheiten usw. – Legitimität und Autorität. Campbell und Manning meinen sogar die Tendenz zu beobachten, dass immer weniger Versuche stattfinden, die Konflikte zwischen Kollektividentitäten zwischen den jeweils betroffenen Individuen oder Gruppen
154 HENNING NÖRENBERG selbst zu lösen, sondern die Lösung mehr und mehr an höher gestellte Dritte delegiert werden.55 Der Autoritätszuwachs dieses „Dritten“ erinnert mehr noch als an die Levinas’sche Kategorie dieses Namens an die Obrigkeit nach Gogarten. Diese bezieht ihre einschüchternde Autorität aus einer ihr weithin zugestandenen Deutungs- und somit Entscheidungshoheit über gesellschaftliche Konflikte. Anders als noch in Gogartens Ansatz scheint jene Hoheit in der Gegenwart jedoch weniger durch das traditionell angenommene Recht der Obrigkeit zur Forderung des physischen Lebens ihrer Untertanen zu erklären sein, sondern eher durch eine der gegenwärtigen „Obrigkeit“ zugetrauten Potenz, im jeweiligen Kontext relevante Ressourcen zu verteilen – oder andererseits deren Erwerb zu erschweren: Posten, Fördergelder, Studienabschlüsse, Aufwertungen im eigenen Kollektiv durch institutionelle Aufmerksamkeit und dergleichen mehr. Wenn dieser Befund korrekt ist, wird die im Anschluss an Schlesinger diagnostizierbare Spaltung wenigstens vorübergehend durch eine bislang noch wenig beachtete vereinheitlichende Tendenz überformt. Es wäre dann zwar nicht mehr der homogene Volkskörper, der noch für Gogartens Ansatz maßgeblich war, aber anvisiert scheint dennoch ein mit Gogartens Ansatz zumindest in Teilen verwandtes, in Theorie und Praxis schon länger vorbereitetes Konzept der Legitimität und Autorität.
Anmerkungen 1
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Arthur M. Schlesinger, Die Spaltung Amerikas. Überlegungen zu einer multikulturellen Gesellschaft (Stuttgart: ibidem, 2020). Henning Nörenberg, Der Absolutismus des Anderen. Politische Theologien der Moderne (Freiburg/München: Alber, 2014). Zitiert nach Matthias Lohre, Das Opfer ist der neue Held. Warum es heute Macht verleiht, sich machtlos zu geben (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2019), S. 124. Greg Lukianoff und Jonathan Haidt, The Coddling of the American Mind. How Good Intentions and Bad Ideas Are Setting Up a Generation of Failure (New York: Penguin Books, 2018), S. 55ff. Lohre, Das Opfer ist der neue Held, S. 125; Lukianoff und Haidt: The Coddling of the American Mind, S. 56. Zitiert nach Lohre, Das Opfer ist der neue Held, S. 125.
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Ebd. Vgl. a.a.O., S. 131. Lukianoff und Haidt, The Coddling of the American Mind, S. 114ff., 133f. Die grundsätzliche Vorgehensweise fasst George Bridges, der Präsident des Evergreen College, im Videomitschnitt einer Sitzung mit studentischen Aktivisten folgendermaßen zusammen: „They are going to say some things that we don’t like and our job is to bring them all in – or get them out. And what I hear us stating that we are working toward is: Bring ’em in, train ’em, and if they don’t get it, sanction ’em.“ (https://www.youtube.com/watch?v= A0W9QbkX8Cs, Zeitindex 23:48). Schlesinger, Die Spaltung Amerikas, S. 146. Ebd., S. 115f. Ebd., S. 117f. Ebd., S. 138. Ebd., S. 138ff. Ebd., S. 150. Ebd., S. 146ff. Paulina Neuding: „Fula gärna ut mig – men slå vakt om öppna bibblor“, Expressen (2017): https://www.expressen.se/kultur/ide/fula-garna-ut-migmen-sla-vakt-om-oppna-bibblor/; dies.: „Stöket får biblioteket att inte våga ha öppet“, Expressen (2016): https://www.expressen.se/kultur/stoket-far-bibli oteket-att-inte-vaga-ha-oppet/. https://www.youtube.com/watch?v=YGM_2u9wFeg. Ich verstehe jene gesamtgesellschaftliche Akzeptanz hier im Großen und Ganzen gemäß dem von John Searle vorgeschlagenen Begriff „kollektiver Anerkennung“, d.h. im Sinne eines breiten Spektrums, das beispielsweise sowohl enthusiastische Affirmation als auch Mitläufertum oder apathisches Sich-damit-abfinden umfassen kann. Siehe: John Searle, Making the Social World. The Structure of Human Civilization (Oxford: Oxford University Press, 2010), S. 56f. Emmanuel Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität (Freiburg/München 1987), S. 359. Ebd., S. 116. Friedrich Gogarten, Politische Ethik. Versuch einer Grundlegung (Jena 1932), S. 7. Ebd., S. 26. Levinas, Totalität und Unendlichkeit, S. 119. Emmanuel Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht (Freiburg 1992), S. 248, 344; Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“ (Frankfurt a.M. 1991), S. 45. John D. Caputo, Against Ethics. Contributions to a Poetics of Obligation with Constant Reference to Deconstruction (Bloomington/Indianapolis 1993), S. 14. Siehe z.B.: Gogarten, Politische Ethik, S. 33; Levinas, Totalität und Unendlichkeit, S. 287 f.; Caputo, Against Ethics, S. 213. Levinas, Totalität und Unendlichkeit, S. 308. Ebd., S. 282, 308. Gogarten, Politische Ethik, S. 32; Derrida, Gesetzeskraft, S. 4f.; Jacques Derrida, Den Tod geben, in Anselm Haverkamp (Hrsg.), Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida – Benjamin (Frankfurt a.M. 1994), S. 331–445, hier S. 397f.
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Levinas, Totalität und Unendlichkeit, S. 103. Ebd., S. 444 Derrida, Gesetzeskraft, S. 54; John D. Caputo, The Weakness of God. A Theology of the Event (Bloomington/Indianapolis 2006), S. 268. Levinas, Totalität und Unendlichkeit, S. 103. Thomas Hobbes, Leviathan (1651) (Stuttgart 2013), v.a. Kapitel XVII–XVIII. Gogarten, Politische Ethik, S. 54ff. Ebd., S. 108. Für weitere Diskussionen vgl. Nörenberg, Der Absolutismus des Anderen, S. 117– 122 sowie Hjalmar Falk, „The ‘Theological Nihilism’ of Friedrich Gogarten. On a Context in Karl Löwith’s Critique of Carl Schmitt”, in European Review 22 (2014), S. 217–230, hier S. 225–228. Siehe z.B. Levinas: Totalität und Unendlichkeit, S. 44, 102; Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben (Frankfurt a.M. 2002), S. 93f. Gogarten, Politische Ethik, S. 204, 59, 116: Im Staat soll die Macht des Bösen, welcher der Schuldige hörig sei, deutlich sichtbar werden, und zwar – darauf wird großer Wert gelegt – als eine gebannte. Levinas, Totalität und Unendlichkeit, S. 282, 444; Derrida, Den Tod geben, S. 355f. Caputo, Against Ethics, S. 217; Caputo, The Weakness of God, S. 248. Agamben, Homo Sacer, S. 124, 197. Giorgio Agamben, Ausnahmezustand. Homo Sacer II.1 (Frankfurt a.M. 2004), 46. Giorgio Agamben: Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik (Berlin 2001), S. 86f. Knud Ejler Løgstrup, Die ethische Forderung (Tübingen: Mohr-Siebeck, 1989), S. 7ff.; Jonathan Haidt, The Righteous Mind. Why Good People Are Divided by Politics and Religion (London: Penguin Books, 2012), S. 146ff. Gogarten, Politische Ethik, S. 26. Caputo, Against Ethics, S. 212, siehe zudem S. 26f, 32f, 216. Siehe auch Levinas, Jenseits des Seins, S. 394, wo Levinas erklärt, nichts weniger als des von ihm herausgestellten hyperbolischen Grundphänomens des Ethischen bedürfe es dazu, dass wir im Alltag höflich miteinander umgingen. Siehe dazu Henning Nörenberg, „Solidarity and Responsibility. Open Societies and the Ethics of Absolute Alterity“, in Jörg Althammer, Bernhard Neumärker und Ursula Nothelle-Wildfeuer (Hg.): Solidarity in Open Societies (Wiesbaden: Springer,2019), S. 57–78, hier: S. 71–73, sowie Nörenberg, Der Absolutismus des Anderen, S. 163–167. Levinas, Totalität und Unendlichkeit, S. 287. Hannah Arendt, Vita activa oder vom tätigen Leben (München 2008), S. 293ff. Michael Großheim, Zeithorizont (Freiburg/München 2012), S. 22: „Damit ist gemeint die Ausdehnung der mit Aufmerksamkeit und Anteilnahme bedachten Zeit über die unmittelbare Gegenwart hinaus.“ Shelby Steele, White Guilt. How Blacks and Whites Together Destroyed the Promise of the Civil Rights Era (New York: Harper Collins, 2006); Teju Cole, „The WhiteSavior Industrial Complex”, The Atlantic: https://www.theatlantic.com/inte rnational/archive/2012/03/the-white-savior-industrial-complex/254843/; Bradley Campbell und Jason Manning, „Microaggression and Moral Cultures”, Comparative Sociology 13 (2014), S. 692–726; Lukianoff und Haidt, The Coddling of the American Mind, S. 210; Lohre, Das Opfer ist der neue Held, S. 119ff.; Sandra Kostner, „Identitätslinke Läuterungsagenda. Welche Folgen hat sie für
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Migrationsgesellschaften?“, in dies. (Hrsg.), Identitätslinke Läuterungsagenda. Eine Debatte zu ihren Folgen für Migrationsgesellschaften (Stuttgart: ibidem, 2019), S. 17–73; Göran Adamson, Masochistic Nationalism. Multicultural Self-Hatred and the Infatuation with the Exotic (London: Routledge, 2021). Im Zusammenhang von „white guilt“ sieht Steele beispielsweise den Effekt, dass traditionelle Institutionen des „weißen“ Amerikas mit der ihnen zuwachsenden moralischen Verantwortung zu „affirmative action“ auch eine gesteigerte Legitimität und Machtfülle zufalle. Diese Machtfülle wiederum schmälere das Interesse an einer Weiterentwicklung des Status quo und der Beendigung der Abhängigkeit der schlechter gestellten Schichten der afroamerikanischen Bevölkerung. Siehe Steele, White Guilt, S. 60ff, 119ff. Adamson bringt das Beispiel eines UN-Mitarbeiters in einem Armutsbekämpfungsprogramm, dem die Politik seines Heimatlandes (Niederlande) „zu langweilig“ sei und der sich eher für den romantisierten Exotismus seines Einsatzortes zu interessieren anstatt für die Erfahrung der konkreten Verhältnisse dort: „He lives the life of a colonialist although it is not labelled as such. Of course, he opposes colonialism.“ Siehe: Adamson, Masochistic Nationalism, S. 5. Campbell und Manning, „Microaggression and Moral Cultures”, S. 695.
Die Dilemmata und die Zukunftsfähigkeit des Liberalismus Oleg Dik
Einleitung: „Wer ist der Hauptspalter?“ Während meines Forschungsaufenthaltes an der Yale University im Jahr 2019/20 besuchte ich die Schulfeier meines Sohnes. Ich kannte dort niemanden und kam zufällig mit einem Iraker ins Gespräch, der auch alleine stand und keinen Gesprächspartner hatte. Er erzählte mir, dass er schon fünf Jahre in den USA lebte. Er war positiv überrascht, dass ich Arabisch sprach. So verbrachten wir den gesamten Abend miteinander, kauten fettige Pommes und Popcorn. Am Ende fragte ich ihn, was er von seiner neuen Heimat halte. Er zeigte mit seiner Hand auf die Menschen und sagte: „Schau dich um! Hier sind Schwarze, Weiße, Asiaten und ich als Araber. Wir feiern alle. Der Staat ist stark. Wir sind alle gleich vor dem Gesetz.“ Ich fragte ihn, ob er zurück in den Irak wolle, und er verneinte. Danach erzählte er mir von seinem Bruder in Stuttgart. Sein Bruder habe ihm erzählt, dass die Migranten den deutschen Staat nicht respektierten, weil er schwach sei. Am Ende zeigte mein irakischer Freund mit seinem Zeigefinger nach unten und schlussfolgerte: „Hier bleibe ich. Hier ist die Zukunft für meine Kinder.“ Während meiner Zeit im Libanon, von 2007 bis 2011, habe ich immer wieder an Vorträgen von arabischen Intellektuellen teilgenommen, die sich einen starken Nationalstaat wünschten, um die Fragilität der konfessionellen Demokratie auf eine säkulare Basis zu stellen. Die Erfahrung des Konflikts in multiethnischen und multireligiösen Staaten führt zum starken Wunsch nach dem einenden Band. In Deutschland und den USA, wo das einende Band als unsichtbarer Rahmen, als eine Selbstverständlichkeit angenommen wurde, dominierten lange die Diskurse der Differenz.
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160 OLEG DIK Es bleibt ein Verdienst von Schlesinger, der schon 1991 für die USA erkannte, dass Differenz ohne Einheit zur Spaltung und letztlich zum Verfall der staatlichen Ordnung führt. Diese These belegt Schlesinger an zahlreichen geschichtlichen Entwicklungen in den USA. Die zentrale Frage für Schlesinger ist: „Was hält eine Nation zusammen?“1 Schlesinger betont die Paradoxie des „e pluribus unum“, welches von beiden Seiten aufgelöst werden kann. Auf der einen Seite von linken Eliten, die das Eigene nicht schätzen können und daher alles niederreißen, bei gleichzeitiger Idealisierung und Essentialisierung des Fremden. Auf der anderen, rechten Seite vom religiös-patriotischen Pöbel, welcher das „unum“ so eng zurrt und dadurch die Vielfalt von vornherein ausschließt. Schlesingers Analyse hat nach 30 Jahren an Aktualität nicht eingebüßt, und doch fehlt es ihr an Schärfe, um die gegenwärtige Situation in der Tiefe zu erfassen. Dadurch kommt Schlesinger zu „Lösungen“, die wie nostalgische Plattitüden klingen. Ironischerweise ist das fehlende Glied in Schlesingers Analyse der Liberalismus selbst, den er zwar mehrmals als einendes Band beschwört, der in seinem Essay aber merklich blass bleibt. Die Gretchenfrage, die Schlesinger nicht stellt, ist: „Welche Rolle spielt der Liberalismus in der Spaltung Amerikas?“ Oder, mit anderen Worten ausgedrückt: Wenn die Fliehkräfte zunehmen, warum übt der Liberalismus nicht mehr die integrative Kraft aus, die er einst hatte? Schlesinger bemüht sich zwar um eine Antwort durch sein Insistieren auf den klassischen liberalen Werten, doch verfehlt er letztlich die kritische Beleuchtung des Liberalismus innerhalb der sich verändernden Welt. Insofern hängt sein Bild schief, weil er zwar den spaltenden Diskurs skizziert, ohne jedoch die Veränderung des liberalen Rahmens zu verdeutlichen. Doch jeder gesellschaftliche Diskurs entsteht aus einer komplexen Wechselwirkung. Der Rahmen bestimmt die Wahrnehmung des Bildes. Ich kehre den Ansatz von Schlesinger um und stelle die Hypothese auf, dass die zunehmend trennende Wirkung durch rechte monokulturelle und linke multikulturelle Gruppen primär auf die Schwäche des Liberalismus zurückzuführen ist. Der Liberalismus ist nicht nur in seiner Passivität der Hauptspalter, sondern viel-
DILEMMATA UND ZUKUNFTSFÄHIGKEIT DES LIBERALISMUS 161 mehr, indem er seine Paradoxien nicht erkennt und dadurch Bedingungen erschafft, die zu seiner Demontage führen. Das gesellschaftliche Auseinanderfallen beschleunigt sich umso mehr, je länger der Liberalismus seine Dilemmata nicht löst. „Lösung“ bedeutet einerseits das Lösen von starren Denkmustern, die in der Vergangenheit wirkten, jedoch in der sich verändernden Welt an Anziehungskraft eingebüßt haben, und andererseits die praktische Auflösung der Dilemmata durch Anpassung des Handelns. Im Folgenden skizziere ich diese Dilemmata des Liberalismus und deute die möglichen Lösungsbedingungen in den USA und Deutschland an. Hierbei konzentriere ich mich primär auf die Idee der Freiheit des Individuums. Ich stimme Schlesingers Annahme zu, dass Liberalismus den einzigen ideellen Rahmen für die pluralen Gesellschaften in den USA und Deutschland bildet. Ich plädiere jedoch für eine robuste Weiterentwicklung und Konkretisierung der liberalen Grundidee, um durch positive, sozial verkörperte Identität die Identitätskämpfe zu befrieden.
Die Dilemmata des Liberalismus seit 1990 Utilitaristisches Dilemma: Lohnt sich Freiheit in der „schönen neuen Welt”? Die Wirksamkeit einer Idee erschließt sich immer innerhalb des sie umgebenden gesellschaftlich-politischen Rahmens. So war es nicht überraschend, dass Friedrich Hayeks Apologetik für die liberale Wirtschaftsordnung in seinem Essay „Der Weg zur Knechtschaft“, von der Freiheit des Individuums ausgehend, zur Zeit seiner Publikation inmitten des Zweiten Weltkrieges 1944, auf dem dunklen Hintergrund der beiden totalitär-kommunitaristischen Ordnungen des Sowjetsozialismus und des deutschen Nationalsozialismus, sich wie die einzige helle Alternative abhob. Hayek entledigt sich dieser beider Alternativen, indem er sie im gemeinsamen Ursprung der sozialistischen Ideologie verortet.2 Mit dem Kollaps der Sowjetunion schien sich Hayeks Sicht von der ökonomischen und ideellen Überlegenheit des Liberalismus zu bewahrheiten. Im Schatten von Francis Fukuyamas euphorischer Proklamation des finalen Sieges
162 OLEG DIK des Liberalismus und „des Endes der Geschichte“3 betont Schlesinger zwar die spalterischen Tendenzen, doch er geht wie selbstverständlich von der integrativen Kraft des Liberalismus aus, dessen Kern er wie folgt zusammenfasst: „Freiheit des Individuums, politische Demokratie und die Menschenrechte.“4 Diese Selbstverständlichkeit der politisch-ökonomischen Überlegenheit des Liberalismus hat jedoch innerhalb der letzten 30 Jahre tiefe Risse bekommen, so dass die Frage nach der Nützlichkeit des Liberalismus erneut an die Oberfläche drängt. Exemplarisch konkretisiert sich dieser veränderte Rahmen mit dem Aufstieg von China und der rapiden Veränderung der Welt durch die Digitalisierung. Die Annahme, wonach das wirtschaftliche Wachstum zwangsläufig zu einer politischen Liberalisierung führe, wurde durch das Beispiel von China teilweise widerlegt. Ökonomischer Wohlstand und totalitäre Staatsformen scheinen sich also nicht grundsätzlich auszuschließen. Das Ende des Kalten Krieges scheint also nicht zu einem globalen Siegeszug des Liberalismus, sondern zu einer tribalistischen Zersplitterung geführt zu haben, in der sich der westliche Liberalismus neu behaupten muss. Samuel Huntingtons These von Brüchen und Konflikten entlang der Zivilisationsgrenzen scheint eine präzisere Erfassung der globalen, geopolitischen Wirklichkeit zu sein als Fukuyamas säkularisierte Eschatologie.5 Die Ambivalenz der hochkomplexen modernen Gesellschaften besteht in ihrer gleichzeitigen Stabilität und Fragilität. Die sozialen und globalen Interdependenzen, die die Stabilität garantieren, offenbaren auch Risiken. Das Beispiel einer Epidemie wie COVID19 offenbart diese Tatsache und zwingt zu einem direkten Vergleich der unterschiedlichen Systeme. Es wäre vor 30 Jahren undenkbar gewesen, dass deutsche Politiker direkt nach China schielen und die Frage stellen, ob staatliche Effizienz und das Versprechen von Sicherheit die Schleifung von Grundrechten rechtfertige, denn so könnten Expertenbeschlüsse direkt, ohne das Volk und vorbei am Parlament umgesetzt werden.6 Das Ziel des biologischen Überlebens rechtfertige demnach illiberale Mittel. Doch im Gegensatz zu Hayeks Situation beruft sich die staatliche Macht heute
DILEMMATA UND ZUKUNFTSFÄHIGKEIT DES LIBERALISMUS 163 nicht ausschließlich auf menschliche Experten, die zentralistisch ihre Zielsetzungen dem Individuum aufzwingen, sondern auf die unpersönliche Autorität des Algorithmus. Insofern könnte in der „schönen neuen Welt“ sogar John Stuart Mill zum Begründer des neuen Totalitarismus hinzugezogen werden, wonach die Einschränkung der persönlichen Freiheit legitimiert ist, wenn sie dem maximalen Nutzen der Gesellschaft dient.7 Dieser Nutzen ist umso objektiver, als die Mittel zur Erreichung des utilitaristischen Ziels von einer neutralen Instanz, der Maschine, kalkuliert werden. Yuval Hararis zentrales Argument für den Aufstieg des Liberalismus liegt in der Nützlichkeit dieser Idee für das 19. und 20. Jahrhundert.8 Sowohl Politik, Wirtschaft, Kunst, Bildung als auch Sinnproduktion erforderten die Idee eines freien Individuums. In allen diesen gesellschaftlichen Bereichen gibt der Mensch jedoch freiwillig seine Kontrolle an den Algorithmus ab und erschafft ein System, in welchem die Idee von der Freiheit des Individuums zwar noch gedacht, aber nicht mehr erlebt werden kann, weil sie in der Alltagswirklichkeit nicht mehr wirksam ist. Man muss die dystopische Vision Hararis nicht teilen, um den Verlust der liberalen Wirksamkeit innerhalb der sich wandelnden Welt zu konstatieren. In der Sowjetunion wurde die Überlegenheit des Sozialismus mit dem glücklichen Leben ihrer Bürger begründet. Mein Vater, der Marxismus-Leninismus unterrichtete und Europa 1987 zum ersten Mal bereisen durfte, hat hinter dem Eisernen Vorhang diese Lüge durchschaut. Dieser ideologische Vorhang hat sich jedoch aufgelöst. Durch technologische Möglichkeiten stellt sich verschärft die Frage nach der Beziehung zwischen der persönlichen Freiheit und Glück. In der „schönen neuen Welt“9 wird die Opferung der persönlichen Freiheit notwendig sein, um das Glück in einer „besseren“, digital-totalitären Welt zu finden. Die Opferung der individuellen Freiheit wird sich dieses Mal nicht durch Zwang vollziehen, sondern durch freiwillige Abgabe im Austausch für Komfort und Schmerzlosigkeit. Wird sich die Prophetie des Großinquisitors bewahrheiten, wonach der Mensch zu feige und faul sei, um die Kosten der Freiheit auf sich zu nehmen? Wird der Mensch sich vor den autoritären Institutionen verneigen und freiwillig seine Freiheit opfern?10 Dies
164 OLEG DIK ist möglich. Zumindest kann der Liberalismus in der aufziehenden Welt nicht mehr von der utilitaristischen Einheit von Glück und Freiheit ausgehen und auf die unfreie Welt als Abgrenzung verweisen, weil die digitale Ordnung jedes politische System durchdringt. Das Dilemma besteht darin, ob der Liberalismus weiterhin seine Überlegenheit utilitaristisch zu begründen sucht oder jedoch auf einen genealogisch-normativen Begründungszusammenhang umschwenkt. Er würde also die Proposition verteidigen müssen, dass sich Freiheit auch dann lohnt, wenn sie für den Einzelnen mit Nachteilen verbunden sein kann oder als nachteilig empfunden wird. Die erste Möglichkeit ist in der digitalen Welt nicht so evident wie vor 30 Jahren. Die soziale Welt wird zunehmend so geformt, dass das Individuum seine Freiheit opfern wollen wird, um ein glücklicher Sklave zu werden. Die Beweislast scheint sich umzukehren. Mit der zweiten Möglichkeit verliert der Liberalismus sein souveränes Auftreten, denn damit gibt er seine defensive Position zu. Wird er dies überhaupt wollen und können? Komfort und Erfolg, die von homogenen Gruppen generiert werden, lassen die Gehirnmuskeln erschlaffen. Es ist also eine durchaus realistische Möglichkeit, dass der Liberalismus an seinem Erfolg erstickt, denn ihm fehlt es schlicht an Willen und Denkkraft, um dieses Dilemma in die eine oder andere Richtung aufzulösen.
Das Begründungsdilemma: Kann Liberalismus ohne partikulare Wurzeln überleben? Moderne wissenschaftliche und politische Strukturen setzen die individuelle Souveränität voraus. Das Individuum muss seinen kognitiven Fähigkeiten und seiner Fähigkeit zum vernünftigen, politischen Konsens vertrauen. Diese Annahmen gründeten ursprünglich jedoch auf dem sakralen judeo-christlichen Fundament. Descartes’ Annahme von Gott verhinderte das Abgleiten in den Skeptizismus. Gott als Erhalter garantierte die Stabilität der natürlichen Ordnung, und der Wissenschaftler erforschte die Naturkonstanten unter dieser Voraussetzung, „als ob es Gott nicht gäbe.“ Ähnlich setzte Immanuel Kant Gott voraus, um die Freiheit des Menschen als Bedingung für ethisches Handeln zu garantieren.
DILEMMATA UND ZUKUNFTSFÄHIGKEIT DES LIBERALISMUS 165 Martin Luther konnte sich gegen den klerikalen Gruppendruck durchsetzen, indem er sich auf sein von Gott geschaffenes Gewissen berief. Die Autorität des Individuums wurde ursprünglich gestützt durch den sakralen Unterbau. Die kirchlichen Institutionen spielten dabei eine ambivalente Rolle. Auf der einen Seite rückte der Mensch durch das christliche Dogma der Inkarnation in den Vordergrund. Gottes Wort wurde Fleisch, das typisch Menschliche wurde sakralisiert und jeder Mensch wurde zum Besonderen erhoben. Auf der anderen Seite diente die Kirche als soziopolitische Machtinstitution auch als eine negative Projektion für die Loslösung des geheiligten Menschen vom transzendenten Bezug. Seit dem Zweiten Weltkrieg beschleunigt sich die Auflösung des sakralen Hintergrundes einerseits, und es kommt zur Konfrontation mit dem kulturell Fremden andererseits, sodass sich zunehmend die Frage nach dem Begründungszusammenhang des Liberalismus neu stellt. Schlesinger verrät diese wachsende Lücke durch seine Sprache. Er gebraucht Ausdrücke, die religiöse Assoziationen hervorrufen, und setzt ihre normative Selbstverständlichkeit voraus. Doch ein leichter Stupser bringt dieses Konstrukt zum Einsturz, weil dieser Sprache die Lebenswelt fehlt, in welcher sie ihre Plausibilität erlangt.11 Ich möchte dies anhand von zwei Beispielen aus Schlesingers Essay verdeutlichen. Schlesinger personifiziert die Geschichte, indem er davon spricht, dass die Geschichte Amerika seine Werte geschenkt habe, und nicht der Zufall.12 Diese Aussage ist aus naturalistischer Perspektive sinnlos. Sie ergibt jedoch Sinn als Säkularisierung von Luthers theologischer Entdeckung, dass die Gerechtigkeit dem Menschen allein aus Gottes Gnade geschenkt wird. Schlesinger begeht den klassischen genealogischen Fehlschluss, weil er aus dem IstZustand auf das Sollen schließt. Nur weil die liberalen Werte für Amerika funktionieren, folgt jedoch daraus nicht, dass man für sie „leben und sterben“ solle. Diese Aussagen machen nur Sinn vor dem Hintergrund der US-amerikanischen Zivilreligion, die ihre Legitimität aus dem calvinistischen Gedanken der Besonderheit durch Auserwählung bezieht. Diese religionshistorische Ignoranz lässt Schlesingers Text, außerhalb der USA, als merkwürdig ignorant und arrogant erscheinen. Seine Verteidigung der Freiheit des
166 OLEG DIK Individuums als eine genuin europäische Idee ist schlicht falsch. Remi Brague zeigte historisch fundiert, dass die Besonderheit der europäischen Kultur das Resultat von spannungsreicher Synthese aus nahöstlicher, jüdisch-christlicher Religion und der griechischrömischen Philosophie und Kultur ist.13 Insofern vollzieht Schlesinger hier genau das, was er dem patriotisch-religiösen Pöbel vorwirft: Er zurrt das „Unum“ aus historischer Ignoranz so eng, dass er die befruchtenden Potenziale von außen nicht mehr zulässt. Und in dieser religionsgeschichtlichen Ignoranz liegt die Schwäche seiner Gesamtargumentation. Er setzt unbewusst jüdisch-christliche Metaphysik voraus, indem er davon ausgeht, dass es eine gemeinsame universelle Vernunft gibt und er durch seine Argumentation ohne Gewalt sein Gegenüber überzeugen könne. „He is preaching to the choir“, wie die US-Amerikaner sagen würden. In seiner Unkenntnis rutscht Schlesinger in gewisse Naivität. Die echten Spalter des „Unum e pluribus“, gegen die er anschreibt, gehen von der Metaphysik des ewigen Kampfes aus. Sowohl der Marxismus als auch der Postmodernismus sind säkularisierte Vereinfachungen der babylonischen Mythen, wonach die Welt aus dem Chaos und dem ewigen Kampf der Götter untereinander geboren wird. Diese Erzählung steht im krassen Kontrast zur jüdischen Erzählung, wonach die Welt aus dem ordnenden Schalom des souveränen Gottes geboren wird und deren Bestimmung die ewige Harmonie ist. Hätte Schlesinger einen weiteren Blick, würde er das „Unum“ nicht so eng zurren. Dann wüsste er zum Beispiel, dass die Freiheit des Individuums nicht nur in der sokratisch-aristotelischen, politischen Philosophie, sondern auch in der jüdischen Vorstellung, dass jeder Mensch nach dem Ebenbild Gottes geschaffen wurde, begründet ist, wodurch erst die griechische, elitär-politische Freiheit zum inhärenten Recht eines jeden Staatsbürgers wird. Dies haben muslimische Intellektuelle klarer erkannt und als Abgrenzung zu diesem partikularen jüdisch-christlichen Hintergrund der universellen Menschenrechte die Kairoer Menschenrechtserklärung auf die Grundlage des Koran gestellt. Der westliche Liberalismus gerät zunehmend in das Dilemma, dass er sich in der peinlichen Situation wiederfindet, seinen eigenen und vielmehr auch den universellen
DILEMMATA UND ZUKUNFTSFÄHIGKEIT DES LIBERALISMUS 167 Anspruch der Idee der Freiheit des Individuums ohne den „wandernden Juden“ nicht mehr begründen zu können. Der westliche, religiös unmusikalische Intellektuelle kann noch einen heroischen Sprung machen und sich einfach grundlos auf die Freiheit berufen, wie Bertrand Russell in seinem Essay „A free man’s worship“.14 Doch bleibt dieser Sprung nicht mehr einsehbar. Irrationalität ist also der Preis der Freiheit ohne den meta-narrativen Begründungszusammenhang der individuellen Freiheit in der jüdisch-christlichen Tradition. Konnte sich der Liberalismus noch im 20. Jahrhundert leisten, in der religiös-homogenen Zivilisation jüdisch-christliche Metaphern zu säkularisieren, so offenbart sich dies in einer pluralistischen Gesellschaft als Überdehnung, weil die Partikularität solcher normativen Anmaßungen dem kulturell Fremden (zum Beispiel muslimischen Intellektuellen) schnell aufstößt. Der Liberalismus kann es sich also nicht mehr leisten, auf dem religiösen Auge blind zu sein. Doch der Preis des Verlustes dieser souverän wirkenden Naivität ist das peinliche Wiedersehen mit dem nahöstlichen Juden. Für viele europäische Intellektuelle ist diese Begegnung wie ein Albtraum, den sie meinten hinter sich gelassen zu haben.
Anthropologisches Dilemma: Die Paradoxie von Wir und Ich Schlesingers blinder Fleck, der Liberalismus, ergibt sich aus seiner einseitigen Sicht der Beziehung zwischen der Gemeinschaft und dem Individuum. Demnach könne das „e pluribus unum“ von zwei kommunitaristischen Extremen auseinandergerissen werden. Es entsteht der Eindruck, dass der aufgeklärte Akademiker wie Schlesinger der „Oberchecker“15 ist, wie eine Scharnierstelle, auf der sich die richtige Balance einpendelt. Dies ist aus der Sicht der Sozialisation schlicht falsch. Aus soziologischer Perspektive geht das „wir“ dem „ich“ voraus. Das Baby ist schon im Mutterleib an die Mutter gebunden, und bei der Trennung der Nabelschnur entsteht eine relationale Bindung, durch die das Kind überhaupt erst seine Sprache erlernt und eine eigene Identität entwickelt. Primäre Gemeinschaften wie Familie, religiöse und kulturelle Gemeinschaf-
168 OLEG DIK ten, sind dem Individuum also sowohl zeitlich als auch identitätsbildend-biologisch voraus. Der Akademiker kann dies zwar aufgrund seiner einsamen Tätigkeit in den Büroräumen ausblenden, doch wenn seine akademischen Schutzräume ihn zu theoretischen Fehlschlüssen verleiten, kann dies zu fatalen, ideologiegetriebenen Entscheidungen führen, die wiederum zu Gulags und Konzentrationslagern führen. Der Intellektuelle lebt von gemeinschaftlichen Voraussetzungen, die seine ideelle Losgelöstheit und Transzendierung der körperlichen Grenzen ermöglichen. Die interessantere Frage für Schlesinger wäre, anstatt nur kommunitaristische Gefahren von links und rechts an die Wand zu malen, wie dieses primäre „Unum“ beschaffen sein muss, aus welchem überhaupt erst eine gesunde Differenz und die Freiheit des Individuums entstehen können. Weil Schlesinger diese Paradoxie von Wir und Ich ausblendet, wird ihm eine dritte und meiner Meinung nach mindestens genauso tödliche Gefahr für pluralistische Gesellschaften nicht bewusst: Das entwurzelte Individuum in kalten bürokratischen Gesellschaften, dem die gesunde Verankerung und Sozialisierung fehlt, ist anfällig für ideologische und religiöse, totalitäre Gruppen, die solch einem entfremdeten Ich durch manichäisches Freund-Feind-Muster Sicherheit und Identität vorgaukeln.16 Der Soziologe Helmut Schelsky hat schon 1975 auf die Dialektik der modernen Gesellschaften hingewiesen.17 So fehlt dem modernen Individuum aufgrund des Wegbrechens christlicher Rituale das gemeinschaftsstiftende Erleben. In diesem Vakuum werden religiöse Ersatzrituale erschaffen, die jedoch stark das FreundFeind-Schema bemühen. Der Antagonismus zwischen dem Individuum und der Gesellschaft wird in Europa seit der Renaissance beschworen. Das echte Dilemma für den Liberalismus stellt sich jedoch in der Anerkennung der Gemeinschaft für das Individuum und der spannenderen Frage, wie die primären Gemeinschaften wie beispielsweise Familie und religiöse Gruppe beschaffen sein müssen, damit daraus gesunde Individualität erwächst. Falls die liberale akademische Elite weiterhin diese falsche Alternative bemüht, unterminiert sie genau das, was sie möchte: die Freiheit des Individuums. So wird der Liberalismus selbst zum Hauptspalter, indem er seine eigene
DILEMMATA UND ZUKUNFTSFÄHIGKEIT DES LIBERALISMUS 169 Rolle in der diskursiven Wechselwirkung ausblendet. Das Dilemma stellt sich also wie folgt: So, wie Schlesinger das Problem zeichnet, scheint sich der Liberalismus in klarer Abgrenzung zu den kommunitaristischen Extremen seiner Identität bewusst zu sein. Wie ich gezeigt habe, ist diese Gegenüberstellung falsch. Sie ermöglicht zwar auf kurze Sicht Identitätsprofilierung des Liberalismus, vor allem im politischen Feld, doch auf längere Sicht untergräbt sie den Liberalismus, der immer ein sekundäres Phänomen ist. Der Preis der Aufgabe dieser klaren Gegenüberstellung ist die Uneindeutigkeit und somit zuerst eine scheinbare Schwächung. Doch längerfristig würde aus der Lösung dieses Dilemmas eine robuste soziale Verankerung der individuellen Freiheit resultieren.
Rechtstaatliches Dilemma der pluralistischen Einwanderungsgesellschaft Wenn die oben beschriebenen drei Dilemmata nicht gelöst werden und das Grunddogma des Liberalismus von der Heiligkeit des Individuums nicht zur verkörperten Lebensrealität und somit zum gesellschaftlichen Konsens wird, dann schlittert die pluralistische Gesellschaft in das rechtsstaatliche Dilemma. Das rechtsstaatliche Dilemma ergibt sich aus dem Widerspruch, dass der Staat einerseits von vorpolitischen Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann, und andererseits, wenn diese nicht mehr gegeben sind, durch Gewalt eingreifen muss und somit die positiven Voraussetzungen zerstört, weil er durch sein negatives Eingreifen das Vakuum verstärkt, in welchem das Vertrauen verunmöglicht wird.18 Ein Freund von mir aus Dagestan hat dieses Dilemma treffend überspitzt zusammengefasst: „Deutsche sind Atome. Nimm den Staat weg und sie sind gefickt.“ Wenn der kulturell-vorpolitische Boden erodiert, in welchem überhaupt die Idee eines freiheitlichen Individuums als einendes Band gedacht und gelebt werden kann, ist die staatliche Gewalt das einzige Band, das die Fliehkräfte zusammenhalten kann. Mein irakischer Freund aus dem eingangs erwähnten Beispiel kannte aufgrund seiner Erfahrung im Irak nur die Lösung durch staatliche Institutionen und begriff nicht, dass
170 OLEG DIK historisch gewachsene, einende Bänder westliche liberale Demokratien umspannen. Doch ein Staat, der paternalistisch und strafend-präventiv seine Bürger bei der Stange hält, kommuniziert damit sein Misstrauen in die Bürger. Ohne Vertrauen bricht über kurz oder lang jegliche politische und soziale Ordnung zusammen. Die deutsche Polizei befindet sich in diesem praktischen Dilemma seit der rapiden Einwanderung seit 2015. Die alternde, friedliche und wohlhabende Gesellschaft lehnt Gewalt ab. Auf der anderen Seite kommen mehrheitlich junge Männer ins Land, aus zerfallenen patriarchalischen Gesellschaften, wo Gewalt an der Tagesordnung ist. Meine arabischen und russischen Freunde lachen über die weiche deutsche Polizei. Die exekutive Gewalt muss, um ernst genommen zu werden, brachialer auftreten. Hiermit verärgert sie jedoch die Sensibilität der Deutschen, die die individuelle Menschenwürde gegen den Staat verteidigen. Falls jedoch die Rechtsordnung erodiert und kriminelle Strukturen, wie in Berlin, immer mehr rechtsfreie Zonen schaffen, zerbricht das gemeinsame Fundament, auf welchem Pluralismus ruht. Das deutsche Pendant zu Schlesingers Aufsatz ist der zeitgleich veröffentlichte Beitrag von Daniel Cohn-Bendit und Thomas Schmid. Hierin beschreiben sie die Realität der pluralistischen Gesellschaft wie folgt: Kein Zweifel, je intensiver eine Gesellschaft von verschiedenen Nationalitäten, Ethnien, Kulturen, Religionen und Lebensstilen geprägt ist, desto spannender wird sie (und desto größer wird möglicherweise ihr Vermögen, mit ungewohnten Problemen pragmatisch umzugehen). Das heißt aber gerade nicht, daß die multikulturelle Gesellschaft harmonisch wäre. In ihr ist vielmehr – erst recht dann, wenn sich wirklich fremde Kulturkreise begegnen – der Konflikt auf Dauer gestellt. Die multikulturelle Gesellschaft ist hart, schnell, grausam und wenig solidarisch, sie ist von beträchtlichen sozialen Ungleichgewichten geprägt und kennt Wanderungsgewinner ebenso wie Modernisierungsverlierer; sie hat die Tendenz, in eine Vielfalt von Gruppen und Gemeinschaften auseinanderzustreben und ihren Zusammenhalt sowie die Verbindlichkeit ihrer Werte einzubüßen.19
Angesichts dieser realistischen Beschreibung der multikulturellen Gesellschaft, die ich aus meiner Erfahrung in Berlin-Wedding, wo ich wohne, nur unterschreiben kann, ziehen Cohn-Bendit und
DILEMMATA UND ZUKUNFTSFÄHIGKEIT DES LIBERALISMUS 171 Schmid das Fazit, dass sich multikulturelle Gesellschaften gemeinsame Spielregeln geben müssen, um die Fliehkräfte aufzuhalten. 30 Jahre später, und nach der angestoßenen und versandeten Debatte von Bassam Tibi um die europäische Leitkultur, stellt sich immer noch die Frage, wer wem und mit welcher Autorität Spielregeln geben soll. Diese Frage beantworten Cohn-Bendit und Schmid nicht. Um bei ihrer Metapher zu bleiben: Falls das Spiel und seine Regeln nicht aus intrinsischen Motiven von allen Teilnehmenden angenommen werden und immer mehr Spieler schummeln, werden auch die restlichen Spieler genervt die Karten auf den Tisch werfen. Und Zwang garantiert nur solange die Fortdauer des Spiels, wie die Autorität da ist. Doch können wir noch von einem Spiel reden, wenn wir dazu gezwungen werden? Das rechtsstaatliche Dilemma tritt also in pluralistischen Gesellschaften zunehmend zutage. Demnach ist die pluralistische Gesellschaft auf verkörperte, allgemeine Grundüberzeugungen wie die Idee des freiheitlichen Individuums angewiesen. Doch der Staat kann diese friedlichen Grundvoraussetzungen nicht selbst erschaffen und wird zunehmend genötigt werden, die Differenz durch Zwang zusammenzuhalten, womit er aber das robustere, weil positive Band, schwächt. Die Zukunft des Liberalismus hängt also von der praktischen Lösungsfähigkeit seiner Dilemmata ab. Wie sehen diese in Deutschland und den USA aus? Im Fazit skizziere ich meine Einschätzung dazu.
Fazit: Die Zukunft des Liberalismus in den USA und Deutschland Die Zukunft des Liberalismus ist nicht gottgegeben. Dass es von US-amerikanischen Intellektuellen wie Fukuyama und Schlesinger so angenommen wird, verrät ihr unbewusstes Anlehnen an christliche Eschatologie. Doch schon Jesus warnte vor der fälschlichen Annahme der realisierten Eschatologie. Wer die Vollendung dieser Welt proklamiert, sei demnach ein falscher Prophet.20 Die soziopolitische Realität ist eine andere. Die Zukunft des Liberalismus hängt
172 OLEG DIK von dessen Lösung der hier skizzierten Dilemmata ab. Abschließend möchte ich vergleichend die gesellschaftlichen Bedingungen dieser Lösung für Deutschland und die USA andeuten. Ob sich Freiheit lohnt, kann letztlich nur bedingt durch Akademiker beantwortet werden, sondern muss kulturell und politisch erfahren werden, um überhaupt erst zum Gegenstand des Denkens zu werden. Durch den US-amerikanischen Gründungsmythos ist Freiheit immer noch sehr tief im kulturellen Gedächtnis verankert und wird durch die Hollywoodindustrie befeuert. Der einsame Held, der sich gegen die Kräfte der Natur, der Tradition und der Gesellschaft behauptet, wird durch Blockbuster immer wieder neu zum Leben erweckt. Der schwächere Wohlfahrtsstaat animiert nicht zum komfortablen Versinken in die Fürsorge von Vater Staat. Auch intellektuell wird die Freiheit des Individuums in den USA hochgehalten und hat eine lange Tradition. Ob Thomas Sowell oder Jonathan Haidt, es gibt immer noch eine solide Grundsubstanz an liberalen Denkern, trotz der neomarxistischen illiberalen Tendenzen an den Universitäten. Individuelle Freiheit hingegen ist kulturell in Deutschland nicht tief verankert. Der deutsche Untertan hat sich im Deutschen Kaiserreich, dann der braunen und der roten Diktatur gefügt. Das rapide Wachstum des Sozialstaats und die Alimentierung der Medien und Kultur durch den Staat ersticken jeglichen Freiheitsimpuls im Kern. Aufgrund dieser monopolistischen, staatlichen Kontrolle unterschiedlicher gesellschaftlicher Subsysteme können sich in Deutschland kaum freie Diskurse entfalten, sondern kippen sehr schnell in moralisch-politisierende Dichotomien, zwischen welchen Denkprozesse und ergebnisoffene Dialoge zerrieben werden. Ob und wie individuelle Wirksamkeit erfahren wird, hängt auch von der jeweiligen politischen Kultur ab. Hier gibt es auch einen Grundunterschied zwischen den USA und Deutschland, der sich auf unterschiedlichen Ebenen zeigen lässt. In den USA ist das Verständnis tiefer verankert, dass die Bürger selbst sozial-politische Veränderungen herbeiführen. John F. Kennedys Ausspruch findet immer noch Anklang in der US-Psyche: „Ask not what your country can do for you – ask what you can do for your country.” In Deutschland verblasst das Subsidiaritätsprinzip zunehmend hinter
DILEMMATA UND ZUKUNFTSFÄHIGKEIT DES LIBERALISMUS 173 der Verstaatlichung und Bürokratisierung auf allen Ebenen. Ein praktisches Beispiel ist, wie mit der Einwanderung umgegangen wird. In den USA wird Integration als die genuine Aufgabe der Zivilgesellschaft und des Migranten angesehen, in Deutschland als Aufgabe der staatlich alimentierten Sozialarbeiter. Letztlich hängt die Entwicklung der Freiheitskultur davon ab, ob der Bürger sich paternalistisch wie ein Kleinkind behandeln lässt oder wie ein mündiger Bürger. Der Deutsche wird sich viel schneller als der USAmerikaner in den Zustand des glückseligen Sklaven fügen. Wie schon Frederick Douglass im 19. Jahrhundert treffend erkannte, ist es die willfährige Unterordnung, die am effektivsten die Unfreiheit zementiert. Das Begründungsdilemma erfordert sowohl kognitive Flexibilität als auch politischen Pragmatismus. Es bedarf philosophischer Grundlagenarbeit, um die Totalität des reduktionistischen Naturalismus argumentativ zu sezieren. Die Freiheit des Individuums muss gedacht werden können angesichts der materialistischen Reduzierung des Individuums auf biochemische Ursachen und soziologische Reduzierung des Individuums auf soziale Diskurse. Robuste Philosophie, die mit theistischen Annahmen arbeitet, ist eher im angelsächsischen Raum zu Hause. Deutschlands Geisteswissenschaftler schmoren immer noch im alten marxistischen Saft – in Form der Frankfurter Schule. Jürgen Habermas hat zwar Beweglichkeit erwiesen, indem er sich anerkennend vor dem Bedeutungsreservoir der religiösen Traditionen verneigte und zugab, dass die säkularisierte Sprache nicht den religiösen Bedeutungshorizont durch Übersetzung einholen kann.21 Es geht jedoch um mehr als Anerkennung. Letztlich müssen sich westliche Intellektuelle von der Aufklärungsgeschichte als Substruktionsgeschichte verabschieden. Substruktionsnarrative interpretiert die Aufklärung als die Befreiung des Individuums vom Ballast der Tradition und Religion und das Fortschreiten zum festen freiheitlich-rationalen Kern. Charles Taylor hat eindrücklich gezeigt, dass diese Narrative zu einfach sind und der historischen Komplexität nicht entsprechen.22 Remi Bragues genealogische Sicht, wonach die westlichen Ideale sich aus sehr unterschiedlichen Wurzeln formen, muss als
174 OLEG DIK komplexe Wirklichkeit anerkannt werden, damit die Idee der Freiheit lebendig bleibt. Athen und Rom dürfen nicht von Jerusalem getrennt werden. Praktisch bedeutet es, dass libertär-liberale Denker mit Konservativen jeglichen Milieus und den klassischen Linksliberalen aus strategischen Gründe eine lose Allianz eingehen müssen, um die Pluralität der Meinungen gegen rechte, linksradikale und religiös-totalitäre Gruppen zu behaupten. Sonst wird die Meinungsfreiheit als Konsens der freiheitlichen Gesellschaft auseinandergerissen. Diese Entwicklung sehen wir gerade in den USA, wo die Political Correctness und Identitätskämpfe seitens der Linksextremen zunehmend den spiegelartigen Reflex seitens der Rechtsextremen fördern. In Deutschland kommt zu der Extremisierung der politischen Ränder noch der politische Islam hinzu und erschafft damit ein Radikalitätsdreieck. Zunehmend formiert sich jedoch eine Allianz der Mitte aus unerwarteten Gruppen, die alle den Geist des Totalitären und Intoleranten fürchten. „A letter on justice and open debate“ ist ein leuchtendes Beispiel dieser Allianz der liberalen Mitte in den USA.23 Der Pragmatismus ist eher eine US-amerikanische Tugend. Die Deutschen sind dagegen eher ideologisch-moralistisch veranlagt. Wir sehen zunehmend eine Verhärtung ideologischer Fronten in Deutschland. Die liberale Mitte wird dazwischen zerrieben. Die freiheitlich-konservativen Parteien (FDP und CDU) drifteten durch Merkel immer weiter nach links. Durch das konservative Vakuum auf Parteienebene wurde die AfD geboren, welche von allen politischen Beteiligten als Nazipartei verunglimpft wird. Die AfD schlägt genauso zurück und malt das Gespenst der DDR 2.0 an die Wand. Somit wurden die deutschen totalitären Gespenster wieder zum Leben erweckt, und die liberale Mitte erstarrt wie das Kaninchen vor der Kobra in Hypnose vor der Wiederkehr des Immergleichen. Diese Verhärtung verhindert neue Allianzen und frische Diskurse. Die Deutschen scheinen dazu verdammt zu sein, ihre freiheitsfeindliche Geschichte des 20. Jahrhunderts zu wiederholen. Sie scheinen schon wieder auf der glatten moralischen Bahn in die Sklaverei zu rutschen.
DILEMMATA UND ZUKUNFTSFÄHIGKEIT DES LIBERALISMUS 175 Es ist kein Zufall, dass weder sozialistische noch nationalsozialistische Ideologien in den USA Fuß fassen konnten. Schon Alexis de Tocqueville beschrieb Anfang des 19. Jahrhunderts freiheitsliebende, lokale Strukturen, die den Einzelnen zur Selbstwirksamkeit ermächtigten und die beste Immunisierung gegen europäische Ideologien boten. Es ist bezeichnend, dass die kommunitaristische Weiterentwicklung des Liberalismus von den Intellektuellen kam, die die positive Wirkung der lokalen Gemeinschaften auf die Entwicklung des Individuums hervorhoben und somit den Liberalismus auf ein robusteres Fundament stellten. Das Denken folgt immer der Erfahrung. Charles Taylor, Robert Bellah, Michael Walzer und Alasdair MacIntyre, um nur einige zu nennen, haben überzeugend beschrieben, dass eine emanzipatorische und vernünftige Individualität aus der gesunden Gemeinschaft erwächst. Somit können sie nicht gegeneinander ausgespielt werden.24 Fehlt diese kommunitaristische Erfahrung und positive Verwurzelung, tendieren Intellektuelle zu einer ideologischen Gegenüberstellung von Ich und Wir. Die Reduzierung, und somit Überzeichnung, der sozialen Wirklichkeit könnte aus der psychologischen Instabilität resultieren, in welcher der Intellektuelle durch sein Denken versucht, die Sicherheit und Kontrolle zu erschaffen, die er im Laufe seiner Sozialisation nicht erfahren hatte. Letztlich taumelt so eine Gesellschaft vom krankhaften Individualismus in die ekstatische Verschmelzung mit der Masse und wieder zurück. Ein Kennzeichen sowohl sozialistischer als auch nationalsozialistischer Ideologien ist nicht nur die Negation des Individuellen, sondern vor allem auch die Negation der vorpolitischen Gemeinschaften wie Familie und staatsunabhängiger Religion. Der Einzelne muss sich in diesen totalitären Ideologien der staatlichen Ordnung fügen und in dieser aufgehen. Ein neueres Beispiel dieses geschlossenen Systems, angewandt auf die Migration in Deutschland, ist das Buch von Naika Foroutan: Die postmigrantische Gesellschaft.25 Sie spricht sowohl den ethnischen Deutschen als auch den Migranten ihre kulturell-religiösen Identitäten ab, teilt die Gesellschaft in gute und schlechte Gruppen, willkürlich je nach ihrer ökonomisch-politischen Macht,
176 OLEG DIK auf, und plädiert für einen offenen Kampf, damit Ergebnisgleichheit erzielt wird. Die Zugehörigkeit zu der „guten Gruppe“ entscheidet sich an der von Foroutan postulierten moralischen Haltung.26 Diese Einteilung der Gesellschaft in gute und böse Gruppen und das Herbeisehnen der paradiesischen Gleichheit mit allen Mitteln riecht nach sowjetischen Gulags. Der Soziologe Bruno Latour spricht im Zusammenhang von solchen Theorien zu Recht von einer intellektuellen „Barbarei“, weil der Intellektuelle sich über die Naiven erhebt, das existentielle Fundament unter ihnen zerstört und die entstehende Leere durch postulierte „wahre“ Ursachen ersetzt.27 Das größere Vakuum der vorpolitischen Gemeinschaften macht die Deutschen eher anfällig für totalitäre Ideologien als USAmerikaner. Der deutsche Rechtsstaat spiegelt die innerdeutsche, moralische Zerrissenheit zwischen Gut und Böse. Der Moralismus verhindert jedoch auf lange Sicht pragmatisches Handeln. Mein irakischer Freund hatte Recht, dass ein schwacher, willkürlich handelnder Staat keinen Respekt verdient. Inmitten der Coronakrise zerstörte der deutsche Staat den Rest des Vertrauens durch sein willkürliches Handeln. Auf der einen Seite schleift er die Grundrechte seiner Bürger und durchbricht die durch das Grundgesetz garantierten Grenzen (zum Beispiel die Unverletzlichkeit der Wohnung, Artikel 13 GG), auf der anderen Seite gab die Bundesregierung 2015 die nationale Souveränität auf, indem sie die Kontrolle über ihre Grenzen aufgab. Diese Widersprüchlichkeit fällt sowohl den Migranten als auch den ethnischen Deutschen auf. Die einen reagieren mit offener Verachtung gegenüber der Schwäche, die anderen ziehen sich zurück in die Schweigespirale. Ohne eine gemeinsame Metaerzählung und ohne einen unparteiisch-starken Rechtsstaat ist eine pluralistische Gesellschaft zum Scheitern verurteilt. Im Moment zerlegt sich das deutsche Rechtssystem selbst, wie der Berliner Oberstaatsanwalt Ralph Knispel detailliert schildert.28 Noch werden die Fliehkräfte in Deutschland von den unsichtbaren Fäden des Wohlfahrtstaates zusammengehalten. Doch wir erahnen schon das über uns schwebende Damoklesschwert, je hö-
DILEMMATA UND ZUKUNFTSFÄHIGKEIT DES LIBERALISMUS 177 her die Wahrscheinlichkeit wird, dass der Wohlfahrtsstaat aufgrund der demographischen Entwicklung und des wirtschaftlichen Abschwungs zerbricht. Die wichtigsten spalterischen Gruppen sind also nicht die Links- und Rechtsradikalen. Das Hauptproblem ist die Schwäche des Liberalismus. Zivilisationen werden nicht primär durch äußere Kräfte zerrissen, sondern implodieren aufgrund innerer Schwäche. Rapide kulturell-religiöse Pluralisierung infolge der Migration ist ein Test für die liberaldemokratischen Muskeln in den USA und Deutschland. Entweder reformiert sich die liberale Idee, löst ihre Dilemmata und wird zum verkörperten sozialen Band, oder die pluralistischen Gesellschaften zerfallen in tribale, chaotische Flickenteppiche: mit all den negativen Folgen, die wir in der Geschichte zur Genüge beobachten konnten. Als Migrant liebe ich mein neues deutsches Heimatland und hoffe auf eine friedliche, pluralistische und freiheitliche Zukunft dieses Landes. Ich hoffe, mit diesem Essay einen winzigen Beitrag zu diesem Ziel geleistet zu haben.
Anmerkungen 1
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Arthur M. Schlesinger, Die Spaltung Amerikas. Überlegungen zu einer multikulturellen Gesellschaft (Stuttgart: ibidem, 2020, übersetzt von Paul Nellen; Original: The Disuniting of America ist 1998 erschienen), S. 160. Friedrich A. Hayek, Der Weg zur Knechtschaft (Reinbek/München: Lau-Verlag, 2014 [1944]), S. 158ff. Simone Weil zum gleichen Fazit, wonach Faschismus und Kommunismus im gleichen ideellen Boden wurzeln. Siehe: Simone Weil, „The Power of Words”, in Simone Weil, An Anthology, hg. Von Siân Miles (London: Virago, 1986), S. 238–259, hier S. 245ff. Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man (New York: Free Press, 1992). Schlesinger, Die Spaltung Amerikas, S. 157. Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order (New York: Simon & Schuster, 1996). Die Etymologie des Begriffs Eschatologie kommt aus den Altgriechischen. τὰ ἔσχατα bezeichnet die letzten Dinge und λόγος bezeichnet das Wort, die Lehre. Eschatologie ist also die Lehre von den letzten Dingen, sowohl für die Menschen als auch für den Kosmos. Ursprünglich im religiösen Kontext verankert, wird die Eschatologie seit der Aufklärung zunehmend säkularisiert.
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Die Ironie der Geschichte ist, dass John S. Mill gerade China als Menetekel an die Wand malte, siehe John S. Mill, On Liberty (Kitchener: Batoche Books, 2001 [1859]), S. 66f. Ebd., S. 14ff. Yuval Harari, Homo Deus: A Brief History of Tomorrow (London: Vintage, 2017), S. 222–283. Aldous Huxley hat in seiner Dystopie Brave New World schon 1932 verblüffende Entwicklungen unserer Gegenwart vorweggenommen. In seinem Roman Die Brüder Karamasow lässt Dostojewski Ivan die Geschichte vom Großinquisitor erzählen, der gegenüber dem wiederkommenden Jesus diese Sicht von der Freiheit äußert. Demnach sei der Mensch schwach, um die Opfer und Konsequenzen der Freiheit auf sich zu nehmen. Siehe: Fjodor M. Dostojewski, Bratja Karamasowi (Moskau: Eksmo, 2005 [1880]), S. 254–273. Austin hat gezeigt, dass die Bedeutung einer Proposition sich nur innerhalb des performativen Kontexts erschließt. Siehe: John L. Austin, How to do things with words, hg. von J. O. Urmson und M. Sbisa (Oxford/New York: Oxford University Press, 1976), S. 100. Schlesinger, Die Spaltung Amerikas, S. 156. Remi Brague, Eccentric Culture: A Theory of Western Culture (South Bend: St. Augustine’s Press, 2009), S. 92–110. Bertrand Russell, A Free Man’s Worship (New York: Routledge, 1976 [1903]). Dies ist ein Slangwort aus Berlin-Wedding. Dies ist ein Argument von Scott Atran für die Anziehungskraft von politischem Islam auf Jugendliche. Siehe: Scott Atran, „The Youth Needs Values and Dreams” (2015): https://www.youtube.com/watch?v=qlbirlSA-dc. Helmut Schelsky, Die Arbeit tun die anderen (Opladen: Westdeutscher Verlag, 1975). Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht Frankfurt a.M.: suhrkamp, 1976), S. 60. Daniel Cohn-Bendit und Thomas Schmid, „Wenn der Westen unwiderstehlich wird”, DIE ZEIT, 22. November 1991: https://www.zeit.de/1991/48/wennder-westen-unwiderstehlich-wird/seite-2. Matthäusevangelium 7:15 ff., die Bibel. Jürgen Habermas, Zeit der Übergänge (Frankfurt a.M.: suhrkamp, 2001), S. 173ff. Charles Taylor, A Secular Age (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 2007), S. 13ff. https://harpers.org/a-letter-on-justice-and-open-debate/ Eine gute Einführung in die kommunitaristischen Kritik des Liberalismus in der deutschen Sprache ist der Sammelband von Axel Honneth, Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften (Frankfurt/New York: Campus, 1994). Naika Foroutan, Die Postmigrantische Gesellschaft (Bielefeld: transcript, 2019). Ebd., S. 225. Bruno Latour, „Why has critique run out of steam? From matters of fact to matters of concern”, The Winter Anthology, 5 (2021): http://winteranthology. com/?vol=5&author=latour&title=critique. Ralph Knispel, Rechtsstaat am Ende: Ein Oberstaatsanwalt schlägt Alarm (Berlin: Ullstein, 2021).
Was ist das linke Problem mit Identitätspolitik? Peter Unfried „Der Linken geht es um die Bekämpfung von Ungleichheit. Identitätspolitik geht es um die Bekämpfung von Gleichheit.“ Harald Welzer1
Es gibt kein linkes Problem mit Identitätspolitik. Überhaupt gar keins. Linke Sozialpolitik und linke Identitätspolitik werden zusammen in perfekter Harmonie vorangebracht, und dann ist die Welt endlich perfekt. So stellt sich der akademische Classic-Linke das vor. Zwei benachteiligte Gruppen, verkürzt gesagt, Arbeiter hier, Einwanderer, Frauen und diverse andere Minderheiten der bundesrepublikanischen Gesellschaft dort, tun sich gegen die herrschende Klasse zusammen, verkürzt gesagt, gegen Privilegierte, die ihre Privilegien schützen. Nun muss man leider darauf hinweisen, dass dieser Typus Linker sich manches schön vorstellt, was die richtige Welt nicht hergibt. Die Gegenthese lautet: Es gibt ein großes linkes Problem mit Identitätspolitik, und worin das besteht, werde ich im Folgenden erörtern. Historisch betrachtet begann Identitätspolitik Ende des 18. Jahrhunderts als Gegenreaktion auf die universalistische Aufklärung.2 Der Gleichheit aller Menschen wird eine kulturelle oder ethnische oder religiöse Unterscheidung verschiedener Gruppen entgegengestellt, deren Mitglieder in der Gruppe gleich, aber anders als die anderer Gruppen sind. Identitätspolitik begann also als konservative oder gar reaktionäre Bewegung gegen den Universalismus. Diese Richtung der Bewegung hat auch die emanzipatorisch gemeinte linke Identitätspolitik in ihrer zugespitzten Form. Es wird heute von Linken gern gesagt, „linke Identitätspolitik“ sei ein Kampfbegriff der Rechten und spiele in deren Denken und Strategien eine viel größere Rolle als in linken. Man wisse ja
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180 PETER UNFRIED auch gar nicht so genau, was das eigentlich sein solle. Laut Wikipedia bezeichnet Identitätspolitik „eine Zuschreibung für politisches Handeln, bei der Bedürfnisse einer spezifischen Gruppe von Menschen im Mittelpunkt stehen. Angestrebt werden höhere Anerkennung der Gruppe, die Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Position und die Stärkung ihres Einflusses“.3 Die Notwendigkeit, eine Entwicklung zu fördern, die die gesellschaftliche Position von Menschen verbessert und ihren Einfluss stärkt, steht für mich außer Frage. Allerdings steht für mich genauso außer Frage, dass die Bundesrepublik nicht mit den USA zu vergleichen ist, dass diese Gesellschaft seit 1945 soziale und emanzipatorische Fortschritte und große Freiheitsgewinne gemacht hat und dass wichtige Ziele der Gleichstellung von Einwanderern, Schwulen, Lesben und anderen Minderheiten erreicht worden sind. Es ist zunächst auch notwendig, zu unterscheiden zwischen einerseits den politischen und mediengesellschaftlichen Kämpfen lange ausgegrenzter Gruppen um Gleichberechtigung und Anerkennung, in denen grundlegende und gemeinsame Fragen der Gegenwart verhandelt werden: Frauen, Nicht-Heterosexuelle, religiös oder ethnisch nicht der jeweiligen gesellschaftlichen Norm entsprechende Menschen. Und andererseits der Politik-, Macht- und auch Karrierestrategie eines akademisch geprägten Clans, dessen Mitglieder ich im Folgenden als Superwokies bezeichnen werde, nach dem von ihnen benutzten Begriff „Wokeness“, mit dem sie für sich einen allen anderen gegenüber überlegenen Bewusstseinszustand reklamieren. Auch hier muss man sich klarmachen, dass es verschiedenste individuelle Ausprägungen von Wokeness gibt. Ich räume auch ein, dass der Begriff Superwokie etwas karikierend daherkommt. Der entscheidende Punkt besteht darin, dass es dem Superwokie im Gegensatz zum reformistischen Wokie nicht um die Verbesserung der liberaldemokratischen Gesellschaft geht, sondern um einen Angriff auf die liberale Demokratie. Die linke Identitätspolitik hat jedenfalls ihren Ursprung 1977, zumindest was den Begriff angeht. Er taucht in einem Manifest des Combahee River Collective auf, einer Gruppe US-amerikanischer
WAS IST DAS LINKE PROBLEM MIT IDENTITÄTSPOLITIK? 181 schwarzer, lesbischer Frauen, die dort behaupten, dass die radikalste Politik gegen Ungleichheit aus der eigenen Identität komme.4 Das kann auf eigene Ungleichheitserfahrungen rekurrieren. Es kann aber auch heißen: Identitätspolitik ist eine Politik, die ihre Begründung aus einer besonderen Identität erfährt, welche die einen haben – und die anderen nicht. Darum geht es: Ob Identitätspolitik links im Sinne von universalistisch ist und Ungleichheit überwinden will oder ob Identitätspolitik rechts ist – und mit autoritären Mitteln jenseits von liberaldemokratischem Streit eine Ungleichheit durch eine andere ersetzen will. Nun muss man mit dem Begriff „die Linke“ vorsichtig sein. Weder sollte man ihn für eine einzelne Partei gebrauchen (und, gerade weil diese ihn für sich kapern will, besser von „Linkspartei“ sprechen). Noch sollte man frohgemut von „der Linken“ als einer gesellschaftlich-intellektuellen Bewegung sprechen, wie man das im 20. Jahrhundert tat. Diese „Linke“ gibt es nicht. Auch die Gleichsetzung von „links“ und „progressiv“ funktioniert nicht mehr. Und auch der Begriff „links“ selbst ist nur noch eingeschränkt tauglich, weil sich die meisten zentralen Fragen und Krisen des 21. Jahrhunderts nicht mit der Antithese links vs. rechts fassen lassen.5 Ferner ist „die Linke“ traditionell fraktioniert in multiple Untergruppen, die sich mit Vorliebe untereinander bekämpfen. Wichtig für das Verständnis dieses Teils der Gesellschaft und auch seiner Kultur ist die Behelfsunterteilung in vier Untergruppen: Reformistische und regierungsfixierte Olaf-Scholz-Sozialdemokraten, auf Identitätspolitik fokussierte Linksemanzipatorische, auf Sozialpolitik fokussierte Linkssozialdemokraten und ökosoziale Bürger, die von den ersten drei Gruppen skeptisch gesehen werden. Das ist aber nur eine Annäherung. Realität ist die Komplexität pluralistischer Individuen, die sich linken Eindeutigkeitsfantasien entzieht. Selbst Sozialpolitik und Umverteilung, die als linkes Alleinstellungsmerkmal verstanden werden könnten, werden auch von „rechten“ Regierungen praktiziert, etwa in Polen unter der PiS-Partei. Sie verteilen um, um sozial schwächere Teile der Bevölkerung für sich und ihre minderheitenausgrenzende und anti-liberaldemokratische Politik zu gewinnen. Bei den dänischen Sozialdemokra-
182 PETER UNFRIED ten könnte es umgekehrt sein: Sie machen rechte Einwanderungspolitik, um sozial Schwächere für ihre linke Sozialpolitik zu gewinnen. Es ist jedenfalls kein Zufall, dass im Zusammenprall von Sozialpolitik und Identitätspolitik das Problem sichtbar wird, das vor allem SPD und Linkspartei haben und dem sie lange ausgewichen sind: die Heterogenität ihrer Zielgruppen, hier Arbeiter beziehungsweise Dienstleistungsbeschäftigte, dort akademische Linke. Die US-Feministin Nancy Fraser hat sehr früh den fehlenden Materialismus der Identitätspolitik thematisiert. Sie spricht von einem „progressiven Neoliberalismus“, auf den sich linke Politik verkürzt habe. Erst in jüngster Zeit gibt es auch in beiden deutschen linken Parteien Versuche, sich diesem Problem zu stellen und damit auch dem Aufstieg der Rechtspopulisten, der sich stark auf ihre Kosten vollzieht und auch ihren Ex-Wählern verdankt. Bisher passiert das aber meist sehr holzschnittartig. Ein linker Politiker behauptet, den „Linken“ sei die Umbenennung einer rassistisch konnotierten Straße wichtiger als Bildungschancen von Arbeiterkindern, worauf andere Linke aufschreien, der sei ja rechts und man solle sich schämen. Sahra Wagenknecht ist die populärste linke Politikerin (die SPD und alle anderen Geschlechter sind mitgemeint). Interessanterweise wurde Wagenknecht – der langjährigen Fraktionsvorsitzenden der Linken im Bundestag – wegen ihrer Positionen unterstellt, dass sie gar keine Linke mehr sein könne. Jedenfalls für Linke. Wagenknecht hat sich am weitesten auf dieses diskursive Terrain gewagt, um nach eigener Darstellung den Niedergang der linken Parteien und den Aufstieg der Rechtspopulisten zu stoppen. Sie sieht einen Großteil der Bevölkerung von den linken Parteien nicht mehr repräsentiert, was für sie an der neoliberalen Wirtschaftspolitik seit dem Schröder-Blair-Schwenk der Sozialdemokratie Ende der 1990er-Jahre liegt. Sie sieht das aber verknüpft mit einem deformierten „Linksliberalismus“ – ein Begriff, den sie nur noch abwertend einsetzt. So sagte sie in einem taz-Gespräch: „Das Politikpaket aus Links- und Neoliberalismus besteht darin, dass man fleißig Anti-Diskriminierungs- oder Frauenbeauftragte schafft und gleichzeitig einen riesigen Niedriglohnsektor, in den dann vor
WAS IST DAS LINKE PROBLEM MIT IDENTITÄTSPOLITIK? 183 allem Frauen und Migranten abgedrängt werden.“6 Der Fortschritt, so fügte sie süffisant hinzu, bestehe darin, dass statt weißer Männer Karriere-Frauen oder Karriere-Menschen migrantischer Herkunft die Belegschaften rausschmeißen würden. „Das ist linke Alibipolitik. Oder man führt Sprachregelungen ein, schafft Lehrstühle für Gender-Theorie – und gleichzeitig macht man eine Politik, die die Ungleichheit vergrößert und so nicht zuletzt die soziale Situation von Frauen verschlechtert. Das ist die Heuchelei der sogenannten Kulturlinken.“7 Das linke Problem kulminiert in Identitätspolitik. Für Wagenknecht sind deren Verfechter „immer beleidigte Mimosen, immer skurrilere Minderheiten“, die „Identität in einer Marotte finden“, wie sie in ihrem Buch Die Selbstgerechten schreibt.8 Diese Begriffe und Zuspitzungen waren selbstverständlich für den Empörungsund Schnappatmungsmarkt gedacht und wurden auch entsprechend rezipiert. Aber Wagenknecht ist überzeugt, dass diese emanzipatorisch gedachte Gerechtigkeitspolitik letztlich nur Symbolpolitik für wenige und vergleichsweise Privilegierte ist und das Gros der potentiellen Adressaten linker Politik nicht erreicht, ihnen nicht hilft, mit ihren Problemen nichts zu tun hat und diese sich deshalb resigniert abwenden und/oder sogar wütend werden, weil sie sich von oben herab behandelt oder gar verachtet fühlen. Wagenknecht: „Identitätspolitik ist vor allem ein Angriff auf Solidarität und WirGefühl. Weil sie das Trennende in den Vordergrund stellt, statt das Gemeinsame. Wertgeschätzt wird nur, was von der Mehrheitsgesellschaft abweicht. Das ‚Normaleʻ ist geradezu verdächtig. Und die Abstammung oder die sexuelle Orientierung sollen darüber entscheiden, wer sich wozu überhaupt äußern darf. Das ist eine Diskussion, die am Ende den rechten Identitätspolitikern, die es ja auch noch gibt und die dankbar für diese Vorlagen sind, die Bälle zuspielt.“ Im Gegensatz dazu steht die klassische Argumentation der akademischen Linken, die etwa der Wiener Publizist und Intellektuelle Robert Misik – in einem Beitrag für die liberalkonservative NZZ – gebraucht: Die Arbeiterklasse kämpfte nie nur für höhere Löhne, ordentliche Renten, mehr Urlaub, weniger Arbeitszeit, sondern immer auch um kulturelle Anerkennung und Respekt für ihre
184 PETER UNFRIED Lebensweise und Werte, sie kämpfte darum, „in ihrer Identität“ gleichberechtigt behandelt zu werden. Die Linken seien heute nicht „zerrissen“ zwischen Sozial- und Identitätspolitik, sondern stünden mit dem emanzipatorischen Nebeneinander fest in ihrer Tradition.9 Linke Parteien hätten selbstverständlich „die Anliegen jener zu vertreten, denen wegen ihrer Hautfarbe, ihres Herkommens, der Abwertung, die sie erfahren, dauernd mit Respektlosigkeit begegnet wird, die es deshalb doppelt und dreifach schwer haben und oft in Statusarmut, Prekarität und neuer Proletarisierung gefangen sind.“ Genauso hätten sie „die Anliegen der autochthonen weißen Arbeiterklassen zu vertreten, denen die Abstiegsangst in den Knochen steckt und die das berechtigte Gefühl haben, dass ihnen niemand zuhört, dass sich für sie niemand mehr interessiert.“ Misik schreibt, es sei „eine absurde Annahme, dass sich diese Dinge gegenseitig ausschließen. Im Gegenteil: Sie gehören zusammen“.10 Das wird im Proseminar „Marxismus gleich Humanismus“ auch jedem plausibel erscheinen. In der gelebten Welt sieht das anders aus. Denn die Lebensweisen und Werte der akademischemanzipatorischen Bürger und der autochthonen Arbeiter- und Dienstleistungsleute prallen aufeinander, der Gegensatz ist evident, und das wird von interessierten Büchsenspannern beider Seiten schön befeuert, um aus dem gegenseitigen Argwohn Wut und Hass zu machen. Die Philosophin Isolde Charim weist im Wiener Magazin Falter darauf hin, dass es jenseits der Wokeness, „also den Exzessen der Empfindlichkeits- und Empörungsbereitschaft“, ein entscheidendes Problem gebe, das die „Friedensformel eines Sowohl-alsauch“ übersehe: Die Nation.11 Die „Internationale“ mag zwar im Liedgut das Menschenrecht erkämpfen, aber faktisch-politisch ist der homogene Nationalstaat historisch der Rahmen und die Voraussetzung für linke Sozialpolitik gewesen. Die Umverteilung und Bildungspolitik fand und findet in diesem Rahmen statt. Was wir heute als linke Identitätspolitik bezeichnen, hat keinen nationalen Rahmen, sondern ist, sagt Charim, „ein Ansturm gegen das, wofür die Nation steht. Oder stand.“12
WAS IST DAS LINKE PROBLEM MIT IDENTITÄTSPOLITIK? 185 Der Superwokie, in der Regel privilegierter Besitzer eines deutschen Passes, bringt das auf die zackige Formel: „Deutschland canceln!“ Das weist einerseits auf ein anti-deutsches Kulturerbe der 68er hin. Andererseits scheint es Ausdruck eines erstaunlich apolitischen Bewusstseins und Kenntnisstandes zu sein. Schließlich ist der Staat die Institution, die den sozialen Ausgleich betreibt und Schulen, Krankenhäuser, Gerichte usw. bereitstellt, um Lebensgrundlagen, Freiheit und Sicherheit seiner Bürger zu schützen, also für „links“ zuständig ist. Diese zugespitzte Form von Identitätspolitik ist aber nicht nur ein Ansturm gegen den Nationalstaat, sondern gegen „die alte Normalität“, sagt Charim; sei es Sprache, seien es Geschlechter, seien es kulturelle Gepflogenheiten. Das „Deutschland“, das weg muss, meint für diese bundesdeutschen Bürger: Rassismus, Misogynie, Nazis, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken, Björn Höcke, Alexander Gauland, HansGeorg Maaßen, aber auch Dieter Nuhr, Boris Palmer, Sahra Wagenknecht, Polizei, Nationalhymne, Deutschlandfahne, Patriotismus, Helene-Fischer-Musik und letztlich eben auch die Mehrheitsgesellschaft, also das „Wir“. Aber es geht noch tiefer: Was die einen als „nationale Normalität“ betrachten und auch zu brauchen glauben, um sich als Teil eines Gemeinsamen fühlen zu können, wird – teilweise mit sehr guten Gründen, teilweise aber auch destruktiv – in Frage gestellt und soll geächtet oder überwunden werden. Das wiederum ängstigt die nationalkulturell Verankerten, weil sie sich damit verbunden fühlen und sich fragen, was aus ihnen wird und von ihnen bleibt, wenn sie nicht mehr jodeln und Schweinebraten essen dürfen. Diese Ängste wiederum werden von Populisten nach Kräften geschürt, bis in liberaldemokratische Parteien hinein wie Union und FDP. Daraus ergibt sich ein weiterer Konflikt, der auf den konstitutiven Kern eines linken Zukunftsprojekts verweist, nämlich Solidarität. Der Berliner Soziologe Heinz Bude hat in vielen Büchern und Interviews die Krise der Sozialdemokratie analysiert, und im Grunde, sagt er, habe sie mit Schröders und Blairs „neuer Mitte“ Ende des letzten Jahrhunderts die Solidarität aufgegeben und sich
186 PETER UNFRIED auf Gerechtigkeit reduziert.13 Gerechtigkeit klingt zunächst noch gut, aber der Unterschied sei, sagt Bude, folgender: Gerechtigkeit ist eine einseitige Beziehung – etwas, was einem zusteht. Solidarität ist eine wechselseitige Beziehung. Man bekommt etwas, wenn man es braucht und ohne dass es einem zusteht. Man gibt aber auch etwas, ohne dass man gezwungen wird. Solidarität ist die Praxis des Teilens. In diesem Denken haben also Schröder und Blair in ihrem Versuch, dem Ende des industriegesellschaftlichen Zeitalters entsprechend, den Einzelnen für die veränderten Zeiten tauglich zu machen, sich „für eine Idee subjektiver Rechte und gegen eine Idee kollektiver Verpflichtungen“ entschieden. Die Sozialdemokratie sei nach vorn gesprungen, habe die „Kraft des Einzelnen“ entdeckt und fördern wollen, und dafür gab es auch gute Gründe. Aber das Projekt scheiterte: „Die Ideologie des starken Einzelnen hat zum Verfall der Gesellschaft und zum Ausverkauf der Politik an die Wirtschaft geführt.“14 Vor allem führte es dazu, dass klassische Wähler der Sozialdemokratie sich von ihr abwandten, weil das individuelle Projekt sie überforderte und sie sich schutzlos und alleingelassen fühlten. Dadurch bekamen Rechtspopulisten Zugriff auf diese Leute, weil sie ihnen Solidarität versprachen und sie verbal als angeblich rechtmäßigen Teil einer Gruppe Gleicher resozialisierten, jenseits des Staats und der Gesamtgesellschaft. Bestes Beispiel dafür ist Donald Trump. Die staats- und institutionenskeptischen Rechtspopulisten versprechen die Solidarität eines Clans, der ähnlich einem Verbrecherclan seine Mitglieder als „Familie“ betrachtet und dessen Werte denen der Institutionen überlegen sind. Menschen flüchten sich in diesen Clan, weil sie sich von der Gesamtgesellschaft verraten und verlassen fühlen. Wenn sich aber die Zukunft, wie der Soziologe Bude annimmt, nicht mehr über Individualismus definieren kann, dann muss auch linke Politik den Menschen ein gemeinsames und solidarisches Projekt anbieten, dessen Teil sie sind. Das aber ist das Gegenteil von Superwokie-Identitätspolitik. „Wenn es nur darum geht, Rechte für Problemgruppen zu organisieren, gerät der Anspruch fürs Ganze aus dem Blick“, sagt Bude.
WAS IST DAS LINKE PROBLEM MIT IDENTITÄTSPOLITIK? 187 Und weiter: „Die schlimmste Idee von Gesellschaft ist mit den Forderungen nach ‚safe space‘ verbunden.“15 Die Idee des Safe Space, an US-amerikanischen Universitäten begründet, meint, Räume frei zu halten von allem, wodurch sich jemand beleidigt, behelligt oder diskriminiert fühlen könnte: Menschen, Sprache, Positionen, Bücher. „Die gegenseitige Sicherung von ‚safe space‘ ist das Gegenteil von Solidarität“, sagt Bude. Es gehe darum, „miteinander zu Recht zu kommen“, in einem solidarischen Geben und Nehmen.16 Dieses Miteinanderzurechtkommen oder auch nur, es miteinander auszuhalten, wird von linker Identitätspolitik als unzumutbar abgelehnt. Nun beanspruchen Superwokies den Begriff der Solidarität ja auch für sich. Er wird als „bedingungslose Solidarität“ eingefordert, ist aber kein Geben und Nehmen, sondern schließt nicht nur durch das Adjektiv an die Bedeutung von „bedingungslose Kapitulation“ an. Es gibt nichts zu verhandeln, es gibt keine Argumente; entweder du bist für uns, also „bedingungslos solidarisch“ – oder du bist Rassist. Entweder Opfer oder Täter. Nicht nur hier kann man sehen: Wie die staatsphobe Rechte arbeitet auch dieser superwoke Antirassismus mit Clan-Strukturen, denn die „bedingungslose Solidarität“ kommt ausschließlich für Mitglieder des Clans zur Anwendung. Menschen bestimmter Ethnien und Geschlechter sind ausgeschlossen: „Alte, weiße Männer“ etwa sind a priori Täter. Sie werden durch Gruppenzuweisung intersektional diskriminiert. Der regressive Rechtspopulismus hat dieses Opfernarrativ übernommen und umgedreht. Er stellt ein Wir der Dazugehörenden gegen ein liberales Ich und leitet daraus ein Schutzversprechen ab. Hier sind die weißen, sozial und kulturell Abgehängten die Opfer eines angeblichen Diversitätskultes. Beide Ideologien sind auf eine Freund-Feind-Konstellation angewiesen. Sie können also gar nicht auf das Ganze zielen – Staat, Gesellschaft, liberale Demokratie –, sondern nur darauf, den Clan durchzusetzen, letztlich durch Zerstörung aller Institutionen, die auf das Gemeinsame zielen sollen. Dies wird mit der Behauptung des „strukturellen Rassismus“ begründet, also: Alles ist rassistisch – außer dem Clan. Alles wird zum Machtinstrument einer rassistischen Elite erklärt.
188 PETER UNFRIED Dieses superwoke Denken ist nicht linksemanzipatorisch, sondern anti-universalistisch, es richtet sich gegen die Errungenschaften der Aufklärung und das Zusammenleben in einer liberalen Demokratie. Es ist ein sehr pessimistisches Weltbild, das zwar reale und große Probleme und Ungerechtigkeiten markiert, aber keinerlei Lösungen anbietet – außer der totalen Kapitulation aller, die nicht zum Clan gehören. Das wird allerdings wohl nicht ernsthaft angestrebt. Es würde den Opferstatus kosten und die sich selbst zugewiesene moralisch überlegene Identität, also die Grundlage der Sprecherposition. In einer linken Gesellschaft der Gleichen oder einem antirassistischen Paradies hätte der Superwokie keine Funktion, keinen Status und keine herausgehobene Stellung. Die engagiertesten Vertreterinnen von Freund-Feind-Identitätspolitik haben in der Regel eine akademische Aufsteigerbiografie. Als Migranten der zweiten oder dritten Generation rekurrieren sie oft auf die Kränkungs- und Abwertungserfahrungen ihrer Eltern oder Großeltern, die als Müllmänner oder Putzfrauen dem Rassismus und Klassismus einer westlichen Gesellschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgesetzt waren. Trotz einer emanzipatorischen Entwicklung dieser Gesellschaft und ihrer Institutionen, etwa dem neuen Staatsbürgerrecht der rotgrünen Bundesregierung seit 2001, haben auch sie bleibende und schmerzende Diskriminierungserfahrungen machen müssen. Die Gesellschaft hat nicht allen jungen Menschen migrantischer Herkunft etwas anzubieten, sondern das ist – wie bei Menschen ohne migrantische Herkunft – vom Bildungserfolg abhängig, welcher wiederum vom Elternhaus abhängt, wodurch Menschen migrantischer Herkunft quantitativ betrachtet viel schlechtere Chancen haben. Aber gerade die identitätspolitischen Stimmen sind der Beweis, dass man es hier zu etwas bringen kann. Sie besetzen das Thema, um ihm Sichtbarkeit zu verschaffen, aber selbstverständlich auch, um sich selbst Sichtbarkeit zu verschaffen, was ja völlig okay ist. In der realen Mediengesellschaft bedeutet das aber, dass einige irgendwann möglichst radikale Positionen einnehmen. Nur diese bringen Sichtbarkeit, Wahrnehmung und eben auch Reputation, aber um den Preis, dass sie kein gemeinsames Gespräch eröffnen, sondern es verhindern. Und gleichzeitig den radikalen Stimmen des rechtsnationalen
WAS IST DAS LINKE PROBLEM MIT IDENTITÄTSPOLITIK? 189 Randes als Material dienen, um die eigene Anhängerschaft zu vergrößern. Besonders gefährlich wird es, wenn der durch Diskriminierungserfahrungen radikalisierte oder durch Sozialreputationserfahrungen sensibilisierte Superwokie die liberaldemokratische Mitte der Gesellschaft an den rechten, rassistischen Rand schiebt. Das strukturelle Problem, um die Sprache der Superwokies zu verwenden, besteht darin, dass sie die liberaldemokratischen und emanzipatorisch vergleichsweise entwickelten Gesellschaften verachten und verdammen. Es gibt einen wunderschönen Satz aus dem medialen Superwokie-Zirkel, der lautet: „Wir wollen den Deutschen die Kolumnen wegnehmen!“ Jetzt könnte man sagen: Ihr seid doch selbst Deutsche, Leute. Aber mit der Akzeptanz der Realität einer Staatsbürgerschaft und einer womöglich relativ normalen deutschen Bildungskarriere wäre der Unique Selling Point weg. Es würde sichtbar, dass es sich neben dem Anspruch, die lange Zeit allzu migrationsarme Publizistenlandschaft durch die eigene biografische Dimension zu erweitern, auch um ein ganz normales individualistisches Berufsprojekt handelt, wenn man jemanden aus seiner Position schubst, um sie selbst einzunehmen. Was ja ein übliches Vorgehen innerhalb dieser Gesellschaft ist. Durch den behaupteten oder realen Opferstatus kann dieses normal-neoliberale Projekt aber auf eine moralische Hochebene verfrachtet werden. Das Problem beginnt aber, wenn Leute, die Sprecherpositionen für identitätspolitische Missstände innehaben, nicht dazu beitragen, sie zu reduzieren, sondern die Lage eskalieren, indem sie Hass gegen sich produzieren und dann diesen Hass zur Markenbildung verwerten, so dass eine mediengesellschaftliche Radikalitätsspirale entsteht. Wenn das geschieht, hat das Superwokie-Projekt in seiner autoritären Zuspitzung keinen emanzipativen, sondern einen zerstörerischen Effekt für den Zusammenhalt einer liberaldemokratischen Gesellschaft pluralistischer Individuen, die als Gleiche geboren sind. Insofern muss man sehr genau unterscheiden zwischen dem linken emanzipatorischen Projekt der Integration und Gleichstellung bisher benachteiligter Menschen in das Ge-
190 PETER UNFRIED meinsame und dem Superwokie-Projekt der Spaltung und Atomisierung der Gesellschaft. Letzteres ist nicht nur ein linkes Problem, sondern eine Gefahr für die Liberaldemokratie.
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Harald Welzer im Telefongespräch mit dem Autor im Juni 2021. Pascal Bruckner, Der eingebildete Rassismus. Islamophobie und Schuld (Berlin: edition TIAMAT, 2020). https://de.wikipedia.org/wiki/Identit%C3%A4tspolitik [31. Oktober 2023]. Caroline Fourest, Generation beleidigt. Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei (Berlin: edition TIAMAT, 2020), S. 58. Peter Unfried, „Du bist nicht links!“, taz FUTURZWEI-Wahltagebuch; https://taz.de/taz-FUTURZWEI-Wahltagebuch/!5775933/ Sahra Wagenknecht, „Ich würde mich schon auch als Hedonisten bezeichnen“, taz, 29. Mai 2021. Ebd. Sahra Wagenknecht, Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt (Frankfurt a.M.: Campus, 2021), S. 102. Robert Misik, „Was heisst heute links sein?“, Neue Zürcher Zeitung, 21. Mai 2021: https://www.nzz.ch/meinung/respekt-achtung-sicherheit-warum-der -linke-konflikt-zwischen-identitaetspolitik-und-sozialpolitik-fuer-die-normal en-leute-konstruiert-ist-ld.1610767. Ebd. Isolde Charim, „Links: Kampf um einen Begriff“, Falter, 5. Mai 2021. Ebd. Heinz Bude, Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee (München: Hanser, 2020). Heinz Bude, „Der SPD-Komplex“, Frankfurter Rundschau, 4. Juli 2019. Ebd, Ebd.
Mit republikanischer Identität gegen Identitätspolitik Nils Heisterhagen Über Identitätspolitik wurde in den letzten Jahren eigentlich alles gesagt. Die Fronten sind mittlerweile verhärtet. Jeder glaubt in der Debatte, was er glauben will. Identitätspolitiker machen weiter Identitätspolitik und lassen sich nicht dabei stören. Kritiker der Identitätspolitiker verzweifeln weiter daran, wie man so ignorant sein kann, nicht zu merken, dass Identitätspolitik nur zu Wahlniederlagen führt, gesellschaftliche Spaltungen verschärft, Emotionen regelmäßig überkochen lässt. Mittlerweile ist die Identitätspolitik selbst in höchster Parteipolitik angekommen. Bei den Grünen darf man nicht mehr „Indianerhäuptling“ sagen, und die Parteivorsitzende der SPD, Saskia Esken, und der Generalsekretär der Partei, Kevin Kühnert, hätten fast die SPD zerlegt, nachdem sie kundgaben, sich für den verdienten Sozialdemokraten Wolfgang Thierse zu schämen, und zwar nachdem dieser einen harmlosen Text in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung1 veröffentlicht hatte, in dem er alle nur zu ein bisschen mehr Mäßigung aufrief. Am Fall Thierse, wie gesagt: harmlos, eigentlich, sieht man, wie die emotionalen Gefühlsaufwallungen und Filterblasen mittlerweile zu einem immer skurrileren Streit um Nebensächlichkeiten führen. Um Nebenwidersprüche in Nebenwidersprüchen – darum dreht es sich immer mehr. Das Verbindende fehlt. Das große Ganze gerät aus dem Blick. Man zieht sich in Echokammern zurück, in denen man hört und mit Likes versieht, was einem ohnehin gefällt. Man beruft sich innerhalb identitätspolitischer Sympathie so auch immer mehr auf Teilidentitäten, auf Selbstbezügliches, weil man gar nicht mehr den Versuch unternimmt, von sich selbst zugunsten eines größeren Ganzen zu abstrahieren. Oder wie Arthur M. Schlesinger in seinem nun auf Deutsch erschienenen Buch Die
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192 NILS HEISTERHAGEN Spaltung Amerikas schreibt, welches hier kommentiert und neu eingeordnet werden soll: „Doch anstatt die Schönheit des E pluribus unum zu erkennen, ziehen militante Multikulturalisten es vor, das unum abzulehnen und dafür das pluribus zu verherrlichen.“2 Arthur M. Schlesinger beschreibt auch eine Seite weiter, wie Identitätspolitik „zu einem absonderlichen Positionswechsel zwischen der traditionellen Rechten und der traditionellen Linken geführt“ hat.3 Die Rechte war früher partikularistisch und die Linke früher universalistisch. Nun habe sich der Wind gedreht und der „Kult der Ethnizität“ treibe die Linke vom Universalismus weg.4 Dabei ist es gerade dieser Universalismus, der das E pluribus unum, also das Abstrahieren zugunsten eines größeren Ganzen, erlaubt und fördert. „Identitäten“ wie „Menschheit“ oder „Bürger“ sind nur durch die Abstraktion vom eigenen Subjekt und der Vorstellungskraft intersubjektiver und kollektiver Bindungen jenseits persönlicher Merkmale und Herkünfte möglich. Ein ganzes „Gemeinwesen“ und staatliche Entitäten konnten nur entstehen, weil man seit der Aufklärung eine Abkehr von Identitätspolitik vollzogen hat – Identitätspolitik in dem Sinne, dass lokale Fürsten, Kirchen, Religionen und Regionen Identitäten vorgaben. Aus der Stärkung des Individuums einerseits – was wir seit der Aufklärung oft mit Liberalismus bezeichnen – und der Stärkung nationaler und kollektiver Bindungen andererseits – was wir seither oft Republikanismus nennen –, konnte nach der Französischen Revolution eine neue Epoche beginnen. Gerade die USA haben gemäß ihres nationalen Gründungsmottos „E pluribus unum“ diesen aufklärerischen Gedanken aus Europa auf eine neue Stufe gehoben und tatsächlich für eine sehr lange Zeit eine „brillante Lösung für die inhärente Fragilität, ja Explosivität der multiethnischen Gesellschaft“ gefunden.5 Und nun kommt vor allem und zuerst aus den USA eine Konterrevolution. Eine gemeinsame Identität als Nation, ja sogar eine gemeinsame Kultur (in Deutschland oft als Leitkultur bezeichnet) wird so immer mehr in Frage gestellt, und die Gesellschaft parzelliert sich in Teilöffentlichkeiten und Kleinstgruppen, die gegeneinander Ansprüche stellen und sich mit Fremdheit, Ablehnung und Konflikt-
MIT REPUBLIKANISCHER IDENTITÄT GEGEN IDENTITÄTSPOLITIK 193 orientierung begegnen, wodurch aus „vielem“ natürlich nicht mehr so leicht „eins“ werden kann. Arthur M. Schlesinger hat diese Konterrevolution schon vor mehr als 20 Jahren gesehen. Was ihn mit dem Philosophen Richard Rorty verbindet, der ebenfalls die Debatten und Auseinandersetzungen, die wir heute unter Identitätspolitik fassen, schon früh hat kommen sehen. „Spaltung“ von Nationen, Spaltung von Bürgern und, ja, auch Spaltung der politischen Linken ist heute keine rein akademische Überlegung und Beobachtung mehr, sondern wird breit in der medialen Öffentlichkeit diskutiert; zudem ist sie im Parteileben, an Universitäten, Schulen und im Feuilleton großer Zeitungen angekommen. Schlesingers Buch empfiehlt uns aber auch einen Ausweg aus der Polarisierung, aus der Abgrenzung zueinander und der wachsenden identitätspolitischen Selbstbespiegelung. Und die Antwort wirkt paradox, ist es aber nicht. Aus seinem Buch kann man eine Gegenstrategie herauslesen: Mit republikanischer Identität gegen Identitätspolitik. Das liest sich dann so: Die Republik verkörpert Ideale, die ethnische, religiöse und politische Grenzen transzendieren. Es handelt sich um ein Experiment, das eine Zeit lang halbwegs erfolgreich war, zur Schaffung einer gemeinsamen Identität für Menschen unterschiedlicher Ethnien, Religionen, Sprachen und Kulturen. Doch kann das Experiment nur so lange erfolgreich sein, wie die Amerikaner auch weiterhin an das Ziel glauben. Wenn das Land sich jetzt abwendet von George Washingtons alter Zielvorstellung des „one people“ – was ist dann seine Zukunft? Das Auseinanderfallen der nationalen Gemeinschaft? Apartheid? Balkanisierung? Tribalisierung?
Die Ideale der Republik, das Selbstverständnis als Citoyen, als Bürger, die Internalisierung republikanischer Pflichten und sich an diesen Idealen und diesem Selbstverständnis zu orientieren sind etwas, das Menschen in Absehung von Merkmalen ihrer Person ermöglicht, sich auf das zu konzentrieren, was Menschen verbindet, anstatt Trennendes in den Blick zu nehmen. Insofern ist Identitätspolitik auf eine Weise doch wichtig, nämlich insofern, als sie es zur Pflicht macht, sich mit seiner republikanischen Identität bewusst zu identifizieren und daraus Schlussfolgerungen für das eigene Weltbild und das eigene Agieren als
194 NILS HEISTERHAGEN Bürger zu ziehen. Eine solche Identitätspolitik hat aber mit der heutigen Identitätspolitik nichts zu tun, weil sie weder über subjektive Betroffenheiten, Ich-Gefühle, noch über Zughörigkeitsbekundungen zu Partikularidentitäten und Gruppenmerkmalen funktioniert. Diese republikanische Identitätspolitik funktioniert über Wir-Gefühle, sie funktioniert über eine Abstraktion vom Ich, sie funktioniert über das bewusste Transzendieren kollektiver Teilidentitäten zugunsten einer weit größeren kollektiven Identität, die entweder die ganze Nation als diese Kollektividentität behandelt oder die Menschheit als diese Kollektividentität versteht. Beides ist im Sinne eines linken Universalismus und Republikanismus. Den Essay des Historikers und Beraters der US-Präsidenten John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson Arthur M. Schlesinger lohnt es sich aus diesen Gründen heute wieder zu lesen. Denn er vermittelt dem Leser, dass es in Absehung von seiner Person möglich ist, sich einem größeren Ganzen verpflichtet zu fühlen. Mit anderen Worten: Von Arthur M. Schlesinger kann man Gemeinsinn lernen. Und das ist genau das, was wir gegen die Auswüchse der Identitätspolitik brauchen.
Anmerkungen 1
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Wolfgang Thierse, „ Wie viel Identität verträgt die Gesellschaft?“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. Februar 2021: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton /debatten/wolfgang-thierse-wie-viel-identitaet-vertraegt-die-gesellschaft-172 09407.html Arthur M. Schlesinger, Die Spaltung Amerikas. Überlegungen zu einer multikulturellen Gesellschaft (Stuttgart; ibidem, 2020), S.160. Ebd., S.161. Ebd. Ebd., S.26.
„Antimuslimischer Rassismus“ als Drohung? Levent Tezcan
Zur Einleitung: „Kulturrassismus“ – Karriere eines Vorwurfes Als Wilhelm Heitmeyer zusammen mit Joachim Müller und Helmut Schröder die Studie Verlockender Fundamentalismus publizierte, erntete er neben der üblichen Kritik, die zum akademischen Geschäft gehört, auch den schwerwiegenden Vorwurf des „Kulturrassismus“.1 Sein ‚Vergehen‘ bestand wohl darin, dass er fundamentalistische Tendenzen unter den türkischen Jugendlichen, teilweise auch mit Gewaltbefürwortung einhergehend, ausgemacht hatte. Die Sozialwissenschaftler Wolf-Dietrich Bukow und Erol Yildiz waren sich sehr sicher in ihrem Urteil: Noch katastrophaler wirkt die Argumentation, wo sie einer kulturrassistischen Linie folgt. Es wird eine Bevölkerungsgruppe künstlich zusammenfügt [sic] (türkische Ausländer), ethnisch markiert (damit die Gruppe ein Merkmal erhält, dem sie nicht mehr entrinnen kann) und aufgrund dieser Markierung abgewertet (der Islam bietet das Bild einer halbierten Moderne). Diese kulturrassistische Verfahrensweise ist unerträglich.2
Zu der Zeit wandelte der Sozialkonstruktivismus noch an den Rändern des sozialwissenschaftlichen Diskurses. Aber bereits damals wurde er, wie in dem Beispiel, recht verkürzt rezipiert. Die Zuschreibungsprozesse wurden weniger als die eigentliche Funktionsweise des Sozialen betrachtet denn als macht- und interessegeleitete Praktiken der Akademiker. Die Materialität des Konstruierten, das sich nicht mit einem aus moralischen Sensibilitäten gesprochenen Machtwort aus der Welt schaffen lässt, wurde nicht in ihrer Positivität ernstgenommen. Was die Autoren somit nicht berücksichtigten: Die „türkischen Ausländer“ bilden damals wie heute mit ihren kulturellen Vereinen, politischen und religiösen Organisationen, ihren heute noch immer vorhandenen Sprachgemein-
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196 LEVENT TEZCAN schaften und nicht zuletzt ihren aktiven transnationalen Beziehungen jeglicher Art keine einfach vom Forscher künstlich zusammengestellte Gruppe. Ein solcher, von der empirischen Wirklichkeit abgelöster Konstruktivismus geht eigentümlicherweise davon aus, dass die Individuen bloß Individuen seien und ihre Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gemeinschaft nur eine Zuschreibung durch Wissenschaftler sei. So entstehen inzwischen merkwürdige Wortkonstruktionen, weil man ethnische oder anderweitige Bezeichnungen vermeiden will: ‚Als Frau, Ausländer, Migrant, Muslim gelesene Personen‘ – mit derartigen Formulierungen sollen Essentialisierungen vermieden werden.3 Dass die soziale Wirklichkeit über solche Konstruktionen strukturiert ist, welche die Betroffenen jedoch keineswegs als Konstruktionen, sondern als ihr Wesen wahrnehmen, sei hier nur angemerkt. Paradox und keineswegs zufällig ist dabei, dass die extrem sensible Ablehnung in Sachen Zuschreibungen, mit der jegliche konkrete Benennung einer Volksgruppe gleich unter Diskriminierungsverdacht gestellt wird, in eine viel umfassendere, nicht weniger problematische Aufteilung der Menschheit mündet: „Weiße/Nichtweiße“. Tatsächlich lässt sich die selbstbejahende ethnische Vergemeinschaftung der Türken in Deutschland (wie auch anderer Volksgruppen) allenthalben beobachten. Spätestens beim türkischen Referendum von 2017, 20 Jahre nach dem Erscheinen der Studie von Wilhelm Heitmeyer, wurde schließlich klar, dass die Gruppe der „türkischen Ausländer“ keineswegs Produkt einer Zuschreibung von außen ist, sondern eine soziale Realität hat. Nur die Bezeichnung „Ausländer“ trifft nicht mehr ohne weiteres zu. Der knappe Ausgang der Abstimmung über die Verfassungsänderung zugunsten Erdoğans wurde mit den Stimmen von Türken aus Europa respektive Deutschland entschieden. Das, wovor Heitmeyer et al. warnten, hat sich als wahr herausgestellt. Der Rassismusvorwurf, den es zu der Zeit sehr spärlich gab, traf dabei weder die Motivlage der Forschung noch die Anlage oder auch die Ergebnisse der Studie. Schließlich zeigte die Studie ihrerseits auf, dass die radikalen Ansichten nicht von allen, aber von einer nennenswerten Gruppe geteilt würden. Übrigens hatte Wilhelm Heitmeyer schon zuvor auf eine ähnliche Weise den Zorn aus
„ANTIMUSLIMISCHER RASSISMUS“ ALS DROHUNG? 197 der konservativen Mitte auf sich gezogen, als er auf der Grundlage seiner Rechtsextremismusstudie die These aufstellte, dass die rechten Einstellungen in die Mitte der Gesellschaft gewandert seien und keineswegs als ein Randphänomen betrachtet werden sollten. Heitmeyer spricht in diesem Zusammenhang von einem „Dauerfeuer“, das schon 1987 mit der Studie „Rechtsextremistische Orientierungen von Jugendlichen“ begonnen habe. Das setzte sich ab 2002 mit der Langzeituntersuchung zur „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ fort (etwa in der Zeitschrift Junge Freiheit) und ließ auch beim 2018 erschienenen Buch Autoritäre Versuchungen nicht nach.4 Im Unterschied zu einigen Fällen von heute wurde die Universität damals in beiden Fällen nicht aufgefordert, dem Professor zu kündigen. Inzwischen treten derartige Ereignisse mit Rassismusvorwürfen vermehrt auf. Viele Einzelfälle geben einen ersten Eindruck davon, dass wir es mit einem Wandel der politischen Kultur zu tun haben, die Arthur M. Schlesinger 1991 für die USA eindrücklich beschrieben hatte. Man kann diesen Wandel auch in der Debatte über den Islam beobachten. Die Frage, der ich hier tentativ nachgehen werde, lautet, ob hier auch Ansätze der Einschränkung akademischer Freiheit in der Islamdebatte zu finden sind und in welcher Gestalt sie sich präsentieren. Die Überlegungen hier basieren auf eigenen Beobachtungen und Wahrnehmungen. Sie können nicht dem Anspruch einer systematischen Analyse genügen, mögen aber dazu anregen. Anders, als ein aktueller Trend der Gegenwart uns vielleicht glauben machen möchte, haben Allgemeingültigkeit beanspruchende Aussagen, die auf subjektiven Wahrnehmungen und Empfindungen beruhen, nicht bereits deswegen den Status einer wahren Aussage. Um Allgemeingültigkeit und damit Relevanz für Dritte beanspruchen zu können, müssen Aussagen begründet werden, und ihre Begründung muss so beschaffen sein, dass die Aussage grundsätzlich auch widerlegt werden kann. Insofern sind meine nachfolgend geschilderten Impressionen zwar anekdotischer Natur, mögen aber gleichwohl einen Eindruck einer allgemeinen Entwicklung vermitteln.
198 LEVENT TEZCAN
Eine Auslese von Banalitäten Im Mai 2019 versuchte eine Gruppe von Studenten an der GoetheUniversität Frankfurt eine von der Ethnologin Susanne Schröter organisierte Tagung über das muslimische Kopftuch zu verhindern.5 Es war die Rede von „antimuslimischem Rassismus“, der auf der Tagung, vor allem mit dem Namen der Feministin Alice Schwarzer, aber auch mit einer Rauswurfforderung gegen Susanne Schröter verbunden, erhoben wurde. Die Goethe-Universität Frankfurt hat sich hinter ihre Professorin gestellt. Dennoch deutete sich dort bereits ein Problem an: Man muss nunmehr damit rechnen, dass Kritik am Kopftuch, überhaupt Kritik am Islam, als Rassismus verbucht werden kann. Eigentlich ist das schwer nachvollziehbar, betrachtet man die Geschichte des Kopftuchs selbst in muslimischen Ländern. Es wird bei diesem Rassismusvorwurf nämlich vergessen, dass das Kopftuch und damit die Verschleierung in der gesamten Modernisierungsgeschichte muslimischer Länder stets eine innermuslimisch strittige Angelegenheit war und in einigen Ländern wie beispielsweise in der republikanischen Türkei bis vor wenigen Jahren gar mit einem Trageverbot in staatlichen Ämtern belegt war. Vergessen wird auch, dass individuelle und politische Freiheiten erst durch die Zurückdrängung des politischen und kulturellen Einflusses religiöser Normen, darunter ganz besonders die Aufhebung des Schleierzwanges und der amtlich verordneten Geschlechtertrennung, möglich wurden. In einem anderen Fall, dem Islamophobie-Bericht, den Enes Bayrakli und Farid Hafez erstellt haben, ereilt der Vorwurf „Islamfeindlichkeit“ auch bekennende Muslime wie Mouhanad Khorchide, den Inhaber eines theologischen Lehrstuhls an der Universität Münster: The ÖIF organized multiple panels to allow people with anti-Muslim views to disseminate their positions. To mention but a few, a panel on „The Influence of Political Islam” featured Mouhanad Khorchide, Nina Scholz, Oliver Henhapel, and Susanne Raab.6
„ANTIMUSLIMISCHER RASSISMUS“ ALS DROHUNG? 199 Gerade hier zeigt sich der willkürliche Charakter des Islamophobie-Vorwurfs, der gewissermaßen den altbekannten Ketzereivorwurf der Orthodoxien gegenüber ‚Abweichlern‘ in einer nichtreligiösen Sprache wiederholt. Wenn selbst ein muslimischer Theologe als Islamfeind disqualifiziert wird, sollte man sich über den willkürlichen Gebrauch dieser Bezeichnung ernsthaft Gedanken machen. Einige durchaus banale Vorfälle in meinem eigenen Umfeld bereichern dieses Bild, das im Ansatz vorausahnen lässt, was Arthur Schlesinger in seinem Buch ausführlich behandelt hat. In meiner Einführungsvorlesung behandle ich u.a. auch die Zivilisationstheorie von Norbert Elias mit einem Fokus auf Affektregime. Dabei zeichne ich eine Achse, deren Endpunkte Burka und FKK sind. Evident dürfte sein, dass die Burka für ein Körperregime steht, das auf Fremdkontrolle setzt (Frauen müssen unter den Schleier, damit Männer nicht durch ihre sichtbare Präsenz die Fassung verlieren), während die Freikörperkultur im Wesentlichen an Selbstkontrolle appelliert (nicht nur die Kontrolle des Blickes, sondern auch der Gedanken und inneren Regungen, die sich bei Männern übrigens sehr leicht auch äußerlich verraten können). Eine Gruppe politisch aktiver Studenten wollte mich darauf aufmerksam machen, dass die Einbettung der Burka in ein Affektregime mit Fremdzwängen den antimuslimischen Rassismus (wie in Hanau) unterstützen und eine eurozentristische Perspektive auf kulturelle Praktiken der Muslime repräsentieren könne. Worauf es mir hier ankommt, ist nicht, diese Intervention als solche zurückzuweisen, die letztlich, zumindest nach der Klärung einiger anfänglicher Unklarheiten, in angemessenem Ton erfolgte und einen sachlichen Kern hatte, den ich gleichwohl nicht teile. Eine solche Intervention kann sogar erfreulich sein, da sie zu einem Austausch zwischen Dozenten und Studenten führt, der bedauerlicherweise sehr selten vorkommt. Den Studenten ist angesichts anderweitiger Erfahrungen auch hoch anzurechnen, dass sie das Gespräch mit mir gesucht haben, anstatt wie in unserer Zeit üblich die Foren sozialer Medien aufzusuchen, um eine Shitstorm-Kommunikation vom Zaun zu brechen. Mir kommt es hier vielmehr darauf an, auf die automati-
200 LEVENT TEZCAN sche Reihung von „Fremdzwängen“, „antimuslimischem Rassismus“, „eurozentristischer Perspektive auf kulturelle Praktiken der Muslime“ und quasi in notwendiger Folge „mörderischen Anschlägen auf Muslime“ (den Fall Hanau) hinzuweisen. Hier deutet sich eine übersteigerte Sensibilität an, mit der eine Kritik am Islam im Allgemeinen und/oder islamischen Praktiken im Besonderen zu rechnen hat. Die übersteigerte Sensibilität fixiert eine Minderheitengruppe, die als grundsätzlich unterdrückt klassifiziert wird und der dann die ungeteilte Solidarität zu gelten habe. Überhaupt erhalten Minderheiten den quasi-sozialen Status diskriminierter Gruppen und werden alleine unter diesem Gesichtspunkt betrachtet. Ihre soziale Existenz wird ausschließlich in einer Gegenüberstellung zu einer mächtigen Mehrheit thematisiert, die hier nur noch als Unterdrücker beziehungsweise Peiniger wahrgenommen wird. Da aber die empirische Wirklichkeit viel komplexer und voller Ambiguitäten ist, sichert man sich mit dem Verweis ab, dass es um Strukturen gehe: Macht- und Dominanzstrukturen eben. Um zum Thema Islamfeindlichkeit zurückzukommen. Die oben beschriebenen Automatismen kommen auch in den Beiträgen anerkannter Wissenschaftler vor. So wirft Birgit Rommelspacher neben anderen auch der Frauenrechtlerin Seyran Ateş, die seit Längerem schonungslose Kritik an der Mainstream-Kultur des Islams und der patriarchalen Kultur unter Türken und anderen Muslimen übt, Islamophobie vor.7 Auch Rommelspacher kann die Muslime nur noch in einer Dichotomie zu einer nichtmuslimischen Mehrheit thematisieren, deren Kritiker in dieser Lesart wiederum notwendigerweise als Kronzeugen fungieren. Seyran Ateş selbst hat ihrer bisherigen Kritik am konservativen Islam inzwischen eine islamische Note verliehen, indem sie die liberale Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin eröffnete.8 Aber auch ohne eine solche geistige Wendung in ihrer Biographie in Betracht ziehen zu müssen, mit der eine öffentliche Affirmation des Islams verbunden ist, gibt der bereitwillige Gebrauch des Attributs islamophob Kunde von den Vorboten der Einschränkung kritischer Auseinandersetzung mit dem Islam.
„ANTIMUSLIMISCHER RASSISMUS“ ALS DROHUNG? 201 In einer unter meiner Leitung stattfindenden empirischen Studie zur islamischen Präsenz in öffentlichen Einrichtungen führt einer meiner Mitarbeiter Interviews mit Leitungen und Eltern in Kindergärten. In einem Kindergarten wurde uns gleich eine muslimische Funktionsträgerin zugewiesen, die für antimuslimischen Rassismus zuständig war – offenbar in der Annahme, dass wir primär an „antimuslimischem Rassismus“ interessiert sein müssten. Unsere Anfrage selbst gab keinen konkreten Anlass dazu. Wir waren einfach daran interessiert herauszufinden, wie die öffentlichen Einrichtungen auf die Präsenz von Muslimen reagieren, sofern spezifische Bedürfnisse von ihnen vermeldet oder diese von den Einrichtungen proaktiv antizipiert werden. Diese automatisierte Lenkung des Blickes auf Rassismus ist ein weiterer Beleg für die oben angedeutete Entwicklung, dass die Thematisierung des Islams und der Muslime gemäß dem allgemeineren Trend der überbordenden Rassismuskritik stattfindet. Die Funktionsträgerin fragte den Mitarbeiter gleich, ob Muslime an dem Projekt beteiligt seien. Sonst sei das keine gute Forschung. Auch diesen Fall möchte ich hier nicht vertiefen, sondern darauf hinweisen, mit welcher Selbstverständlichkeit und unerschütterlichen Selbstgewissheit diese Aussagen getätigt werden: Eine Nichtwissenschaftlerin sieht sich berechtigt, die Qualität einer wissenschaftlichen Forschung in Frage zu stellen, wenn kein Muslim an dem Projekt beteiligt ist. Auch der Hinweis meines Mitarbeiters, dass das Projekt am Lehrstuhl für „Sozialwissenschaftliche Erforschung des Islam im Europa des 20. und 21. Jahrhunderts“ durchgeführt werde, konnte sie nicht umstimmen. Es komme nämlich auf das Bekenntnis an. Diese Banalität wäre nicht erwähnenswert, wäre sie nicht Teil einer kulturellen Wende unserer Gegenwart, die den Objektivitätsanspruch gänzlich delegitimiert, indem sie die Wahrheit an die Empfindung der betroffenen Gruppen oder gar an Herkunft beziehungsweise Hautfarbe der Wissenschaftler und somit an die Repräsentationsfrage anknüpft.9 Die betroffenen Gruppen besitzen scheinbar ein intimes Wissen, das der wissenschaftliche Beobachter nicht erlangen kann. Die hier kursorisch umrissenen Fälle unterscheiden sich zweifellos in ihrer Art wie auch Dramatik. Wie viele andere sind sie oft
202 LEVENT TEZCAN banal – wie beispielsweise die Ausladung einer Sängerin vonseiten Fridays for Future, weil sie eine Rasta-Frisur trug, die als „cultural appropriation“ skandalisiert wird. Aber ihre Banalität sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir es hier nicht mit zufällig ausgewählten Einzelfällen, sondern mit einem Trend zu tun haben, der sich mehr und mehr bemerkbar macht: Der Vorwurf „antimuslimischer Rassismus“ kann inzwischen jede kritische Rede über den Islam und die Muslime sanktionieren. Wer diesen Vorwurf erhebt, kann inzwischen, anders als bei dem Vorwurf „Kulturrassismus“ gegen Heitmeyer, mit Solidarität rechnen, die in den Diskriminierungsdiskursen pauschal den ausgemachten Minderheiten, die als immer schon im Recht imaginiert werden, zuteilwird.
Den Islamismus ausschweigen In dieses Panorama gehört auch eine andere Entwicklung, die besonders ernstgenommen werden sollte. Es gibt vermehrt Hinweise darauf, dass Begriffe wie „Islamismus“ oder „Fundamentalismus“, über die eine reichhaltige und fundierte Forschung besteht, in einigen Milieus bewusst vermieden werden. Es wäre spannend, der Frage nachzugehen, ob zwischen dem Gebrauch der Begriffe „antimuslimischer Rassismus“ einerseits und „Islamismus“ andererseits eine umgekehrte Relation besteht. Die Prominenz des ersten geht, das wäre meine Vermutung, auf Kosten des letzteren. In Ihrem Bericht zur wissenschaftlichen Begleitung des Berliner Landesprogramms „Radikalisierungsprävention“ stellen HansGerd Jaschke und Helmut Tausendteufel in diesem Sinne fest: Darüber hinaus ist der Diskurs zur Verwendung der Definitionen geprägt von gegenseitigen Unterstellungen: vom Vorwurf der Islamfeindlichkeit und der Stigmatisierung von Muslimen einerseits sowie dem Ausblenden islamkritischer Befunde und einer verzerrten Wahrnehmung der Realität andererseits. So wird bspw. der Begriff Islamismus von vielen Wissenschaftler/innen und Praktiker/innen abgelehnt, weil damit die Assoziation verknüpft ist, die Ideologie der gewaltbereiten Fanatiker hätte etwas mit dem Islam zu tun.10
„ANTIMUSLIMISCHER RASSISMUS“ ALS DROHUNG? 203 Insbesondere in den diskursanalytisch ausgerichteten Analysen, die den postkolonialen Ansätzen verpflichtet sind, drohen die Begriffe „Islamismus“ und „Fundamentalismus“ im Schatten des „antimuslimischen Rassismus“ zu verschwinden. Sie kommen fast nur in Anführungszeichen vor. Das ist darauf zurückzuführen, dass es den Autoren primär darum geht, den „strukturell-rassistischen“ Charakter der Islampolitik zu zeigen (beispielsweise bei Hernández Aguilar 2018; ähnlich argumentiert auch Schirin AmirMoazami 201611). Dabei wird vergessen, dass der Begriff „Islamismus“ nicht wie behauptet zur Pauschalisierung dient, sondern im Gegenteil von Politikern sowie Wissenschaftlern vor allem deshalb benutzt wird, um eine Differenzierung zwischen radikalen und anderen Muslimen vorzunehmen. Er soll nämlich die unspezifische Rede von „Muslimen“, die gerade in rechtsradikalen Gruppen als Kollektiv abgelehnt werden, ein Stück weit spezifizieren. An dieser Stelle müsste man auch auf die Sorge darüber eingehen, ob, wie nach dem Befund des Berichtes offenbar befürchtet wird, der Fanatismus und die Gewalt mit dem Islam in Verbindung gebracht werden und, falls es geschieht, ob dies dann auch tatsächlich illegitim ist. Hierin steckt nämlich das Kernstück der problematischen Position, die darin besteht, den Islam vor möglichen Vorwürfen zu schützen. Der Islam darf demnach scheinbar keineswegs mit negativen Praktiken in Verbindung gebracht werden. Das würde zudem den Rechten in die Hände spielen. Betrachten wir es aber andersherum, ohne uns von dem tatsächlichen Gebrauch einer solchen Erkenntnis durch die Rechten einschüchtern zu lassen. Was der Islam ist, hat weniger mit den Sorgen der Wissenschaftler und Praktiker beziehungsweise Politiker zu tun als vielmehr mit dem, was die Muslime selbst tun. Islam ist immer auch ein historisches Phänomen, das durch die konkreten Individuen und Gruppen geprägt wird. Wenn die muslimischen Bewegungen auf eine nennenswerte Weise fanatisch sind, wenn in erheblichem Maße Gewalt durch Muslime im Namen des Islams verübt wird, wenn Freiheiten im Namen des Islams eingeschränkt werden, dann hat das alles natürlich mit diesem Islam zu tun. Zuallererst müssen die Muslime sich dieser Tatsache stellen – natürlich nur insofern, als sie mit diesen Tendenzen nicht einverstanden
204 LEVENT TEZCAN sind. Was nicht geht, ist, dass Problematisierungen der Missstände von vornherein als Pauschalisierungen gedeutet werden, nämlich dass die Befunde auf alle Muslime zutreffen würden. Paradoxerweise findet sich hier eine paternalistische Haltung gegenüber den Muslimen, weil ihnen die Fähigkeit abgesprochen wird, tatsächlich fanatisch, autoritär oder gar gewalttätig sein zu können. Man geht üblicherweise mit unmündigen Kindern so um, nicht mit Erwachsenen. Hier schlägt die Sorge um Anerkennung exakt ins Gegenteil um. Eine Abwehrstrategie, gerade wenn es um die Frauenfrage geht, soll hier explizit besprochen werden: Wer hier übrigens nicht die Religion, sondern die Kultur oder ein Patriarchat am Werke sieht, begeht zwei Fehler gleichzeitig: Erstens wird ein von Kultur und Patriarchat sowie sozialen Lagen gereinigter Bereich von Religion ausgemacht, der dann als an sich tadellos betrachtet wird. Alles Unerwünschte wird dann den fremden Einflüssen (Kultur, Patriarchat, Klasse) zugerechnet. Warum dies zwingend so sein muss, wird nirgends begründet. Vielleicht trifft die These von Sama Maani zu: Wenn Gott tot ist, dann ist paradoxerweise auch die Religionskritik nicht mehr zulässig. Sehr feinfühlig analysiert er in seinem Buch Respektverweigerung: Warum wir fremde Kulturen nicht respektieren sollten. Und die eigene auch nicht diese „Dialektik“ der Religionskritik der Aufklärung.12 Der zweite Fehler der erwähnten Abwehrstrategie besteht darin, dass Kultur und Patriarchat wiederum von der Religion freigestellt werden. Die intime Beziehung zwischen diesen drei Phänomenen wird ignoriert. Gerade das Patriarchat war doch bislang eine tragende Säule vieler Religionen, insbesondere aber des Islams. Es ist möglich und auch bereits der Fall, dass Muslime kulturelle Verhältnisse entwickeln, die eine Überwindung des Patriarchats ermöglichen. Dennoch ist es bislang aber eher so, dass Islam und Patriarchat sich weiterhin gegenseitig stützen und diese Allianz die Kulturen der muslimischen Länder und Milieus weitgehend prägt. Man sieht übrigens am Beispiel des westlichen Christentums, was die Folgen sind, wenn diese historische Allianz aufbricht. In diesem Zusammenhang wäre es lohnenswert, wenn man
„ANTIMUSLIMISCHER RASSISMUS“ ALS DROHUNG? 205 analysierte, ob sich die Schwächung der beiden Kulturträger Christentum und Patriarchat gegenseitig bedingt haben. Der Islam ist noch weit entfernt von diesen Verhältnissen. Dort sind sowohl die Religion als auch das Patriarchat noch quicklebendig. Dem Islam hat sich noch nicht die Frage gestellt, wie er sich aufrechterhalten wird, wenn er auf die mächtige Stütze des Patriarchats nicht mehr zählen kann, und umgekehrt wartet auch die Frage darauf, gestellt zu werden, wie es um die patriarchale Kultur stehen wird, wenn sie nicht mehr vom Islam getragen wird. Das sind alles Fragen, die sich auch Menschen mit muslimischem Glauben stellen müssen. Sie werden unter Muslimen durchaus kontrovers debattiert. Gerade Wissenschaftler sollten sich mit diesen Fragen beschäftigen, anstatt kritischen Stellungnahmen einschüchternd mit Rassismusvorwürfen zu begegnen.
Schlussbemerkungen Die Einschränkungen sowie Diffamierungen einer Religionskritik, die sich auf den Islam bezieht, sind Teil neuerer diskursiver Verschiebungen, die von identitätspolitischen Sensibilitäten ausgelöst worden sind. Muslime werden hier in die Gruppe von diskriminierten beziehungsweise vom Rassismus betroffenen Menschen eingereiht oder reihen sich selbst in diese ein. In diesem Diversitätsparadigma wird im Namen von Identitäten gesprochen, die sich stets über Negation als nichtweiß, nichteuropäisch, nonbinär etc. bezeichnen. Eine postkoloniale Allianz meldet sich, um Europa zu dekolonisieren. Schlesinger hatte recht früh kritisch vermerkt, dass Europa nur noch als die „Wurzel allen Übels“ betrachtet wird, unter dem Amerika leide.13 Das Dekolonialisierungsprojekt hat in den letzten Jahren auch in Europa an Fahrt aufgenommen. Das verheißt aber nicht unbedingt etwas Gutes – ganz im Gegenteil. Noch sind die Verhältnisse weit entfernt von der Dramatik, die sich in anderen Bereichen der Minderheitenpolitik zeigen. Das dürfte im Wesentlichen damit zu tun haben, dass es, anders als die Bewegung der Schwarzen in den USA, die Muslime selbst sind, die mit ihren Taten weltweit dafür sorgen, dass sie nicht bloß als eine
206 LEVENT TEZCAN Opfergruppe betrachtet werden, wie beispielsweise sexuelle Minderheiten oder Schwarze, die sich auf die lange Unterdrückungsgeschichte der Sklaverei berufen. Islamfeindlichkeit benötigt sicher keine Muslime, um zu existieren. Diese These wird in der Islamophobie-Forschung gemeinhin vertreten. Dabei wird auf den Antisemitismus Bezug genommen, der ja auch ohne eine tatsächliche jüdische Präsenz existiert. Sollte man nicht die Frage stellen, ob dieser Vergleich wirklich zwingend trägt? Selbst wenn das so sein sollte: Die Islamfeindlichkeit hat es auch deshalb recht leicht, weil viele muslimische Bewegungen seit mehreren Jahrzehnten aktiv daran arbeiten, der Welt ein freiheitsfeindliches, gewaltbereites Bild des Islams zu präsentieren. Es ist vor allem eine muslimische Aufgabe, für das Gegenteil zu kämpfen. Es geht nicht nur darum, vorurteilsbeladene Islambilder zu korrigieren, sondern auch darum, die tatsächlichen Verhältnisse, aus denen sich diese Bilder leicht speisen zu verändern. Das Konzept „antimuslimischer Rassismus“, das polemisch und diffamierend ins Spiel gebracht wird, scheint mir dabei nicht hilfreich zu sein.
Anmerkungen 1
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Wilhelm Heitmeyer, Joachim Müller und Helmut Schröder, Verlockender Fundamentalismus. Türkische Jugendliche in Deutschland, 1. Aufl. (Frankfurt a.M.: Edition Suhrkamp, 1997). Wolf-Dietrich Bukow und Erol Yildiz, „Marktschreierisches“, Taz, 27. April 1997: https://taz.de/Marktschreierisches/!1402894/. Meine Glosse in der Taz, in der ich den inflationären Gebrauch des Rassismusvorwurfes problematisierte, wurde Opfer einer solchen Vorsorgearbeit. Das erste Wort des Beitrages „Migrantenkinder“ wurde, ohne meine Erlaubnis, in eine umständliche Formulierung geändert: „Kinder von Eltern, die nach Deutschland gekommen sind (…)“ (debatte: Alles Rassisten? - taz.de). Offenbar wurde der Ausdruck als diskriminierend wahrgenommen. Die Sache entbehrt nicht der Ironie, dass das Wort Migrant in meinem Fall einem Migranten zensiert wird. Persönliche Kommunikation vom 17. Juni 2022. Danijel Majic: Kopftuch-Konferenz in Frankfurt: Solidarität mit Susanne Schröter. Enes Bayrakli und Farid Hafez (Hrsg.), European Islamophobia Report 2016 (Ankara [etc.]: SETA, 2017), S. 103 und 105f. Es handelt sich u.a. um die Auseinandersetzung um ein Kopftuchverbot in Kindergärten.
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Birgit Rommelspacher, „Islamkritik und antimuslimische Positionen am Beispiel von Necla Kelek und Seyran Ateş“, in Thorsten Gerald Schneiders (Hrsg.), Islamfeindlichkeit: Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2009) S. 433–455. Der österreichische Psychoanalytiker Sama Maani hat in seinem Buch „Warum wir Linke über den Islam nicht reden können“ diese eigentümliche Kritik an der Kritik am Islam (hier begrenzt auf die Kritik vonseiten der Personen mit muslimischem Hintergrund) auseinandergenommen. Pascal Bruckner liefert ebenfalls eine Fülle von Beispielen vornehmlich aus Frankreich, aber auch aus anderen westlichen Ländern (u.a. auch den USA), die zeigen, wie gerade Linke die Islamkritik, ja selbst die Kritik an Islamisten mit dem Rassismusvorwurf delegitimiert. Siehe: Saama Maani, Warum wir Linke über den Islam nicht reden können. Essays, Analysen, Reflexionen (Klagenfurt/Celovec: Drava, 2019) und Pascal Bruckner, Der eingebildete Rassismus. Islamophobie und Schuld (Berlin: Critica diabolis, 2020). Wer darf das Gedicht der jungen US-amerikanischen Abgeordneten Amanda Gorman übersetzen? Marieke Lucas Vijnfeld, die es ins Niederländische übersetzen sollte, gab auf die Kritik hin den Auftrag ab, dass sie u.a. „weiß, non-binär“ sei: Amanda Gormans niederländische Übersetzerin tritt vom Job zurück | Kultur | DW | 3. März 2021. Die deutsche Übersetzung wurde in einem Team mit Kübra Gümüşay, Hadija Haruna-Oelker und Uda Strätling bewerkstelligt. Alle drei brächten „ihre Expertise“ ein, wie der Verlag berichtete. Zu der Expertise gehört wohl auch, zumindest für die beiden ersten, die keine professionellen Übersetzerinnen sind, die andere Herkunft. Haruna-Oelker hat das selbst so formuliert: „Amanda Gorman ist eine besondere Frau, die ein multiperspektivisches Verständnis von Mehrfachdiskriminierung mitbringt. Da hätte man sagen können: Das nutzen wir als Chance. Wir setzen auf diesen Ton und genau deshalb wurden wir angefragt. Deshalb habe ich zugesagt.“ (Übersetzerin Hadija Haruna-Oelker: „Im Gedicht von Amanda Gorman geht es eigentlich um das Gemeinsame“, Dlf Nova (deutschlandfunknova.de). Warum das eine Chance sein soll, erschließt sich nur demjenigen, der das künstlerische Schaffen restlos auf eine Kumulation von Mehrfachdiskriminierung zurückführt und zugleich auch generalisiert, indem die unterschiedlichen Lebenswelten/Erfahrungen einer türkischen Muslimin in Deutschland und einer Schwarzamerikanerin einfach als adäquat gesetzt werden. Diese Erkenntnis ist nur möglich, wenn man wiederum von einer starren binären Aufteilung der Gesellschaft in immer schon diskriminierten Minderheiten einerseits und der strukturell diskriminierenden, privilegierten Mehrheit andererseits ausgeht. Hans-Gerd Jaschke und Helmut Tausendteufel, Wissenschaftliche Begleitung des Berliner Landesprogramms zur Radikalisierungsprävention, hier S. 14: https:// www.berlin.de/lb/lkbgg/landesprogramm/. Hernández Aguilar und Luis Manuel, Governing Muslims and Islam in contemporary Germany. Muslim minorities (Leiden/Boston: Brill, 2018); Schirin Amir-Moazami, „Dämonisierung und Einverleibung: Die ‚muslimische Frage‘ in Europa“, in María do Mar Castro Varela und Paul Mecheril (Hrsg.), Die Dämonisierung der Anderen. Rassismuskritik der Gegenwart (Bielefeld: Transcript Verlag, 2016), S. 21–40.
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Sama Maani, Respektverweigerung. Warum wir fremde Kulturen nicht respektieren sollten und die eigene auch nicht (Klagenfurt, Wien: Drava (Edition Tri), 2015). Arthur M. Schlesinger, Die Spaltung Amerikas. Überlegungen zu einer multikulturellen Gesellschaft (Stuttgart: ibidem, 2020), hier S. 137.
Kulturrelativismus, ethnischer Essentialismus und selbstbewusste Religionen in Australien: Die anhaltende Relevanz von Arthur M. Schlesingers Die Spaltung Amerikas Alan Davison In diesem Kapitel befasse ich mich mit einigen zentralen Aussagen von Arthur M. Schlesinger Jr. in seinem Buch Die Spaltung Amerikas. Zunächst beschäftige ich mich mit neuerer Forschung zum Multikulturalismus und gehe dann auf den australischen Kontext ein, um herauszuarbeiten, ob Schlesingers Analysen Bestand haben. Hauptgegenstand meiner Analyse ist das Thema, das eine besondere Herausforderung für dem Multikulturalismus verpflichtete Länder wie Australien darstellt: mit einem Durchsetzungsanspruch für ihre religiösen Überzeugungen auftretende Muslime. Schlesingers Argumentation, wie sie im Vorwort seines Buches dargelegt wird, ist eingebettet in ein dynamisches Konzept von Globalisierung und Fragmentierung, von Push- und Pull-Effekten und dem für den sozialen Zusammenhalt und eine stabile Nation notwendigen Gleichgewicht zwischen Integration und Desintegration. Er fragt: „Was geschieht, wenn Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft, die verschiedene Sprachen sprechen und verschiedene Religionen praktizieren, in derselben geografischen Region und unter derselben politischen Autorität miteinander zusammenleben?“1 Und er fährt fort mit einer düsteren Vorhersage für unsere heutige Zeit: „Wenn kein gemeinsames Ziel sie verbindet, werden ethnische Antagonismen sie auseinandertreiben. In dem dunkel vor uns liegenden Jahrhundert steht die Zivilisation vor einer kritischen Frage: Was hält eine Nation eigentlich zusammen?“2 Schlesinger stellt auch vorausschauend fest, dass die zunehmenden Debatten über ethnische Identität zum Essentialismus 209
210 ALAN DAVISON tendieren. Er nennt dies den „Kult der Ethnizität“ und räumt einige positive Aspekte ein, warnt aber auch davor: „Ein Kult der Ethnizität hat sich entwickelt – sowohl unter nicht angloamerikanischen Weißen als auch unter nichtweißen Minderheiten. Dieser Kult verunglimpft das Ziel der Assimilierung und fordert das Konzept des ‚einen Volkes‘ heraus, er schützt und fördert getrennte ethnische und Herkunfts-Gemeinschaften und will sie nun auf Dauer fortbestehen lassen.“3 Dieser Kult, so Schlesinger im weiteren Verlauf seines Buches, „überhöht Differenzen, verstärkt Ressentiments und Antagonismen. Er treibt die schrecklichen Keile zwischen den Ethnien und Nationalitäten noch tiefer. Am Ende beschert er uns nur Selbstmitleid und Selbstghettoisierung.“4 Im Kapitel E Pluribus Unum geht Schlesinger auf die Gefahr ein, dass der Multikulturalismus „ethnozentrische Separatisten“ hervorbringt, die den Westen nurmehr mit einem Katalog von Verbrechen gegen Minderheiten gleichsetzen: „Der Ethnizitätskult hat die Zielrichtung der amerikanischen Geschichte umgedreht und schafft nunmehr eine Nation von Minderheiten – oder zumindest von Vertretern von Minderheiten –, die weniger daran interessiert ist, sich mit der Mehrheit in gemeinsamer Anstrengung zu verbinden, als vielmehr daran, ihre Entfremdung von einer unterdrückerischen, weißen, patriarchalischen, rassistischen, sexistischen, klassistischen Gesellschaft zu erklären.“5 Die Verbreitung der westlichen Kultur wird ausschließlich als Folge der „Ausbreitung der politischen Macht des Westens“ gesehen, zugleich wird negiert, dass diese Kultur Errungenschaften hervorgebracht hat, welche ihre Verbreitung befördert haben.6 Diese vereinfachende Reduzierung der westlichen Kultur (und ihrer Werte, Normen usw.) auf unterdrückerische Machtsysteme wird jedem vertraut sein, der sich mit theoriegeleiteten kulturkritischen Zugängen zur Geschichte auskennt. Die Anwendung dieser Zugänge ermöglicht es, westliche kulturelle Normen – die selbst vielfältig und voller innerer Spannungen sind – mit dem Vorwurf der Assimilation, des Eurozentrismus und der Neokolonisierung gleichzusetzen. Im Epilog der erweiterten zweiten Auflage schreibt Schlesinger über das Thema Identitätspolitik und den Wandel der traditio-
DIE ANHALTENDE RELEVANZ VON DIE SPALTUNG AMERIKAS 211 nellen rechten und linken Erscheinungsformen dieser Politik. Insbesondere stellt er einen tiefgreifenden Wandel auf der linken Seite des politischen Spektrums fest, wo einst universalistische Ideale vom Kult der Ethnizität abgelöst wurden, der Züge einer Obsession mit essentialisierten Gruppenunterschieden aufweist und letztlich zu einer neuen Form des Tribalismus führt.7 Multikulturalismus, so Schlesinger, kann von seiner „milden“ Form – die darauf abzielt, „ein beschämende[s] Ungleichgewichtigkeit in der Behandlung von Minderheiten“ auszugleichen – zu einer „militanten“ Form mutieren, in der „er sich der Idee einer gemeinsamen Kultur widersetzt, die Ziele von Assimilation und Integration ablehnt und die Unveränderlichkeit unterschiedlicher und getrennter ethnischer Gemeinschaften feiert“.8 Was er hier andeutet, ist das Aufkommen eines essentialistischen Paradigmas in Bezug auf den Umgang mit kulturellen Gruppen; wie wir weiter unten sehen werden, spielt dieses eine große Rolle in der Art und Weise, wie Diskurse über „Out-Groups“ in Australien geführt werden. Seit der Veröffentlichung von Die Spaltung Amerikas sind drei Jahrzehnte vergangen, in denen viel über dieses Thema diskutiert wurde und in deren Verlauf sich die Debatte verändert hat. Man hat zum einen den Fokus verstärkt auf die normativen Aspekte und die Ideologie des Multikulturalismus gelegt (im Gegensatz zu rein deskriptiven Betrachtungen), und man hat zum anderen intensiver die Bedeutung empirischer Studien diskutiert, um der Debatte mehr Stringenz zu verleihen.9 Einer der vielen Vorteile empirischer Studien besteht darin, dass lange vernachlässigte Aspekte der Multikulturalismusdebatte adressiert werden können. So kann einer Frage wie „Welchen Einfluss haben Einwanderergruppen auf die Regierungspolitik?“ empirisch nachgegangen werden, was allerdings selten geschieht. Den Grund dafür sieht beispielsweise der Migrationsforscher Ruud Koopmans darin, dass „die meisten Arbeiten über Multikulturalismus [die] deskriptive Dimension kurz erwähnen und dann schnell zu vermeintlich wichtigeren Themen übergehen“.10 Er fügt hinzu: „Diese Vernachlässigung ist jedoch ungerechtfertigt, da das Aus-
212 ALAN DAVISON maß und die Formen der demografischen Vielfalt wichtige Auswirkungen auf die Legitimität und die Dauerhaftigkeit multikultureller Maßnahmen haben können.“11 Grundlegende Fragen, wie die nachfolgend exemplarisch angeführten, werden zwar gestellt, aber sie werden sowohl von Befürworten als auch Kritikern des Multikulturalismus selten empirisch belastbar beantwortet: Welche Gruppen haben tendenziell einen größeren Einfluss auf die öffentliche Debatte oder die Politik und warum? Spielt die Religion in diesen Debatten eine wichtige Rolle? Wie werden Gruppen- und Individualrechte in diesen Debatten artikuliert und abgewogen? Obwohl es dazu, wie gesagt, empirische Untersuchungen gibt, mangelt es diesen daran, dass sie zu stark normativ geprägt sind, was, wie Koopmans treffend feststellt, zu „einer großen Kluft zwischen den verfügbaren Beweisen und den pauschalen Aussagen in der öffentlichen Debatte“ führt.12 Im derzeitigen Klima, das Antirassismus und moralische Haltung in den Vordergrund rückt, fehlen die Anreize für Wissenschaftler, empirische Studien durchzuführen, die zu Ergebnissen führen könnten, welche die „richtige“ moralische Haltung infrage stellen, weil sie negative Folgen des Multikulturalismus zutage bringen. Dies weist darauf hin, dass sich die Befürworter des Multikulturalismus ihrer Sache nicht ganz so sicher sind, denn ansonsten sollte es doch in ihrem Interesse liegen, die Kritiker durch empirische Ergebnisse zu widerlegen. Dazu noch einmal ein Zitat von Koopmans, in dem er diesen Aspekt sehr gut auf den Punkt bringt: Wenn die Kritiker [des Multikulturalismus, A.D.] Recht haben, sollten wir zum Beispiel eine größere Häufigkeit von Einstellungen und Verhaltensweisen feststellen, die die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern innerhalb von Minderheitengruppen aufrechterhalten, die in Ländern mit einer multikulturellen Politik leben, insbesondere wenn diese Rechte in Bezug auf kulturelle Verhaltensweisen eine geschlechtsspezifische Dimension umfassen. Bisher wurden jedoch keine derartigen empirischen Studien durchgeführt.13
Bevor ich Schlesingers Analyse auf Australien beziehe, möchte ich einige relevante Hintergrundinformationen zum Land geben. Australien ist das größte Land in Ozeanien und Mitglied des Commonwealth. Es war zwischen 1788 und 1901 eine britische Kolonie.
DIE ANHALTENDE RELEVANZ VON DIE SPALTUNG AMERIKAS 213 Die Bevölkerung umfasst gegenwärtig circa 26 Millionen. Bis auf die indigene Bevölkerung, die durch den Siedlerkolonialismus verdrängt, unterdrückt und enteignet wurde, handelt es sich bei allen Einwohnern um Migranten und deren Nachkommen. Rassismus hat einen erheblichen Teil der australischen Geschichte geprägt, gerade auch nachdem das Land unabhängig wurde. So erließ die erste australische Bundesregierung als eines ihrer ersten Gesetze den Immigration Restriction Act, besser bekannt als White Australia Policy. Der Name war Programm: Das Gesetz diente dazu, Nichtweiße von der Migration auszuschließen und Nichtweiße, die bereits in Australien waren, auszuweisen. Endgültig abgeschafft wurde dieses Gesetz erst 1973. Zeitgleich zur Öffnung des Landes für nichtweiße Migranten wurde die Politik des Multikulturalismus eingeführt. Diese zielt heutzutage in erster Linie auf folgende Punkte ab: „Die australische Regierung feiert und schätzt die Vorteile der kulturellen Vielfalt für alle Australier im Rahmen der übergeordneten Ziele der nationalen Einheit, des harmonischen Zusammenlebens und der Aufrechterhaltung unserer demokratischen Werte.“ Und: „Die australische Regierung setzt sich für eine gerechte, integrative und sozial kohäsive Gesellschaft ein, in der jeder an den Möglichkeiten teilhaben kann, die Australien bietet.“14 Auf der politischen Ebene gibt es in Australien nunmehr schon seit vielen Jahren eine starke Unterstützung für den Multikulturalismus, aber Politik ist die eine Sache, die Einstellung der Bevölkerung eine andere. Das wirft die Frage auf: Wie sieht der Multikulturalismus in der Realität aus? Wenn man die Ebene staatlicher Verlautbarungen und politischer Konzepte verlässt, stößt man dann weiterhin auf Rassismus? Was geschieht in einer Demokratie und den mit dieser verbundenen Anforderungen an Bürgerbeteiligung, Vereinigungsfreiheit, Toleranz gegenüber anderen und Gleichberechtigung, wenn infolge multikultureller Politik genau diese demokratietragenden Elemente herausgefordert werden? Diese Fragen sind zu umfangreich, um sie in diesem Text adäquat zu beantworten. Ich stelle daher ein Thema in den Mittelpunkt, über das in den letzten Jahren sehr viel diskutiert wurde und
214 ALAN DAVISON an dem sich viele der für die Diskussion über die Folgen des Multikulturalismus relevanten Fragen besonders gut illustrieren lassen: das Thema Islam und die in diesem Zusammenhang häufig erhobenen Islamophobievorwürfe.
Muslimische Migration: Ängste vor dem Islam und Islamophobie In den letzten zwanzig Jahren wurden in Australien zahlreiche Umfragen, Studien und Kommentare zu Multikulturalismus und Vielfalt durchgeführt, die sich mit der muslimischen Migration und der Angst vor einer zunehmenden Islamophobie befassen. Zu den umfassendsten Erhebungen gehört der Challenging Racism Project 201516 National Survey. Die Befragung wurde im Juli und August 2015 sowie im November 2016 durchgeführt. Sie umfasst 6001 Befragte, die „weitgehend repräsentativ für die australische Bevölkerung“ 15 stehen, und zielt darauf ab, Folgendes zu messen: [...] das Ausmaß und die Variation rassistischer Einstellungen und Erfahrungen in Australien. Untersucht werden die Einstellungen der Australier zur kulturellen Vielfalt, das Unbehagen/die Intoleranz gegenüber bestimmten Gruppen, die Ideologie der Nation, die Wahrnehmung des anglo-keltischen kulturellen Privilegs sowie der Glaube an Rassismus, Rassentrennungsdenken und Rassenhierarchie. Das Projekt untersuchte auch die Erfahrungen der Zielgruppen mit Rassismus und die Umstände, unter denen diese Ereignisse auftreten. Untersucht wurden die verschiedenen Formen von Rassismus, die verschiedenen Lebensbereiche, in denen es zu Vorfällen kommt, die Häufigkeit von Vorfällen, die Reaktionen auf Vorfälle (sowohl von Unbeteiligten als auch von Zielpersonen) und die Auswirkungen dieser Erfahrungen auf die Opfer.16
Wie die Befragung zeigt, gibt es in der australischen Bevölkerung eine positive Haltung gegenüber kultureller Vielfalt. Ungefähr 80 Prozent der Befragten stimmten der Aussage zu: „Es ist gut, wenn eine Gesellschaft aus verschiedenen Kulturen besteht“, und nur geringfügig weniger (75 Prozent) stimmten der Aussage zu: „Eine multikulturelle Bevölkerung zu haben, ist gut für Australien.“ Diese Ergebnisse variieren zwischen Männern und Frauen, wie bei vielen anderen Fragen auch, wobei die Zustimmung bei Frauen und in jüngeren Altersgruppen höher ist.
DIE ANHALTENDE RELEVANZ VON DIE SPALTUNG AMERIKAS 215 Als „problematisch“ gelten aus der Sicht vieler Wissenschaftler die Befragungsergebnisse, die anzeigen, dass Assimilation positiv gewertet wird und dass es ein gewisses Unbehagen gegenüber „Out-Groups“, allen voran Muslimen, gibt. Hierfür ein Beispiel zur Illustration: Die Mehrheit der Australier ist für Vielfalt. Wir stellen jedoch auch widersprüchliche Ergebnisse fest, wie beispielsweise die starke Befürwortung von Assimilation und die Identifizierung von „OutGroups“. Die Ergebnisse zeichnen ein komplexes Bild der Einstellungen zu kultureller Vielfalt, Nation und Migration in Australien. Die Einstellungen spiegeln widersprüchliche politische Tendenzen wider, die von einer gefeierten Vielfalt, triumphalistischen Behauptungen über die Freiheit und gleichzeitig von assimilationsfreundlichen Ansichten und geschürter Islamophobie ausgehen. Dies geschieht vor dem Hintergrund eines ins Stocken geratenen multikulturellen Projekts, das assimilatorische Annahmen und angloamerikanische Privilegien nicht ausreichend in Frage stellt.17
An dieser Stelle möchte ich Schlesingers Bedenken in Bezug auf „ethnozentrische Separatisten“ und ethnischen Essentialismus in Erinnerung rufen, und überlegen, ob sie in Bezug auf die Themen Islam und Islamophobie zutreffen und ob Schlesingers Feststellungen vor dem Hintergrund neuerer Arbeiten von Wissenschaftlern wie Elham Manea, Ruud Koopmans und Kenan Malik eine Weiterentwicklung benötigen.18 Insbesondere Manea hat den Kerngedanken des Essentialismus aufgegriffen und analysiert, wie er auf die Diskurse über die Themen Islam und Islamophobie angewandt wird. Sie hat vier Merkmale des essentialistischen Paradigmas herausgearbeitet. Das essentialistische Paradigma: 1.
verbindet Multikulturalismus als politischen Prozess mit einem weichen Rechtspluralismus, der die Menschen entlang kultureller, religiöser und ethnischer Grenzen aufteilt, sie aufgrund „kultureller Unterschiede“ unterschiedlich behandelt und sie dabei voneinander trennt und in parallele rechtliche Enklaven stellt;
216 ALAN DAVISON 2.
3.
4.
teilt Rechte Gruppen zu, d.h. die Gruppe hat Rechte, nicht die Individuen innerhalb der Gruppe. Das essentialistische Paradigma besteht darauf, dass jede Gruppe eine kollektive Identität und Kultur hat, eine wesentliche Identität und Kultur, die geschützt und aufrechterhalten werden sollte, auch wenn dadurch die Rechte der Einzelnen innerhalb der Gruppe verletzt werden; wird von einem kulturrelativistischen Ansatz in Bezug auf Rechte (in beiden Formen als starker und weicher Kulturrelativismus) dominiert und argumentiert, dass Rechte und andere soziale Praktiken, Werte und moralische Normen kulturell bedingt sind; beruht auf der Last des „weißen Mannes/der weißen Frau“, die aus einem starken Scham- und Schuldgefühl für die westliche koloniale und imperiale Vergangenheit und durch den paternalistischen Wunsch, Minderheiten oder Menschen aus ehemaligen Kolonien zu schützen, abgeleitet wird.19
Diese vier Merkmale werden in den zitierten Quellen und in der folgenden Diskussion immer wieder auftauchen, und ich werde darauf zurückkommen, wie sich das essentialistische Paradigma aus meiner Sicht auf Forschungsmethoden und den wissenschaftlichen Diskurs über Multikulturalismus auswirkt.20 In Australien gibt es eine solide und umfassende Studie über die Einstellungen der muslimischen Bevölkerung. Das ist die Studie von Halim Rane und seinen Kollegen mit dem Titel: Islam in Australia: A National Survey of Muslim Australian Citizens and Permanent Residents. Für die Studie wurden im Jahr 2019 australienweit 1034 Muslime mit australischer Staatsangehörigkeit beziehungsweise mit einer Niederlassungserlaubnis befragt.21 Die Studie gibt zunächst einen kurzen Überblick über das Wachstum der muslimischen Bevölkerung in Australien und stellt fest, dass die Zahl der Muslime bei der australischen Volkszählung 2016 auf über 600.000 gestiegen war, was 2,6 Prozent der Bevölkerung entspricht. Die meisten sind seit Mitte der 1980er-Jahren eingewandert.22 Der für unsere Fragestellung relevante Teil stellt die Typologie dar, die Rane et al. entwickeln, um Einstellungen zu
DIE ANHALTENDE RELEVANZ VON DIE SPALTUNG AMERIKAS 217 zentralen gesellschaftlichen Themen von Muslimen zu unterscheiden in „säkular“, „progressiv“, „liberal“, „legalistisch“, „politischislamistisch“ und „militant“, wobei es Überschneidungen zwischen den Kategorien gibt, wie die Ergebnisse zeigen. So kann den Befragungsergebnissen zufolge die große Mehrheit der muslimischen Australier als „liberal“ eingestuft werden (fast 90 Prozent), während etwa drei Viertel „progressiv“ und etwas mehr als die Hälfte „säkular“ sind. Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern waren dabei relativ gering.23 Darüber hinaus zeigt die Studie aber auch, dass in den muslimischen Communities Wertvorstellungen, die mit den Scharia-Gesetzen in Verbindung stehen, geschlechtsspezifisch unterschiedlich ausgeprägt sind. So stimmten der Aussage: „Ich möchte, dass die klassischen Scharia-Gesetze in Bezug auf Familienangelegenheiten wie Heirat, Scheidung und Erbschaft im australischen Recht anerkannt werden“ 60,9 Prozent der männlichen Befragten voll und ganz zu, aber nur 42,9 Prozent der weiblichen Befragten. Das Gleiche gilt für die Aussage: „Ich würde gerne in einem Land leben, in dem Polygamie legal ist“, der 32,5 Prozent der männlichen Befragten voll und ganz zustimmten, im Vergleich zu 8,8 Prozent der weiblichen Befragten. Der Aussage: „Ich würde gerne in einem Land leben, in dem die klassischen Scharia-Strafen angewandt werden“ – stimmten 25 Prozent der befragten Männer und 11 Prozent der befragten Frauen voll und ganz zu (zum Vergleich: 60,8 Prozent der befragten Frauen und 41,6 Prozent der befragten Männer lehnten diese Aussage eindeutig ab).24 Um zu empirisch belastbaren Aussagen zu kommen, ob die in der oben erwähnten Studie zum Ausdruck gebrachten Haltungen unter muslimischen Männern mit geschlechtsspezifischer Diskriminierung, Unterdrückung oder Gewalt innerhalb muslimischer Communities zusammenhängen, benötigen wir weitere Daten über Einstellungen und Verhaltensweisen innerhalb muslimischer Communities. Es ist schwer abzuschätzen, ob der Wunsch besteht, Forschungsarbeiten zu Themen wie Kinderehen, Genitalverstümmelung bei Frauen, Toleranz gegenüber häuslicher Gewalt gegen Frauen und Kinder und Ähnlichem durchzuführen. Diese Daten
218 ALAN DAVISON sind jedoch notwendig, um festzustellen, ob und welche Maßnahmen die Regierungsbehörden ergreifen sollten, um gegen die potenziellen Folgen für die Entfaltungschancen von insbesondere Mädchen und Frauen von solch stark geschlechtsspezifisch ausgeprägten Einstellungen vorzugehen. Da Männer häufiger als Repräsentanten ihrer Gruppe fungieren und somit zumeist auch extern als Ansprechpartner in Erscheinung treten, sind es ihre Wertvorstellungen die in den öffentlichen und politischen Raum der Mehrheitsgesellschaft kommuniziert werden. Dies ist offensichtlich bei Imamen und anderen, die sich selbst als islamische Führer positionieren, der Fall und birgt das Risiko, dass sie die Hauptfiguren bei der Vertretung ihrer Gemeinschaft und bei der Kontaktaufnahme mit der Regierung sind. In ihrer Muslim Youth and the Mufti in Australien stellt Silma Ihram fest: Sowohl international als auch in Australien besteht die Tendenz, dass islamische Führer sich selbst als Lehrer eines Islam darstellen, der reiner und näher an der ursprünglichen Lehre ist als ihre Konkurrenten, bis hin zu der Behauptung, dass letztere den Islam mit „Innovation“ oder „bida“ verunreinigen und daher aus der Gemeinschaft der Gläubigen ausgeschlossen werden sollten. Dieses Vorgehen wird als „takfiring“ bezeichnet – oder als Exkommunikation als „kufr“, als Ungläubiger, der außerhalb der akzeptierten Gemeinschaft steht. Dies kommt der Exkommunikation eines Muslims gleich, da er nicht länger Mitglied der muslimischen Gemeinschaft oder der globalen Umma sein darf, bis hin zur Verweigerung der Erlaubnis, die rituelle Hadsch durchzuführen. Zu diesem bestehenden Wettbewerb kommt noch ein weiterer Aspekt der Rivalität hinzu, der eine emotionale Dimension der Führung begünstigt hat, da die Führungspersönlichkeiten ihre Anhänger auf der Grundlage der Beziehung zwischen Führer und Gefolgschaft anziehen und nicht auf der Grundlage einer Bindung an eine ethnische soziale Gruppierung oder den Zugang zu einer religiösen Dienstleistung.25
Diese Feststellungen legen nahe, dass die Essentialisierung der Gruppe durch Dynamiken innerhalb der islamischen Führungsebene vollzogen und/oder intensiviert wird – Dynamiken, die daraus resultieren, dass sich die Führungsfiguren gegenseitig in Bezug auf religiöse Reinheitsvorstellungen zu übertreffen versuchen. Um sich zu verdeutlichen, ob wir mit gleichem Maß messen, wenn es um die Bewertung von Einstellungen und Handlungen geht, schlage ich folgendes Gedankenexperiment vor:
DIE ANHALTENDE RELEVANZ VON DIE SPALTUNG AMERIKAS 219 Wenn in einem mehrheitlich muslimischen Land eine kulturell-religiöse oder geschlechtliche Minderheit (beispielsweise Christen im heutigen Pakistan oder LGTBQ+-Personen in Palästina oder Ägypten) diskriminiert würde und dies durch den religiösen Konservatismus und die Bigotterie der Mehrheit angeheizt würde, welche Art von akademischem Diskurs würden wir uns dann wünschen, und worauf würde der Schwerpunkt liegen: auf der Dominanz der Mehrheit oder auf der Art der Überzeugungen selbst? Was ist, wenn wir religiösen Konservatismus und Bigotterie in ein Land verlagern, in dem diese Überzeugungen nicht mehr mehrheitsfähig oder so dominant sind – aber dennoch in den Migrantengemeinschaften weiter vertreten werden – was diskutieren wir dann? Ist es so, dass Bigotterie akzeptiert oder abgetan wird, solange diejenigen, die sie vertreten, in der Minderheit sind? Ist es bedingt durch unangemessene „Assimilation“ oder „Akkulturation“ oder sogar „islamophob“, wenn man fragt, warum bestimmte Einstellungen und Überzeugungen heute in Australien akzeptabel sein sollten oder wenn man diese Sorge durch ein Erhebungsinstrument zur sozialen Distanz zum Ausdruck bringt?
Die Anwendung von Doppelstandards hängt mit dem zusammen, was Elham Manea als die „Bürde des weißen Mannes/der weißen Frau“ bezeichnet, und zeigt sich besonders deutlich darin, wie ein Diskurs entsteht, der die Sorgen um individuelle Rechte, Demokratie und Freiheit als Merkmale einer eurozentrischen Voreingenommenheit und eines (negativen) Stolzes auf die Nation darstellt. Die daraus resultierende Einseitigkeit zeigt sich exemplarisch am Challenging Racism Project 2015-16, das darauf abzielte: [...] das Ausmaß und die Ausprägungen rassistischer Einstellungen und Erfahrungen in Australien [zu messen, A.D.]. Untersucht werden die Einstellungen der Australier zur kulturellen Vielfalt, das Unbehagen/die Intoleranz gegenüber bestimmten Gruppen, die Ideologie der Nation, die Wahrnehmung des anglo-keltischen kulturellen Privilegs sowie der Glaube an Rassismus, Rassentrennungsdenken und Rassenhierarchie.26
In einem solchen intellektuellen Klima ist es schwer, Bedenken über die potenziellen negativen Folgen des Multikulturalismus zu diskutieren, ohne dass einem der Vorwurf gemacht wird, man wolle seine „anglo-keltisch kulturelle Privilegien“ verteidigen. Diese Bedenken sind in Australien stark verbreitet, da der öffentliche Diskurs von der Beschwörung kolonialer Schuld in Verbindung mit einem starken multikulturalistischen Engagement vonseiten der Eliten geprägt ist.
220 ALAN DAVISON Ob und welche kulturell-religiösen Gruppenrechte migrantische Communities in Einwanderungsländern erhalten, hängt auch von ihrem eigenen Engagement ab. Ruud Koopmans ist in seiner Studie „Multiculturalism and Immigration“ empirisch der Frage nachgegangen, wie Migrantengruppen die Politik in Bezug auf kulturelle Rechte und Religion beeinflussen und gestalten. Koopmans stellt treffend fest, dass: „[o]bwohl Einwanderer ein gemeinsames Interesse an der Erlangung individueller Staatsbürgerschaftsrechte haben, nicht alle Gruppen gleichermaßen geneigt [sind], kulturelle Rechte einzufordern.“27 Australien betreffend stellen die Forderungen nach religiösen Rechten und Sonderregeln die größte und beständigste Herausforderung für die Politik dar. Die Studie von Koopmans aus dem Jahr 2013 verdeutlicht die Notwendigkeit einer empirischen Untersuchung der Folgen des Multikulturalismus, insbesondere der religiösen Aspekte, denn, wie er in seiner Untersuchung feststellt, „[...] der größte und umstrittenste Teil der Ansprüche auf multikulturelle Rechte betrifft religiöse Rechte“.28 Viele Menschen, die in einer liberalen Demokratie aufgewachsen sind, in welcher der Einfluss der Kirche begrenzt ist und die Einhaltung religiöser Gebote vom sozialen Umfeld nicht kontrolliert wird, können nicht erfassen, wie bedeutsam Religion für die Gesellschaft auch heute noch sein kann, wenn Menschen entsprechend vehement darauf pochen, ihre religiösen Regeln durchzusetzen.29 Solchermaßen geprägte Wissenschaftler gehen allzu leichtfertig davon aus, dass die Verbindung zwischen religiösen und multikulturellen Gruppenrechten eher harmloser Natur ist. Doch was passiert, wenn selbstbewusste, mit einem Durchsetzungsanspruch ausgestattete Vertreter von Religionen, die in Migrantengruppen eingebettet sind, auf den modischen Kulturrelativismus westlicher, dem Multikulturalismus verpflichteter Gesellschaften treffen? Der Anthropologe Clifford Geertz setzt sich in seinem 2005 publizierten Aufsatz „Shifting Aims, Moving Targets“ mit der Frage auseinander, was passiert, wenn selbstbewusste Religionen auf den Plan treten. Er unterscheidet zwischen „religiöser Gesin-
DIE ANHALTENDE RELEVANZ VON DIE SPALTUNG AMERIKAS 221 nung“ und „Religiosität als solcher“ und identifiziert religiöse Bewegungen, die „selbstbewussten, doktrinären Glauben im Gegensatz zu alltäglichem, reflexiven Glauben“ beinhalten, und warnt davor, dass diese sehr stark auf dem Vormarsch sind: Hindutva, Neo-Evangelismus, engagierter Buddhismus, Eretz Israel, Befreiungstheologie, universeller Sufismus, charismatisches Christentum, Wahhabiten, Schiiten, Qtub und „Die Rückkehr des Islam“: Die selbstbewusste, aktive, expansive und nach Herrschaft strebende Religion ist nicht nur wieder da; die Vorstellung, sie würde verschwinden, ihre Bedeutung schrumpfen, ihre Kraft sich auflösen, scheint, gelinde gesagt, zumindest verfrüht gewesen zu sein.30
Diejenigen, die vom Bedeutungsrückgang von Religion überzeugt sind, wurden aus Geertz‘ Sicht widerlegt, weil sich Religionen in der mobilen Welt der Gegenwart von ihren sozialen und geografischen Standorten gelöst haben und weil Religion gerade in einer solchen Welt die Rolle eines Identitätsankers annimmt. Neu daran ist für Geertz, dass sich religiöse Vorstellungen und die damit verbundenen Verpflichtungen, Praktiken und Selbstidentifikationen über den ganzen Globus verbreiten, und dass diese Verbreitung größer und vielfältiger ist als zu früheren Zeiten.31 Wenn wir Geertz‘ Erkenntnisse in unsere bisherige Diskussion einbeziehen, können wir die Verbindungen zu der Frage erkennen, die Schlesinger in Die Spaltung Amerikas umtreibt, nämlich die Frage nach den Spannungen und Risiken, die aus Globalisierung, Vertreibung, Identität und Gruppenessentialismus resultieren. In Schlesingers Ausführungen spielten durchsetzungsorientierte Religionen, die vor allem durch Einwanderung ihre Verbreitung in westlichen Gesellschaften finden, kaum eine Rolle. Sein Fokus lag auf ethnischen Gruppen und der Essentialisierung und Politisierung von ethnischen Identitäten im Zusammenhang mit dem Multikulturalismus. Zwei Fragestellungen, die Schlesingers Überlegungen aufgreifen, erscheinen mir besonders lohnenswert zu sein, um sie empirisch intensiver zu untersuchen: (1) Welches gesellschaftliche Spaltungspotenzial geht mit der Gewährung von Rechten für Gruppen einher, die ihre religiösen Überzeugungen mit einem Durchsetzungsanspruch ausstatten? Und (2) welche Fol-
222 ALAN DAVISON gen hat es für eine Gesellschaft, wenn Gruppen (oder ihre Anführer), die sich selbstbewusst auf ihre „reine“ (im Sinne einer strengen, wörtlichen Auslegung der Schrift) Religion berufen und versuchen, ihre Umwelt im Einklang mit ihren religiösen Reinheitsvorstellungen zu gestalten? Empirische Studien zu diesen Fragen wären auch wichtig, um über diese relevanten gesellschaftlichen Themen endlich einen evidenzbasierten Diskurs, anstatt des dominierenden normativ ausgerichteten, führen zu können.
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Arthur M. Schlesinger Jr., The Disuniting of America: Reflections on a Multicultural Society (überarbeitete und erweiterte Ausgabe) (New York: W.W. Norton & Co., 1998), S. 13.Hier, wie auch in allen nachfolgenden Passagen, zitiert nach der deutschen Ausgabe Die Spaltung Amerikas: Überlegungen zu einer multikulturellen Gesellschaft (Stuttgart: ibidem-Verlag, 2020), S. 22. Ebd., S. 22. Ebd., S. 29. Ebd., S. 113. Ebd., S. 126. Ebd., S. 138. Ebd., S. 162f. Ebd., S. 159. Ruud Koopmans, „Multiculturalism and immigration: A contested field in cross-national comparison”, Annual Review of Sociology 39, (2013), S. 147–169. Ebd., S. 149. – Im englischen Original: „[m]ost work on multiculturalism briefly mentions [the] descriptive dimension and quickly moves on to supposedly more important issues.” Ebd. – Im englischen Original: „[t]his negligence is unwarranted, given that the degree and forms of demographic diversity can have important repercussions for the legitimacy and endurance of multicultural policies.” Ebd., S. 157. – Im englischen Original: „[t]here is certainly a wide gap between the available evidence and the sweeping statements made in the public debate.” Ebd. – Im englischen Original: „If critics [of multiculturalism] are right, we should, for instance, find a greater frequency of attitude and behaviors that sustain gender inequality within minority groups that live in countries with multicultural policies, especially if these include rights pertaining to cultural behaviors with a gender dimension. However, no such empirical studies have been undertaken.” Australian Government, Department of Immigration and Citizenship, Media Fact Sheet 6: Australia's Multicultural Policy: https://www.mia.org.au/docum
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ents/item/232. – Im englischen Original: „The Australian Government celebrates and values the benefits of cultural diversity for all Australians, within the broader aims of national unity, community harmony and maintenance of our democratic values.” Und: „The Australian Government is committed to a just, inclusive and socially cohesive society where everyone can participate in the opportunities that Australia offers.” Katie Blair, Kevin M. Dunn, Alanna Kamp, und Oishee Alam, Challenging Racism Project 2015-16 national survey report (2017), S. 3: https//researchdirect. westernsydney.edu.au/islandora/object/uws:39004. – Im englischen Original: „largely representative of the Australian population”. Aus der Zusammenfassung des Challenging Racism Project 2015-16 National Survey Report. – Im englischen Original: „[...] the extent and variation of racist attitudes and experiences in Australia. It examines Australians attitudes to cultural diversity, discomfort/intolerance of specific groups, ideology of nation, perceptions of Anglo-Celtic cultural privilege, and belief in racialism, racial separatism and racial hierarchy. The project also explored targets experiences of racism and the circumstances in which these events occur. We examined the different forms racism takes, the various spheres of life in which incidents occur, the frequency of incidents, responses to incidents (undertaken by both bystanders and targets) and the impact of those experiences on victims.” Alanna Kamp, Oishee Alam, Kathleen Blair, und Kevin Dunn, „Australians' views on cultural diversity, nation and migration, 2015-16”, Cosmopolitan Civil Societies: An Interdisciplinary Journal 9 (3), (2017), S. 61. Hervorhebung durch den Autor dieses Kapitels. – Im englischen Original: „The majority of Australians are pro-diversity. However, we also acknowledge conflicting findings such as strong support for assimilation and identification of ‚out groups’. The findings paint a complex picture of attitudes towards cultural diversity, nation and migration in Australia. The attitudes reflect contradictory political trends of celebrated diversity, triumphalist claims about freedom, alongside pro-assimilationist views and stoked Islamophobia. This is within the context of a stalled multicultural project that has not sufficiently challenged assimilationist assumptions and Anglo-privilege.“ Für weitere Beispiele siehe: Kamp, „Australians' views on cultural diversity, nation and migration, 2015-16”; Kevin Dunn, Thierno MO Diallo, und Rachel Sharples, „Segmenting AntiMuslim Sentiment in Australia: Insights for the Diverse Project of Countering Islamophobia”, Ethnicities 21 (3), (2021), S. 538–562; Kevin M., Dunn, Natascha Klocker, und Tanya Salabay, „Contemporary racism and Islamophobia in Australia: Racializing religion”, Ethnicities 7 (4), (2007), S. 564–589; Scott Poynting und Linda Briskman, „Islamophobia in Australia: From far-right deplorables to respectable liberals”, Sozialwissenschaften 7 (11), (2018), S. 213. In seinem Kapitel „E Pluribus Unum“ geht Schlesinger auf die Gefahr ein, dass der Multikulturalismus zu „ethnozentrischen Separatisten“ führt, die den Westen nur noch als einen Katalog von Verbrechen gegen andere betrachten: „Die westliche Tradition ist in dieser Sichtweise inhärent rassistisch, sexistisch, ‚klassistisch' und hegemonisch; unverbesserlich repressiv, unverbesserlich unterdrückerisch.“ (S. 138) Die Ausbreitung der westlichen Kultur wird in dieser Sichtweise nicht auf inhärente Vorteile oder Errungenschaften
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zurückgeführt, sondern „einfach im Zuge der Ausbreitung der politischen Macht des Westens“ (S. 138) Diese vereinfachende Reduktion der westlichen Kultur (und Werte, Normen usw.) auf unterdrückerische Machtsysteme wird jedem vertraut sein, der sich mit kulturtheoretischen Ansätzen zur Geschichte beschäftigt. Auf diese Weise wird es unproblematisch, westliche kulturelle Normen – die selbst vielfältig und voller innerer Spannungen sind, wie man meinen könnte – mit Behauptungen über Assimilation, Eurozentrismus und Neokolonisierung gleichzusetzen. Elham Manea, „Images of the Muslim Woman and the Construction of Muslim Identity: The Essentialist Paradigm”, Journal for Religion, Film and Media 1 (2016), S. 97. Hervorhebung durch den Autor dieses Kapitels. In einer neueren Arbeit schlägt Elham Manea vier „essentialistische Typen“ vor, von denen der „essentialistische Intellektuelle“ von besonderem Interesse ist. Der essentialistische Intellektuelle ist das „Produkt des postkolonialen und postmodernen Paradigmas, er kann ein Linker oder Liberaler sein“. Ihrer Einschätzung nach „prägen Identitätsprismen sie“ und natürlich auch ihre Forschung: Elham Manea, The Perils of Non-Violent Islamism (Candor, N.Y.: Telos Press Publishing, 2021), S. 116. Halim Rane, Adis Duderija, Riyad H. Rahimullah, Paul Mitchell, Jessica Mamone und Shane Satterley, „Islam in Australia: A National Survey of Muslim Australian Citizens and Permanent Residents”, Religionen 11 (8), (2020), S. 419. Ebd., S. 2 von 39. – Im englischen Original: „Between 1986 and 1991, Australia’s Muslim population experienced a growth rate of 35 percent primarily due to immigration. During this period, nearly 100,000 Muslims arrived in Australia, mostly from the Middle East. […] This was followed by a further doubling of the Muslim population by 2011. According to the 2016 census, there are 604,200 Muslim Australians (2.6% of total population of approximately 23.4 million).” Ebd., S. 9 von 39. Ebd., S. 12 und 18 von 39. Silma Ihram, Muslim Youth and the Mufti: Youth Discourses on Identity and Religious Leadership Under Media Scrutiny (Dissertation, University of Western Sydney, Australien, 2009), S. 128. – Im englischen Original: „There has been a tendency both internationally and in Australia for Islamic leaders to represent themselves as teaching a type of Islam that is purer and closer to the original teaching than their competitors, to the extent of claiming that the latter are polluting Islam with ‘innovation’ or ‘bida’ and therefore should be excluded from the community of believers. This activity is called ‘takfiring’ – or naming as kufr, as an unbeliever, those who are outside of the accepted community. This is akin to excommunicating a Muslim in that they are no longer privy to membership of the Muslim community or the Global Ummah to the extent that permission to perform the ritual Hajj is denied. Added to this existing competition is a further aspect of rivalry which has encouraged an emotional dimension to leadership, in that leaders attract followers on the basis of the leader follower relationship, instead of an attachment to an ethnic social grouping or the accessing of a religious service.” Aus der Zusammenfassung des Challenging Racism Project 2015-16 National Survey Report. – Im englischen Original: „[...] the extent and variation of racist
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attitudes and experiences in Australia. It examines Australians attitudes to cultural diversity, discomfort/intolerance of specific groups, ideology of nation, perceptions of Anglo-Celtic cultural privilege, and belief in racialism, racial separatism and racial hierarchy.” Koopmans, „Multiculturalism and Immigration”, S. 150. – Im englischen Original: „Although immigrants share an interest in obtaining individual citizenship rights, not all groups are equally prone to making claims for cultural rights.” Ebd., S. 165. – Im englischen Original: „[…] the largest and most controversial share of claims making on multicultural rights is about religious rights.” Siehe zum Beispiel Lorne Dawson, „Challenging the curious erasure of religion from the study of religious terrorism”, Numen 65 (2–3), (2018), S. 141– 164, und Maarten Boudry, „Disbelief about belief: why secular academics do not understand the motivations of religious fundamentalists”, New English Review (Mai 2019). Clifford Geertz, „Shifting Aims, Moving Targets: On the Anthropology of Religion”, Journal of the Royal Anthropological Institute 11 (1), (2005), S. 11. – Im englischen Original: „Hindutva, Neo-Evangelism, Engaged Buddhism, Eretz Israel, Liberation Theology, Universal Sufism, Charismatic Christianity, Wahhabis, Shi’ism, Qtub, and ‘The Return of Islam’: assertive religion, active, expansive, and bent on dominion, is not only back; the notion that it was going away, its significance shrinking, its force dissolving, seems to have been, to put it mildly, at least premature.” Ebd. – Im englischen Original: „[…] is that whereas the earlier movement of religious conceptions and their attendant commitments, practices, and selfidentifications was largely a matter of centrifugal outreach …. the present movement is both larger and more various, more a general dispersion than a series of directed flows; the migration, temporary, semi permanent, and permanent, of everyday believers of this variety or that, this intensity or that, across the globe.”
Der Firnis der Zivilisation ist dünn. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in der Pandemiepolitik1 Stefan Luft Die Pandemiepolitik spaltet Deutschland. Dabei handelt es sich in erster Linie um eine durch Politik und Staat forcierte Spaltung „von oben“. Die meisten Medien und andere Akteure treiben sie mit wachsendem Engagement und zielgerichtet voran. Das zentrale Motiv ist Furcht vor den tödlichen Folgen der Pandemie. Das unterscheidet sie von der ideologischen Spaltung Amerikas, wie sie von Arthur M. Schlesinger so treffend analysiert worden ist. Die Gruppen, die sich im Konflikt gegenüberstehen, sind im Fall der Pandemiepolitik zum einen die Mehrheit der Bevölkerung, welche die Narrative und Begründungen der politischen Eliten teilt, sowie zum anderen die Minderheit, die sich kritisch bis ablehnend dazu verhält. Im Falle der USA ist es eine Spaltung in kulturelle – ethnische und religiöse – Gruppen, die ihre Identitäten hervorheben und bewahren wollen und deshalb spezifische Rechte reklamieren. Die Geschwindigkeit und die Härte, mit der in der Pandemiepolitik immer wieder Grenzen, die ursprünglich als „rote Linien“ gedacht waren, überschritten werden, und die Konsequenz, mit der alle Lebensbereiche erfasst werden, haben dieses Land innerhalb von weniger als zwei Jahren so grundlegend verwandelt wie kein zweites Phänomen seit 1945. Dabei sind sowohl eine zunehmende Polarisierung und Spaltung innerhalb der Gesellschaft festzustellen als auch eine Radikalisierung der politischen Debatte (aber auch des politischen Handelns) sowie – von Beginn an – eine Entpolitisierung. Rechtsstaatliche Grundsätze wurden und werden von Regierung, Gerichten, Behörden und Medien als nachrangig gegenüber dem Schutz des Lebens als oberstem Gut behandelt. Der Artikulation von Widerspruch durch Demonstrationen wird mit staatlicher (= polizeilicher) Härte begegnet. Der Spielraum, sich öffent-
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228 STEFAN LUFT lich zu artikulieren, wird massiv eingeschränkt (durch Versammlungsverbote und Zensurmaßnahmen im Netz). Opposition wird „offensiv und aggressiv ausgegrenzt“.2 Minderheitenrechte und Toleranz, die im allgemeinen Diskurs einen hohen Rang einnehmen (wie bei sexuellen Minderheiten), werden in diesem Kontext kaum mehr thematisiert, geschweige denn eingefordert. Angstpolitik und Repression nahmen noch einmal Fahrt auf, nachdem im Herbst 2021 offensichtlich wurde, dass die bisherige Schutzstrategie gescheitert war. Sie hatte – neben der sozialen Distanzierung und Isolierung – vornehmlich auf Impfungen mit modRNA-Impfstoffen gesetzt, das Infektionsgeschehen ließ sich dennoch nicht eindämmen. Nachdem das Bundesverfassungsgericht Ende November 2021 die Pandemiepolitik ausnahmslos für verfassungskonform erklärt hatte, sahen sich Politik und Massenmedien berechtigt und verpflichtet, die Restriktionen qualitativ auf eine neue Ebene zu heben. Die immer stärker perfektionierte Ausgrenzung Ungeimpfter und die angekündigte allgemeine Impfpflicht trieb eine große Bevölkerungsgruppe in eine von ihnen als „ausweglos“ wahrgenommene Lage. Stimmen – wie die von Otto Schily3 –, die vor einem Zerreißen der Gesellschaft und einem zunehmenden Gewaltpotential warnten, fanden kaum Gehör. Die Folgen für Rechtsstaat und Demokratie sind bislang nicht abzuschätzen. Vieles spricht dafür, dass ein ins Autoritäre abdriftender Staat die „Samthandschuhe“ (Sloterdijk) nicht so schnell wieder überziehen wird.
Hasspropaganda gegen Regierungskritiker Die Spaltung verläuft nicht zwischen Regierung und Regierten, zwischen Opposition und Regierung oder zwischen Regierung und „institutionalisierten Gegenöffentlichkeiten“4 – wie Kirchen, Medien, Wissenschaft. Die Bruchlinien laufen nicht entlang traditioneller Gegensätze (wie arm – reich, alt – jung, links – rechts). Vielmehr steht eine kleiner werdende Mehrheit, die der Politik (mindestens grundsätzlich) zustimmt und deren Narrative teilt, einer skeptischen bis ablehnenden Minderheit gegenüber. Obwohl es
DER FIRNIS DER ZIVILISATION IST DÜNN 229 sich bei dieser Minderheit um eine sehr heterogene Gruppe handelt, wird sie von den zentralen Akteuren aus Politik, Medien und anderen Sinnproduzenten nahezu flächendeckend als extremistisch, fanatisch, dumm und unbelehrbar diffamiert, teilweise verspottet – als „Covidioten“, „Corona-Leugner“, „Schwurbler“. Diese herabwürdigenden Verdikte ersparen eine inhaltliche Auseinandersetzung mit abweichenden Positionen, da es sich bei ihren Vertretern – so legen es die Begrifflichkeiten unmissverständlich nahe – um Verwirrte oder Fanatiker handelt, mit denen ein rationaler Diskurs nicht führbar ist. „Dissidenten“ waren in der Sowjetunion ein Fall „für die Psychiatrie“5 und sind es nach Ansicht des Leitmediums Spiegel mittlerweile auch in Deutschland. Nahezu jeder Kritik oder Abweichung von einigermaßen Prominenten wird vom medialen Mainstream entweder mit Nichtbeachtung begegnet, oder sie wird mit aggressiv-denunziatorischer Polemik abgestraft. Die Fähigkeit und die Bereitschaft zum offenen Austausch der Argumente sind weitgehend abhandengekommen. Ein „Artikulationsdefizit abweichender Meinungen“6 trifft einerseits für die Mainstream-Medien zu, andererseits aber auch für die Politik selbst – namentlich die Bundeskanzlerin, die ihre Berater zur Pandemiepolitik sehr selektiv und nach intransparenten Kriterien ausgewählt hatte. Die Massenmedien haben – von wenigen Ausnahmen aus der Springer-Presse abgesehen – weitgehend den Kurs der Regierungen unterstützt, sie aber auch zu Verschärfungen gedrängt. Die journalistische Berichterstattung zur Pandemiepolitik zwischen Januar 2020 und April 2021 sei gleichermaßen regierungsnah und regierungskritisch gewesen, heißt es in einer ersten empirischen Studie.7 „Sie war regierungsnah, weil die Medien, ähnlich wie die Politik, überwiegend für harte Maßnahmen plädierten. Sie war zugleich aber auch regierungskritisch, weil den Medien diese Maßnahmen oft gar nicht hart genug erschienen oder zu spät kamen. […] Insgesamt nahmen die Medien gegenüber der Pandemie folglich eine eindeutig warnende Haltung ein, die man durchaus als Einseitigkeit betrachten kann.“8
230 STEFAN LUFT An die Spitze der Bewegung zur Ausgrenzung und gesellschaftlichen Ächtung der Ungeimpften stellt sich im Dezember 2020 der Spiegel. Der Journalist Blome gab die Richtung vor, die – ein knappes Jahr später – die politische Tagesordnung bestimmt: „Ich hingegen möchte an dieser Stelle ausdrücklich um gesellschaftliche Nachteile für all jene ersuchen, die freiwillig auf eine Impfung verzichten. Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen.“9 Zum Philosophen Richard David Precht erging sich der Spiegel in einer „Beleidigungsorgie“, nachdem dieser von der herrschenden Lehre, die er lange prominent unterstützt hatte, abgewichen war und in einem Podcast mit dem ZDF-Moderator Lanz Ende Oktober 2021 wohlbegründet unter anderem auf die unbekannten Langzeitnebenwirkungen der Impfstoffe hingewiesen hatte.10 Politik und Medien übertrumpften sich mit Denunziationen, pauschalen Beschimpfungen und Herabwürdigungen – wobei auch sprachliche Anleihen bei nationalsozialistischem Kampfvokabular nicht gescheut wurden. „Impfmuffel sind in der Pandemie Volksfeinde“11, „gefährliche Sozialschädlinge“12 „Bekloppte“13, „Wahnsinnige“14, „Parasiten“15, „Superspinner“16, „eine Gefahr für unser Gesundheitssystem, unsere Demokratie und für sich selbst“,17 „Todesengel“18. Klar sei, dass „jeder Nichtgeimpfte in unserem Zusammenleben für andere auch ein Risiko darstellt“19; „sie gefährden uns alle“20. Der ehemalige CDU-Generalsekretär Peter Tauber bediente sich in seiner Wortwahl ebenfalls in vergangen gewähnten Zeiten: „Das Impfen abzulehnen und gar zu verteufeln ist menschenfeindlich. Es wird Zeit, die Fackel der Aufklärung wieder höher zu halten, um das Licht so hell strahlen zu lassen, dass die dunklen Gestalten wieder in die Löcher verschwinden aus den [sic] sie gekrochen kamen“. [Hervorhebung S.L.]21 Die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg schrieb „Impfverweigerung [empfinden wir, S.L.] als frech und gesellschaftliche [sic] inakzeptabel.“ Das Adjektiv frech war im nationalsozialistischen Jargon fest verankert – bezogen auf Juden.22 Entweder war all dies in Vergessenheit geraten, oder man nahm die Assoziationen billigend in Kauf. Von Minderheiten, die Krankheiten verbreiten, ist in zurückliegenden Jahrhunderten des Öfteren die
DER FIRNIS DER ZIVILISATION IST DÜNN 231 Rede gewesen. Diese „aggressive Marginalisierung jeglicher Abweichler vom ‚Konsens aller gerecht und billig Denkenden‘“23 wird – wie die Verrohung der Sprache – nicht folgenlos bleiben. Eine solch menschenverachtende Sprache bereitet den Boden für mehr. Bedenklich ist vor allem, wie ungeimpfte Menschen nur mehr als Gefahr und Last für die Allgemeinheit dargestellt werden, als Kostenfaktor, als Hindernis, als Störung, als Schuldige, als eine Art Brunnenvergifter, die durch ihre Frevel schuld sind an Krankheit und Tod. Mangelnde Solidarität wird ihnen vorgeworfen, Egoismus und Verantwortungslosigkeit. Sie scheinen das Böse an sich zu sein. Fehlt nur noch, dass einer in die Welt setzt, sie seien habgierig, und der strukturelle Antisemitismus wäre perfekt. Kaum mehr wird von ihnen noch wie von gleichberechtigten Subjekten gesprochen, eher noch wie von bloßen Objekten, mit denen man so oder so verfahren müsse. Die Analogie zu parafaschistischen Stigmatisierungs- und Ausgrenzungsprozessen liegt auf der Hand, auch wenn sie den Beteiligten nicht bewusst ist.24 Die Radikalisierung der politischen Debatte erreichte im Laufe des November 2021 einen weiteren Höhepunkt. Viele Beteiligte an der öffentlichen Debatte emotionalisierten und polarisierten in einer Weise, welche die Gesellschaft in einen geistigen Ausnahmezustand hineinzutreiben drohte. Der Ministerpräsident Bayerns sah den Weltuntergang – die Apokalypse – unmittelbar bevorstehen25 – nachdem er zu Beginn des Jahres 2021 die Coronapandemie mit der Pest verglichen hatte.26 Das böse (und unzutreffende) Wort von der „Pandemie der Ungeimpften“27 machte die Runde – obwohl es inhaltlich unbegründet war (das haben die meisten derartigen Brunnenvergifternarrative an sich).28 Der Präsident des Weltärzteverbandes drehte die Eskalationsspirale weiter und sprach von einer „Tyrannei der Ungeimpften“ 29. Der Spiegel sah die Geimpften „als Geiseln der Ungeimpften“.30 Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit gewann in zahlreichen Leitmedien (Spiegel, Zeit, ARD etc.) gewichtige Fürsprecher. Abwertungen, Aufrufe zu Diskriminierungen und Ausgrenzung, zum Ausschluss Ungeimpfter aus dem öffentlichen Leben, sind eindeutige „Vorformen von Gewalt“.31 Mithilfe einer Minderheit, die zum Sündenbock gemacht wurde, wurde – überaus erfolgreich – von den eklatanten
232 STEFAN LUFT Versäumnissen der Politik abgelenkt. Andererseits wurden Panik und Hysterie verstärkt, um den Druck auf die „Ungeimpften“ immer größer werden zu lassen. Hysterie und Panik vernebeln allerdings den Geist. Der Wille, Sündenböcke auszumachen, wird stärker – obwohl das noch nie weitergeholfen hat.
Wirtschaftlicher Zwang und demonstrative Ausgrenzung Offen zu Tage tretende Verlogenheit ist eines der wirksamsten Mittel, Vertrauen zu zerstören. Das gilt für persönliche Beziehungen und für die Beziehungen von Bürgern zur Politik gleichermaßen. In der Pandemiepolitik galt dies vor allem für die Debatte um das Impfen. Die Bundesregierung und führende Vertreter von CDU/CSU, SPD und FDP hatten frühzeitig und wiederholt auch vor der Bundestagswahl erklärt, dass es eine Impfpflicht nicht geben werde. „Ich gebe Ihnen mein Wort: Es wird in dieser Pandemie keine Impfpflicht geben“, erklärte Bundesgesundheitsminister Spahn (CDU) im Deutschen Bundestag.32 „Für uns als Unionsfraktion ist und bleibt klar, dass es keine Impfpflicht geben wird. Auch keine Impfpflicht durch die Hintertür. Jeder kann und muss sich frei entscheiden können, ob er sich impfen lässt oder nicht. Eine Spaltung der Gesellschaft in Geimpfte und nicht Geimpfte wollen wir nicht“, verlautbarte die CDU/CSU-Bundestagsfraktion in einer Pressemitteilung vom 29. Dezember 2020 unter der Überschrift „Keine Impfpflicht durch die Hintertür“.33 Der SPD-Spitzenkandidat Olaf Scholz hatte noch in der Fernsehdebatte der drei Kanzlerkandidaten beteuert: „Erstens bin ich gegen eine Impfpflicht.“34 Im Widerspruch dazu wurde nach der Bundestagwahl von SPD, Grünen und FDP beschlossen, bis März 2022 eine rechtlich verankerte allgemeine Impfpflicht zu beschließen.35 Auch die Unionsparteien vertraten dies nun mit besonderem Nachdruck.36 Der Druck auf die bislang Ungeimpften wurde kontinuierlich erhöht. Offensichtlich scheute man bis November 2021 vor der mit einer rechtlich verankerten Impfpflicht verbundenen Konsequenz zurück, für mögliche – im zugrunde liegenden be-
DER FIRNIS DER ZIVILISATION IST DÜNN 233 schleunigten Zulassungsverfahren unbekannt gebliebene – Nebenwirkungen haftbar gemacht zu werden. Trotz des verlautbarten Verzichts auf staatlichen Zwang setzte die Politik nahezu uneingeschränkt auf Maßnahmen, die einem faktischen Impfzwang gleichkamen. Von einer freien, individuellen Entscheidung konnte keine Rede mehr sein. Sie wurde dabei unterstützt von den allermeisten Medien (öffentlich-rechtlich und privat) sowie von gesellschaftlichen Akteuren aller Art: Kirchen, Verbänden, Arbeitgeberverbänden etc. Dabei ging die Politik zweigleisig vor: So wurde einerseits mit den Beschlüssen zum Wegfall der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall37 (seit 1. November 2021) und der Kostenpflichtigkeit von erzwungenen Tests (ab 11. Oktober 2021, seit 13. November 2021 wieder aufgehoben) ein mittelbarer Zwang zum Impfen ausgeübt: Zumindest jenen Ungeimpften, die nicht über Vermögen oder ein überdurchschnittlich hohes Einkommen verfügten und die monatlich knapp über die Runden kamen, wurde damit die Vernichtung ihrer wirtschaftlichen Existenz angedroht. Ungeimpfte Studierende, über deren mangelnde finanzielle Ausstattung ansonsten regelmäßig beredt geklagt wird, mussten – so sie von ihren Eltern nicht finanziell entsprechend unterstützt wurden – ihr Studium unterbrechen oder gar abbrechen, weil sie nicht in der Lage waren, die von ihnen geforderten Tests zu finanzieren. Gesellschaftliche Teilhabe sowie die Ausübung von Grundrechten wurde von Testergebnissen und Impfungen abhängig gemacht. Die Politik setzte darauf, Ungeimpfte von Dienstleistungen (Gastronomie, Kulturveranstaltungen, Trauerfeierlichkeiten und Bestattungen, religiösen Feiern etc.) so weit wie möglich auszuschließen („2G“). Sie benutzte damit auch private Akteure, um durch den Ausschluss Ungeimpfter aus dem öffentlichen Leben den faktischen Impfzwang durchzusetzen. Teilweise wurden Studenten, die nicht geimpft waren, sogar aus den Universitäten ausgeschlossen. Die Universität Erlangen-Nürnberg machte am 15. November 2021 den Anfang.38 Die Mensa der Universität Bremen war seit dem 25. November 2021 nur noch für Geimpfte oder Genesene („2G“) zugänglich.39 Das war sachlich unbegründet – die Mensa in Bremen praktizierte ein ausgefeiltes Hygienekonzept, das
234 STEFAN LUFT die Übertragung äußerst unwahrscheinlich machte. Der Schriftsteller Ortwin Rosner sieht darüber hinaus im Ausschluss ungeimpfter Studenten eine gefährliche Verirrung: Spätestens hier sollten allerdings die Alarmglocken in unseren Köpfen schrillen. Wenn Menschen auf diese Weise aussortiert werden, geht es schließlich um die Setzung von Maßnahmen, die immer offensichtlicher an eigentlich überwunden geglaubte Konzepte totalitärer Staaten erinnern. Wie ist es nur möglich, muss man sich fragen, dass wir über so etwas debattieren, wie kann ein derartiger Vorschlag überhaupt in aller Öffentlichkeit verlautbart und ernsthaft in Erwägung gezogen werden? Was muss da alles passiert sein in den letzten eineinhalb Jahren? Was muss sich in unseren Köpfen verändert haben in dieser Zeit? Denn vor der Pandemie wäre es unvorstellbar gewesen, dass so etwas Ähnliches auch nur angedacht worden wäre.40
Der Ausschluss Ungeimpfter aus dem öffentlichen Leben („2G“), der schrittweise in Kraft trat und ab 3. Dezember 2021 flächendeckend galt, bedeutete in der Konsequenz den vollständigen Rückzug ins Private. „2G“ wurde dabei von zahlreichen Virologen als kontraproduktiv eingeschätzt. Hendrik Streeck hielt das Modell für „gefährlich“.41 Detlev Krüger, ehemaliger Leiter des Virologischen Instituts an der Berliner Charité, argumentierte: „Im Endeffekt bedeutet 2G nur mehr Unfreiheit, ohne mehr Sicherheit zu bieten.“42 Alexander Kekulé hielt das 2G-Modell für einen „Teil des Problems“: „Geimpfte und Genesene glauben, sie wären sicher, weil man ihnen das bis vor Kurzem so gesagt hat. Aber auch sie infizieren sich zu einem erheblichen Teil. Dadurch haben wir jetzt diese massive Welle unter den Geimpften. Sie ist deshalb so gefährlich, weil diese Menschen glauben, sie seien geschützt. Sie wurden falsch informiert, sogar das Robert-Koch-Institut hat das noch bis vor Kurzem auf seiner Website falsch dargestellt.“43 Die Bundesregierung hatte in ihrer Impfkampagne den Eindruck erweckt, man könne „sich freiimpfen lassen“. Mit der Impfung kehre die gewohnte Freiheit zurück.44 Dies hatte sich als falsches Versprechen erwiesen. Der Gefahr des massenhaften Impfversagens wurde nicht erwogen – jedenfalls nicht kommuniziert. Vor dem Hintergrund des mangelnden Fremdschutzes durch die Impfungen45 erübrigten sich auch alle Überlegungen, die auf der ohnehin äußerst
DER FIRNIS DER ZIVILISATION IST DÜNN 235 fragwürdigen Unterscheidung zwischen „nicht mehr gefährdende[n]“ Bürgern und „ungefährlichen Geimpfte(n)“ hinsichtlich der Rückkehr „in die Freiheit der Normalität“ beruhten.46 Angesichts des vorliegenden Wissensstandes hatte eine Politik, die derartige Vorstellungen teilte, ihre materielle Begründung verloren. Die Politik war gleichermaßen Treibende und Getriebene – sie schürte selbst Angst und Ressentiments und stand unter dem Druck von Medien und Bevölkerung. Medien übernahmen das Ihre. „Man muss auf keinen mehr Rücksicht nehmen, der sich nicht immunisieren lassen will. Konsequent wäre, gerade Haushalte mit Kindern zur Injektion zu drängen. Das kann man, indem man den gesamten Freizeitbereich grundsätzlich unter die 2G-Regel stellt; oder wenn der Arbeitgeber das von seinen Beschäftigten verlangt“, hieß es in der Rheinpfalz am 24. Oktober 2021.47 Bei der Debatte um einen Ausschluss der Ungeimpften aus dem öffentlichen Leben schien die Phantasie im Überbietungswettbewerb der Grausamkeiten kaum noch Grenzen zu kennen. Das Ziel war klar: „Das Leben der Ungeimpften so weit einschränken wie es geht“48, der „Lockdown für Ungeimpfte“49, wie er im November 2021 in Österreich verhängt wurde. „2G-Verordnung: Volle Härte gegen Ungeimpfte“ titelte die österreichische Kronen Zeitung.50 Die Kassenärztliche Vereinigung Berlin schlug vor, das Solidarprinzip für Ungeimpfte aufzuheben – die „Kostenbeteiligung Ungeimpfter an Krankenhausleistungen, sollten diese mit einer Coronainfektion in eine Klinik eingeliefert bzw. auf einer Intensivstation behandelt werden müssen.“51 Der Jurist Franz C. Mayer brachte ins Gespräch, „Impfverweigerern“ den Krankenversicherungsschutz zu nehmen, sein Kollege Ulrich Battis empfahl, staatlicherseits Hausarrest über Ungeimpfte zu verhängen.52 Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow drohte damit, Ungeimpfte von vollen Krankenhäusern in Thüringen abweisen zu lassen.53 Der CDU-Politiker Friedrich Merz schlug vor, Ungeimpften die wirtschaftliche Existenzgrundlage zu entziehen, indem ihnen der Zugang zum Arbeitsplatz versagt und dann auch die Lohnzahlung beendet würde. Es müsse gelten: „Kein Ungeimpfter mehr im Büro,
236 STEFAN LUFT kein ungeimpfter Fußballspieler mehr auf dem Rasen, kein ungeimpfter Abgeordneter mehr im Bundestag, kein ungeimpfter Student mehr im Hörsaal.“54 Die Liste solcher Vorschläge ließe sich beliebig verlängern. Die niedrigsten Instinkte fanden hier ein Ventil. Es wurde ausgelotet, wie weit man gehen konnte. Die Enthemmung – einmal ausgelöst – entfaltete eine Eigendynamik. Die Zeit veröffentlichte am 19. November einen Aufruf, die Gesellschaft nachhaltig zu spalten. „Was es jetzt braucht, ist nicht mehr Offenheit, sondern ein scharfer Keil. […] Richtig und tief eingeschlagen trennt er den gefährlichen vom gefährdeten Teil der Gesellschaft.“55 Grund: „Die Ablehnung von Regierungsmaßnahmen respektive des Staates als solchem […]“ durch die „Gefährlichen“. Das Delikt wäre dann staatsfeindliche Hetze, mit der in der DDR die Verfolgung von Regimekritikern begründet wurde. Die Säuberungsphantasien kreisten um politische Hygiene: „Ein Anfang wäre ja schon, alles nicht faktenbasierte, unwissenschaftliche und staatsfeindliche auszuschließen.“56 Dass ein solcher Text einmal in der linksliberalen Wochenzeitung Die Zeit erscheinen würde, dokumentierte den radikalen Umschwung im gesellschaftlichen Mainstream im Zuge der Corona-Krise. Der Spiegel zog zwei Tage später nach – unter der Überschrift: „CoronaDebatte: Vergesst den ‚Zusammenhalt‘“. Die Minderheit habe „sich aus dem Wert- und Faktenkanon aller Übrigen verabschiedet […]“.57 Was der Autor eigentlich wollte, blieb im Unklaren. Bei der aktivistischen Linken kam das wie folgt an: „Grenzt Impfgegner aus! Die Gesellschaft ist längst gespalten, die Zeit für Rücksicht ist vorbei. Blockt Impfgegner. Es ist längst klar, das [sic] diese nicht mehr rational zu erreichen sind. Hört auf Rücksicht zu nehmen auf die Rücksichtslosen.“58 Es handelte sich hier um einen klassischen Fall von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit: „[…] immer dann, wenn Menschen aufgrund eines oft einzigen gemeinsamen Merkmals in Gruppen eingeteilt und diese abgewertet und ausgegrenzt werden, spricht man von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit.“59 Die Stigmatisierung der Gruppe der Ungeimpften war inhaltlich unberechtigt, gefährlich und unverantwortlich. Sie diente der Schuldverschiebung für die gescheiterte Schutzstrategie. Der Anstieg von
DER FIRNIS DER ZIVILISATION IST DÜNN 237 COVID-19-Infektionen stand offensichtlich nicht in dem kausalen Zusammenhang mit der Impfquote, wie das in Deutschland nahezu durchgängig von Regierung und Medien behauptet wurde und womit der illegitime Druck auf die bisher Ungeimpften gerechtfertigt wurde. Am 29. November 2021 – bei einer Impfquote von 80 Prozent aller Volljährigen – wurden mehr Neuinfektionen (29.400) registriert60 als am 23. Dezember 2020 (24.700)61 bei einer Impfquote von null Prozent. Auch eine international vergleichende Studie kam zu dem Ergebnis, dass der behauptete Zusammenhang zwischen Impf- und Infektionsquote nicht bestand.62 Untersucht wurden 68 Staaten weltweit und 2.947 Bezirke allein in den Vereinigten Staaten: In fact, the trend line suggests a marginally positive association such that countries with higher percentage of population fully vaccinated have higher COVID-19 cases per 1 million people. Notably, Israel with over 60% of their population fully vaccinated had the highest COVID-19 cases per 1 million people in the last 7 days. The lack of a meaningful association between percentage population fully vaccinated and new COVID-19 cases is further exemplified, for instance, by comparison of Iceland and Portugal. Both countries have over 75% of their population fully vaccinated and have more COVID-19 cases per 1 million people than countries such as Vietnam and South Africa that have around 10% of their population fully vaccinated.
Die Kampagne von Regierung und Medien zur Stigmatisierung Ungeimpfter entbehrte einer sachlichen Grundlage und war schädlich für die Gesellschaft, ihren Zusammenhalt und die betroffenen Individuen. In summary, even as efforts should be made to encourage populations to get vaccinated it should be done so with humility and respect. Stigmatizing populations can do more harm than good. Importantly, other non-pharmacological prevention efforts (e.g., the importance of basic public health hygiene with regards to maintaining safe distance or handwashing, promoting better frequent and cheaper forms of testing) needs to be renewed in order to strike the balance of learning to live with COVID-19 in the same manner we continue to live a 100 years later with various seasonal alterations of the 1918 Influenza virus.63
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Steuerungsversagen Die Sündenbockpolitik hatte die Funktion eines klassischen Ablenkungsmanövers – das Scheitern der bisherigen Politik von CDU/CSU, SPD und Grünen (diese haben die meisten Beschlüsse im Bundestag mitgetragen) sowie der Linkspartei auf Länderebene war offensichtlich, wurde aber durch die regierungsamtliche und von den meisten Medien mitgetragene Schuldkampagne sehr erfolgreich überspielt: Eine Politik, die es seit mehr als einem Jahrzehnt und trotz Pandemie nicht schaffte, wirksam gegen den Pflegenotstand vorzugehen, die zuließ, dass Ende Oktober 2021 rund 5.000 Intensivbetten weniger in Deutschland zur Verfügung standen als ein Jahr zuvor64, war auf ihrem ureigensten Feld – der Prävention – gescheitert. Politik und Medien beklagten allerdings nicht dieses Scheitern, sondern nutzten die drohende Überlastung der nicht angemessen ausgestatteten Krankenhäuser als weiteres Argument, um Zwangsimpfungen durchzusetzen. In Thüringen, dessen Ministerpräsident Ungeimpften die Abweisung durch die Krankenhäuser des Landes angedroht hatte, waren alleine im Jahr 2021 mehr Intensivbetten abgebaut worden, als es COVID-19-Fälle zum Zeitpunkt dieser Äußerungen gab.65 Aufgrund Personalmangels mussten immer wieder Intensivbetten gesperrt und in der Konsequenz die Notfallversorgung eingeschränkt und Operationen verschoben werden.66 Die Krisenkommunikation im November 2021 erweckte allerdings den unzutreffenden Eindruck, dies sei ausschließlich auf COVID-19-Erkrankte zurückzuführen. Die Probleme hatten sich durch die Pandemie nur verschärft. In dem Ergebnispapier der Videoschaltkonferenz der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten am 18. November 2021 wurde dem Thema „Abbau von Intensivbetten“ keine Zeile gewidmet – obwohl die Fachleute eine „dramatische Entwicklung in die falsche Richtung“ beklagten.67 Zu den medial vermittelten Legenden, welche die Panik in weiten Teilen der Bevölkerung verschärft haben, gehört der Eindruck, die Intensivstationen in Deutschland seien durch COVID19-Patienten stark überlastet gewesen. Für die stationäre Versor-
DER FIRNIS DER ZIVILISATION IST DÜNN 239 gung der COVID-19-Patienten wurden im Jahr 2020 „2% aller Betten und knapp 4% der Intensivbetten benötigt […] natürlich mit zeitlichen und geographischen Spitzen.“68 Die Auslastung der Intensivstationen sank im Laufe des Jahres 2020 von 69,6 Prozent auf 68,6 Prozent.69 Die Bundesregierung hat 10,2 Milliarden Euro als Ausgleichszahlungen und 686,1 Millionen Euro für rund 13.700 zusätzliche Intensivbetten ausgezahlt.70 Dass diese Mittel nur teilweise für den jeweils zugedachten Zweck verwendet wurden, ließ wieder einmal strukturelle Steuerungsdefizite im deutschen Gesundheitswesen zu Tage treten. Der Bundesrechnungshof kritisierte „unerwünschte Mitnahmeeffekte“ bei den Ausgleichszahlungen für Intensivbetten. „Das Robert-Koch‐Institut (RKI) äußerte gegenüber dem BMG [Bundesministerium für Gesundheit, S.L.] die Vermutung, dass Krankenhäuser zum Teil zu niedrige intensivmedizinische Behandlungsplätze meldeten. Die Fallzahlen auf den Intensivstationen entspannten sich zeitweise, allerdings sei der Anteil der freien betreibbaren Betten insgesamt niedrig geblieben. Die gemeldeten Daten seien nicht uneingeschränkt für eine Bewertung der Situation geeignet.“71 Besonders kritisch bewertet der Bundesrechnungshof, dass die Ausgleichzahlungen „vielen Krankenhäusern im vergangenen Jahr eine massive Überkompensation aus Steuermitteln [ermöglichten, S.L.]: Bei sinkender Bettenauslastung um knapp acht Prozentpunkte wuchsen die Zahlungen der Krankenkassen für Krankenhausbehandlungen im Jahr 2020 gegenüber 2019 um 1,7 Prozent. Hinzu traten die Ausgleichszahlungen des Bundes, die allein im Jahr 2020 10,2 Milliarden Euro betrugen. Der Bund hat damit nicht überwiegend Zahlungen zur Aufrechterhaltung freier Krankenhauskapazitäten für COVID‐19‐Patientinnen und ‐Patienten geleistet, sondern vielmehr das betriebswirtschaftliche Risiko einer nicht ausreichenden Belegung der Krankenhäuser mitgetragen.“72 13.700 Intensivbetten sollten geschaffen werden. Der Bunderechnungshof hielt lapidar fest:
240 STEFAN LUFT Ein solcher Kapazitätszuwachs ist aus den vorliegenden Statistiken und Datensammlungen indes nicht abzulesen. Dies gilt auch für die im DIVI‐Intensivregister abrufbaren Zahlen. Umso wichtiger ist es, die ordnungsgemäße und zweckentsprechende Verwendung der eingesetzten Fördermittel kontrollieren zu können. Die Klärung der ordnungsgemäßen Mittelverwendung hat nicht nur Bedeutung für die Vergangenheit. Zur Stärkung der Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems und zur Bekämpfung künftiger epidemischer Geschehnisse wäre die Aufstockung der vorhandenen betreibbaren Intensivbetten um weitere 13 700 Intensivbetten eine relevante Größe: Gemessen am Bestand der 24 000 im Monat April 2021 bundesweit verfügbaren Intensivbetten (belegte und freie betreibbare Betten) von immerhin 57 %. Der Verbleib und die Einsatzbereitschaft der mit der Förderung geschaffenen Intensivbetten ist daher auch aus diesem Grund zu klären.73
Hinzu kam, dass es das Bundesgesundheitsministerium versäumt hatte, die Kliniken darauf hinzuweisen, dass zusätzliche Intensivbetten nur mit ausreichend vorhandenem Personal einsetzbar sind und auch nur dann subventioniert werden. Zu den „Mitnahmeeffekten“ gehörte auch, dass die HeliosKliniken – private Krankenhausbetreiber – im Jahr 2020 sehr hohe Gewinne zu verzeichnen hatten.74 Wie jedes private Unternehmen ist auch der Helios-Konzern darauf ausgerichtet, Gewinn zu maximieren. Um dies zu erreichen, müssen nicht nur die Einnahmen gesteigert, sondern auch die Kosten niedrig gehalten werden. Die Folge sind dauerhaft überlastete Intensivstationen aufgrund des Personalmangels – bei weitem nicht nur als Folge der Corona-Pandemie, sondern als regelmäßig wiederkehrendes Phänomen: „Es ist so, dass unsere Intensivstation einen Großteil der Zeit ihrem Versorgungsauftrag nicht nachkommen kann und sich von der Aufnahme akut erkrankter Patienten abmelden muss“, berichtet ein Arzt des Herzzentrums Leipzig dem MDR.75 Der öffentliche Gesundheitsdienst war „schon seit den 1990er Jahren zum Opfer der kommunalen Sparpolitik“ geworden.76 Personell und technisch inadäquat ausgestattete Gesundheitsämter hatten daher ihre wichtige Rolle bei der Bewältigung von Pandemien nicht ausreichend wahrnehmen können.
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Verwaltung des Pflegenotstandes In der Krankenhauspflege fehlen bundesweit seit Jahren rund 100.000 Vollzeitkräfte.77 Der Trend „raus aus der Pflege“ hat sich im Zuge der Pandemie noch einmal verstärkt. Alle Förderprogramme der zurückliegenden Jahre haben allerdings keine grundlegende Wende herbeigeführt. So schreibt die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik: Hätte es in den zurückliegenden Jahren entschiedene Signale für eine Aufwertung der Pflege mit einer bedarfsgerechten Personalausstattung, einer Bezahlung nach Tarif sowie auch der perspektivischen Überführung pflegerischer Ausbildungs- und Studiengänge in das öffentliche Schul- und Hochschulwesen gegeben, könnten Berufsaussteiger*innen zurückgeholt und könnte der Arbeitsmarktengpass sukzessive durch die Steigerung der Berufsneuzugänge abgebaut werden. Stattdessen beschränkt sich die Bundes- wie Landespolitik auf das Moderieren, das Delegieren und das ständig neue Auflegen kurzatmiger Förderprogramme. Der ‚Pflexit‘ aus dem Pflegeberuf vollzieht sich derweil schneller, als die Mini-Verbesserungen, zu denen das bestehende System fähig ist, zum Tragen kommen. Die Pandemieerfahrung tut ein Übriges.78
Radikalisierung und Entpolitisierung Argumentativer Schlüssel zum Verständnis der Entpolitisierung der Debatte war das Framing als „Katastrophe“ und die apokalyptische Beschwörung des potentiell allen Menschen drohenden Todes durch die Pandemie. Bundes- und Landesregierungen verlautbarten regelmäßig, es gehe um Leben und Tod.79 Dementsprechend unterblieben grundrechtliche Abwägungen, die Diskussion von Zielkonflikten. Leben und Gesundheit als oberste Güter ließen Derartiges nicht zu. Die bayerische Staatsregierung rief am 16. März 2020 den Katastrophenfall aus.80 Angstgetriebene Regierungsmitglieder (wie Bundeskanzlerin Angela Merkel81 und Bundesinnenminister Horst Seehofer82) oder der autoritär-populistische bayerische Ministerpräsident Markus Söder83 setzten sehr früh auf eine angstdominierte Kommunikation, welche die „gewünschte Schockwirkung“ erzielte.84
242 STEFAN LUFT In prägnanter Weise formuliert wurde diese Strategie bereits in einem im Frühjahr 2020 entstandenen internen Papier des Bundesinnenministeriums mit dem Titel „Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen“.85 Um die Bevölkerung zu disziplinieren und zu motivieren, bisher unbekannte, drastische staatliche Eingriffe hinzunehmen, wurden Schreckensszenarien wie dieses beschrieben: „Viele Schwerkranke werden von ihren Angehörigen ins Krankenhaus gebracht, aber abgewiesen, und sterben qualvoll um Luft ringend zu Hause. Das Ersticken oder nicht genug Luft kriegen ist für jeden Menschen eine Urangst [Hervorhebung im Original, S.L.]. Die Situation, in der man nichts tun kann, um in Lebensgefahr schwebenden Angehörigen zu helfen, ebenfalls. Die Bilder aus Italien sind verstörend.“86 Die Bilder eines Militärkonvois aus Bergamo sind ein „Paradebeispiel dafür, dass Bilder Angst erzeugen können ohne irgendetwas konkretes zu zeigen“87, die – wie die Paniknarrative der Regierungen – auch als Legenden flächendeckend nachhaltige Wirkung entfalteten. Sie verbreiteten enorme Angst und wirkten entpolitisierend: Angesichts des regierungsamtlich und massenmedial angekündigten Massensterbens88 erschien es absolut unangemessen, auf Grundrechten, auf dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der Einhaltung von Verfahren und einer offenen Debatte zu bestehen. Wo es um Leben oder Tod ging, hatte alles Räsonieren ein Ende. Faktisch war der unverzichtbare „Rationalitätstest“89 der ergriffenen Maßnahmen weitgehend suspendiert. Die erlassenen Regeln durften „nie hinterfragt werden“ (Lothar Wieler).90 Wer sich diese Haltung nicht zu eigen machte, verhielt sich undiszipliniert und war mehr als ein Störenfried: Er gefährdete indirekt das Leben anderer. Auf diese Weise „ist eine Stimmung entstanden, die Grundrechte in Krisenzeiten als Gefahr betrachtet. […] Und wer zu oft ‚Grundgesetz‘ sagt, macht sich verdächtig.“91 Der baden-württembergische Ministerpräsident Kretschmann brachte diese Haltung zum Ausdruck: „Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ist ein Grundrecht. In einer Pandemie treten andere Grundrechte dahinter zurück. Und wenn man eine Pandemie nicht überlebt, ist es mit den Freiheitsrechten auch vorbei.“92 Die Ausübung von Grundrechten hat erhebliche Auswirkungen auf den
DER FIRNIS DER ZIVILISATION IST DÜNN 243 politischen Prozess und den öffentlichen Diskurs, da es sich bei ihnen nicht nur um Abwehrrechte handelt, sondern auch um „Partizipationserzwingungsrechte“93. Je stärker und je länger Grundrechte eingeschränkt oder gar ganz suspendiert werden, desto ungestörter können die politischen Eliten die politischen Entscheidungsprozesse dominieren. Das mit allen Mitteln zu vermeidende Übel wird im Papier des Bundesinnenministeriums als „Worst Case“ bezeichnet. „Die Vermeidung des Worst Case ist als zentrales politisches und gesellschaftspolitisches Ziel zu definieren. Politik und Bürger müssen dabei als Einheit agieren.“94 „Politik“ wird hier offensichtlich als Synonym für Regierung verstanden. „Politik“ kann allerdings unter demokratischen Verhältnissen nur pluralistisch und nie als monolithischer Block verstanden werden. Regierung und Volk sind nur in den Fiktionen totalitärer Regime eine Einheit. Derartige Einheitsund Verschmelzungsphantasien sind demokratischem Denken wesensfremd. Das Katastrophenszenario „Worst Case“ („Es droht, dass dies die Gemeinschaft in einen völlig anderen Grundzustand bis hin zur Anarchie verändert.“95) muss um jeden Preis verhindert werden.
Auf dem Weg in die Gesundheitsdiktatur? Der zentrale Topos in der Debatte war: „Es geht bei der Pandemiepolitik um Leben oder Tod“. Jürgen Habermas, die Kirchen, das Bundesverfassungsgericht, die allermeisten Medien sahen vor dieser Alternative die Restriktionen seit März 2020 als gerechtfertigt, ja als verpflichtend an. Habermas reproduzierte in seiner Argumentation im Wesentlichen die Thesen des vorherrschenden politischen Diskurses.96 Die Politik der deutschen Bundesregierung habe sich „auf den mehr oder weniger einhelligen Rat der wissenschaftlichen Experten“ stützen können. Angela Merkel habe sich allerdings in Teilen als zu zögerlich erwiesen. Die Regierungskritiker werden von Habermas karikiert als „Fürsprecher eines libertären Öffnungskurses“, dominiert durch die FDP und die Wirtschaftsverbände. Holzschnittartig stehen für
244 STEFAN LUFT ihn die „Verteidiger eines strengen Regierungskurses“ einer „Lockerungslobby“ gegenüber. Die Kontroversen reduziert er auf einen „Streit über die Wahl zwischen lascheren und strengeren Präventionsmaßnahmen“ (als ob relevante Akteure tatsächlich für nachlässigere Präventionsmaßnahmen plädiert hätten). Wider Erwarten verzichtete Habermas auf jede abwägende Einordnung der Debatte. Die entscheidende Frage, die er in seiner Stellungnahme mehrfach stellte, lautete: ob denn ein demokratischer Verfassungsstaat bei der Verfolgung des Ziels der Pandemiebekämpfung überhaupt das Recht habe, Politiken zu wählen, mit denen er die vermeidbare Steigerung von Infektionszahlen und damit der wahrscheinlichen Anzahl von Sterbefällen stillschweigend in Kauf nimmt. Er verneinte diese suggestive Frage: Der Staat sei „bei der Verfolgung kollektiver Ziele selbst an Pflichten gebunden, unter anderem an die Pflicht, alle Strategien auszuschließen, bei denen er Gefahr läuft, die wahrscheinliche Gefährdung von Leben und körperlicher Unversehrtheit einer vorhersehbaren Anzahl unschuldiger Bürger in Kauf zu nehmen, also selber zu verursachen“ [Hervorhebungen im Original, S.L.]. Über allen Grundrechten („subjektiven Freiheiten“) beansprucht die Politik als „Mittel der kollektiven Zielverwirklichung […] in der Ausnahmesituation Vorrang […]“. Welche Politik ist damit gemeint? Auch hier unterbleibt jede Analyse divergierender Positionen. Für Habermas besteht die absolute Pflicht des Staates zum Schutz des Lebens als Ausdruck und Basis der „Unantastbarkeit der Menschenwürde der Person“. Über allem stehende Aufgabe staatlichen Handelns zur Sicherung der menschlichen Würde sei es demnach, „eine wissenschaftlich vorhersehbare, also nach menschlichem Ermessen vermeidbare Steigerung der Infektionsbzw. Sterbezahlen“ zu verhindern. Eine abwägende Debatte darum, welche Grundrechte in welchem Ausmaß bei welchem Infektionsgeschehen und welchen Sterberaten suspendiert werden müssten, erübrigte sich vor diesem absoluten Gebot. Auch die Justiz hatte für Habermas in Zeiten der Pandemie nur noch eine marginale Rolle inne. Deren „Abwägungspraxis [würde sich – Anm. S.L.] dann im Wesentlichen auf die Einschätzung der Geeignetheit der kontroversen Maßnahme für das von vornherein als erforderlich
DER FIRNIS DER ZIVILISATION IST DÜNN 245 anerkannte Ziel [das Recht auf Leben und Gesundheit – Anm. S.L.] beschränken müssen.97 [Hervorhebungen im Original, S.L.] Wenn der Staat zuallererst „vermeidbare“ Sterbefälle zu verhindern hätte, wären der Politik keine Grenzen gesetzt.98 Nicht nur im Straßenverkehr – das verkennt Habermas – lässt der Staat Beeinträchtigungen des Rechts auf Leben und Gesundheit zu. Es geht immer um eine „dynamische Abwägung und nicht um absoluten Schutz“.99 Für die Gesundheit ist nicht an erster Stelle der Staat verantwortlich, sondern zunächst der Einzelne (Ernährung, Sport, Rauchen etc.), aber auch eine Politik, die über den Grad der sozialen Ungleichheit auch das Ausmaß von Privilegien (wie die Möglichkeit, von zu Hause aus zu arbeiten) bestimmt.100 Hinzu kommt der eindeutige Zusammenhang von sozialem Status (Einkommen, Bildung, beruflicher Status) und Gesundheit sowie Lebenserwartung zum Tragen.101 […] wenn der Staat wirklich alles tun muss, was vermeidbare Infektionen verhindert, dann sind ausnahmslose Ausgangssperren, radikalste Kontaktverbote und die dauerhafte Schließung aller öffentlichen Institutionen von der Schule bis zum Schwimmbad nicht nur möglich, sondern geboten. Dann dürfte wirklich niemand mehr seine Wohnzelle verlassen, und Militärpolizisten in Schutzanzügen müssten Wasser und Brot in die Treppenhäuser stellen. Und da der Habermas-Staat zur Unterbindung sämtlicher Infektionen gezwungen ist, müsste er diese auch mit Zwang durchsetzen – im Zweifel also durch körperliche Gewalt, hohe Freiheitsstrafen oder den Entzug anderer Grundrechte. Mit Ausnahme der Todesstrafe […] wäre jede Zwangsmaßnahme zur Durchsetzung des Gesundheitsschutzes gerechtfertigt.102
Der Weg in die Gesundheitsdiktatur wäre vorgezeichnet.
Der Staat ist nicht verantwortlich für die Gesundheit Welchen Zweck hatten die Maßnahmen der Pandemiepolitik? In der Debatte wurde behauptet, es gehe der Politik um Leben und Tod. Wäre das der Fall gewesen, hätte der Staat grundsätzlich alles verbieten müssen, was eher dem Tod als der Erhaltung des Lebens dient (legale Drogen, Extremsportarten und sehr viel mehr). Das ist aber (bislang) nicht der Fall. Oliver Lepsius hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es der Politik nicht um „die Gesundheit“ gehen kann, sondern lediglich um einen Aspekt: die „kapazitätsgerechte
246 STEFAN LUFT Steuerung des Pandemieverlaufs“103. Die angemessene und präzise Zielvorgabe der Pandemiepolitik war für den Verlauf der Debatte und die politischen Entscheidungen von erheblicher Bedeutung. Es war klar, dass sich mit einem solchen Ziel die Rechtfertigungslasten signifikant verschieben würden – sowohl im Hinblick auf die beizubringenden Tatsachen, die Grundrechtseingriffen zugrunde gelegt werden, als auch im Hinblick auf die normative Bewertung anderer grundrechtlicher Belange.104 Aus der Behauptung, es gehe in der Politik um Leben und Tod, resultiert zum einen der Wettlauf der Landesregierungen und der Parteien um die härtesten Eingriffe. So wurde in der durch den Bundestagswahlkampf befeuerten Konkurrenz von Söder und Laschet Letzterer, wenn er mildere Mittel vorschlug, stets dem Verdacht ausgesetzt, das Virus und die Pandemie nicht ernst genug zu nehmen und auf diese Weise Leben zu gefährden.105 Zum anderen erklärte sich daraus die Haltung einer Bevölkerungsmehrheit, immer härtere Restriktionen zu befürworten oder mindestens hinzunehmen. Wenn es um Leben und Tod geht, schwinden die Handlungsspielräume, für Abwägung und Ermessen ist dann kein Platz mehr. Aus Angst vor dem Tod wurden die Grundrechte geopfert. Um die Situation tatsächlich zum Besseren hin zu wenden, hätte stattdessen dem Ausbau der Kapazitäten des Gesundheitssystems – insbesondere der Krankenhäuser und der Intensivstationen – ohne jeden Zweifel oberste Priorität zukommen müssen. Hier liegt eines der größten Versäumnisse.
Die Logik des Lockdowns Die Reduzierung der Kontakte war die zentrale und pauschale Begründung des Lockdowns. Erforderlich sind aber plausible Begründungen, warum einzelne Verbote dem Zweck der Verbreitung von Infektionen dienen. „Ohne kommerzielles Leben keine Kontakte. Ohne Kontakte keine Infektion. Ohne Infektion keine Überforderung des Gesundheitssystems. Das ist die Primitivkausalität der conditio sine qua non [Hervorhebung im Original – Anm. S.L.]. Noch nie hat in juristischen Zusammenhängen eine solche Kausalitätsannahme ausgereicht.“106
DER FIRNIS DER ZIVILISATION IST DÜNN 247 Widersprüchliche, nicht nachvollziehbare Regelungen (Buchhändler und Blumenläden etwa mussten schließen, Weinhändler nicht) wurden daher nicht als rechtfertigungsbedürftig angesehen und schlicht hingenommen.107 Nur eines galt unzweifelhaft: Der Lockdown soll möglichst flächendeckend sein. Niemand kann erklären, warum Buchläden und Blumenläden geschlossen werden müssen, um das Infektionsrisiko kapazitätsgerecht (nicht prinzipiell!) zu reduzieren oder warum es in Bayern untersagt ist, sich auf Parkbänke zu setzen. Es ist eine Beleidigung des Verstandes, wenn sich eine Gesellschaft mit der Begründung zufriedengibt, das Sitzen Einzelner auf Parkbänken im Münchener Olympiapark sei verboten, weil es der Gruppenbildung Vorschub leiste. Das Sitzen ist schon keine conditio sine qua non für die Infektion, weil die Erfolgszurechnung an doppelter Prognoseunsicherheit leidet (wo einer sitzt, werden automatisch viele sitzen; dann werden sich so viele anstecken, dass die Intensivbetten nicht ausreichen werden). Abgesehen davon, dass es an der Adäquanz immer noch fehlt: Die menschliche Äquivalenzprognose im Rahmen einer weiteren, medizinischen Äquivalenzprognose haben wir rechtsstaatlich noch nie akzeptiert. Wer so argumentiert, wie die Bayerische Staatsregierung (in Gestalt der Münchener Polizei), hat den juristischen Verstand verloren.108
Begründungen über die allgemeine Begründung hinaus – es müssten so viele Kontakte wie möglich vermieden werden – wurden nicht gegeben und auch nicht eingefordert – auch nicht von den Gerichten. Zu fragen wäre unter anderem: Kann das Schließen von Buchläden einen sinnvollen Beitrag leisten zur kapazitätsgerechten Steuerung des Pandemieverlaufs? Wie wahrscheinlich ist es, dass Buchhandlungen, bekanntlich hotspots des Körperkontakts, Erregerzentren sind? Ist in Bau- und Gartenmärkten (in Bayern geschlossen) nicht genug Platz, sodass sich die Menschen nicht zu nahe kommen brauchen (was schon die voluminösen Einkaufswagen verhindern)? Gilt dasselbe nicht auch für Museen, die mit der Steuerung von Besucherströmen erfahren sind und in denen überdies Aufsichten Ansammlungen von Unvernünftigen entgegenwirken können? Lassen sich nicht Bibliotheken räumlich optimal organisieren?109
Die Gerichte hatten den Eilrechtsschutz aufgrund von Klagen gegen konkrete Maßnahmen der Pandemiepolitik in der Regel verweigert. Sollten die Kläger im Hauptsacheverfahren obsiegen, käme das für sie allerdings zu spät, da die Maßnahmen dann meist ausgelaufen sein würden, deren „Grundrechtsentzug [würde –
248 STEFAN LUFT Anm. S.L.] nicht rückgängig“ gemacht werden können.110 Dadurch wurde die Exekutive noch gestärkt. „Substantiell entsteht ein Freibrief zugunsten der Gewaltenballung bei den Regierungen.“111 In der veröffentlichten Meinung wurde das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) ausgespielt gegen eine als verpflichtend verstandene Solidarität, sich und andere durch eine Impfung vor Ansteckung zu bewahren.112 Das individuelle Recht auf körperliche Unversehrtheit trete – so die verbreitete Argumentation – hinter die Pflicht des Staates zurück, die körperliche Unversehrtheit eines Jeden möglichst optimal zu schützen. Das Recht auf selbstbestimmten Umgang mit dem eigenen Körper war seit Jahrzehnten ein zentraler Topos: etwa „mein Bauch gehört mir“ in der Debatte um Abtreibung oder das Recht auf ein „selbstbestimmtes Sterben“, wie es das Bundesverfassungsgericht im Februar 2020 postulierte.113 Im Zuge der Kampagne für das „Impfen“ ging das im Diskurs so dominante Recht auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung im Strudel der Schutzansprüche anderer unter und verschwand nahezu aus der öffentlichen Debatte. Die vollständige Isolierung von und die Kontaktsperre zu sehr alten und im Sterben begriffenen Menschen in Pflegeheimen, zu deren Schutz vor dem Virus, gehörte zu den schwerwiegenden Verletzungen der Menschenwürde in dieser Zeit“.114 Dass ein Hundertjähriger seinen Geburtstag nicht mit nächsten Verwandten feiern durfte (selbst wenn er das ausdrücklich wollte), weil man ihn vor dem Virus schützen musste, gehörte zu den Ungeheuerlichkeiten einer Politik, die jeden Maßstab verloren hatte.
Auf dem Weg in den autoritären Staat Die deutsche Politik hatte von Beginn an in der Pandemiepolitik auf obrigkeitsstaatliche Regulierungen, Verbote, Zwang und Strafen gesetzt. Im Katastrophenmodus standen Disziplinierung statt Selbstdisziplin, Obrigkeitsstaat statt Eigenverantwortung im Vordergrund. In der Logik von Leben oder Tod war Kritik mindestens verdächtig, abweichende Meinungen wurden als „gefährlich“ verpönt – zeigten sie doch, dass die Gefahr nicht ernst genommen würde. Dem Grundgesetz gerecht geworden ist das nicht:
DER FIRNIS DER ZIVILISATION IST DÜNN 249 Betrachtet man Staatsaufbau und Organisationsvorgaben […], dann will das Grundgesetz kein Gemeinwesen errichten, in dem eine herrschende Meinung bloß herrscht, in dem alle geschlossen an einem Strang ziehen, oder in dem Konsens das Ziel wäre, in dem Widerspruch unanständig wäre, oder jemand behaupten kann, es gebe keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche. Das Grundgesetz will keinen Streit, doch es weicht ihm nicht aus. Das Grundgesetz will Diskurs und es tut alles, um einen Diskurs konstruktiv zu organisieren, so dass er als Kompromiss zur Grundlage von Entscheidungen werden kann und auf diese Weise dem Gemeinwesen politische Handlungsfähigkeit verschafft.115
Das Bundesverfassungsgericht hielt die Urteile über die „schärfsten Grundrechtseingriffe in der Geschichte der Bundesrepublik“116 lange Zeit von sich fern und hatte mit seinem Beschluss vom 19. November 2021 sämtliche Verfassungsbeschwerden verworfen und zurückgewiesen.117 „Weder die […] Kontaktbeschränkungen und deren Bußgeldbewehrung noch die Ausgangsbeschränkungen […] und der damit korrespondierende Ordnungswidrigkeitentatbestand verletzen die Beschwerdeführer in ihren Grundrechten.“118 Es übte nicht die leiseste Kritik an der Politik und verzichtete vollständig darauf, Legislative und Exekutive vor dem Hintergrund der Bedrohung durch die Pandemie Grenzen bei ihren Eingriffen in die Grundrechte aufzuzeigen. Es billigte der gesetzgeberischen Einschätzung weitestgehende Freiheiten zu. Der bayerische Ministerpräsident Söder wertete dies – aus seiner Sicht zurecht - als „Bestätigung auf ganzer Linie“119: „@BVerfG erklärt alle zentralen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung für rechtens. Auch alle bayerischen Regelungen waren im Einklang mit den Grundrechten. Damit sind alle widerlegt, die versucht haben, ein anderes Bild zu zeichnen.“120 Mit diesem Beschluss war der Rechtsweg zu einem definitiven Ende gekommen. Verfassungsrechtliche Schranken waren vom Gericht nicht geltend gemacht worden. Einschlägige Medien und Politik sahen jetzt uneingeschränkt freie Bahn. „Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom Dienstag sei fundamental gewesen und habe das Eingreifen des Staates in persönliche Rechte zum Schutz von Leben gebilligt. Auf dieser rechtlichen Basis sei auch eine Impfpflicht denkbar“, wurde der CSU-Politiker Söder zitiert.121 Impfungen für Kinder, allgemeine Impfpflicht, nahezu vollständige Ausgrenzung Ungeimpfter aus dem öffentlichen
250 STEFAN LUFT Leben – bereits am Tag der Bekanntgabe des Beschlusses überschlugen sich die politischen Erklärungen. Auf dem Weg hin zum autoritären Staat schien es kein Halten mehr zu geben. Der Großen Koalition war es im Jahr 2018 gelungen, den stellvertretenden Vorsitzenden der Unionsfraktion im Bundestag, Stephan Harbarth, zum Vizepräsidenten (seit 2020 Präsident) und Vorsitzenden des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts zu machen. Im Ergebnis wurde es damit in der größten Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in die politische Verantwortung eingebunden. In seinem Dankesschreiben für die Einladung des Richterkollegiums ins Kanzleramt gebrauchte der Präsident des Bundesverfassungsgerichts die Anrede „liebe Angela“, die Grußformel schloss mit dem vertraulichen „Dein Stephan“.122 Die Affäre um das Arbeitsessen mit Vortrag der Bundesjustizministerin zur Pandemiepolitik am 30. Juni 2021 ließ bereits befürchten, das Gericht werde der Politik einen Freibrief ausstellen, der Beschluss vom November 2021 bestätigte diese Befürchtung in vollem Umfang. Ulf Poschardt fasste diese Vorgänge in die Worte: Die Entscheidung, den CDU-Bundestagsabgeordneten Stephan Harbarth zum Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts zu machen, war eine gute Idee der Exekutive. Und wohl auch der Legislative. Das jüngste, erstaunlich späte Urteil zur krassen Einschränkung der Freiheits- und Grundrechte in der Corona-Pandemie folgt einem frischen Trend aus Karlsruhe, der Politik den Rücken freizuhalten und in schwierigen Zeiten Stabilität zu gewähren. Das kann eine Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts sein: In wackligen Zeiten auf Kosten der Gewaltenteilung Harmonie der Organe herzustellen, mag funktionieren. Zugleich verblasst Karlsruhe als sicherer Hafen der Grundrechte. Auch das passt gut in die Zeit. […] Karlsruhe als Stützrad der Bundesregierung macht wenig Sinn. Unsere Verfassung braucht Hüter. Dies müssen im Zweifelsfall die klügsten Köpfe des Landes sein, die allerklügsten. Und weniger jene, die politischen Kalkülen passend erscheinen.123
„Im Ausnahmezustand streift der Staat die Samthandschuhe ab, mit denen er im Normalzustand die Bürger anfasst.“124 Dieses Diktum Peter Sloterdijks beschreibt sehr gut, was in den Monaten der Lockdowns zu beobachten war: Rigide Verbotspraxis und hartes Durchgreifen der Polizei bei Demonstrationen von Regierungskritikern und eine eher liberale Handhabung bei anderen Veranstal-
DER FIRNIS DER ZIVILISATION IST DÜNN 251 tern und Themen125 sowie ein zum Teil maßloses Vorgehen der Sicherheitsorgane auch bei nur geringfügigen Übertretungen der Hygieneregeln im Lockdown oder unmittelbar im Anschluss. Die Hinweise, dass Übertragungen im Freien sehr unwahrscheinlich seien, fanden in der Bundes- und Landespolitik jedenfalls lange Zeit kein Gehör.126 Anfang Juni 2021 wurden in Hamburg Räumpanzer und Wasserwerfer gegen feiernde Jugendliche eingesetzt.127 Im Februar hatte eine motorisierte Polizeistreife einen Jugendlichen durch einen Park verfolgt, der sich nicht an die Abstandsregeln gehalten hatte.128 In Sachsen wurde gegen einen 84-jährigen Radfahrer ein Ordnungswidrigkeitenverfahren eingeleitet, der einige Kilometer von seiner Wohnung angetroffen wurde und dafür keinen plausiblen Grund angeben konnte.129 Derartige Begebenheiten, die aus einem „verstörenden Vollzugseifer, der durch die Verweigerung der Ermessensausübung gekennzeichnet war“, herrührten130, waren aus dieser Zeit immer wieder zu hören. „Mit dem Versammlungsrecht von Corona-Leugnern und Querdenkern muss aus den demokratiefunktionalen Zwecken des Art. 8 GG sensibel umgegangen werden, weil es sich gerade um einen Personenkreis handelt, dessen Ansichten in den Organen nicht repräsentiert und in der Gesellschaft marginalisiert werden.“131 Wie ist es zu erklären, dass die Gesetze und Verordnungen von den jeweiligen Behörden in ungewohnt konsequenter Weise umgesetzt wurden, ohne die konkreten Umstände und die jeweilige Lebenswirklichkeit zu berücksichtigen? Oliver Lepsius weist darauf hin, dass sowohl die Gesetze als auch die Verordnungen von Abwägungsdefiziten gekennzeichnet sind, die auch im Vollzug nicht mehr behoben wurden. […] die Regelungen [wurden – Anm. S.L.] grundsätzlich ohne Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls, ohne Gespür für Sinn und Zweck der Regelungen, ohne die Bereitschaft, mehr als bloße Äquivalenzkausalitäten anzunehmen, durchgesetzt. Offensichtlich sollte aus Gründen der Generalprävention und des einheitlichen, einfachen Vollzugs keine Ermessensausübung stattfinden. Dient es dem Infektionsschutz und der Entlastung des Gesundheitssystems, 84-jährige Radfahrer anzuzeigen oder das Sitzen auf Parkbänken zu unterbinden? […] Welche Ermessensentscheidung kann
252 STEFAN LUFT man von einer unteren Verwaltungsbehörde verlangen, wenn der Ministerpräsident von Leben und Tod redet? Welcher Beamte will solche Risiken tragen?132
Perspektiven Die Durchsetzung einer staatlichen Impfpflicht hätte die Gesellschaft zerreißen und gewalttätige Konflikte heraufbeschwören können. Ausgerechnet Otto Schily warnte noch am Tag nach der Bekanntgabe des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts: Eine allgemeine Impfpflicht wird die schon jetzt erkennbaren Spaltungstendenzen in der Gesellschaft auf hochgefährliche Weise verstärken bis hin zu Gewaltausbrüchen. Das ist nicht zu verantworten. Mit Recht wird von denen, die in der Politik noch einen kühlen Kopf bewahren, vor allem die Frage gestellt, wie eigentlich eine allgemeine Impfpflicht durchgesetzt werden soll? Will man etwa den wahnsinnig gewordenen Juristen folgen, die allen Ernstes Freiheitsstrafen für Impfunwillige für gerechtfertigt halten? Sind dafür vielleicht die „schöneren Gefängnisse“ gedacht, die der sich neu formierende Berliner Senat bauen will? Impfunwillige müssen sich bereits heute mit zahlreichen Einschränkungen abfinden. Robert Habeck will ihnen sogar einen auf sie begrenzten Lockdown zumuten. Im Alltag sind sie zunehmenden Anfeindungen und Mobbing ausgesetzt. Sollen sie jetzt durch fortgesetzte Zwangsgelder auch noch in die Armut getrieben werden? Nicht einmal in der sonst so vehement als autoritär gescholtenen Volksrepublik China besteht eine allgemeine Impfpflicht.133
Die digitale Kontrollinfrastruktur, die innerhalb sehr kurzer Zeit geschaffen wurde, wird nicht wieder verschwinden. Das Mobil-Telefon wird als Speichermedium des europäischen Impfnachweises in Zukunft zum neuen Körperteil mutieren. Zugang zu Veranstaltungen aller Art, Auslandsreisen etc. könnten ohne digitale (Gesundheits-)Zertifikate auch in Zukunft nicht möglich sein. Erahnen lassen sich die gesellschaftlichen Kollateralschäden der Pandemie: das abnehmende Vertrauen in die Politik und in die Institutionen, die Vergiftung des gesellschaftlichen Klimas durch eine Politik der Angst, durch Diskriminierung und systematische Ausgrenzung von Minderheiten und Abweichlern, die Gewöhnung an einen allumfassend kontrollierenden Obrigkeitsstaat. Die Folgen langer Schul- und Universitätsschließungen, der Vernichtung wirtschaftlicher Existenzen, von Vereinsamung und Isolation
DER FIRNIS DER ZIVILISATION IST DÜNN 253 kommen hinzu. Die Politik der Angst wurde als Herrschaftsinstrument perfekt eingesetzt – ein bislang einzigartiges Vorgehen im demokratischen Deutschland. „Man kann annehmen, dass diese Atmosphäre der zumindest unterschwellig weit verbreiteten Angst wesentlich dazu beiträgt, dass die meisten Deutschen die massiven Einschränkungen ihrer Grundrechte nicht nur hinnehmen, sondern sogar begrüßen […]“.134 Die Politik – nicht nur Markus Söder – hat verstanden: Härte und Konsequenz als Ausdruck eines Schutzversprechens gegenüber einer möglichst drastisch dargestellten Gefahr finden große Zustimmung. Angst und Furcht machen folgsam. Freiheit und Grundrechte verblassen dann. „Angst essen Freiheit auf“.135 Thomas Petersen vom Institut für Demoskopie Allensbach fasst die Ergebnisse seiner Befragungen so zusammen: Im Angesicht der Bedrohung rückt die Bevölkerung zusammen, schart sich hinter die Regierung und ist auch bereit, erhebliche Beschränkungen in Kauf zu nehmen. […] Die Bürger haben gezeigt, dass sie den Entzug von Grundrechten nicht nur tolerieren, sondern ihn sogar belohnen, wenn der Anlass dafür nur furchteinflößend genug ist. Für etwaige künftige Regierungen bildet das derzeitige Reaktionsmuster der Bevölkerung einen Präzedenzfall und eine Versuchung: theoretisch muss man eine tatsächliche oder auch nur angenommene Gefahr nur stark genug ausmalen: eine drohende Klimakatastrophe, eine riesige Einwanderungswelle, gewaltige soziale Verwerfungen – scheint die Bedrohung groß genug, sind viele bereits ihre Grundrechte zurückzustellen.136
Ende des Jahres 2021 kann eine Zwischenbilanz gezogen werden: Die Politik fühlte sich frei, Teile der Bevölkerung systematisch und ohne die Mühe einer stichhaltigen Begründung über längere Zeiträume aus dem gesellschaftlichen Leben nahezu vollständig auszugrenzen (die Drohung von Gesundheitsminister Spahn, „Ungeimpfte“ das ganze Jahr 2022 dem 2G-Regime zu unterwerfen, demonstriert das deutlich)137. Die Politik weigerte sich, in der Gesundheitspolitik grundlegend umzusteuern und die Voraussetzungen zu schaffen, um das Gesundheitssystem – vor allem Krankenhäuser und Gesundheitsämter – angemessen auszustatten. Die modRNAImpfstoffe bieten nur einen zeitlich eng befristeten Schutz und lassen nach wenigen Monaten eine Weiterverbreitung der Viren zu.
254 STEFAN LUFT Neue Mutationen, über deren Eigenschaften zunächst wenig bekannt ist, verbreiten sich. Zusammengenommen spricht sehr vieles dafür, dass sich ein Ende des Pandemieregimes mit erheblichen Einschränkungen von Grundrechten und regelmäßig verordneten Zwangsimpfungen noch lange nicht abzeichnet. Sollten im Zuge einer allgemeinen Impfpflicht die „Ungeimpften“ keine relevante Größenordnung mehr erreichen, bedarf die autoritäre Politik allerdings eines neuen inneren Feindes. Sie wird ihn finden.
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Dieser Text gibt den Stand der Entwicklung bis zum 1. Dezember 2021 wieder. Ulrich Teusch, Politische Angst. Warum wir uns kritisches Denken nicht verbieten lassen dürfen (Frankfurt/Main: Westend Verlag, 2021), S. 56. Otto Schily, „Die Impfpflicht ist eine verfassungswidrige Anmaßung des Staates“, Die Welt, 1. Dezember 2021: https://www.welt.de/debatte/komme ntare/plus235395056/Otto-Schily-Die-Impfpflicht-eine-verfassungswidrigeAnmassung-des-Staates.html. Oliver Lepsius, „Partizipationsprobleme und Abwägungsdefizite im Umgang mit der Corona-Pandemie“, Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart. Neue Folge (JöR) 69, 1 (2021), S. 705–762, hier S. 713. Markus Feldenkirchen, „Manche Demonstranten sind kein Fall für die Politik, sondern für die Psychiatrie“, spiegel.de am 19. Mai 2021: https://www.spiegel. de/politik/deutschland/corona-proteste-die-politik-darf-sich-von-verwirrte n-verschwoerern-nicht-verrueckt-machen-lassen-a-00000000-0002-0001-0000000170923471. Lepsius, „Partizipationsprobleme“, S. 716. Marcus Maurer, Carsten Reinemann und Simon Kruschinski, Einseitig, unkritisch, regierungsnah? Eine empirische Studie zur Qualität der journalistischen Berichterstattung über die Corona-Pandemie (Hamburg: Rudolf Augstein Stiftung, 2021). Ebd. S. 57f. Nikolaus Blome, „Impfpflicht! Was denn sonst?“, spiegel.de , 7. Dezember 2021: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/impfpflicht-was-denn-sonsta-2846adb0-a468-48a9-8397-ba50fbe08a68. Der Philosoph Precht bekam dies ebenso zu spüren wie die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot. Precht genoss die Wertschätzung der Mainstreammedien, solange er die Narrative der Politik mit seinen Aussagen unterfütterte. Dies änderte sich abrupt, als er sich von Plänen, künftig auch Kinder zu impfen, distanzierte und einen unberechtigten gesellschaftlichen Druck in Richtung Impfung beklagte: https://lanz-precht.podigee.io/10ausgabe-neun#t=37 . Der SPIEGEL überzog ihn mit niederträchtiger Häme und bezeichnete ihn als „Dr. Wirrkopf“: https://www.spiegel.de/wissenscha ft/medizin/richard-david-precht-krude-thesen-von-bestsellerautor-wer-ist-
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dr-wirrkopf-a-41842cd8-1824-41b9-93fe-ddd05df4b9ab; dazu die treffende Analyse von Norbert Häring https://norberthaering.de/medienversagen/ spiegel-precht/. Rolf Schwartmann: „Soll man Privilegien in der Pandemie auf sozialen Netzwerken posten? Pro und Contra“, web.de, 17. April 2021, https://web.de/ magazine/news/coronavirus/privilegien-pandemie-sozialen-netzwerkenposten-contra-35700064. Zu diesem Zeitpunkt war das Zitat im Text noch enthalten. Es wurde später gelöscht. https://twitter.com/ThiloSc/status/1422502789591207966?ref_src=twsrc%5 Etfw%7Ctwcamp%5Etweetembed%7Ctwterm%5E1422502789591207966%7Ct wgr%5E%7Ctwcon%5Es1_&ref_url=https%3A%2F%2Fwww.tichyseinblick.d e%2Fkolumnen%2Fstephans-spitzen%2Fvorwaerts-im-kampf-gegen-hass-un d-hetzrede%2F “Gauck nennt Impfgegner ‚Bekloppte‘“, faz.de, 11. September 2021: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/joac him-gauck-greift-impfgegner-als-bekloppte-an-17532805.html. Lamia Amhaouch / Stefan Huster, „Gleiche Unfreiheit?“, VerfBlog, 31. Dezember 2020: https://verfassungsblog.de/gleiche-unfreiheit/. Alexander Kekulé, Kekulés Corona-Kompass, Folge 238. Textversion, https:// www.mdr.de/nachrichten/podcast/kekule-corona/kekule-corona-kompasszweihundertachtunddreissig-100-downloadFile.pdf , S. 14. Ebd., S. 7. Katharina Metag, „Corona-Leugner sind keine Skeptiker. Sie sind eine Gefahr!“, bz-berlin.de, 1. August 2020: https://www.bz-berlin.de/berlin/kom mentar-corona-demo-berlin-leugner-sind-keine-skeptiker-sie-sind-eine-gefa hr. „Ungeimpfte Pflegekräfte als ‚Todesengel‘: Steirische Landesrätin entschuldigt sich“, diepresse.de, 11. November 2021: https://www.diepresse. com/6059601/ungeimpfte-pflegekrafte-als-todesengel-steirische-landesratinentschuldigt-sich. https://www.rbb24.de/politik/thema/corona/av7/video-berlin-mueller2g-impfpflicht-einschraenkungen-ungeimpfte.html. Auch Bundespräsident Steinmeier beteiligte sich an der Angstkampagne gegen „Ungeimpfte“: Appell an Ungeimpfte: „Was muss eigentlich noch geschehen?“, tagesschau.de, 15. November 2021: https://www.tagesschau.de/ inland/steinmeiner-appell-corona-impfungen-101.html Twitter-Meldung vom 27. Dezember 2020: https://twitter.com/petertauber/ status/1343154540581969920. Gericht: Begriff des „frechen Juden“ ist Nazi-Vokabular, Neues Ruhrwort: https://neuesruhrwort.de/2020/02/20/olghamm/. Alexander Blankenagel, „Did Constitution Matter? Von der Entkoppelung von Gefahr und Gefahrenabwehr, der Erosion von Grundrechten und Verhältnismäßigkeit und der Hinnahme staatlicher Inkonsistenz in CoronaZeiten“, Juristen Zeitung (JZ) 76, 14 (2021), S. 702–710, hier S. 710. Ortwin Rosner, „Impfdebatte: Wider das ständige Schüren von Hass“, derstandard.de a, 7. Oktober 2021: https://www.derstandard.de/story/20001 29938584/impfdebatte-wider-das-staendige-schueren-von-hass.
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Markus Söder, „Wenn 10 die Apokalypse ist, sind wir bei 9. Denn wir merken, wie die Krankenhäuser volllaufen.“, BILD Live, 16. November 2021: https:// www.bild.de/politik/inland/politik-inland/markus-soeder-bei-bild-live-das -grosse-corona-chaos-interview-78257574.bild.html. „Söder holt zum Rundumschlag aus – ‚lassen uns unsere Demokratie nicht kaputt machen‘“, welt.de, 9. Januar 2021: https://www.welt.de/politik/deut schland/article224036408/CDU-Neujahrsempfang-Markus-Soeder-vergleicht -Corona-mit-der-Pest.html Jens Spahn, „Wir erleben gerade eine Pandemie der Ungeimpften", zeit.de, 3. November 2021: https://www.zeit.de/video/2021-11/6280093298001/jensspahn-wir-erleben-gerade-eine-pandemie-der-ungeimpften. „Es gibt im Moment ein Narrativ, das ich für vollkommen falsch halte: die Pandemie der Ungeimpften. Wir haben keine Pandemie der Ungeimpften, wir haben eine Pandemie.“, Christian Drosten, Interview in DIE ZEIT am 10. November 2021: https://www.zeit.de/2021/46/christian-drosten-coronavi rus-virologie-pandemie-wissenschaft-impfung/komplettansicht. Treffend dazu: „Ethymologischer Quatsch“, Auf ein Wort Friedrich Küppersbusch über Tyrannei und Tyrannen, bremenzwei.de, 10. November 2021: https://www.bremenzwei.de/audios/auf-ein-wort-360.html. Nikolaus Blome, „Wir Geimpften sind Geiseln der Ungeimpften“, spiegel.de, 8. November 2021: https://www.spiegel.de/polit ik/deutschland/corona-in-deutschland-wir-geiseln-der-ungeimpften-kolum ne-a-6a9cc690-576a-4090-b8d6-cbe0b2cc6c5f. Wilhelm Heitmeyer, „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Die theoretische Konzeption und erste empirische Ergebnisse“, in Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände, Folge 1 (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2015), S. 15–34, hier S. 15. Rede im Deutschen Bundestag vom 18.11.2020 https://www.bundesgesund heitsministerium.de/presse/reden/drittes-bevschutzg-beschluss-bt.html. Dr. Jan-Marco Luczak, Verbot von Privilegien für Geimpfte ist Phantomdebatte. Keine Impflicht durch die Hintertür. Pressemitteilung der CDU/CSUBundestagfraktion aus dem Bereich Innen, Recht, Sport und Ehrenamt am 29. Dezember 2020: https://www.cducsu.de/presse/pressemitteilungen/verb ot-von-privilegien-fuer-geimpfte-ist-phantomdebatte. https://www.zdf.de/nachrichten/zdfheute-live/tv-triell-laschet-baerbockscholz-impfungen-video-100.html ab Minute 3:28 . Scholz für allgemeine Impfpflicht bis spätestens Anfang März, br.de, 30. November 2021: https://www.br.de/nachrichten/bayern/scholz-fuer-allge meine-impfpflicht-bis-spaetestens-anfang-maerz,SqGa4gb. CDU-Länderchefs überzeugen Scholz, cdu.de, 1. Dezember 2021: https:// www.cdu.de/artikel/cdu-laenderchefs-ueberzeugen-scholz. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/coronavirus/information en-arbeitnehmerselbstaendige.html. https://www.fau.de/corona/2g-regelung-in-der-lehre/. https://www.stw-bremen.de/de/news/mensaregeln. Rosner, „Impfdebatte“.
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„Virologe Streeck: ‚2G halte ich für gefährlich!‘“, rtl.de, 5. November 2021: https://www.rtl.de/cms/corona-in-deutschland-warum-virologe-hendrikstreeck-die-2g-regel-fuer-gefaehrlich-haelt-4770146.html. Filipp Piatov und Lydia Rosenfelder, „Ex-Charité-Chefvirologe Krüger: ‚2G ist nicht sicherer – aber unfreier‘, bild.de, 8. November 2021: https://www.bild. de/politik/inland/politik-inland/ex-charit-chefvirologe-krueger-2g-ist-nicht -sicherer-aber-unfreier-78186550.bild.html. „Geimpfte glauben, sie seien sicher. Man hat sie falsch informiert“, welt.de, 24. November 2021: https://www.welt.de/politik/deutschland/plus235208392/ Virologe-Kekule-Geimpfte-glauben-sie-seien-sicher-Man-hat-sie-falsch-infor miert.html. Klassisch in dem Werbeclip „Holen wir uns das volle Leben zurück. Jede Impfung zählt“ vom Juli 2021, https://video.bundesregierung.de/2021/07/ 21/c7fq33-source.mp4?download=1. Gleiches gilt für die Impfplakataktion „Leben statt Lockdown. Lass Dich impfen“ des Handelsverbandes Deutschland: https://www.leben-statt-lockdown.de/. Kieran J Madon et al., Community transmission and viral load kinetics of the SARSCoV-2 delta (B.1.617.2) variant in vaccinated and unvaccinated individuals in the UK: a prospective, longitudinal, cohort study (2021): https://doi.org/10.1016/S14 73-3099(21)00648-4. Martin Nettesheim, „Einspruch exklusiv: Gleiche Unfreiheit für alle?“, Frankfurter Allgemeine Zeitung am 4. Januar 2021. https://www.deutschlandfunk.de/presseschau-am-sonntag.2861.de.html?dr n:date=2021-10-24. Zitate vergleichbarer Ausrichtung ließen sich ad infinitum aneinanderreihen. „Das Leben der Ungeimpften so weit einschränken wie es geht“, welt.de, 18. November 2021: https://www.welt.de/politik/deutschland/video235132280 /Karl-Lauterbach-zur-Debatte-ueber-das-Ampel-Infektionsschutzgesetz.html „Ampel-Parteien verschärfen Corona-Maßnahmen“, tagesschau.de, 15. November 2021: https://www.tagesschau.de/inland/ampel-epidemische-no tlage-101.html. „2G-Verordnung: Volle Härte gegen Ungeimpfte“, krone.at, 27. September 2021: https://www.krone.at/2517910. https://www.kvberlin.de/die-kv-berlin/pressemitteilungen/detailansicht/ pm211123. „Jurist: Impfverweigerern Krankenversicherung entziehen“, neuesruhrwort.de, 23. November 2021: https://neuesruhrwort.de/2021/11/23/jurist-impfverw eigerern-krankenversicherung-entziehen/ „Und wir werden niemandem mehr garantieren können, der ungeimpft ins Krankenhaus kommt, dass er überhaupt noch in Thüringen behandelt wird.“, sueddeutsche.de, 5. November 2021: https://www.sueddeutsche.de/gesundhe it/gesundheit-erfurt-ramelow-koennen-behandlung-ungeimpfter-nichtgarantieren-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-211105-99-880343. DPA, „Merz für weitgehenden Lockdown für Ungeimpfte“, yahoo!nachrichten.com, 24. November 2021: https://de.nachrichten.yahoo.com /merz-f%C3%BCr-weitgehenden-lockdown-f%C3%BCr-004701671.html
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Christian Vooren, „Die Gesellschaft muss sich spalten!“, zeit.de, 19. November 2021: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2021-11/corona-pan demie-querdenker-impfgegner-gesellschaft-spaltung-5v8. Ebd. Christian Stöcker: „Corona-Debatte: Vergesst den ‚Zusammenhalt‘“, spiegel.de, 21. November 2021, https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/coronadebatte-vergesst-den-zusammenhalt-kolumne-a-b0e6b2e8-e1ed-4930-803e-f1f f581d6db3. https://www.volksverpetzer.de/. https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/214192/gr uppenbezogene-menschenfeindlichkeit. Täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) am 29. November 2021: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuar tiges_Coronavirus/Situationsberichte/Nov_2021/2021-11-29-de.pdf?__blob =publicationFile. Täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), 23. Dezember 2020: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges _Coronavirus/Situationsberichte/Dez_2020/2020-12-23-de.pdf?__blob=publi cationFile. S.V. Subramanian und Akhil Kumar, „Increases in COVID-19 are unrelated to levels of vaccination across 68 countries and 2947 counties in the United States”, Eur J Epidemiol (2021): https://doi.org/10.1007/s10654-021-00808-7. Ebd. Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIV), „Fehlende Pflegekräfte auf Intensivstationen: In jedem dritten Bett kann kein Patient mehr behandelt werden“, Pressemitteilung vom 21. Oktober 2021: https://www.divi.de/presse/pressemeldungen/pm-fehlende-pflegekraefteauf-intensivstationen-in-jedem-dritten-bett-kann-kein-patient-mehr-behande lt-werden. Norbert Häring, „Bodo-Ramelow: Der Extremist der Mitte, der auf die eigene Propaganda hereinfällt“, 06. November 2021: https://norberthaering.de/me dienversagen/ramelow-krankenhaus/. Deutsches Ärzteblatt, „Intensivstationen: Ein Drittel der Betten ist gesperrt“, aerzteblatt.de, 22. Oktober 2021: https://www.aerzteblatt.de/archiv/221623/ Intensivstationen-Ein-Drittel-der-Betten-ist-gesperrt. Ebd. RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung / Technische Universität Berlin, Analysen zum Leistungsgeschehen der Krankenhäuser und zur Ausgleichspauschale in der Corona-Krise. Ergebnisse für den Zeitraum Januar bis Dezember 2020, i.A. des Bundesministeriums für Gesundheit am 30. April 2021, S. 4. Bundesrechnungshof, Bericht nach § 88 Absatz 2 BHO über die Prüfung ausgewählter coronabedingter Ausgabepositionen des Einzelplans 15 und des Gesundheitsfonds (Abgabe von Schutzmasken an vulnerable Personengruppen, Ausgleichszahlungen an Krankenhäuser und Aufbau von Intensivbettenkapazitäten) vom 9. Juni 2021, S. 8. Ebd. Ebd. Ebd.
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Ebd., S. 10. „Millionengewinne und knappes Personal“, tagesschau.de, 13. April 2021: https://www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/helios-klinikengewinn-corona-101.html. Ebd. Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Memorandum 2020. Gegen Marktund Politikversagen – aktiv in eine soziale und ökologische Zukunft (Köln, 2020), S. 229. Ebd., S. 221. Ebd., S. 227. Lepsius, „Partizipationsprobleme“, S. 731. Bayerische Staatsregierung, „Corona-Pandemie / Bayern ruft den Katastrophenfall aus / Veranstaltungsverbote und Betriebsuntersagungen“, Pressemitteilung vom 16. März 2020: https://www.bayern.de/coronapandemie-bayern-ruft-den-katastrophenfall-aus-veranstaltungsverbote-undbetriebsuntersagungen/. Robin Alexander, Machtverfall. Merkels Ende und das Drama der deutschen Politik: Ein Report (München: Siedler, 2021), S. 238ff. Ebd., S. 194f. Ebd., S. 219ff. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen (2020), S. 14: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/do wnloads/DE/veroeffentlichungen/2020/corona/szenarienpapier-covid19. pdf;jsessionid=8B1C4D09FA9E4548BB07FB33CD02B8BD.1_cid364?__blob=p ublicationFile&v=6. Zu diesem Papier: Thorsten Benner, „Die gewünschte Schockwirkung erzielen“, cicero.de, 5. Mai 2021: https://www.cicero.de/innenpolitik/wissen schaft-politik-corona-drosten-kerber-spahn. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen, S. 13. https://www.br.de/kultur/wieso-das-foto-des-militaerkonvois-in-bergamofuer-corona-steht-100.html. Bundesinnenminister Seehofer ließ Ende März 2020 wissen: „Ohne Handeln hätten wir die Gefahr, dass es auch Millionen Tote gibt.“; https://www.bild. de/politik/inland/politik-inland/seehofer-zum-masken-mangel-wir-muesse n-auf-teufel-komm-raus-produzieren-69743050.bild.html. Dass der Staat angesichts der zunächst vorhandenen Unsicherheit über Art und Größe der Herausforderung durch die Pandemie verpflichtet war, zu handeln, war unstreitig. Insofern stand staatliche Untätigkeit („ohne Handeln“) gar nicht zur Debatte. Oliver Lepsius, „Vom Niedergang grundrechtlicher Denkkategorien in der CoronaPandemie“, verfassungsblog.de, 6. April 2020: https://verfassungsblog.de/vomniedergang-grundrechtlicher-denkkategorien-in-der-corona-pandemie/. Deutschlandfunk, „Mehr COVID-19-Fälle in Deutschland. RKI-Präsident: ‚Die Entwicklung macht uns große Sorgen‘“, deutschlandfunk.de, 28. Juli 2020: https://www.deutschlandfunk.de/mehr-covid-19-faelle-in-deutschland-rkipraesident-die-100.html.
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Heribert Prantl, Not und Gebot. Grundrechte in Quarantäne (München: C.H. Beck, 2021), S. 14f. Rüdiger Soldt, „Söder und Kretschmann: ‚Wenn man nicht überlebt, ist es mit Freiheitsrechten auch vorbei‘“, faz.net, 23. April 2020: https://www.faz.net/ aktuell/politik/inland/soeder-und-kretschmann-gegen-fruehe-lockerungenbei-corona-16738743.html. Lepsius, „Partizipationsprobleme“, S. 713. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen, S. 11. Ebd., S. 8. Die folgenden Zitate aus: Jürgen Habermas, „Corona und der Schutz des Lebens. Zur Grundrechtsdebatte in der pandemischen Ausnahmesituation“, in Blätter für deutsche und internationale Politik 9 (2021), S. 65–78, https://www. blaetter.de/ausgabe/2021/september/corona-und-der-schutz-des-lebens. Ebd. Andreas Rosenfelder, „Die Habermas-Diktatur“, welt.de, 11. Oktober 2021: https://www.welt.de/kultur/plus234125124/Corona-Politik-Die-HabermasDiktatur.html. Michael Goldhammer und Stefan Neuhöfer, „Grundrechte in der Pandemie – Allgemeine Lehren“, Juristische Schulung (JuS) 61, 7 (2021), S. 641–646. Statistisches Bundesamt et al., Datenreport Bonn 2021, S. 482f. Ebd., S. 334ff. Ebd. Lepsius, „Vom Niedergang grundrechtlicher Denkkategorien in der CoronaPandemie“. Ebd. Alexander, Machtverfall. Lepsius, „Vom Niedergang grundrechtlicher Denkkategorien in der CoronaPandemie“. Zu dieser Inkonsistenz der Regelungen vgl. Blankenagel, „Did Constitution Matter?“, S. 706. Lepsius, „Vom Niedergang grundrechtlicher Denkkategorien in der CoronaPandemie“. Ebd. Blankenagel, „Did Constitution Matter?”. Lepsius, „Partizipationsprobleme“. Ich danke Christoph Gröpl für hilfreiche Hinweise in diesem Zusammenhang. BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15 -, Rn. 1343, http://www.bverfg.de/e/rs20200226_2bvr234715.html. Klaus Ferdinand Gärditz, „Grundrechtsschutz in der Pandemie“, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 38 (2021), S. 2761-2766, hier S. 2763; Blankenagel, „Did Constitution Matter?“, S. 702. Lepsius, „Partizipationsprobleme“, S. 715. Oliver Lepsius, „Anmerkungen“ Juristen Zeitung (JZ) 76 (2021), S. 955–959, hier S. 955. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 19. November 2021 -1 BvR 781/21, 1 BvR 889/21, 1 BvR 860/21, 1 BvR 854/21, 1 BvR 820/21, 1 BvR 805/21, 1 BvR 798/21 - Rn. (1 - 306): http://www.bverfg.de/e/rs20211119_1bvr078121.html.
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Ebd. RN 104. https://twitter.com/Markus_Soeder?ref_src=twsrc%5Egoogle%7Ctwcamp% 5Eserp%7Ctwgr%5Eauthor. https://twitter.com/Markus_Soeder?ref_src=twsrc%5Egoogle%7Ctwcamp% 5Eserp%7Ctwgr%5Eauthor „Söder stellt Zwangsgelder für Verstöße gegen Impfpflicht in Aussicht“, welt.de, 1. Dezember 2021: https://www.welt.de/wissenschaft/article235384 126/Corona-Soeder-stellt-Zwangsgelder-fuer-Verstoesse-gegen-Impfpflichtin-Aussicht.html. Dietmar Hipp, „Die Kanzlerin, ihr Richter und ein folgenreiches Dinner“, spiegel.de, 19. November 2021. Die Anrede war von S. H. handschriftlich hinzugefügt worden. Ulf Poschardt, „Das Urteil klingt, als solle es die Argumentation der Regierung stützen“, welt.de, 30. Oktober 2021: https://www.welt.de/debatte/komment are/plus235369852/Verfassungsgerichtsurteil-zu-Corona-Karlsruhe-ruecktzurueck-ins-Glied.html. Peter Sloterdijk, Der Staat streift seine Samthandschuhe ab. Ausgewählte Gespräche und Beiträge 2020 – 2021 (Berlin: 2021), S 63. „Tausende feiern bei CSD in Berlin“, bild.de, 25. Juli 2021: https://www.bild. de/politik/inland/politik-inland/tausende-feiern-in-berlin-freiheit-nur-wen n-es-politisch-genehm-ist-77181800.bild.html; https://www.morgenpost.de/ berlin/article232911443/querdenker-demo-berlin-verbot-polizei-gericht-eilan traege.html. Jörg Göbel und Felix Klauser, „Offener Brief an Merkel – Aerosolforscher: Draußen kaum Ansteckung“, zdf.de, 12. April 2021: https://www.zdf.de/nach richten/politik/corona-aerosol-forscher-ansteckungen-brief-merkel-100.html „Polizei vertreibt feiernde Jugendliche: Im Namen der Verordnungen“, taz.de, 12. Juni 2021: https://taz.de/Polizei-vertreibt-feiernde-Jugendliche/!57746 51/. „Corona-Regeln: Halt, Polizei!“, zeit.de, 26. Februar 2021: https://www.zeit.de /hamburg/2021-02/corona-regeln-kontaktbeschraenkungen-jenischpark-poli zei-teenager/komplettansicht. Lepsius, „Partizipationsprobleme“, S. 730. Ebd., S. 731. Ebd. S. 757. Ebd., S. 742f. Otto Schily, „Die Impfpflicht ist eine verfassungswidrige Anmaßung des Staates“, welt.de, 1. Dezember 2021: https://www.welt.de/debatte/kommen tare/plus235395056/Otto-Schily-Die-Impfpflicht-eine-verfassungswidrigeAnmassung-des-Staates.html Thomas Petersen, „Allensbach-Umfrage: Viele Deutsche sind zum Verzicht auf Freiheiten bereit“, in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.4.2020. So der Titel des gleichnamigen Buches von Sabine LeutheusserSchnarrenberger, Angst essen Freiheit auf. Warum wir unsere Grundrechte schützen müssen (Darmstadt: wbg Theiss, 2019) Thomas Petersen, „Allensbach-Umfrage: Viele Deutsche sind zum Verzicht auf Freiheiten bereit“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. April 2020. „Impfschutz bei Omikron: ‚Wir fangen nicht bei null an‘“, tagesschau.de, 27. November 2021: https://www.tagesschau.de/inland/omikron-impfenwieler-spahn-101.html.
Autorinnen und Autoren Josette Baer, Prof. Dr., ist politische Philosophin. Sie ist Titularprofessorin am Philosophischen Seminar der Universität Zürich. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Politische Theorie (in Mittel- und Osteuropa), Demokratietheorien und contextual biography. Ihre Buchpublikationen umfassen: The Green Butterfly. Hana Ponická (1922–2007), Slovak Writer, Poetess, and Dissident (ibidem 2022), The Vesels. The Fate of a Czechoslovak Family in 20th Century Central Europe (1918–1989) (ibidem 2020) und Alexander Dubček Unknown (1921– 1992). The Life of a Political Icon (ibidem 2018). Alan Davison, Prof. Dr., ist Musikwissenschaftler. Seit 2019 ist er Dekan der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fakultät an der University of Technology Sydney. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Musik, Kunst und Ästhetik im langen 19. Jahrhundert sowie die Rolle der kritischen Theorie für die Wissenschaft. Er hat zahlreiche Artikel publiziert, darunter: „Multiculturalism, Social Distance and ,Islamophobia’: Reflections on Anti-Racism Research in Australia and Beyond” in Society 59 (2022) und „Iconography” in Liszt in Context, hg. von Joanne Cormac (Cambridge University Press 2021). Oleg Dik, Prof. Dr., ist Professor für urbane Theologie und Soziologie an der Evangelischen Hochschule Tabor (TSB Campus in Berlin) sowie Gastdozent an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zusammen mit seiner Ehefrau Lisa gründete er 2012 Batik, ein christlich-interkulturelles Zentrum in Berlin-Wedding, welches sie bis heute leiten. Zuletzt veröffentlichte er: Church, Immigration & Pluralism (LIT 2022) und Realness through Mediating Body (V&R unipress 2017). Egon Flaig, Prof. Dr., ist Althistoriker. Bis zu seiner Emeritierung 2014 war er Lehrstuhlinhaber für Alte Geschichte an der Universität Rostock. Zu seinen zahlreichen Publikationen gehören die Bücher: Den Kaiser herausfordern. Die Usurpation im Römischen Reich 263
264 DIE WIR-GEGEN-DIE-GESELLSCHAFT (Campus 22019), Weltgeschichte der Sklaverei. Von der Antike bis zur Gegenwart (C. H. Beck 32018), Die Niederlage der politischen Vernunft. Wie wir die Errungenschaften der Aufklärung verspielen (zu Klampen 2017) und Die Mehrheitsentscheidung. Entstehung und kulturelle Dynamik (F. Schöningh 2013). Frank Furedi, Prof. Dr., ist Soziologe. Bis zu seiner Emeritierung war er Professor für Soziologie an der University of Kent. Zu seinen 25 Buchveröffentlichungen gehören: The Road to Ukraine. How the West Lost its Way (De Gruyter 2022), 100 Years of Identity Crisis: Culture War Over Socialisation (de Gruyter 2021), Why Borders Matter: Why Humanity Must Relearn the Art of Drawing Boundaries (Routledge 2020) und How Fear Works: Culture of Fear in the TwentyFirst Century (Bloomsbury 2018). Nils Heisterhagen, Dr., ist Publizist und Autor. Er promovierte 2016 im Fach Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er war Grundsatzreferent und Redenschreiber beim Vorstand der IG Metall, Grundsatzreferent der SPD-Landtagsfraktion in Rheinland-Pfalz und Referent für Wirtschaftspolitik beim Wirtschaftsforum der SPD e.V.. Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen: Sein und Zeitenwende. Warum Deutschland nicht mehr so weitermachen kann (Dietz 2023), Verantwortung. Für einen neuen politischen Gemeinsinn in Zeiten des Wandels (Dietz 2020) und Das Streben nach Freiheit. Essays gegen die Orientierungslosigkeit (Dietz 2019). Sandra Kostner, Dr., ist Historikerin und Soziologin. Seit 2010 ist sie Geschäftsführerin des Masterstudiengangs Interkulturalität und Integration an der PH Schwäbisch Gmünd. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Migrations- und Integrationspolitik; Identitätspolitik und die Zukunft des Liberalismus im Westen. Zuletzt veröffentlichte sie u.a. die Bände: (mit Tanya Lieske) Pandemiepolitik. Freiheit unterm Rad? (ibidem 2022), (mit Elham Manea) Lehren aus 9/11. Zum Umgang des Westens mit Islamismus (ibidem 2021) und Identitätslinke Läuterungsagenda. Eine Debatte zu ihren Folgen für Migrationsgesellschaften (ibidem 2019).
AUTORINNEN UND AUTOREN 265 Stefan Luft, Dr. habil., ist Privatdozent am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bremen. Schwerpunkte seiner Arbeit sind Regierungslehre und Politikfeldanalyse – konkret Migrations- und Integrationsforschung sowie die Themen Föderalismus, Kommunalpolitik und Lobbyismus. Er veröffentlichte u.a. (mit Sandra Kostner) Ukrainekrieg. Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht (Westend 2023) und Die Flüchtlingskrise. Ursachen, Konflikte, Folgen (C. H. Beck ²2017). Henning Nörenberg, Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Rostock. In seiner Forschung beschäftigt er sich aktuell mit den Variationen des Rechtsempfindens („deontological feelings“) und deren Bedeutung für die Sozialphilosophie. Er publizierte u.a.: (mit Steffen Kluck) Gewalt und Selbstwerdung. Eine Kritik hermetischer Anthropologien (v. Hase & Koehler 2023) und Der Absolutismus des Anderen. Politische Theologien in der Moderne (Alber 2014). Anton Sterbling, Prof. Dr., ist Soziologe. Bis zu seiner Emeritierung 2019 war er Professor für Soziologie an der Hochschule der Sächsischen Polizei in Rothenburg/OL. Er war Mitbegründer der regimekritischen Autorengruppe „Aktionsgruppe Banat“. Er ist Mitglied des Präsidiums des Balkanologenverbandes e.V. und stellvertretender Vorsitzender des Kulturwerks Banater Schwaben e.V. in Bayern. Er veröffentlichte u.a. die Bücher: Ideologie und Herrschaftskämpfe (ibidem 2023), Zeitenbrüche. Politische Irrtümer, Krisen und der Einfluss alter und neuer Ideologien (ibidem 2023) und Nationalstaaten und Europa. Problemfacetten komplizierter Wechselbeziehungen (Neisse 2019). Levent Tezcan, Prof. Dr., ist Soziologe und Professor für Sozialwissenschaftliche Erforschung des Islams im Europa des 20. und 21. Jahrhunderts an der Universität Münster. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Islam in Europa, Politik und Religion in der Türkei, Migrationsstudien sowie Debatten und Diskurse über Rassismus, Diskriminierung und Diversität. Zu seinen Publikationen zählen: Die Subjekte der Islampolitik. Beiträge zu einer Soziologie des Islams
266 DIE WIR-GEGEN-DIE-GESELLSCHAFT (Springer 2021) und Das muslimische Subjekt. Verfangen im Dialog der Deutschen Islam Konferenz (Konstanz University Press 2012). Peter Unfried ist Journalist und Autor. Seit 2009 ist er Chefreporter der taz. Seit 2015 ist er zudem Chefredakteur des vierteljährlich erscheinenden von Harald Welzer herausgegebenen Magazins taz.FUTURZWEI. Als Autor publizierte er u.a.: (mit Hannes Koch und Bernhard Pötter) Stromwechsel. Wie Bürger und Konzerne um die Energiewende kämpfen (Westend 2012), Autorität ist, wenn die Kinder durchgreifen: Wahre Geschichten aus der Familienhölle (Ludwig 2012) und Öko: Al Gore, der neue Kühlschrank und ich (Dumont 2008). Vojin Saša Vukadinović ist promovierter Historiker und seit 2020 Redakteur bei der Debattenzeitschrift Schweizer Monat. Seine Forschungsschwerpunkte sind Geschlechterforschung, Rassismus und Identitätspolitik. Zuletzt gab er die Bände heraus: Rassismus. Von der frühen Bundesrepublik bis zur Gegenwart (de Gruyter 2023), Randgänge der Neuen Rechten. Philosophie, Minderheiten, Transnationalität (transcript 2022) und Freiheit ist keine Metapher. Antisemitismus, Migration, Rassismus und Religionskritik (Querverlag 2018). Barbara Zehnpfennig, Prof. Dr., ist Philosophin und Politikwissenschaftlerin. Bis März 2022 hatte sie die Professur für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Passau inne. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind antike Philosophie, amerikanischer Konstitutionalismus, Totalitarismus, Demokratietheorie und politische Kultur. Sie ist ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Sie gab u.a. die Bücher heraus: Die Sophisten. Ihr politisches Denken in antiker und zeitgenössischer Gestalt (Nomos 2019), Politischer Widerstand. Allgemeine theoretische Grundlagen und praktische Erscheinungsformen in Nationalsozialismus und Kommunismus (Nomos 2017) und (mit Hendrik Hansen) Die Prägung von Mentalität und politischem Denken durch die Erfahrung totalitärer Herrschaft (Nomos 2016).
Sandra Kostner
IDENTITÄTSLINKE LÄUTERUNGSAGENDA Eine Debatte zu ihren Folgen für Migrationsgesellschaften 314 Seiten € 22,00, Paperback ISBN 978-3-8382-1307-1
€ 14,99, e-book ISBN 978-3-8382-7307-5
In der neuen Debattenreihe Impulse wird ein Impulstext in mehreren Repliken diskutiert. Im vorliegenden ersten Band geht es um die Frage, warum gerade heute Gruppenidentitäten so vehement vorangetrieben werden. Sandra Kostners Impulstext verortet die Ursachen in der Etablierung einer identitätslinken Läuterungsagenda. Damit ist eine von politisch links stehenden Personen vertretene Form der Identitätspolitik gemeint, die Menschen nicht zuvorderst als Individuen betrachtet, sondern als Träger einer kollektiven Opfer- oder Schuldidentität. Identitätslinke ordnen diejenigen, deren Gruppe in der Vergangenheit unter Ausgrenzungen litt, einem Opferkollektiv zu, das berechtigt ist, von den Trägern der Schuldidentität Läuterungsdemonstrationen einzufordern, die diese zu erbringen haben. Im Impulstext und den Repliken werden die Folgen der identitätslinken Läuterungsagenda für Migrationsgesellschaften diskutiert. Zwei Fragen stehen dabei im Fokus: Wie wirkt sich die identitätslinke Läuterungsagenda auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt aus? Und: Inwiefern trägt sie zur Aufrechterhaltung von kulturell-religiösen Praktiken bei, die insbesondere Mädchen und Frauen die Inanspruchnahme ihrer Freiheitsrechte erschweren? Über diese und weitere Folgen debattieren: Dimitri Almeida, Dagmar Borchers, Heike Diefenbach, Alexander Grau, Oliver Hidalgo, Sandra Kostner, Maria-Sibylla Lotter, Stefan Luft, Elham Manea, Boris Palmer, Roland Preuß, Christof Roos und Roland Springer.
*** Erhältlich im Buchhandel, bei Amazon.de oder direkt bei ibidem
Arthur M. Schlesinger
DIE SPALTUNG AMERIKAS Überlegungen zu einer multikulturellen Gesellschaft
206 Seiten € 22,00, Paperback ISBN 978-3-8382-1434-4
€ 9,99, e-book ISBN 978-3-8382-7434-8
Die Vereinigten Staaten von Amerika erscheinen gespaltener denn je – die Verwerfungslinien ziehen sich quer durch die Gesellschaft. Sind die USA, die mit dem Wahlspruch gegründet wurden, Aus Vielen Eines (E pluribus unum) zu erschaffen, am Ende? Das hergebrachte Selbstbild der USA als großer Schmelztiegel, in dem äußerliche Unterschiede irrelevant sind und in einer freiheitlichen Demokratie zu einer neuen, amerikanischen Identität verschmolzen werden, wird zunehmend ersetzt durch identitätspolitische Agenden, welche die Unterschiede in den Vordergrund rücken – mit Leitmerkmalen wie Ethnizität, Herkunft, Hautfarbe, Religion. Droht den USA ein Schicksal, das wir anhand der Vorgänge in Jugoslawien, Nigeria, dem Libanon vorausahnen können? Gruppenzugehörigkeiten kommt eine eminente Rolle zu, um Diskriminierung und Rassismus entgegentreten zu können; zugleich laufen die USA jedoch Gefahr, entlang von Kollektividentitäten aufgerieben zu werden und ihren inneren Zusammenhalt zu verlieren. Die extreme politische Spaltung des Landes zeugt deutlicher denn je davon. Mit seinem Bestseller Die Spaltung Amerikas (The Disuniting of America) legt Arthur M. Schlesinger Jr. (1917–2007), Historiker, zweifacher Pulitzer-Preisträger, Sonderberater von John F. Kennedy und Kennedy-Biograph, 1998 eine geradezu prophetische Langfrist-Diagnose vor, die angesichts der gegenwärtigen Ereignisse in den USA beklemmend aktuell ist. Mit der vorliegenden Ausgabe ist Schlesingers wohl meistdiskutiertes Werk erstmals in deutscher Übersetzung verfügbar.
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Sandra Kostner, Elham Manea (Hg.)
LEHREN AUS 9/11 Zum Umgang des Westens mit Islamismus
414 Seiten € 22,00, Paperback ISBN 978-3-8382-1583-9
€ 9,99, e-book ISBN 978-3-8382-7583-3
Die Terroranschläge am 11. September 2001 erschütterten die im Westen weit verbreitete Vorstellung, Islamismus stelle allenfalls eine Bedrohung für die muslimische Welt dar. Die USA reagierten auf 9/11 mit der Ausrufung eines Krieges gegen den Terror; zahlreiche westliche Regierungen schlossen sich diesem ›Krieg‹ an und erließen oder verschärften Antiterrorgesetze. Hinzu kam eine hitzig geführte Debatte darüber, was Terrorismus mit dem Islam zu tun hat und wie sich der Islam zu den westlichen Werten verhält. Zwei Jahrzehnte nach 9/11 – und mehrere weitere einschneidende islamistische Anschläge später (Madrid, London, Paris, Nizza, Berlin) – versucht dieser Band eine Bestandsaufnahme. Im Mittelpunkt stehen dabei die Fragen: • Welche Folgen haben die ergriffenen Antiterrormaßnahmen für Islamisten – trugen sie zu einer Schwächung oder gar Stärkung des Islamismus bei? • Gibt es blinde Flecken im Umgang des Westens mit dem Islamismus? • Welchen gesellschaftspolitischen Einfluss haben Islamisten in westlichen Ländern? Wie wirkt sich die gegenwärtige Integrationspolitik auf sie aus? Der Band versucht eine Annäherung an die Thematik durch sach- und faktenbasierte Analysen, die eine Debatte ermöglichen und sich einer solchen stellen wollen. Mit Beiträgen von: Helene Aecherli, Ebrahim Afsah, Volker Beck, Aje Carlbom, Heiko Heinisch, Ayaan Hirsi Ali, Eckhard Jesse, Necla Kelek, Thomas Kessler, Ruud Koopmans, Sandra Kostner, Elham Manea, Markus Norell, Armin Pfahl-Traughber, Rebecca Schönenbach, Kristina Schröder, Susanne Schröter, Lorenzo Vidino, Joachim Wagner und Michael Wolffsohn
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