Vakhtang Kipiani
Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Im Kampf um Wahrheit und Freiheit Aus dem Ukrainischen übersetzt von Christian Weise
Ukrainian Voices Collected by Andreas Umland 46
Kyrylo Tkachenko
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Alexander Strashny
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Alona Shestopalova
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Iaroslav Petik
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Serhii Plokhii
Rechte Tür Links Radikale Linke in Deutschland, die Revolution und der Krieg in der Ukraine, 2013-2018 ISBN 978-3-8382-1711-6
The Ukrainian Mentality An Ethno-Psychological, Historical and Comparative Exploration With a foreword by Antonina Lovochkina ISBN 978-3-8382-1886-1
Pandora’s TV Box How Russian TV Turned Ukraine into an Enemy Which has to be Fought ISBN 978-3-8382-1884-7
Politics and Society in the Ukrainian People’s Republic (1917– 1921) and Contemporary Ukraine (2013–2022) A Comparative Analysis With a foreword by Oleksiy Tolochko ISBN 978-3-8382-1817-5
Der Mann mit der Giftpistole ISBN 978-3-8382-1789-5
The book series “Ukrainian Voices” publishes English- and German-language monographs, edited volumes, document collections, and anthologies of articles authored and composed by Ukrainian politicians, intellectuals, activists, officials, researchers, and diplomats. The series’ aim is to introduce Western and other audiences to Ukrainian explorations, deliberations and interpretations of historic and current, domestic, and international affairs. The purpose of these books is to make non-Ukrainian readers familiar with how some prominent Ukrainians approach, view and assess their country’s development and position in the world. The series was founded, and the volumes are collected by Andreas Umland, Dr. phil. (FU Berlin), Ph. D. (Cambridge), Associate Professor of Politics at the Kyiv-Mohyla Academy and an Analyst in the Stockholm Centre for Eastern European Studies at the Swedish Institute of International Affairs.
Vakhtang Kipiani
Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Im Kampf um Wahrheit und Freiheit Aus dem Ukrainischen übersetzt von Christian Weise
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ISBN-13: 978-3-8382-1890-8 © ibidem-Verlag, Stuttgart 2024 Die ukrainische Erstveröffentlichung unter dem Titel: „Дисиденти / Dysydenty“ erschien im Verlag Vivat, Charkiv, Ukraine, 2021. Alle Rechte vorbehalten Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und elektronische Speicherformen sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. All rights reserved. No part of this publication may be reproduced, stored in or introduced into a retrieval system, or transmitted, in any form, or by any means (electronical, mechanical, photocopying, recording or otherwise) without the prior written permission of the publisher. Any person who does any unauthorized act in relation to this publication may be liable to criminal prosecution and civil claims for damages. Printed in the EU
Inhalt „Heilige Alte“ und mehr........................................................................ 7 Vasyl’ Ovsijenko „Die Ukraine hat nie aufgehört, dem totalitären Regime Widerstand zu leisten“......................................................................... 11 Balys Gajauskas „37 Jahre Gefangenschaft …Ich bereue nichts“................................ 27 Kalju Mätik „Ein Volk kann der Sklaverei nicht allein entkommen, wir müssen zusammenarbeiten“........................................................ 45 Mustafa Džemiljev „Es war wichtig, durchzuhalten und sich während des Prozesses einen moralischen Vorteil gegenüber ihnen zu verschaffen“........................................................................................... 63 Levko Luk’janenko „Die nationale Idee ist eine bewusste Bekräftigung des ukrainischen Wesens“.......................................................................... 75 Leonid Pljušč „Niemand nannte mich einen Dissidenten – sie mochten dieses Wort nicht................................................................................... 97 Mychajlo Horyn’ „Ich gehe das Risiko ein, aber ich werde mein Schlusswort scharf formulieren“...................................................... 101 Nadija Svitlyčyna „Auf der Schreibmaschine stand unten ‚Selbst-Verlag‘“.............. 123 Ivan Hel’ „Der Ehrenkodex. Der Status eines politischen Gefangenen“..... 145 Josyf Zisel’s „Man muss bauen, was einem nahe ist“.......................................... 175 Les’ Tanjuk „Aber die Ukraine hat damals nicht an die Wahrheit der Dissidenten geglaubt“........................................................................ 197 5
Nikolaj Rudenko „Es war eine starke Welle des Nationalismus“.................................................................................... 205 Parujr Hajrikjan „Sie spekulieren auf unsere Anständigkeit“................................... 219 Valentyn Moroz „… Die Geschichte der Ukraine mit ukrainischen Augen gesehen“.................................................................................. 245 Michail Chejfec „Die Stärke eines Dissidenten liegt nicht so sehr im Geist als vielmehr im Charakter“..................................................................... 253 Jevhen Koncevyč „Ich kann es mit Euch aufnehmen, Ihr Parasiten“......................... 273 Aleksandr Daniėl’ „Es ist wichtig, dass eine Person das Recht hat, etwas auf legale Weise zu verteidigen, und dass sie dafür nicht inhaftiert werden sollte“.................................................................... 281 Fred Anadenko „Die Menschen haben erkannt, dass sie die Macher der Zeit, die Macher der Geschichte sind“...................................................... 303 Serhij Naboka „Ich bin Journalist, Redakteur und Verleger von Beruf …“......... 321 Jevhen Sverstjuk „Und die Stimmung des Volkes war so, dass es diese Legende brauchte“.............................................................................. 331 Zeitschriften-Übersicht....................................................................... 341 Organisationen und ihre Abkürzungen.......................................... 345 Zeittafel................................................................................................. 349 Literatur................................................................................................ 367 Abkürzungen....................................................................................... 371 Nachwort des Übersetzers................................................................. 373
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„Heilige Alte“ und mehr Meine erste Begegnung mit Dissidenten fand im November 1989 statt. Ich war Student im ersten Studienjahr am Fachbereich Geschichte des Pädagogischen Instituts Mykolaïv und hörte einmal bei einem Treffen lokaler Ruch-Aktivisten, dass einige von ihnen nach Kyïv gefahren waren, um die Leichen dreier ehemaliger politischer Gefangener – Vasyl’ Stus, Jurij Lytvyn und Oleksa Tychyj – umzubetten. Zu diesem Zeitpunkt wussten weder ich noch die meisten meiner Freunde etwas über diese Opfer der politischen Repression. Wir hatten nie die Gedichte von Vasyl’ und Jurij gelesen, und von dem Kampf von Oleksa aus dem Donec’k für die ukrainische Sprache hatten wir noch nicht einmal gehört. Und doch kamen Zehntausende von Menschen aus der ganzen Ukraine zur ersten und letzten Begegnung mit ihnen. Ich bedauerte, nichts von diesem denkwürdigen Ereignis gewusst zu haben. Einer der Teilnehmer an der Trauerfeier erinnerte sich daran, wie der Zug am Gebäude des damaligen KGB der Ukrainischen SSR vorbeizog und mehrere Menschen ihre Fäuste gegen die Fenster reckten. Der Augenzeuge sprach voller Freude: „Und sie sahen das, und konnten uns nichts antun!“ Die Augen funkelten. Die Fäuste waren geballt. So wurde, in den Worten von Václav Havel, „die Macht der Ohnmächtigen“ geschmiedet. Ich begann, jeden, den ich kannte, über die Dissidenten zu befragen. Und hier, könnte man sagen, hatte ich Glück. Petro Sarančuk, ein UPA-Kämpfer, der dreimal zu insgesamt 28 Jahren verurteilt worden war (mehr als Levko Luk’janenko), lebte zu dieser Zeit in Mykolaïv. Es wurde gemunkelt, dass er Stus persönlich kannte. Einmal besuchte ich Petro Stepanovyč, der – Ironie des Schicksals – in der Svobodna-Straße wohnte. Petro Sarančuk kannte Stus wirklich. Und nicht nur das, denn zu seinem Bekanntenkreis gehörten Ivan Hel’, Zorjan Popadjuk, Valentyn Moroz, Vjačeslav Čornovil, jüdische, armenische und litauische politische Gefangene. Petros Geschichten waren keineswegs von Heldentum durchdrungen. Als ich ihm zuhörte, erschienen mir das Lager und die vielen Jahre, die er hinter Gittern 7
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verbracht hatte, nicht wie aus einem Abenteuerroman, sondern wie eine Chronik, durchwoben von Schmerz, Blut, Schweiß, Angst und … der Freude, mit Menschen zusammen zu sein, die heute jeder kennt. Zumindest diejenigen, die es wissen wollen. Bald führte uns das Schicksal mit einem anderen ehemaligen politischen Gefangenen zusammen, Vasyl’ Ovsijenko. Damals war er jünger als ich heute, aber er hatte mehr als dreizehn Jahre in Kolonien und Gefängnissen verbracht. Ovsijenko wurde zur wichtigsten Enzyklopädie der Widerstandsbewegung, der ich Namen, Ereignisse, Artikel des Strafgesetzbuches, Namen von Lagern und der gesamten „Menty1-ASSR“-Mordwinien, wo die Blütezeit unserer Dissidenz in den 1970er Jahren war, entnahm. So schenkte mir das Schicksal viele Stunden Gespräche mit Levko Luk’janenko, Mychajlo und Bohdan Horyn’, Mykola und Raïsa Rudenko, Ivan Hel’, Nina Marčenko, Mustafa Džemiljev und Mykola Horbal, Anatolij Lupynis, Leonid Pljušč, Henrich Altunjan, Levko Horochivs’kyj, Zorjan Popadjuk, Jevhen Sverstjuk, Serhij und Inna Naboka, Iryna und Ihor Kalynec’, Les’ Tanjuk, Leonida und Nadija Svitlyčyna, Jevhen Koncevyč, Larysa Lochvycja und Leonid Miljavs’kyj, Myroslav Marynovyč, Bohdan Klymčak, Ivan Kandyba und vielen anderen unglaubliche Menschen, die meine Reiseführer in die Welt des politischen, intellektuellen, ethischen und kulturellen Widerstands gegen das kommunistische Regime in Moskau wurden. In ihrem Kampf wurden sie von Vertretern anderer versklavter Völker unterstützt. Das Zeugnis des russischen Nationalisten Leonid Borodin über die letzten Tage von Vasyl’ Stus und die Hilfe des litauischen „Waldbruders“ Balys Gajauskas und seiner Frau Irena bei der Rettung des „Lager-Hefts“ des Dichters kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Der Este Mart Niklus und der Litauer Viktoras Petkus schlossen sich während ihrer Inhaftierung in der Ural-Kolonie des besonders harten Regimes von Kučino der ukrainischen Helsinki-Gruppe an und retteten de 1
Ment ist eine aus dem Polnischen stammende despektierliche ArgotBezeichnung für Polizisten, Milizionäre, Gefängnisaufseher. Im Deutschen „Bullen“ „Kontrolletti“ oder Ähnliches. Mordwinien wird im Original und auch im allgemeinen Sprachgebrauch als „Mordowien“ bezeichnet, also als „Land der Folter“.
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facto diese Vereinigung ukrainischer Menschenrechtsaktivisten. Veniamin Iofe, russischer marxistischer Dissident und Leiter vom St. Petersburger „Memorial“, half mir bei der Beschaffung und Veröffentlichung von Dokumenten über die Hinrichtungen von Gefangenen der so genannten „Soloveckij-Etappe“2 im Wald bei Sandarmoch in Karelien. Parujr Hajrikjan, armenischer Führer der Nationalen Einheitspartei im Untergrund, erzählte mir von seinen Freunden Vasyl’ [Stus] und Slavko [Čornovil]. Der jüdische Schriftsteller, ein weiterer Petersburger und späterer Bürger des Staates Israel, Michail Chejfec (Heifetz), war begeistert von unseren Dissidenten und den „heiligen alten Männern“ – UPA-Kämpfern, die 25 Jahre lang inhaftiert waren und weder ihre Träume noch ihre bewaffnete Aktion verraten hatten. Es ist eine Sünde, dass ich dieses Buch nicht früher veröffentlicht habe. Viele seiner Helden sind nicht mehr auf dieser Welt. Und doch bin ich froh, dass es mir gelungen ist, vielen von ihnen die Möglichkeit zu geben, von ihren Träumen und Erlebnissen zu erzählen – ohne Pathos, aber mit einem Zittern in der Stimme. Sie sind für immer bei mir. Ich habe über sie Hunderte von Artikeln geschrieben, Dutzende von Dokumentarfilmen und Sendungen mit meinen Kollegen gedreht. Möge diese Sammlung von Interviews ein unvergänglicher Kranz für alle sein, die für unsere und eure Freiheit gekämpft haben. Und die diesen Kampf gewonnen haben. Und heute gibt sie jedem, der ein Herz hat, große Kraft. Vakhtang Kipiani, Kyïv 2021 Chefredakteur des Projekts „Istoryčna Pravda“
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Etappe ist im Zusammenhang mit der Verfrachtung der Lager- und Gefängnisinsassen der Sowjetunion und ihrer Nachfolgerstaaten ein weiterhin häufig verwendetes Wort, im Deutschen nach dem Schwinden der Bedeutung des Militärs hingegen selten. Die Verfrachtung auf die Etappe, in das Transitlager, erfolgte in den sog. „Stolypin“-Waggons mit allgemeinen, Dreier- oder Fünferzellen.
Vasyl’ Ovsijenko
„Die Ukraine hat nie aufgehört, dem totalitären Regime Widerstand zu leisten“ Vasyl’ Ovsijenko (8.04.1949, Dorf Stavky (Lenin), Rajon Radomyšl’, Gebiet Žytomyr – Kyïv, 19.07.2023). Philologe, Verteiler von Samizdat, Menschenrechtsaktivist, Mitglied der Ukrainischen Helsinki-Gruppe (UHG) seit 1978, Publizist. Er wurde dreimal verurteilt: zweimal wegen antisowjetischer Agitation und Propaganda und in einem erfundenen Fall von Widerstand gegen die Polizei. Seit Juni 1998 war er Programmkoordinator der „Charkiver Gruppe zum Schutz der Menschenrechte“ und ergänzte das elektronische Archiv der ChPH um biografische Informationen und Interviews mit ehemaligen politischen Gefangenen. Er ist Autor und Herausgeber (und Mitherausgeber) zahlreicher Publikationen über Dissidenten. Unser Buch beginnt mit diesem Gespräch, denn sowohl sein Autor Vakhtang Kipiani als auch Vasyl’ Ovsijenko, ein langjähriger politischer Gefangener, haben es sich zur Lebensaufgabe gemacht, die Wahrheit über Dissidenten und die Menschenrechtsbewegung zu erzählen. Viele der Interviews wurden gemeinsam aufgezeichnet, zahlreiche Kontakte wurden durch Vasyl’ Ovsijenko geknüpft, und mit ihm gemeinsam besuchten wir zum ersten Mal die Zone im Dorf Kučino. Hier ein Auszug aus einem Gespräch mit Vasyl’ Ovsijenko und Vakhtang Kipiani in der Radiosendung „Unsere Zone der Angst“ von Ol’ha Ivanova. Herr Vasyl’, Sie waren dreizehn Jahre lang wegen Ihrer Menschenrechtsaktivitäten inhaftiert. Das war in der Zeit des Totalitarismus. Jetzt kommen Sie oft in der Presse zu Wort, in verschiedenen Zeitschriften mit interessanten Veröffentlichungen. Und jetzt waren Sie wieder in der Zone, ich meine die Zone von Kučino, die Sie kürzlich im 11
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Zusammenhang mit der Einrichtung eines Gedenkmuseums dort besucht haben. Erzählen Sie uns davon. Um ehrlich zu sein, ich glaube, die Zone wird mich nie loslassen. Die meisten meiner Träume sind immer noch Gefängnisträume. Und davon werde ich wohl nie frei werden. Aber ich habe meinen inneren Widerstand überwunden und bin diesen September [1996] in diese schmerzlich vertraute Zone BC-389/36 im Dorf Kučino, Rajon Čusov, Oblast’ Perm’, im Ural, zurückgekehrt. Dort habe ich als besonders gefährlicher Staatsverbrecher, als besonders gefährlicher Wiederholungstäter sechs Jahre in Einzelhaft verbracht. Und was mich dorthin gebracht hat? In diesem Jahr wurde in der uns schmerzlich vertrauten Zone, die wir 1988 verlassen haben, eine Gedenkstätte für die Opfer politischer Repressionen eingeweiht. Dies geschah durch die Perm’er „Memorial“, eine wirklich großartige Organisation. Es ist schon ein bisschen seltsam, dass wir vor ein paar Jahren von dort weggegangen sind, und jetzt ist es ein Museum. Und es gibt Ausstellungen über jeden von uns, die politischen Gefangenen. Diese Zone war wirklich etwas Besonderes in der Sowjetunion, denn in den 80er Jahren – und sie wurde genau
Vasyl’ Ovsijenko zeiget ein Stück seiner Lagerkleidung
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Aus der Akte Vasyl’ Ovsijenko, f. 16, op. 01, spr. 1064-0303
am 1. März 1980 eröffnet – war sie tatsächlich die einzige politische Zone mit besonders strengem Regime in der gesamten Sowjetunion. Aber wie Sie wissen, haben die Ukrainer in jeder politischen Zone immer die Mehrheit ausgemacht, sie stellten etwa die Hälfte oder sogar mehr als die Hälfte des Kontingents. Wo auch immer ich war, einschließlich der Hochsicherheitsbereiche, war dies überall der Fall. Und dabei ist zu berücksichtigen, dass die Ukrainer 16% der Bevölkerung der Sowjetunion ausmachten. Das zeigt, dass die Ukraine nie aufgehört hat, Widerstand gegen das totalitäre Regime zu leisten. Es gab immer einen Kampf. In diesem besonders strengen Konzentrationslager des Regimes verbüßten 54 Menschen ihre Strafe, darunter so weltberühmte Persönlichkeiten wie Oleksa Tychyj (der dort starb), Jurij Lytvyn (der ebenfalls dort starb), Valerij Marčenko und Vasyl’ Stus. Außerdem sind Levko Luk’janenko, Mychajlo Horyn’, der Schriftsteller Oles’ Berdnyk, der Dichter Ivan Sokuls’kyj, Ivan Kandyba, Hryhorij Prychodko und andere zu nennen. Ich musste dort sechs Jahre hinter Gittern verbringen.
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Und wissen Sie, wenn ich mich an diese Menschen erinnere, habe ich folgenden Eindruck. In Freiheit war ich immer auf der Suche nach Menschen, mit denen ich mich unterhalten wollte. Und es war so schwer, sie zu finden, sogar riskant, denn Menschenrechtsarbeit oder jede politische Aktivität in einem totalitären Regime ist immer eine gefährliche Angelegenheit. Und hier, in den Zellen, stehen sie, „gefangen“, für dich alle für ein Gespräch bereit. Es handelte sich wirklich um eine ganze Kohorte mächtiger Persönlichkeiten, Menschen von großem Intellekt. Und in dieses Umfeld zu kommen, kann als Segen betrachtet werden. Wo hätte ich diese Leute draußen getroffen? Vasyl’ Stus durfte ich schon früher kennenlernen, in einem Hochsicherheitslager in Mordwinien, dem Konzentrationslager 17/19. Wenn ich an diese Menschen denke, kommt es mir so vor, als hätte ich bei einigen von ihnen einen Nimbus auf der Stirn gesehen – einen Nimbus der Heiligkeit. Und das ist keine Übertreibung. Da ist Vasyl’ Stus, den zu seinen Lebzeiten nur wenige kannten, weil er hierzulande praktisch nie veröffentlicht wurde. Bis 1972 gab es mehrere Sammlungen seiner Gedichte, Artikel, Manuskripte und Bücher, die im Ausland erschienen. Und in seinem letzten Lebensjahr, 1985, wurde er für den Nobelpreis nominiert.1 Wie Sie wissen, wird dieser Preis nur an lebende Dichter verliehen, er wird nicht posthum verliehen [ … ] Die Behörden taten also alles, um zu verhindern, dass er die Verleihung dieses Preises erlebte. Und er starb dort am 4. September 1985 in einer Strafzelle, und er wurde ohne jeden Grund dort hineingesteckt, beschuldigt, tagsüber in seiner Oberbekleidung auf seiner Pritsche gelegen zu haben, und auf die Bemerkung des Bürgers Kontrolleur noch einen Streit angefangen habe. Aber das alles hätte nicht sein dürfen. Wir durften den ganzen Tag über nicht auf diesen Kojen sitzen, erst nachdem Licht aus war und vor dem Aufstehen durften wir uns hinlegen. Und er hat sich einfach mit dem Ellbogen auf die oberste Pritsche 1
Weitere Informationen zu den Konflikten im Zusammenhang mit der möglichen Verleihung des Literaturnobelpreises 1985 finden sich in dem ukrainischen Aufsatz Vakhtang Kipianis, Stus i Nobel (Stus und der Nobelpreis), in seiner Dokumentation Sprava Vasylja Stusa. Zbirka dokumentiv z archivu kolyšnoho KDB URSR. Vydavnictvo VIVAT, Charkiv, 2019 (Strafsache Vasyl’ Stus). S. 642–655.
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gestützt, ein Buch hingelegt und darin gelesen. Ein Aufseher kam vorbei: „Stus, Sie verstoßen gegen die Form des Lakenlegens“. Und dafür wurde er in eine Strafzelle geworfen. Vasyl’ trat aus Protest in einen Hungerstreik und starb an den Folgen. Es gibt Gründe für die Annahme, dass er vom 28. August bis zum 4. September sogar in einen trockenen Hungerstreik getreten ist, d.h. ohne Wasser zu trinken, so lange hat er überlebt. Das war ein Protest! Denn wenn deine Würde so sehr gedemütigt wird, wenn du weißt, wer hinter dir steht. Irgendwo hat Vasyl’ einen Satz wie diesen: „Ich wusste, dass hinter mir mein unterdrücktes Volk stand, für dessen Ehre ich bis zum Ende kämpfen musste.“ Die Würde des Volkes setzt sich zusammen aus der Würde eines jeden von uns, und sie muss bis zum Ende verteidigt werden. Es ist schmerzhaft, von diesen schrecklichen Seiten zu erzählen. Wenn ich daran denke, was für ein Mensch er war, wie er in einer Zelle gehalten wurde, wo man von Wänden eingezwängt wird, wo der Platz begrenzt ist, wo der eine ein Fenster öffnen will und der andere friert, wo es diese ekelhafte Parascha, diesen Scheißkübel gibt, nicht einmal durch irgendetwas abgedeckt, wo man 23 Stunden am Tag das Essen zu sich nehmen und bleiben muss, weil man nur eine Stunde spazieren gehen darf. Richtig, dazu kommen immer noch acht Stunden Arbeit. Und wenn mehrere Menschen hier sind, starke Persönlichkeiten, die alle Energie ausstrahlen, ist es schwierig. Das eigene Verhalten mit dem Verhalten der anderen zu koordinieren, ist ziemlich schwierig, man braucht ein sehr hohes Maß an Kultur, Toleranz, einander Aushaltens, damit diese Person, über die du schon alles weiß, dich nach ein paar Monaten Einsitzens nicht stört. Ich erinnere mich, dass es in den Zellen natürlich Konflikte gab. Es gab unter uns einige Leute, sagen wir, die krimineller Herkunft waren. Sie waren für eine Reihe krimineller Handlungen bestraft worden, aber auf der Flucht vor den verschiedenen Gefahren, die in den Lagern auftauchten, riefen sie die dümmsten politischen Parolen – „Heil Hitler!“ oder „Nieder mit der KPdSU!“ – sie bekamen einen politischen Artikel und wurden unter uns platziert. Bis zu einem gewissen Grad waren diese Leute fremde Elemente, so dass es zu Konflikten kam. Aber ich kann mich an keinen einzigen
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Fall erinnern, in dem irgendjemand prinzipiell einen Konflikt mit Vasyl’ Stus oder Levko Luk’janenko gehabt hätte. Es war einfach unmöglich, mit ihnen in Konflikt zu geraten! Vasyl’ Stus kennen wir als mutigen Menschenrechtsaktivisten, als Kämpfer. Aber wir kennen ihn auch als Dichter, als einen Dichter der subtilen inneren Organisation. Hier ist ein Dichter hinter Stacheldraht, ein Dichter hinter Gittern, in einer Umgebung, die kreativem Schwung nicht förderlich ist ... Es ist äußerst schwierig für einen kreativen Menschen, hinter Gittern zu sein. Aber wissen Sie, wenn diese Persönlichkeit nicht unter diesen Bedingungen gewesen wäre, dann wären die Gedichte natürlich nicht so geworden. Es ist eine Sache, am Schreibtisch zu schreiben, und eine andere, unter extremen Bedingungen zu schreiben, wo man überdreht ist, wo die Nerven wie eine Feder angespannt sind. Das Werk besteht aus Emotionen, es ist ein ganzes Knäuel verdrehter Emotionen. Und es ist eine Sache, wenn diese schwierigen Bedingungen zu solchen Explosionen führen, wenn man sich mit jemandem prügeln oder ein Fenster einschlagen kann, oder wenn sich Leute sogar die Pulsadern aufschneiden. Das ist bekannt. Ich kenne keine derartigen Fälle bei politischen Gefangenen, aber bei Kriminellen kommt das recht häufig vor. Er setzte diese Energie durch die Explosion der Poesie frei. Als er hierher gebracht wurde, nach Kyïv, in einem schweren Zustand, als er ein Magengeschwür hatte, als er, anstatt operiert zu werden, hierher zum KGB gebracht wurde, in diesen Untersuchungs-Isolator2 in der Volodymyrs’ka-Straße 33 – vielleicht schreibt ein Mensch unter solchen Bedingungen eine Geständnis-Erklärung. Das waren Gewissensgefangene, denn es genügte, zu bereuen, alles über sich und seine Freunde zu erzählen, was man getan hat, wem man selbstveröffentlichte Literatur gegeben hat, mit wem man gesprochen hat, und einen reuevollen Artikel in der Zeitung zu schreiben – und schon war man frei!
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Isolator ist der feststehende Name für die Einzelzelle.
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Das heißt, du warst ein Gefangener deines eigenen Gewissens, du konntest herauskommen, aber wer wollte dich mit einem gebrochenen geistigen Rückgrat? Du warst für dich selbst nutzlos! Und in diesem Zustand, mit einem durchgebrochenen Magengeschwür, wurde Vasyl’ hierher zum KGB gebracht: vielleicht würde er in diesem Zustand ein Geständnis ablegen. Vasyl’ sprach mit dem Staatsanwalt sehr scharf und weigerte sich, überhaupt mit seinen KGB-Folterern zu sprechen, und erst danach wurde er zu einer Operation gebracht, bei der er fast gestorben wäre. Hier sind wir in Kyïv. Weder seine Frau noch seine Mutter noch sein Sohn Dmytro wussten, dass ihr Vater, ihr Sohn und ihr Ehemann hierher gebracht werden würden, und er durfte ihn nicht sehen. Er hat weder Dmytro noch Valentyna noch seine Mutter gesehen. Ich erinnere mich an die Eindrücke dieser Reise, denn Vasyl’ erzählte mir fast mit denselben Worten, die ich später in diesem Gedicht verwendete. Er sah Kyïv nur durch die Ritzen dieses „Raben“, als er durch Kyïv transportiert wurde: Wie unerträglich schwer ist die Fremde der Heimat, dieser Paradiesbecher und besudelte Tempel du bist zurückgekehrt doch die Heimat kehrt nicht wieder steinerne Finsternis ist ihr Sarg wie schwer ist es zu kommen und zu gehen und die einsame Träne der Kränkung zu unterdrücken freut euch ihr Heuchler und schlechten Ikonenpinsler daß meine Heimat ein Reich der Stummheit ist doch ich bin da und auch der Schmerz in meiner Brust und meine Träne die ringsum die steinerne Mauer durchgeht wo eine Blume blüht in dreierlei Farben und lautem Wahnsinnsgeschrei hier ist deine Seele in Aufruhr geraten von deiner Brust ist nur noch die Hälfte dir geblieben weil der Zauber deiner Heimat schwindet und eine schwarze Schlange sich in deinem kranken Herzen festgebissen hat.3 3
Die hier wiedergegebene Übersetzung des Gedichts aus dem PalimpsesteZyklus stammt von Anna-Halja Horbatsch, Angst – ich bin dich losgeworden: ukrainische Gedichte aus der Verbannung. Gerold und Appel, Hamburg 1983 (Edition Orient-Occident; 1), S. 63–64, erneut abgedruckt in Versensporn 51, 2022, S. 12–13. Hier wurde das Satzbild zurückgesetzt auf die ursprünglichen Verse. Die Übersetzerin fußt auf der mir vorliegenden Version des Gedichts, wo um breiterer Verständlichkeit willen zweimal explizit ukrainische Bezüge – auf die Stadt Kyïv und das Land Ukraine – durch den damals hier virulenten Begriff „Heimat“ ersetzt sind und versucht nicht den ursprünglichen Endreim
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Was für eine mächtige Quelle von Emotionen wird da aufgespannt! Und stellen Sie sich vor: Sie nehmen einen Dichter, legen ihm im Gefängnishof Handschellen an, bringen ihn zum Raben, stecken ihn in einen 60 mal 60 Zentimeter großen „Becher“ und bringen ihn zum Flughafen von Boryspil’, bringen ihn in einem Sonderkonvoi zu diesem Krankenhaus in der Nähe von Leningrad und lassen ihn am Flughafen von Boryspil’ aussteigen, und Sie machen zwei Schritte auf die Rampe des Flugzeugs, und es ist niemand sonst im Flugzeug. Und du schaust dich um, um zu sehen, von wem du dich verabschieden kannst, denn vielleicht wirst du diese Ukraine nie wieder sehen, aber du siehst nur Eskorten mit Maschinengewehren und Hunden. Sie bringen dich bis an das Ende des Flugzeugs … (ich sage das, weil ich auch so abgeführt wurde, ich kann es also sehr gut nachempfinden). Auf der einen Seite steht ein Soldat, auf der anderen ein Soldat, und vorne sitzt ein Offizier. Sie ziehen dir die Mütze über die Handschellen, damit die Passagiere sie nicht sehen. Sie steigen in das Auto ein und schauen dich an, weil sie denken, dass sie einen Mörder transportieren, aber sie transportieren einen Dichter [ … ]. Und in Mordwinien war es so. Sie machten eine Durchsuchung, nahmen alles Handschriftliche mit, insbesondere Vasyl’s weißes Notizbuch mit Gedichten, etwa 80 Gedichte. Und nach einer Weile verkündeten sie, dass das Notizbuch vernichtet wurde, da es keinen Wert habe (und sie bewerteten das Notizbuch, nicht das, was darin geschrieben war). Zur gleichen Zeit wurde Nadija Svitlyčna, Iryna Kalynec’ und Nina Strokata, die in einem strengen Frauenregime untergebracht sind, mitgeteilt, dass ihre Gedichte, Stickereien und Zeichnungen weggenommen worden seien. Stefanija Šabatura war auch dort. Und dass auch dies zerstört wurde. Wir begannen, Proteste zu schreiben, Vasyl’ trat in einen Hungerstreik, aber nach einer Weile bekam er seine Notizbücher zurück. Allerdings war er sehr verärgert, weil es sein Werk war. Übrigens findet man in den aktuellen Veröffentlichungen viele Versionen derselben Gedichte,
der Verse nachzuahmen. In der von Ovsijenko zitierten Fassung steht an Stelle von Heimat „Kyïv“ und „Ukraine“.
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weil er sie mehrmals umgeschrieben hat, denn er glaubte, sie seien verloren gegangen.4 Das Notizbuch wurde also weggenommen, Vasyl’ glaubt, dass es keine Gedichte gibt, und er sitzt jetzt in einer Strafzelle. Michail Chejfec, russischsprachiger jüdischer Schriftsteller aus Leningrad, erzählt mir flüsternd, während wir spazieren gehen, dass er einige Gedichte aufbewahrt hat, Entwürfe. Um zu verhindern, dass sie uns wieder weggenommen werden, müssen wir sie auswendig lernen. Bedenken Sie, dass er ein russischsprachiger Mann war, er konnte kein Ukrainisch, aber als er sah, wer neben ihm saß, als er sah, dass die Ukrainer das Fundament dieses Konzentrationslagers waren, dass eine geniale Persönlichkeit neben ihm saß und geniale Gedichte schrieb, begann er sich für die Ukrainer zu interessieren. Er bat uns, mit ihm auf Ukrainisch zu sprechen, las auf Ukrainisch und schlug uns vor, die Gedichte auswendig zu lernen. Aber diese Gedichte sind schwer wie Steine. Ich nahm es auf mich, Roman Semenjuk, ein Fünfundzwanzigjähriger, der in der Ukrainischen Aufständischen Armee gewesen war, und Chejfec nahmen es auf sich. Ich hatte kaum zwei Gedichte gelernt, als sie mich auf umverlegten. Und was denken Sie? Ich komme zwei Monate später zurück, Vasyl’ Stus sitzt wieder in der Strafzelle, und Michail Chejfec bringt mir ein Notizbuch mit mehreren Dutzend Gedichten, die er in seiner krakeligen Handschrift in russischen Buchstaben, aber mit ukrainischen Worten geschrieben hat, und dann rezitiert er mir zwei Dutzend Gedichte aus dem Gedächtnis, und ich schreibe sie auf und korrigiere die Sprache. Das ist wahrer Internationalismus! Der Mann hatte wirklich ein phänomenales Gedächtnis, ein außergewöhnlicher Mensch. Ich meine Michail Chejfec. Er hat einen ganzen Essayband mit dem Titel „Ukrainische Silhouetten“ geschrieben, der 1983 im Ausland veröffentlicht wurde.5 Übrigens noch zu Lebzeiten von Vasyl’ Stus. Dieses Buch beginnt mit einem Essay über Vasyl’ Stus, dann folgt ein Essay über Čornovil, Mykola Rudenko, Zorjan Popadjuk,
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Auch deswegen lautet der Titel der Gedichtsammlung „Palimpseste“. Michail Chejfec, Ukraïnskie syluety. Sučasnist’, New York-München 1983 (Biblioteka Prolohu i Sučasnosty; 159).
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ukrainische Bandera-Rebellen, und der letzte ist ein kleiner Essay über mich. Herr Vasyl’, Sie waren viele Jahre Politgefangener. Aber irgendwie hat es sich ergeben, dass Ihre letzte Inhaftierung in einem inländischen Gebiet, in der Oblast’ Zaporižžja, stattfand, weil die Behörden in Ermangelung eines einschlägigen politischen Artikels ein Strafverfahren gegen Sie fabrizierten, sozusagen wegen Widerstands gegen die Polizei, das in Wirklichkeit nicht existierte, und Sie in einer Kolonie für inländische Gefangene landeten. Sie haben Ihr Studium an der Philologischen Fakultät der Kyïver Universität abgeschlossen, Sie schrieben damals Gedichte, unterrichteten Literatur, interessierten sich für Kunst … Und Sie fanden sich in einem Zustand wieder, der völlig anders war als Ihre Umgebung. Sagen Sie mir, wie haben Sie persönlich Ihre Seele in einer solchen Situation gerettet? In der Tat war es nicht meine letzte Inhaftierung, sondern meine zweite. Ich habe drei Verurteilungen: die erste nach Artikel 62, also wegen antisowjetischer Agitation und Propaganda, die zweite wegen angeblichen Widerstands gegen Polizeibeamte, und die dritte wieder politisch: Artikel 62, Paragraf 2. Wissen Sie, ich habe alles mitgemacht, was ich mitmachen konnte. Ich kenne die Verhaftung, die Etappen, die Strafzellen, die politische Zone, die kriminelle Zone – ich kenne das alles. Ich musste unter verschiedenen Menschen sein, und es war besonders schwierig in den Phasen, wo alles neue Leute waren, wenn man in ein Umfeld geworfen wurde, in dem es schwierig war, mit der Zeit eine gemeinsame Basis zu finden. Manchmal musste ich mich einfach zurückziehen. Wenn es sehr angespannt war, wenn es besonders schwer war, wenn man Angst hatte … Und das Gefängnis ist in der Tat eine ständige Angst, eine ständige Erwartung der Verschlechterung. Alles ist bereits extrem eingeschränkt: man hat nur einen begrenzten Raum, man kann nur begrenzt mit Menschen kommunizieren, man hat zwei Bücher, man hat ein Paar Unterhosen, und man hat immer Angst, es zu verlieren, weil es einem weggenommen werden kann. Das Regime erlaubt dir nicht, dieses und jenes zu behalten. Fünf Bücher in deiner Zelle haben war möglich, fünf Bücher, Zeitschriften und Broschüren zusammen. Aber wie sollte ich mit fünf Büchern leben,
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wenn ich es gewohnt war, in einer Bibliothek zu leben, zumindest in meiner Hausbibliothek. Wissen Sie, damals kannte ich noch keine Gebete. Ich hatte sie bereits im Gefängnis von Gläubigen gelernt, ich schrieb sie einfach auf und lernte sie selbst. Das Gebet rettet dich, beruhigt dich und nimmt dir die Angst. Und als ich dreizehn Monate lang in der Zelle des KGB-Gefangenenlagers in der Volodymyrs’ka-Straße 33 hin- und herlief, hatte ich Glück: Ich hatte geahnt, Taras Ševčenkos „Kobzar“ aus der Bibliothek auszuleihen zu können. Ich studierte den „Kobzar“. Wie sehr, das habe ich einmal selbst bemerkt: Vier Stunden lang ging ich in der Zelle umher und las mir Ševčenkos Gedichte auswendig vor. ... Ich kannte einen phänomenalen Menschen. Jurij Lytvyn. Er war ein Schriftsteller, der genau dort als Mitglied der ukrainischen Helsinki-Gruppe starb, in diesem Konzentrationslager. Ich lernte ihn kennen, als ich von Vilnjans’k in die Strafzone gebracht wurde (das ist in der Oblast’ Zaporižžja, Zone 55, wo ich festgehalten wurde, weil ich angeblich einem Polizisten zwei Knöpfe abgerissen hatte, was nicht der Fall war). Sie arbeiteten also an einem Verfahren gegen meinen Freund Dmytro Mazur in der Oblast’ Žytomyr, und ich wurde geholt, um ihn zum Zuarbeiter zu machen. Und so trafen wir in Kyïv auf der Umsteigestation in Luk’janivka Jurij Lytvyn. Es war ein Zufall und ein Segen für uns, dass wir etwa 10 Tage dort verbrachten. Wissen Sie, am ersten Tag rezitierte mir Jurij mehrere Stunden lang Gedichte. Was für ein phänomenales Gedächtnis! ... Und nebenbei bemerkt ist dies eine Übung für das eigene Gedächtnis. Wenn geistige Werte in diese Gedichte eingebettet sind, dann wird man durch sie ständig bereichert. Anstatt auf das Fluchen, die Gaunersprache, um einen herum zu hören, hört man auf seine Seele, hört das, was geniale Menschen gesagt haben, was Ševčenko sagte, was Stus sagte. Lytvyn war eine Enzyklopädie der Weltpoesie. Zumeist in ukrainischer Sprache, an einiges Russische erinnerte er sich. Das ist die beste Art und Weise, seine Seele unter solchen Bedingungen zu retten und nicht den Dreck eines Nachbarn aufzuschnappen, der – entschuldigen Sie – nur obszön flucht. Übrigens, als ich in diesen kriminellen Zonen war – in Vilnjans’k, wo es die 55. Zone gab, und dann in Korosten’, der
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71. Zone – war ich immer überrascht über das Niveau dieser Menschen und noch mehr über das Niveau der „Lehrer“, dieser Aufseher. Aber das Niveau war gleich: der eine trägt grün, der andere schwarz. Und es war für mich sehr ärgerlich zu sehen, wie der Major, als sie uns zur Arbeit führten, zum Abschied auf so einen Turm kletterte, ein Megafon nahm … „Hier werden Häftlinge in Kolonnen zur Verabschiedung gebracht, um zu arbeiten ...“ Und er benutzte das Megafon, um unseren Vorgesetzten, unseren Truppführer, durch das halbe Gebiet mit so einem staatlichen obszönen Fluchen anzuschreien. Irgendwie peinlich! Eines Tages versuchte dieser Offizier, so mit mir zu reden und erwähnte meine Mutter in diesem bekannten Zusammenhang, und ich schickte ihn zu seiner eigenen Mutter, die ihm diese Sprache beigebracht hatte. Er schaute mich mit großen Augen an: „Wie ist das möglich?“ Da kam er zur Vernunft. Lassen Sie mich zu Vakhtang kommen. Als diese Ereignisse, von denen Sie sprachen, stattfanden, als Sie hinter dem Stacheldraht waren, war Vakhtang wahrscheinlich noch ein Pionier, wir liefen alle mit Pionier-Halstüchern. Und natürlich erfuhr er viel über diese Ereignisse im Nachhinein, als er Student wurde, als er an den Hungerstreiks der Studenten auf dem Majdan-Granit teilnahm. Ich habe eine Frage: Vakhtang, warum bist du nach Kučino gefahren, wo du doch viele der Leute, die dort waren, nicht kennst? Die Sache ist die, dass meine Reise nach Kučino ziemlich spontan war. Ich hatte gerade von Herrn Vasyl’ gehört, dass er mit Dmytro Stus, dem Sohn von Vasyl’ Stus, dorthin fahren wollte. Und es war eine große Entdeckung für mich, dass ich dorthin fahren konnte. Ich hatte über diesen Ort nur gelesen. Viel Literatur über Stus, über Jurij Lytvyn, über Tichyj, über politische Mitgefangene stammt aus der Feder von Herrn Vasyl’. Ich las Chejfec und hatte direkten Kontakt zu vielen seiner Mitgefangenen. Ich traf Luk’janenko, Horyn’, Petro Sarančuk. Und ich habe alles getan, was ich konnte, um dorthin zu kommen, ohne meine Zeit als Journalist zu verschwenden. Und ich sah mit eigenen Augen, was dieses unmenschliche System für diese
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Menschen bedeutete, in Form der gleichen Strafzelle, der gleichen Kojen, der gleichen Natur. Und wissen Sie, sie sagten sogar, dass all diese Birken, all das, was dort war – meiner Meinung nach normale russische Natur – ihnen zuwider war. Es gefiel ihnen nicht, sie wollten zurück in ihre Heimat. Und am Ende bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass ihre Gefühle, ihre Ideen zumindest deshalb heilig waren, weil sie nicht in etwas Fremdes eingedrungen sind, sondern einfach in ihrem eigenen Land, in ihrer Ukraine, leben und von den Ideen ihrer Propheten, ihrer Genies bereichert werden wollten. Welchen Eindruck haben Sie von der Kolonie von Kučino, auch wenn sie eine ehemalige Kolonie ist? Welche Momente bleiben Ihnen am meisten in Erinnerung? Was hat Sie dort am meisten beeindruckt? Ehrlich gesagt habe ich nichts, womit ich es vergleichen könnte. Um ehrlich zu sein, habe ich Jura und Geschichte studiert, aber wir wurden nicht einmal ins Gefängnis gebracht, also habe ich nichts, womit ich es vergleichen könnte. Aber was ich gesehen habe, war schrecklich. Wenn ich Vasyl’ Ovsijenko zuhöre, wie er darüber spricht, habe ich einen Kloß im Hals. Aber ich werde etwas anderes sagen: Ich werde nicht beschreiben, was ich dort gesehen habe – die Kojen, die Strafzelle, die alte Küche. Aber am meisten hat mich das Treffen zwischen dem ehemaligen Häftling Vasyl’ Ovsijenko und seinem ehemaligen Aufseher Ivan Kukuškin aufgewühlt. Wissen Sie, es kam mir fast wie im Orwellschen Sinne vor: wenn ein ehemaliger Häftling und ein ehemaliger Folterer zum Wiederaufbau eines ehemaligen Lagers kommen. Seien Sie nicht entrüstet, er wird das nicht hören, dieser Ivan Kukuškin. Aber er war im Grunde ein Rad oder ein Zahnrad im Mechanismus des sowjetischen Strafvollzugssystems. Er war derjenige, der jeden Tag mit Vasyl’ Stus, Vasyl’ Ovsijenko, Levko Luk’janenko spazieren ging. Er war schließlich derjenige, dessen Gesicht sie jeden Tag sahen, in dem sie den Sowjetstaat, das kommunistische System erblickten. Und dieses Mal begegneten sie sich. Ich erinnere mich an eine lange Pause: Sie kamen und stellten sich nebeneinander – lange Pause. „Hier sind wir, hier in Kučino, und bauen das Museum,
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das Lager wieder auf.“ Und Kukuškin sagte: „Ich helfe auch beim Wiederaufbau dieses Lagers.“ Und dann hatten wir ein sehr interessantes und offenes Gespräch. Sie erinnerten sich an die fünf oder sechs Jahre, in denen sie die Gelegenheit hatten, als Häftlinge und als Aufseher miteinander zu sprechen. Und meiner Meinung nach haben sie in diesem Gespräch – das etwas spontan und mit Unterbrechungen geführt wurde – große Teile früherer Gespräche aus dem Zusammenhang herausgerissen. Und das war die größte Entdeckung für mich: Ich sah, dass Menschen immer noch Menschen sind. Und schon später, als ich hinzukam und mit Mychajlo Horyn’ sprach, sagte er, dass dieser Kukuškin einer der wenigen Menschen war, mit denen man über alles reden konnte. Übrigens ist dies der Kukuškin, der manchmal Notizen von einem Häftling zum anderen in einer anderen Zelle weitergab. Das heißt, obwohl er im sowjetischen System ein Sergeant war, hatte er immer noch etwas Menschliches an sich. Und wissen Sie, es stellte sich heraus, dass er nach der Auflösung dieses Lagers selbst verurteilt wurde und vier Jahre in einem Gefängnis für ehemalige Polizeibeamte verbrachte, wo er eine Zelle mit dem ehemaligen Vorsitzenden des Obersten Sowjets von Usbekistan Chodžaev, dem Sekretär der Kommunistischen Partei Moldawiens Viscu und Brežnevs Schwiegersohn Čurbanov teilte. Das heißt, nachdem er in der Zone von Kučino direkt mit genialen historischen Menschen zu tun hatte, setzte er sein historisches Einsitzen dort, in Nižnij Tagil, fort. Und er hat wahrscheinlich selbst verstanden, wie es war, ein Gefangener zu sein. Und jetzt, wo alle ehemaligen Aufseher sich geweigert haben, „Memorial“ beim Wiederaufbau des Lagers als Museum zu helfen, hat Ivan Kukuškin, wie ich betone, die Menschlichkeit in sich gefunden und hilft dabei, dieses Lager wieder aufzubauen, damit die Menschen, alle Generationen, sehen können, wie schrecklich, wie unmenschlich dieses System war, und ich glaube, dass es nie wieder zurückkehren wird.
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Ich habe gehört, dass auf dem Gelände des ehemaligen Gefängnisses, der ehemaligen Kolonie, bald ein Museum eröffnet werden soll? Ja. In der Tat wird in der Kaserne des Sonderregimes ein Museum eröffnet werden. Sowohl in der Kaserne selbst als auch im benachbarten Gebäude, das immer noch von denselben Wachleuten bewohnt wird … Dort wird ein Museum eröffnet werden, und der größte Wert des Museums wird eine persönliche Ausstellung sein, die jedem der Gefangenen gewidmet ist, die in Kučino inhaftiert waren. Dies ist wirklich ein Lichtblick für die ukrainischen, litauischen, armenischen und estnischen Menschenrechtsbewegungen. Und so werden die Menschen, die kommen werden, und ich glaube, dass dies kein Mekka sein wird, sondern ein ständiger Weg, so dass jeder sehen kann, wie es in jenen Zeiten war, die man heute als wohlgenährt, wohlhabend und stabil bezeichnet. Als wir in dem Lager waren, habe ich alles gefilmt, was dort geschah. Ich kletterte nach oben, stand über dem Laufhof, und ein älterer Mann, ein Rentner, kam in diesen kleinen, etwa 2 mal 2 Meter großen Laufhof, der mit Eisen gepolstert war, und schaute mich an, ganz oben durch den Stacheldraht, und sagte: „Ich wohne hier hinter dem Zaun, aber ich bin noch nie hierhergekommen. Und ich dachte, es wäre anders.“ Das heißt, die Menschen konnten nicht verstehen, selbst wenn sie auf der anderen Straßenseite wohnten, konnten sie sich nicht vorstellen, wie schrecklich, wie entsetzlich die Haftbedingungen in diesem Lager waren.6 Vasyl’ Ovsijenko, Vakhtang Kipiani in der Radiosendung „Unsere Angstzone“
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Das Museum von Perm’-36 besteht bis heute. Vgl. aber Anke Giesen, „Wie kann denn der Sieger ein Verbrecher sein?“ Eine diskursanalytische Untersuchung der russlandweiten Debatte über Konzept und Verstaatlichungsprozess der Lagergedenkstätte „Perm’-36“ im Ural. ibidem-Verlag, Stuttgart, 2019 und weitere 2021 und 2022 erschienene russische Aufsätze.
Balys Gajauskas
„37 Jahre Gefangenschaft … Ich bereue nichts“ Balys Gajauskas (24. Februar 1926, Dorf Vygreliai, Gemeinde Gražiškiai, Kreis Vilkaviškis, Litauen – 28. September 2017, Vilnius, Litauen) war eine der prominentesten Figuren des antikommunistischen Widerstands in seinem Heimatland. Ein ehemaliger Partisan, der gegen das Sowjetregime kämpfte, ein ehemaliger politischer Gefangener mit fast vierzig Jahren Erfahrung und … der ehemalige Leiter des Sicherheitsdienstes des nun unabhängigen Litauen. Das Gespräch mit ihm fand nicht weit von Vilnius statt, aber es ging um das letzte Konzentrationslager des sowjetischen Sonderregimes – Kučino, Ural, Oblast’ Perm’. Und natürlich über seinen ungewöhnlichen Lebensweg – von einem Untergrundkämpfer zu einem Mann, der Chef des Geheimdienstes eines unabhängigen Staates wurde. Wir kamen 1980 aus Mordwinien nach Kučino. Sie waren also unter den Ersten, die ankamen? Ja, unter den ersten, denn wir wurden alle aus dem Sonderregime in Mordwinien geholt und nach Kučino geschickt. Ich war einer der Ersten. Und wer waren die Häftlinge, mit denen Sie angekommen sind? Welche Etappe? Wie waren die Bedingungen? Das ist alles sehr interessant. Ich kann sie jetzt nicht alle aufzählen, aber es gibt eine Liste, Sie können sie nachschlagen. Ich erinnere mich gut an Levko Luk’janenko, weil wir immer heimliche Angelegenheiten mit ihm hatten. Ja, Luk’janenko, der Litauer Jaškūnas, Kuznecov mit den „Fliegern“, Murženko ...
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Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Jurij Fedorov und Oleksij Murženko gehörten in Kučino zu den Teilnehmern an dem berühmten Fall der versuchten Flugzeugentführung, und Eduard Kuznecov war einer von fünf sowjetischen politischen Gefangenen, die am 27. und 28. April 1979 auf dem New Yorker Kennedy-Flughafen gegen zwei sowjetische Spione ausgetauscht wurden.1
Das ist jetzt schwer zu sagen, weil einige von ihnen später kamen. Vielleicht habe ich die Daten verwechselt. Das spielt keine Rolle: Sie können die Liste nehmen und sich alle ansehen. Wie sahen die Bedingungen aus? Die Bedingungen in Mordwinien waren besser. Dort gab es keine solche Isolation. Jetzt verstehe ich, warum wir verschickt wurden: Wir schrieben nämlich verschiedene Appelle, verschiedene Beiträge und schickten sie heimlich ins Ausland. Sie konnten ihn [den Schmuggelkanal] nicht schließen. Die Beiträge kamen und kamen und kamen, und sie wurden im Westen veröffentlicht, also beschlossen sie, eine solche Isolation zu schaffen, dass niemand sie schreiben oder schicken konnte, also schickten sie uns hierher. Als wir in einem Gefängniswagen transportiert wurden, begleitete uns der Leiter eines Speziallagers aus Mordwinien. Er sagte: „Ihr werdet hier nicht mehr schreiben.“ Wir fragten uns, wohin sie uns bringen würden und wussten es nicht. Sie brachten uns hierher, und das Interessante daran ist, dass sie dachten, wir hätten noch irgendetwas bei uns. Als sie uns empfingen, zogen sie uns nackt aus, nahmen alle unsere Kleider und Lageruniformen, gaben uns nagelneue, warfen unsere Habseligkeiten beiseite und warfen uns in die Zellen. Später verbrannten sie unsere Kleidung, behielten aber unsere Habseligkeiten für eine sehr lange Zeit. Sie kontrollierten alles, durchsuchten uns, um sicherzustellen, dass wir keine Papiere hatten. Die Isolation dort war wirklich nicht dasselbe wie in Mordwinien. Es war sehr schwierig, von dort aus zu schreiben, und so kam es, dass ich der Einzige war, der schrieb. Levko und ich wurden das erste Mal dorthin geschickt, und dann waren wir in verschiedenen Zellen, und er konnte nichts tun, er hatte nicht solche Möglichkeiten. Ich hatte mehr Möglichkeiten. Ich beschrieb alles und schickte es über Moskau. Litauische Zeitungen [im Ausland] haben es unter meinem Namen veröffentlicht. 1
Vgl. dazu das 3-bändige Mižnarodnyj biografičnyj slovnyk V. Ovsijenkos. V.K.
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Balys Gajauskas im „Memorial“-Gefängnis für die Geschichte der politischen Repression und des Totalitarismus „Perm’-36“, Oktober 2000 Foto: V. Ovsijenko
Geht es um die Bedingungen im Lager, um die Unterdrückung durch die Behörden oder um tiefgründigere Werke? Es war ein sehr strenges Regime, Isolation, so dass wir weniger voneinander wussten, weil die Zellen nicht miteinander Verbindung
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haben durften, wir durften nie in eine andere Zelle gehen. Das Regime war wie im Gefängnis – es war schwierig, mit einer anderen Zelle zu sprechen. Natürlich haben wir geredet, wir sind ein Risiko eingegangen – wenn sie uns erwischt hätten, wären wir in die Strafzelle gekommen. Hier sitzen zwei Leute in einer Zelle, und sie arbeiten in derselben Zelle, es gab keine Kommunikation mit anderen Zellen. Wenn wir spazieren gingen, gab es auch nur eine getrennte Zelle, und keiner konnte den anderen sehen. Es war wie ein Gefängnisregime. Es war sogar noch schlimmer. Einige von uns kamen aus anderen Gefängnissen, und sie sagten, dass es dort besser war. Die Kontrolle war sehr stark. Es gab keine Probleme mit dem Essen, wir haben nicht gehungert. Man konnte Pakete erhalten – eines pro halbes Jahr, wenn man nicht beraubt wurde, aber sehr oft wurde man beraubt. Sagen Sie mir bitte, gab es irgendwelche Konflikte mit der Lagerverwaltung? Mit wem genau? Ich hatte keine besonderen Konflikte. Es kam vor, dass ich wegen irgendetwas in der Strafzelle war. Ich weiß jetzt nicht mehr genau, was, aber normalerweise wurde das nicht als Konflikt angesehen. Wenn jemand etwas stolzer war, saß er oder sie öfter, aber das war, wie man so schön sagt, Alltag. Ich glaube nicht, dass das etwas Besonderes ist. Sie wissen nicht einmal, wie viele Tage Sie in den Strafzellen verbracht haben? Jetzt muss ich mich erinnern. Ich weiß die Gesamtzahl der Tage, die ich in den Strafzellen verbracht habe: 157 insgesamt. Aber ich erinnere mich nicht an alles. Ich muss es noch nachzählen. Mit wem, außer mit Levko Luk’janenko, hatten Sie im Lager warmherzige Beziehungen? Können Sie sich an irgendwelche angenehmen Ereignisse erinnern? Ich hatte zu fast allen ein gutes Verhältnis. Die einzigen Ausnahmen waren die nicht sehr guten Beziehungen zu Murženko und Romašov [Boris, ein russischer Krimineller], aber ich denke, das war eine Zuteilung des KGB, denn ich saß nie mit ihm zusammen,
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wir hatten keine Konflikte. Ich wusste nur, dass er hierhergebracht wurde, also kannte er mich nicht. Vielleicht können Sie sich an die Umstände dieses Tages erinnern. Denn ich habe schon von Dritten gehört, wie es war? Es ist ganz einfach. Wir müssen ein wenig zurückgehen. Ich werde Ihnen sagen, was der KGB mir gesagt hat: „Man wird dich im Lager töten.“ Das war ein KGB-Offizier aus dem Lager, richtig? Ja. Erinnern Sie sich an seinen Namen? Ich weiß ihn nicht mehr. Ich habe es irgendwo aufgeschrieben, aber wahrscheinlich kennt ihn jeder, der dort war, Ovsijenko zum Beispiel. [1985–1986 arbeitete ein KGB-Offizier namens Vasilenkov im Lager des Sonderregimes VS-389/36]. Er erzählte mir Folgendes. Damals dachte ich, dass mir die Zeit davonlief … Andropov erließ einen Erlass, wonach einem Häftling, der sich nicht benahm, drei Jahre in einem strengen Regime und fünf Jahre in einem Sonderregime auferlegt wurden. [Artikel 183-3 des Strafgesetzbuches der UdSSR „Böswilliger Ungehorsam gegenüber den Anordnungen der Gefängnisverwaltung“, 1983] Also dachte ich, dass ich … Natürlich, ich benahm mich schlecht, saß in einer Strafzelle, wenn nötig, konnte ein Beschluss geschrieben werden – und das wars: sie würden mir fünf Jahre geben, mich in ein reguläres Lager schicken, und dort konnte alles sehr leicht gemacht werden, Morde waren dort nichts Neues. Das dachte ich auch. Ich war mit Murženko in Zelle neunzehn, und dann wurde ich in Zelle zwanzig verlegt – es war eine große Zelle, und ich war allein. Ein paar Tage später wurde Romašov verlegt. Er verhält sich mich im Allgemeinen sehr gut, wir haben ein normales Verhältnis – keiner raucht, keiner flucht. Ein guter Mensch. In anderen Zellen benahm er sich sehr schlecht gegenüber den Leuten, mit denen er zusammen war. Eine Woche später fragte mich Levko, der neben
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mir saß: „Wie geht es dir?“ Ich antwortete: „Ich fühle mich großartig.“ „Wie das?“ [Das Folgende ist unverständlich, die Stromzufuhr zum Aufnahmegerät fällt während der Aufzeichnung aus. Es bezieht sich auf den Angriff auf Gajauskas durch seinen Zellengenossen, den ehemaligen Kriminellen Boris Romašov, in Zelle Nr. 15, der am 17. April 1986 stattfand. Romašov schlug ihm mit einem mechanischen Schraubenzieher von hinten auf den Kopf. Als Gajauskas das Bewusstsein verlor und unter den Arbeitstisch fiel, stach Romašov mit der Schraubenzieherklinge zweimal in die Herzgegend (zum Glück schräg) und mehrmals an anderen Stellen zu. Insgesamt schlug Romašov 12-mal auf Gajauskas ein. Er verbüßte dafür 15 Tage in einer Strafzelle. Ein Strafverfahren wurde nicht eröffnet. Gajauskas wurde erst 12 Tage später mit „leichten Körperverletzungen“ aus dem Krankenhaus entlassen]. Wenn ich 1987 zurückkehrte, dann muss es 1985 gewesen sein, im Sommer, denke ich. Wir müssen alles genau überprüfen, ich habe etwas aufgeschrieben. Haben Sie irgendwelche Aufzeichnungen zu Hause oder haben Sie sie veröffentlicht? Nein, ich habe noch nichts veröffentlicht, aber es wurde damals im Ausland veröffentlicht. Alles war recht schnell bekannt. Haben Sie etwas auf Russisch veröffentlicht? Wahrscheinlich auf Russisch, denn sie haben es bald ausgestrahlt – wahrscheinlich eine Woche später, oder wir haben es früher erfahren. Ich bin hingefallen, und dann hat Astra [Gunars, 1931–1988, Lette, er verbrachte 20 Jahre in den Lagern] geklopft, und die Wachen haben die Tür geöffnet. Ich kam kurz wieder zu mir und sah ihn [Romašov] neben mir stehen – nicht neben mir, sondern weiter weg – und er warf den Schraubenzieher hin. Sie kamen hinein. Und ich verlor wieder das Bewusstsein. Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis ich in der Sanitätsstation wieder aufwachte. Dann wurde ich von einem diensthabenden Sanitäter
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ins Krankenhaus gebracht. Dort wurde ich operiert und dann in das Lagerkrankenhaus gebracht. Wie lange waren Sie danach im Krankenhaus? Ich glaube, es waren drei Wochen. Sie haben mich zugenäht, es ging nicht bis zum Herzen. [Unverständlich]. Ja. Ich konnte nichts kapieren, weil ich bewusstlos war. Als ich aufwachte, hatte ich nicht das Gefühl, dass mir etwas zugestoßen war. Später, als ich wieder zu mir kam, sah ich, dass ich halbnackt und mit einem Verband umwickelt dalag, mit Blut hier und da. Ich dachte: Was ist los? Dann wurde mir klar. Was hat Romašov für seine Taten bekommen? Die Leute aus Kučino haben es mir erzählt, ich wusste nichts. Als ich hierher gebracht wurde, gab es Gerüchte, dass ihm der Prozess gemacht werden sollte, dass ein Verfahren eröffnet worden war. Ich wusste nicht, ob er vor Gericht stand oder nicht: Er war in einer anderen Zelle untergebracht, wir haben uns nicht gesehen. Aber diese Leute [Angestellte des Museums Perm’-36] haben sich jetzt seine Akte angesehen, alle Karten, und es gibt nichts, kein Wort über diesen Fall, nichts. Und meine Akte – ich wusste es auch nicht – ist jetzt in der Lubjanka. Haben Sie sie schon gesehen, ist sie also schon offen? Oder gibt es keinen Zugang zu ihr? Zu meiner Akte? Ja, Ihrer Akte. Ich weiß es nicht. Ich habe gerade herausgefunden, dass mein Fall in der Lubjanka liegt, das haben mir diese Leute gesagt. Sie haben alle Unterlagen über die Lubjanka geprüft, viele, nicht nur meine, und die Akten derjenigen, die damals entlassen wurden, wurden an die Lubjanka geschickt, und die Akten derjenigen, die später
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entlassen wurden, sind hier. Sie haben also alle unsere Akten überprüft. Romašovs Akte ist da, aber es gibt kein Wort oder einen Beschluss, dass er dafür in einer Strafzelle war, so, als wäre nichts passiert. Sagen Sie mal, in Kučino war neben Ihnen noch ein Litauer, wenn ich mich nicht irre? Petkus? Ja. Können Sie uns ein wenig über ihn erzählen? Er war zum dritten Mal im Gefängnis. Er wurde aus einem Gefängnis in Tatarstan gebracht. Wie lange er dort gesessen hat? Bis zum Ende seiner Haftzeit – er bekam zehn Jahre. Ich weiß es nicht mehr, ich glaube, er war acht Jahre dort oder etwas weniger. Wir saßen nicht zusammen, denn sie versuchten immer zu vermeiden, dass Vertreter der gleichen Nationalität in einer Zelle saßen. Nur Ukrainer waren dort, weil es viele von ihnen gab: Sie wussten nicht, wo sie sie hintun sollten, also behielten sie sie dort; es war schon unmöglich, also waren die Ukrainer dort zu zweit. Wir wurden getrennt untergebracht, und ich kann nicht sagen, wie sich Petkus in den Zellen verhielt, denn ich war in einer anderen Zelle – es gab verschiedene Ordnungen und es gab nicht immer Kontakt; wenn man noch weiter ging, gab es überhaupt keine Verbindung. Ich weiß nicht genau, wann er entlassen wurde. Ich habe nicht nachgeschaut, ich glaube, es gibt Listen, ich erinnere mich nicht an das Datum der Entlassung. Aber Petkus war auch einer der letzten, die entlassen wurden. Ich war der letzte, der entlassen wurde. Wann wurden Sie entlassen? 1987, am 22. April. An Lenins Geburtstag? Ja, am Ende der Haftzeit, nach der Haftzeit – zehn Jahre.
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Und Sie gingen direkt nach Hause? Nein, ich verbrachte fünf Jahre in der Verbannung. Ich wurde in das Gebiet Chabarowsk gebracht, in eine Stadt namens Čumikan, am Ochotskischen Meer. Was haben Sie dort gemacht? Als was haben Sie gearbeitet? Ich arbeitete als Pförtner. Dort gab es eine Fischereikollektivfarm. Dort gab es keine solche Arbeit, und es war schwierig, eine Arbeit zu finden, aber ich konnte nirgendwo anders arbeiten. In dieser Kolchose wurde entweder gefischt oder im Winter Zobel gejagt. Ich konnte nicht fischen, weil nur gesunde, junge Leute dorthin gebracht wurden, und es wurden Mannschaften gebildet. Es gab dort eine Brigade, aber hauptsächlich junge Leute, denn es war sehr harte Arbeit. Sie arbeiteten von morgens bis abends, denn dieser Fisch, der Keta-Lachs, steigt nur zwei Wochen auf, und man kann ihn nur in diesen zwei Wochen fangen, und das wars. Es war eine schreckliche Arbeit, deshalb konnte ich dort nicht arbeiten. Und im Winter schickten sie mich natürlich mit dem Hubschrauber in die Berge, um Zobel zu fangen. Wann sind Sie aus der Verbannung zurückgekehrt? Sie haben doch nicht die ganze Strafe abgesessen, oder? Nein, ich kam 1988 zurück, am siebten November. Sagen Sie mir, wie lautete Ihre Anklage in diesem Fall? Ich weiß, dass Sie mehrere Haftstrafen verbüßt haben? Ja, antisowjetische Agitation und Propaganda. Ich hatte eine Übersetzung von Solženicyns „Archipel Gulag“, Partisanendokumente, andere Beiträge und Dokumente der Moskauer „Chronik der laufenden Ereignisse“. Sie wussten von meinen Verbindungen nach Moskau. Deshalb fanden sie auch so unterschiedliche Unterlagen.
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Könnten Sie uns bitte sagen, über welche Kanäle, insbesondere von Kučino aus, die Materialien in die Freiheit, in den Westen, gelangte? Nur meine Frau konnte etwas weitergeben, während ich Besuch bekam. Danach, als sie, der KGB, all dieses gedruckte Material sammelten, hörte alles auf. Ich hatte vier Jahre lang keine Besuche. Aber ich konnte wahrscheinlich nicht mehr schreiben, weil es so viel Spannung gab. Das Risiko war wieder zehn Jahre, wenn ich erwischt würde. Ich bin das Risiko eingegangen. Ich hatte keine Angst, aber es war schwierig, diese Spannung auszuhalten, weil man jede Minute konzentriert sein musste, um nicht erwischt zu werden, um nicht taxiert zu werden. Weil man immer auf dem Präsentierteller sitzt, muss man immer wieder Momente zum Schreiben finden, man muss alles im Kopf behalten – wo man aufgehört hat und dann wieder anfangen. Es darf keine Entwürfe geben. Du musst Papier besorgen – wo? Wenn man kein dünnes Papier hat, kann man nichts machen. All das ist eine sehr wichtige Arbeit und sehr anstrengend und riskant. Und dann nehmen sie es weg. Und dann die Moskowiter, aber das ist ein kleines Problem. Natürlich fühlt man sich immer in Gefahr, bis man veröffentlicht wird. Wenn man dann erfährt, dass es veröffentlicht wurde, dann ist es gut. Denn meine Frau kann auch erwischt werden. Wenn sie erwischt wird, kann sie bis zu sieben Jahre für die Verbreitung von antisowjetischem Material bekommen. Sie hat es an die Frau von Sacharov [Elena Bonnėr] weitergegeben, und das hat sie oft getan, also ist sie auch ein Risiko eingegangen. Ich weiß nicht, an wen sie es weitergeben würde. An irgendeinen Ausländer. Man weiß auch nicht, wie es dann weitergeht. Welcher Eindruck ist Ihnen von den Aufsehern geblieben? Gab es dort unterschiedliche Leute? Unterschiedliche Menschen, ja, unterschiedliche Menschen. Es gab einige sehr schlechte Aufseher und einige durchschnittliche, wie Kukuškin. Ich würde nicht sagen, dass er schlecht war, aber er war so mittelmäßig, dass man noch mit ihm leben konnte. Ich habe ein Foto gesehen: Ovsijenko sitzt dort, Kukuškin und Šmyrov [Viktor Šmyrov ist der Direktor des Museums Perm’-36. Das Foto wurde
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Fragment des Manuskripts von Vasyl’ Stus „Aus dem Lager-Heft“, welches Gajauskas 1983 in die Freiheit brachte
am 14. September 1995 aufgenommen]. Und da waren einige Leute, zum Beispiel ein Ukrainer aus der Armee, ich habe seinen Namen vergessen – er war so schlimm [Vlasjuk]. Ein junger Kerl, sitzen da gleichsam seine Landsleute und er hackt auf ihnen herum. Schämt er sich nicht? Er könnte zum Beispiel auf mir herumhacken, weil ich irgendein Litauer bin, aber hier sind seine Landsleute. Du kannst dich doch mit ihnen treffen, und dann? Wie auch immer, er war schlimm. Später, am Ende, hatte er wahrscheinlich das Gefühl, dass es nur eine Episode war, also ging er weg und lebt irgendwo in der Nähe von Odesa. Ich habe diese Aufseher studiert, weil es mir sehr wichtig war. Ich kannte den Gang eines jeden von ihnen, wie sie gingen, denn einer von ihnen kam jedes Mal den Korridor entlang gerannt und schaute durch das Fenster. Ja, darauf muss man aufpassen, wenn er Schicht hat. Und ich wusste nicht, wer zu meiner Schicht kam: Ich habe sie nicht gesehen, aber ich wusste anhand ihres Ganges, ob sie gut oder schlecht waren, ob sie oft oder selten aus dem Fenster schauten.
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Können Sie uns sagen, wie Sie zu Ihrem Engagement für die Menschenrechte gekommen sind und wie lange Sie im Gefängnis gesessen haben? Nun, das Land war besetzt, also mussten wir kämpfen. Das ist ganz einfach. Junge Menschen sind immer patriotisch, sie haben immer irgendwelche Ideen. Als sie [die Bolschewiken] 1940 kamen, war ich 14 Jahre alt. Ich verstand bereits, dass eindeutig Besatzer gekommen waren, und wir alle dachten das auch. Es musste also etwas unternommen werden. Wenn man so jung ist, Kind, was kann man da tun? Nichts! Natürlich, mit 17 oder 18 Jahren fängt man an, etwas zu tun. Es ist klar, dass es sich um eine Besetzung handelt, aber man muss kämpfen. Kann man Sie also als „Waldbrüder“ bezeichnen oder nicht? Ja, wir hatten eine bewaffnete Untergrundorganisation. Wir haben viele Dinge getan, nicht nur das. Wir haben uns auch mit Literatur beschäftigt. Wir haben viele Untergrundzeitungen herausgegeben. Jeder Partisanenbezirk hatte eine Zeitung. Und haben Sie an dieser Zeitung mitgearbeitet? Ja, natürlich. Wie war der Name dieser Zeitung? Es gab viele Zeitungen, die verschiedene Namen hatten. Einige, z. B. in diesem Bezirk, begannen mit der Herausgabe dieser Zeitung, und dann wurden die Leute erwischt oder es passierte etwas anderes, so dass die Zeitung eine Zeit lang nicht erschien, dann erschien sie unter einem anderen Namen an einem anderen Ort – sie machten das absichtlich so. Wenn man zählt, wie viele Titel es gab … ich weiß es nicht mehr, aber wahrscheinlich mindestens zwanzig. Diese waren in den Partisanengebieten. Die Untergrundorganisationen gaben ihre eigenen Zeitungen heraus. Manchmal gaben sie sie nur für kurze Zeit heraus, weil sie erwischt wurden; sie veröffentlichten nur zwei Ausgaben, man entlarvte die Organisation und sie hörten auf, sie zu veröffentlichen. Andere wurden länger herausgegeben – das
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war unterschiedlich. Wir haben jedoch viele von ihnen veröffentlicht. Wir kennen sie noch nicht alle, wir recherchieren erst jetzt. Nicht alle Zeitungen sind erhalten geblieben, der KGB hat einige von ihnen irgendwo gefunden, aber wir kennen einige davon. Es gibt Leute, die sie veröffentlicht haben, aber diese Zeitungen sind verschwunden. Können Sie uns sagen, wie viele Menschen an der organisierten Widerstandsbewegung in Litauen teilgenommen haben? Wie groß war sie? Es ist noch nicht genau bekannt, wie viele Menschen am Widerstand beteiligt waren. Was versteht man unter Widerstand? Bewaffneten Widerstand? Unbewaffneten Widerstand, der sehr weit verbreitet war, überall? Eine solche Zahl gibt es noch nicht. Als Partisanen bezeichnen wir diejenigen, die Waffen hatten und in Einheiten organisiert kämpften. Wir werden drei Bände mit Listen der toten Partisanen veröffentlichen. Wir haben bereits einen Band, der 20.000 Namen enthält. Wir haben ihn noch nicht veröffentlicht, aber wir haben vier Jahre lang recherchiert, denn es ist eine sehr schwierige Arbeit: Wir müssen klären, reisen, Fragen stellen, Dokumente prüfen, um sicherzustellen, dass alles korrekt ist. Etwa 40.000 Menschen wurden getötet, vielleicht auch weniger. Dann müssen wir diejenigen zählen, die in die Lager gebracht wurden. Diejenigen, die in den Lagern starben. Diejenigen, die befreit wurden, und diejenigen, die noch am Leben sind. Es sind noch etwa dreihundert Menschen am Leben. Ein paar Dutzend mehr leben in Lettland, in der Oblast’ Kaliningrad. Die Überlebenden sind diejenigen, die Waffen hatten und am organisierten Widerstand teilgenommen haben. Und auch die Verbindungsleute. Es gibt auch viele Verbindungsleute, wir kennen sie noch nicht alle, wir versuchen erst jetzt, sie zu zählen. Kürzlich gab es einen Kongress – ich weiß nicht, wie ich es genau übersetzen soll, nennen wir es einfach einen Kongress. Dort versammelten sich mehrere hundert Partisanen und Verbindungsleute. Wir zeichnen diese Leute aus, wir haben ein Abzeichen, ein Diplom. Jedes Jahr treffen wir uns zu einem Kongress. Es ist nicht so einfach, diese Zahlen zu rekonstruieren. Dann gab es Untergrundorganisationen. Es ist sehr schwierig, sie alle zu erforschen, weil es zu Stalins Zeiten so viele von ihnen gab.
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Fast alle Schulen, Universitäten, Institute, Dörfer, Unternehmen – es gab sie alle. Das ist eine Menge Arbeit. Sagen Sie, wie viele Jahre haben Sie im Gefängnis abgesessen? Siebenunddreißig. Und wann wurden Sie zum ersten Mal verurteilt? 1948. Weil Sie mit Waffen in den Händen gefasst wurden? Oder wegen Ihrer Literatur? Ja, mit Waffen. Dort ging es um alles – Waffen und Literatur. Haben Sie damals in Vilnius gelebt? Nein, in Kaunas. War Kaunas generell ein Zentrum des Widerstands? Ja, das Zentrum des nationalen Widerstands. Weil in Vilnius viele Polen, Juden und Russen lebten? Ja. Gleichzeitig war Kaunas die vorübergehende Hauptstadt Litauens, und dort lebten hauptsächlich Litauer, und jetzt leben dort Litauer. Es gibt nur sehr wenige Fremde, andere Nationalitäten. Könnten Sie uns bitte sagen, wenn wir uns die Chronologie Ihrer Inhaftierungen seit 1948 ansehen, bis zu welchem Jahr Sie das erste Mal ins Gefängnis kamen und wo? Das erste Mal wurden wir nach Kasachstan gebracht. In Balkaš war ich an zwei Orten: in der Stadt und, ich glaube, 35 Kilometer von der Stadt entfernt, in einer Molybdän-Mine. Dann war da noch Schesqasghan [bis 1992 Dscheskasgan] mit dem Lagerregime. Gerade heute traf ich zufällig einen Ukrainer, der in diesem „Regime“ war. Wir kamen ins Gespräch – wir kennen all diese Orte, haben uns aber nicht erkannt. Natürlich war so viel Zeit vergangen,
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er war jung und ich war jung. Wir fingen an zu reden. Ich war dort, in Dscheskasgan, und dann in Mordwinien. Ich habe meine ganze Zeit nach 1956 dort verbracht, als viele Menschen entlassen wurden. Ich war in verschiedenen Lagern in Mordwinien, fast in allen Lagern, wurde hin und her transportiert. Ihre erste Haftstrafe betrug wie lange, zehn Jahre? Fünfundzwanzig. Fünfundzwanzig auf einmal? Ja. Und bis zu welchem Jahr haben Sie abgesessen? Von 1948 bis ... Bis 1973. Sie meinen, ohne entlassen zu werden? Ohne entlassen zu werden. Tag für Tag, wie man so schön sagt, von Glockenschlag zu Glockenschlag. Und dann bekam ich zehn Jahre in einem Speziallager und fünf Jahre in der Verbannung. Wieder wurde ich nach Mordwinien gebracht, in ein Sonderlager, und 1980 wurde ich in den Ural geschickt. Und dann wurde ich in den Fernen Osten verbannt. Bedauern Sie, dass dies in Ihrem Leben geschehen ist? Nein, natürlich nicht. Warum bedauern? Was wollten Sie werden, was hatten Sie geplant, denn ich verstehe, dass Sie damals ... Ich hätte an der Fakultät für Geschichte studiert, aber ich wusste schon, dass ich nicht angenommen werden würde. Sie wollten Historiker werden, aber es ist Ihnen nicht gelungen? Es klappte nicht. Wir sahen, dass ein Kampf im Gange war, und diejenigen, die studierten, die Studenten, brachen ihr Studium ab
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und schlossen sich dem Kampf an. Das war das erste Ziel – die Befreiung, und dann alles andere. Glauben Sie nicht, dass Sie einen Fehler gemacht haben, als Sie zum Beispiel zu den Waffen griffen? Vielleicht hättet ihr im Untergrund handeln sollen, mehr mit Flugblättern, die Leute mehr überzeugen sollen? Nein. Es gab eine Taktik. Sie wurde 1948 geändert. Ursprünglich dachten wir, dass es einen Krieg geben würde, dass wir mit Truppen, mit der regulären Armee kämpfen müssten, also mussten wir auch eine reguläre Armee vorbereiten. Wir begannen, Bataillone wie eine reguläre Armee auszubilden. Wir sind nicht zum Guerillakrieg übergegangen – das war ein Fehler. Das taten wir 1948, als wir merkten, dass hier bald nichts mehr passieren würde, dass wir alle in naher Zukunft sterben würden. Wir hätten diese Taktik schon 1944–1945 anwenden sollen. Dann hätten wir viele Menschen gerettet und mehr Schaden angerichtet. Ich habe noch eine letzte Frage, wenn Sie gestatten. Ich weiß, dass die litauische Helsinki-Gruppe eine der mächtigsten in der Sowjetunion war. Erst neulich habe ich die Zeitungsausschnitte durchgesehen und einen Artikel über die litauische Helsinki-Gruppe in der Zeitung „Soglasie“ gefunden. Darin war unter anderem auch Ihr Name aufgeführt. Erzählen Sie uns, wann die Gruppe gegründet wurde und wie Sie dazu gekommen sind. Sie wurde gegründet – das genaue Datum kann ich Ihnen jetzt nicht sagen – als der Prozess gegen Sergej Kovaljov in Vilnius stattfand. Etwa zu dieser Zeit. [gegründet am 25. November 1976 – V.O.] Ich wurde aufgenommen, als ich bereits im Lager war. Es fiel mir schwer, zuzustimmen, weil ich etwas anderes tat und nicht „an die Oberfläche“ tauchen wollte. Obwohl man mich kannte, mich ständig beobachtete, und wenn ich erst einmal da war, hatte es keinen Sinn, sich zu weigern – ich war sowieso da. Und Sie waren bis zum Schluss Mitglied der litauischen Helsinki-Gruppe, richtig? Ja.
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In welchem Jahr hat sie aufgehört zu existieren? Sie existiert immer noch, aber die Leute dort haben sich verändert, es gibt keine solchen Aktivitäten mehr, und es besteht kein Bedarf. Und damals war sie natürlich notwendig und nützlich. Vakhtang Kipiani, Balys Gajauskas. Vilnius, 1995, Beitrag, ergänzt durch Fragmente aus einem Interview von Vasyl’ Ovsijenko mit Balys Gajauskas.
Kalju Mätik
„Ein Volk kann der Sklaverei nicht allein entkommen, wir müssen zusammenarbeiten“ Kalju Mätik (16. September 1932, Tartu, Republik Estland – 2. Oktober 2019, Tallinn, Republik Estland). Bürger-Aktivist, politischer Gefangener, Ingenieur, Übersetzer, Mitbegründer der Nationalen Freiheitspartei Estlands, Mitglied des Bauernrats und des Tallinner Nationalistenklubs. Im Jahr 1970 wurde er aktives Mitglied der Estnischen Demokratischen Bewegung. Das von ihm ausgearbeitete Programm forderte ein Referendum über die Selbstbestimmung Estlands und die Einführung der Unabhängigkeit und eines nichtkommunistischen Systems im Land. 1972 schickte die Estnische Demokratische Bewegung zusammen mit der Volksfrontpartei ein Memorandum an die UN-Generalversammlung, um Gegenpropaganda gegen die sowjetischen Behörden zu betreiben. Kalju Mätik wurde verhaftet und zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt.
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Herr Mätik, bitte erzählen Sie uns kurz, woher Sie kommen, wie Sie in der UdSSR zu einem Dissidenten wurden und was war das für ein Fall, für den Sie 1974 inhaftiert wurden? Ich komme ursprünglich aus der Stadt Tartu in Estland. Meine Eltern waren nicht verheiratet. Und zum Glück, denn mein Vater war Mitglied des estnischen Parlaments, wir wären 1941 nach Sibirien geschickt worden, wenn wir zusammengelebt hätten. Sie wollten meinen Vater 1941 verhaften, aber er schloss sich den „Waldbrüdern“ an, unseren Partisanen. Es gab einen kleinen Zusammenstoß mit lettischen Polizisten, und sie wurden getötet. Und dann starb mein Vater, 1942. Auch meine Mutter starb einige Zeit später, und ich zog nach Tallinn. Seitdem lebe ich dort. Wann ich zum Dissidenten wurde? Ich kann Ihnen kein genaues Datum nennen. Zumindest in meiner Kindheit wusste ich nichts über Politik, selbst im Vergleich zu anderen Kindern war ich ein politischer Analphabet. Als der Krieg ausbrach, wurde mir bei einer Operation der Blinddarm entfernt. Ich lag im Krankenhaus, und als ein sowjetisches Flugzeug im Tiefflug über mich hinwegflog, äußerten die anderen Kinder ihre Abneigung dagegen, aber das war mir damals egal. Später wurde es klar: Sie wollten meinen Vater verhaften, mein Onkel wurde 1941 erschossen, und es war schon zu sehen, was für eine Regierung das war. Dann gab es lange Zeit keine Aktivitäten meinerseits. Erst 1949, als es wieder Massendeportationen gab, habe ich folgendes gemacht: Ich habe Nägel an Blechstücke genagelt und sie ausgelegt. Unsere Straße hatte Schlaglöcher, das Wetter war warm, und diese Schlaglöcher waren mit Wasser gefüllt. Also legte ich diese Blechstücke in die Schlaglöcher, in der Hoffnung, dass die Autos mit den Häftlingen ihre Reifen durchstoßen würden. Ich wusste nicht, dass die Autos Ersatzräder hatten, ich war noch ein Schuljunge. Hatte ich einen Nutzen von meiner Aktion? Ich weiß es nicht. Und dann, 1970, traf ich einen ehemaligen Klassenkameraden, der mir erzählte, dass es Leute gab, die gegen das Regime agierten, und er gab mir Untergrundliteratur zu lesen. Es gab ein Programm der demokratischen Bewegung der Sowjetunion und die taktischen Grundlagen der demokratischen Bewegung der Sowjetunion. Und er schlug mir vor, ein Programm für die „Estnische Nationalfront“
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zu schreiben. Ich schrieb es, und die endgültige Fassung wurde von uns dreien beschlossen: von mir, Arvo Varato und Artem Juskevitš [1931–1982, Ukrainer, geboren in Volyn’]. Das Programm war recht kurz, es besagte, dass unser Ziel ein Referendum in Estland sei, um den Status des Staates zu bestimmen. Obwohl ein Referendum ein halbherziger Schritt ist, wäre es für die Behörden schwieriger, sich gegen ein Referendum zu wehren. Und als wir dann andere Gleichgesinnte trafen, waren sie gegen das Referendum und argumentierten, dass wir die 1918 gegründete Republik Estland nicht anerkennen würden, wenn wir ein Referendum wollten. Außerdem hätten die Menschen so viel Angst, dass sie sich selbst während des Referendums nicht trauen würden, sich für die Unabhängigkeit auszusprechen. Sie sind ausgebildeter Elektroingenieur und haben Ihr Studium am Institut für Technologie Tartu abgeschlossen. Gab es unter der jungen Intelligenz starke antisowjetische Ideen, oder waren Sie noch sowjetische Studenten? Die antisowjetische Stimmung war ziemlich stark, aber im Allgemeinen war es nur eine verbale Opposition. Wir verfluchten unter unseren Freunden den Kommunismus, aber es gab keine aktiven Taten. Die meisten Esten glaubten, dass Russen und Kommunisten ein und dasselbe seien, und dass man mit bloßen Händen nichts gegen eine hundertfache Übermacht ausrichten könne. Der estnische Widerstand, die „Waldbrüder“, was, wie bekannt, bis Mitte der 1950er Jahre andauerte. Obwohl das schon, wie ich glaube, Einzelfälle von Widerstand waren, aber bis Ende der 1940er Jahre kam es regelmäßig zu Zusammenstößen mit den Behörden. Was wussten Sie über diese Bewegung in Estland zu jener Zeit? Wann endete sie? Was war ihr Höhepunkt? Es ist schwer zu sagen, was der Höhepunkt war. Meine Heimatstadt Tartu war durch einen Fluss geteilt. Im Jahr 1941 legten die Sowjets Sprengstoff unter die Brücken und zogen sich auf die andere Seite zurück. Und die „Waldbrüder“ hielten den anderen Teil der Stadt mehrere Tage lang, bis die deutschen Truppen kamen. Dabei kam
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es zu etlichen Zusammenstößen mit der Roten Armee. In vielen Dörfern wurde die sowjetische Herrschaft gestürzt, bevor die Deutschen eintrafen. Aber die Deutschen wollten natürlich nichts von unserer Unabhängigkeit wissen. Im Jahr 1919 wollten die Deutschen ein baltisches Herzogtum gründen, und es kam zu Kämpfen zwischen Esten und Letten auf der einen Seite und Deutschen auf der anderen. Die Kämpfe dauerten mehrere Tage und endeten mit unserem Sieg. Unsere Leute sagten: „Stalin ist ein wahrer Wundertäter, denn er hat die Esten an einem Tag die Unabhängigkeit vergessen lassen.“ So schufen dieser Juskevitš und Soldatov und ihre Gleichgesinnten die demokratische Bewegung der Sowjetunion. Sie wollten ein großes Netz von Untergrundgruppen schaffen, die unabhängig voneinander agierten, aber durch eine einzige Ideologie geeint waren. Aber es war nicht möglich, ein großes Netzwerk zu schaffen, weil die meisten Menschen so verängstigt waren, dass sie nicht an irgendwelche Aktivitäten gegen die Behörden denken wollten. Dennoch gab es mehrere Gruppen. Es gab eine Gruppe in Leningrad und in Moskau. In Moskau begannen sie, die Zeitschrift „Svobodnaja Mysl’“ (Freies Denken) herauszugeben, und sie benutzten eine Vervielfältigungsmaschine ihrer eigenen Konstruktion. Der KGB nannte sie einen „Flachrotator“, und der Urheber dieser Maschine war Aleksandr Bolonkin, ein Doktor der technischen Wissenschaften. Sie arrangierten das natürlich im großen Stil, und als die zweite Ausgabe veröffentlicht wurde, wurden sie verhaftet. Aber sie waren alle Prachtkerle, sie haben uns nicht verraten, und so konnten wir nach ihrer Verhaftung noch etwa zwei Jahre lang weiterarbeiten. Wir haben dann ein Programm für die estnische Demokratiebewegung ausgearbeitet. Unser Programm wurde von neun Personen zusammengestellt, und es wurde ein umfangreiches Programm. Damals konnten wir es nur mit Schreibmaschinen und Fotos vervielfältigen, obwohl wir vorhatten, es zu drucken. Es gab noch andere Möglichkeiten: zum Beispiel einen speziellen Fotofilm, mit dem man Negative herstellen oder duplizieren konnte. Wir hatten bereits Experimente durchgeführt, aber sie waren ziemlich schlecht. Wir hatten zwei Platten für das Vervielfältigungsgerät „Era“. Und
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als letzten Ausweg wollten wir Buchstaben aus Kunststoff herstellen: Wir zerlegten eine alte Schreibmaschine, pressten die Buchstaben in Aluminium, leiteten elektrischen Strom durch das Aluminium und pressten den Kunststoff. Die Buchstaben kamen heraus, aber es wäre natürlich langwierig, einen Text nach Art von Gutenberg zu setzen. Aber wir dachten, wir würden eher Klischees als fertige Texte verbreiten, so dass die Leute sie an Ort und Stelle ausdrucken und verteilen könnten. Zunächst veröffentlichten wir alle unsere wichtigsten Dokumente auf Russisch, denn Juskevitš war der Meinung, dass eine Nation nicht aus der Sklaverei entkommen könne, man müsse zusammenarbeiten. Bei der Arbeit im Polytechnischen Institut fertigte ich einen Übersetzungsentwurf an und ging dann zu Juskevitš, der als Übersetzer technischer Texte arbeitete. Eines Morgens begannen wir mit dem Druck. Ich las ihm den Text vor, und er nahm nebenbei die notwendigen Korrekturen vor. Innerhalb eines Tages waren wir fertig, ich ging nach Hause, machte Fotos, entwickelte die Filme, fuhr zum Bahnhof, dann nach Moskau und gab die Filme den Moskauern. Wer waren Ihre Kontakte in Moskau? Waren es Leute, die mit dem Westen in Verbindung standen, mit Botschaften, oder einfache Leute? Moskauer Dissidenten … Es gab auch die Idee, dass wir einen Appell an die Vereinten Nationen verfassen sollten. Das haben wir dann auch gemacht. Wir haben uns zu fünft zusammengesetzt, jeder hat seine Meinung geäußert, und einer von uns hat diese Vorschläge aufgeschrieben und einen allgemeinen Text auf Englisch verfasst. Ich habe ihn dann ins Estnische und Russische übersetzt. Wir hatten keine Unterschriften, aber unser Künstler, Mati Kiirend, hat ein Siegel gezeichnet, ich habe ein Foto davon gemacht und es auf den gedruckten Text geklebt dann machte ich ein Foto von dem gedruckten Text mit dem aufgeklebten Siegel, und es sah aus wie ein echtes Siegel. Darauf stand „Estnische Nationalfront“ und „Demokratische Bewegung Estlands“. Dieses Memorandum wurde 1972 erstellt. Ich legte die Filme in ein Glasgefäß, vergrub sie an der richtigen Stelle, und Soldatov nahm sie von dort mit und schickte sie über seine Kanäle in den Westen. Ich weiß nicht, wie sie dorthin gekommen sind. Aber es
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war so, dass die Emigranten zunächst Angst hatten, dass es sich um eine Provokation des KGB handelte. Aber dann wurde der Text ins Italienische übersetzt und an alle Abgeordneten des italienischen Parlaments geschickt, und vier Abgeordnete bedankten sich. Der „Baltic Appeal to the United Nations“ (BATUN), eine Emigrantenorganisation, die mit den Vereinten Nationen in Kontakt stand, hat ihn auch verschickt, aber natürlich hat er auch nichts genützt. Aber er hatte eine propagandistische Wirkung. Dieser Text wurde später in mehreren Büchern veröffentlicht. Sie sagten, dass es fünf bis neun Personen in Ihrem Kreis waren. Wie viele Personen waren in diesem Kreis Ihrer Organisation? Das kann ich nicht sagen, denn wir hatten keine Buchhaltung, keine Fragebögen. Wir kannten sogar neue Gleichgesinnte nur unter ihrem Decknamen. Soldatov und ich kannten uns seit über einem Jahr, wir waren mit dem Vornamen bekannt, aber ich kannte nur sein Pseudo. Er hatte mehrere: Alex, Professor, Prillid, d.h. Brille. Eines Tages gingen wir in die Bibliothek, und ich schaute auf seinen Bibliotheksausweis: Sergej Soldatov. Und die Letten hatten so einen Fall: Zwei Dissidenten waren verhaftet worden und wurden bereits in denselben „Raben“ gebracht, und sie hatten lange zusammen gekämpft, kannten sich, wussten aber ihre Namen nicht. „Wie heißt du?“ (flüsternd). So lernten sie sich kennen. Wie war Ihr Spitzname? Sie nannten mich Dovgij (Langer) oder Vysokij (Großer). Und der KGB schrieb später, dass dies mein Untergrund-Name war. Wie kam es, dass die Organisation scheiterte? Als Juskevitš und Soldatov die wichtigsten Dokumente veröffentlichten, sendete „Radio Liberty“ seine Programme in 18 Landessprachen. Und in Estland, in der Stadt Paldiski, gab es ein U-Boot-Ausbildungszentrum. Auch diese Offiziere hörten
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„Radio Svoboda“ und interessierten sich für den Fall. Juskevitšs damalige Verlobte und spätere zweite Frau war die Tochter eines Marineoffiziers. Durch sie lernten Juskevitš und Soldatov Matrosen kennen. Sie gründeten eine Untergrundorganisation namens „Union der Kämpfer für politische Freiheit“, wollten eine Zeitschrift namens „Demokrat“ herausgeben und verfassten ein schreibmaschinegeschriebenes Buch namens „Wort und Tat“. Sie begannen, einen offenen Brief an die Bürger der Sowjetunion, ihre Gleichgesinnten, zu verfassen und ihn per Post zu versenden. Aber wenn eine Stadt geschlossen ist und etwas von dort per Post verschickt wird, dann ergibt sich die Frage. Und unsere Arbeitsversion ist, dass ein hochrangiger Hauptmann diesen offenen Brief in Leningrad erhielt und ihn an den KGB weiterleitete. Aber ich glaube, der KGB hat den Brief auf halbem Weg abgefangen. Einige dieser Offiziere wurden verhaftet, aber ihre Strafen waren relativ kurz: Ihr Anführer Gennadij Gavrilov bekam 6 Jahre, Kosarev, der alles sagte, was er wusste, bekam 2 Jahre, Feldwebel Paramonov, der nicht aussagte, wurde 10 Jahre lang in einem psychiatrischen Krankenhaus festgehalten und man machte ihn zum Invaliden. Und alle anderen wurden entweder entlassen oder in andere Einheiten versetzt, kurzum: zerstreut. Soldatov und Juskevitš wurden ebenfalls verhört. Soldatov wurde für „unzurechnungsfähig“ erklärt. Seitdem standen sie unter Beobachtung. 1973 hatte ich einen solchen Vorfall: Ich wollte Juskevitš diese Sammlung von Soldatovs Schriften zeigen, die ich hatte. Als ich mit dem Moped fuhr, kam ein Bus vorbei. Er fuhr bereits los, und ein Mädchen rannte vor dem Bus über die Straße – und ich stieß mit ihr zusammen, flog über das Moped, machte in der Luft zwei Saltos, fiel auf den Rücken und wurde ohnmächtig. Ich wachte im Krankenwagen auf, und die Verkehrspolizei untersuchte meine Aktentasche, und die Sammlung war bereits zum KGB gebracht worden. Und seither wurde ich verstärkt überwacht. Im Dezember 1973 klopfte Mati Kiirend eines Morgens an mein Fenster und sagte: „Der Herr, also Juskevitš, bittet mich, zu ihm zu gehen und seine Schreibmaschine zu holen, denn die
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Überwachung hat zugenommen.“ Am nächsten Tag ging ich zum Haus von Mati Kiirend, um mit ihm in den Wald zu gehen und die Schreibmaschine dort zu vergraben. Aber er war nicht zu Hause. Und am nächsten Morgen, so gegen halb acht oder sieben Uhr, läutete es, und sieben Leute standen vor der Tür. Einer von ihnen sagte: „Bürger Mätik, wir sind vom Staatssicherheitskomitee, wir haben den Auftrag, Ihre Wohnung zu durchsuchen.“ Ich verlangte ihre Ausweise und den Befehl zu sehen. Sie sagten, sie hätten den Verdacht, dass an dieser Adresse antisowjetische Literatur aufbewahrt werden könnte, und deshalb müssten sie die Wohnung durchsuchen. Fünf Personen waren KGB-Offiziere, zwei waren Kadetten der Nautischen Schule als Zeugen. Zunächst waren alle KGB-Offiziere aktiv, aber dann wurde es ihnen langweilig, und so saßen vier von ihnen nur da, und einer durchsuchte. Die Durchsuchung dauerte von sieben Uhr morgens bis neun Uhr abends. Und in einer Stadtwohnung gibt es keine besonderen Orte, um etwas zu verstecken. Aber es war ganz klar, dass sie nicht zum ersten Mal hier waren und dass sie schon vorher etwas gesucht hatten. Ich hatte das Manuskript des Programms der „Estnischen Nationalfront“ in einer Schachtel mit Filmen. Und die Schachtel war in einem Versteck. Aber manchmal holte ich eine Tüte mit Literatur aus dem Versteck, sortierte etwas aus und legte es heraus. Und einmal ließ ich die Schachtel in meinem Zimmer stehen und vergaß sogar, dass das Manuskript darin war. Der KGB-Offizier nahm die Schachtel, holte ein Paket mit Fotoplatten heraus und zog dieses Programm heraus. Ich hatte vergessen, dass das Programm da war, er aber wusste es. Und im Schuppen, wo es nichts gab, öffneten sie einfach die Tür und schauten ohne Grund hinein. Sie durchsuchten die anderen Räume sehr sorgfältig. Ein Ordner mit Papieren war in der Wand zwischen der Waschküche und der Scheune, da war eine Wand und Sägemehl. Und in den Sägespänen befanden sich eine Mappe, ein Ordner und das Memorandum mit aufgeklebtem Siegel. Und der KGB-Offizier ging sofort dorthin. Ich hatte auch drei Gewehre und etwa fünfzig Schuss Munition. Und unter der Scheune befand sich das Hauptversteck – eine in den Boden eingegrabene Truhe mit Literatur, dann Bretter darüber, dann Sand und wieder Bretter. Es gab auch eine Schreibmaschine. Es war alles
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erhalten, und als ich zurückkam, habe ich alles herausgenommen. Aber dann wurde das alles leider gestohlen. Woher waren die Gewehre? Noch vom Krieg? Ich habe eines von einem Klassenkameraden bekommen, eines haben Juskevitš und ich aus Südestland mitgebracht, und das dritte habe ich auch von Juskevitš bekommen. Eine stammt aus dem Ersten Weltkrieg, die beiden anderen aus dem Zweiten Weltkrieg. Aber der Punkt ist, dass es unmöglich ist, die Sowjetunion mit nur drei Gewehren zu stürzen, natürlich. Aber wer weiß? Wir haben uns gedacht: Wenn der Stalinismus wiederhergestellt wird, müssen wir vielleicht in den Wald gehen. Wenn es in Russland einen Bürgerkrieg oder etwas anderes gibt, dann können wir mit drei Gewehren schon eine Kaserne einnehmen und uns ein paar Sturmgewehre besorgen. Immerhin wurde 1918 das Schicksal der estnischen Republik von einer Patrouille von Schülern entschieden, d.h. die Kommunisten organisierten eine Demonstration, wollten die Regierungsgebäude einnehmen, und die Patrouille von Schülern eröffnete das Feuer. Die Kommunisten waren unbewaffnet, sie sind einfach weggelaufen – und das wars. Im Allgemeinen dachte ich, dass ich keine Waffen brauchen würde, aber wenn ich doch Gewehre brauchte, hatte ich keine Zeit, sie zu suchen. Es ist wie ein Rettungsring oder ein Rettungsboot, damit nicht alle auf dem Schiff ertrinken. Wir haben bei der Durchsuchung aufgehört. Am selben Tag, an dem Sie verhaftet wurden. Wissen Sie noch, welcher Tag das war? Freitag, 13. Dezember 1974. Fast alle Verhaftungen wurden am Freitag, dem 13. vorgenommen. Denn im Westen gibt es den Glauben, dass Freitag der 13. eine Unglückszahl ist. Wir haben das nicht beachtet, denn dann hätten wir alles im Voraus versteckt. Und da haben sie uns schon in den Isolator gebracht, ein stalinistisches Gefängnis. Und dort wurden wir mit verschiedenen Kriminellen eingesperrt. Sie sagten, dass sie angeblich in Devisengeschäfte verwickelt waren. Später, als ich in Moskau einen echten Devisenhändler traf, sagte er mir, dass das, was sie
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sagten, weit weg von der Wahrheit war. Es handelte sich wahrscheinlich nur um ein paar Diebe, die sich bereit erklärten, mit dem KGB zusammenzuarbeiten. Einer von ihnen, der angeblich von einem Verhör kam, brachte roten Fisch – Lachs –, und in einer Wärmflasche Horilka – Selbstgebrannten –, mit. Er trank alles selbst aus, hatte mir angeboten, aber ich lehnte ab. Die Zelle war für vier Personen ausgelegt, aber wir waren die einzigen beiden darin. Und als er schon getrunken hatte, wurde seine Stimme lauter, und der diensthabende Aufseher kam, um zu sehen, was los war. Er ging einen nach dem anderen zum Spind, fand eine Wärmflasche, öffnete sie, roch daran und sagte: „Ich verstehe“. Mein Zellengenosse drehte sich zu mir um: „Jetzt werden sie dich hereinrufen. Wenn sie dich fragen, sagst du, dass nichts passiert ist.“ Mit anderen Worten, sie bieten dir an, entweder ein Lügner oder ein Verräter zu werden. Und ich sagte ihm: „Wenn sie mich aufrufen, werde ich antworten: ‚Wenn ihr wissen wollt, wer was tut oder sagt, dann bringt einen Spitzel in unsere Zelle.‘“ Aber ich wurde nicht aufgerufen. Und die Untersuchung ging wie folgt weiter: Der Ermittler stellt Fragen, und ich beantworte jede Frage mit: „Ich verweigere die Antwort.“ So ging es mehrere Monate hintereinander weiter. Der Ermittler schlug mir vor: „Schreiben Sie eine Erklärung, dass Sie keine Aussage abgeben werden“. Und ich denke: Wenn ich dort vorgeladen werde, sehe ich, was sie wissen. Dass ich später diese Ermittlungsunterlagen einsehen kann, wusste ich noch nicht Übrigens hatten wir einmal in der Woche ein Bad. Und dort rasierten wir unsere Bärte mit einer Haarschneidemaschine. Und natürlich wuchs der Bart innerhalb einer Woche. Und der Ermittler fragte mich: „Wollen Sie keinen mechanischen Rasierapparat?“ Und ich antwortete: „Aber Sie erlauben doch keine Klingen.“ – „Nein, keine Klinge, aber einen Rasierhobel.“ – „Natürlich will ich einen.“ – „Okay, ich rufe Ihre Schwester an, damit sie ihn mitbringt.“ Ein paar Tage später überreicht er mir diesen Rasierer. Und nach einer Weile sagte er dann: „Siehst du, wie sie dir auf halbem Weg entgegenkommen. Du hast sogar einen Rasierer bekommen.“ Und dann sagte er: „Wenn du keine Aussage machst, dann gibt es Zweifel, dass du zurechnungsfähig bist. Wir werden Sie zu einer Untersuchung schicken müssen.“ Auch Soldatov sagte nicht aus. Juskevitš sagte
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ihnen, was sie wussten, und was sie nicht wussten, erfuhren sie nicht von ihm. Es gab eine Person, die 1940 noch ein echter Kommunist war, damals ein Doktor der technischen Wissenschaften, ein LeninPreisträger – Johannes Hint. Er schrieb einen langen Aufsatz mit dem Titel „Die Tragödie einiger ehrlicher Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts“ [unterzeichnet mit dem Namen einer nicht existierenden Person, einem Letten Aivars Krauklis]. Johannes Hint (1914–1985), ein berühmter Wissenschaftler, Ingenieur und Erfinder, der sich auf Silikatmaterialien spezialisierte. Bruder des berühmten estnischen Schriftstellers Aadu Hint.
Es war teilweise eine Autobiografie: Er war auch ein echter Kommunist, und als er sah, was der Kommunismus war, wurde er zum Antikommunisten. Also übersetzte ich dieses Werk auf Juskevitšs Anregung ins Russische, und als ich Juskevitš fragte, wer der Autor sei, sagte er es mir ins Ohr. Und dann stellte sich heraus, dass er zu der Zeit abgehört wurde, das Gerät war in seiner Wohnung. Aber zu der Zeit haben sie nie herausgefunden, wer der Autor dieses Werkes war. Der Autor heißt dort übrigens Krauklis, auf Lettisch Rabe. Angeblich wurde es von einem Letten geschrieben. Und nachdem wir freigelassen wurden, gab Hint dieses Werk seiner Frau zu lesen, und sie brachte das Manuskript zum KGB. Sie waren zusammen mit Soldatov in die Sache involviert. Waren Sie die einzigen beiden oder gab es noch jemanden? Wir wurden zu fünft verhaftet: Soldatov, ich, Juskevitš, Mati Kiirend, Arvo Varato. Soldatov und ich wurden in das Serbskij-Institut [das Allsowjetische wissenschaftliche V.P. Serbskij-Forschungsinstitut für allgemeine und forenische Psychiatrie, die führende Einrichtung in der UdSSR, die Untersuchungen an politischen Gefangenen durchführte, die im Verdacht standen, an ‚träger Schizophrenie‘ zu leiden] gebracht. Zunächst wurde ich in Tallinn primitiv untersucht. Es waren zwei Ärzte aus der psychiatrischen Klinik in Tallinn und eine Dame aus Moskau anwesend. Einmal sagte die Untersucherin, sie sei eine Kandidatin der Wissenschaft, und beim zweiten Mal, sie sei eine Doktorin der Wissenschaft. Unsere Ärzte sagten uns, dass eine flüchtige Untersuchung nicht möglich sei und wir nach
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Moskau fahren müssten. Dort gab es zwei kleine Abteilungen oder Zellen, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Dort saßen zwei alte Damen, rund um die Uhr. Sie beobachteten, wer was sagte, weinte oder lachte, und meldeten es den Ärzten. Eine Ärztin sprach offen ihre Unterstützung aus, aber nur, wenn wir mit ihr allein waren. Und von Zeit zu Zeit haben wir seltsame Experimente gemacht. Zum Beispiel Experimente mit Tintenklecksen. Sie fragten uns nach etwas Vagem und woran es uns erinnerte. Oder ein Bild wird in vier Teile geteilt: ein Fahrrad, eine Dampflokomotive, ein Flugzeug und eine Nähmaschine. Sie fragen, was überflüssig ist. Drei von ihnen sind Fahrzeuge. Wir haben die Zeit mit einer Stoppuhr gemessen, um zu sehen, wie lange es gedauert hat, das herauszufinden. Sie schrieben eine Bescheinigung, dass die Antworten ausgesprochen logisch waren. Die Untersuchung dauerte 35 Tage, also konnten sie in den ersten 35 Tagen nicht feststellen, ob ich normal war oder nicht. Sie behielten mich zwei Tage lang. Die Gesellschaft war interessant, viel besser als im Gefängnis. Und sie haben uns gut verpflegt. Zum Essen möchte ich Folgendes sagen: Wir waren zu viert, und sie brachten uns Kascha auf den Tisch – vier Teller auf einmal. In die Teller waren kleine Löcher gebohrt. Manche hatten keine Löcher, manche hatten eines, manche hatten zwei. Und diese Teller wurden ausgeteilt, als wären sie für eine bestimmte Person bestimmt. Als ich vor der Tür stand, zwischen diesen Stationen, kam eine Dame durch die Vordertür und sagte zu den alten Leuten, die in unserem Zimmer saßen: „Hier sind ein paar Pillen, die Sie in Ihre Kascha tun können.“ Als ich fragte, was das für Pillen seien, sagte sie: „Wer hat Ihnen das gesagt?“ Ich glaube, das war eine Provokation. Wenn sie wirklich etwas dort platzieren wollten, dann hätten sie es dort platziert. Vielleicht wollten sie, dass wir protestieren, vielleicht in Hungerstreik treten, denn „sie haben uns hier Pillen untergeschoben“, um uns Verfolgungswahn zu unterstellen. Wie lange wurde gegen Sie ermittelt? Ich wurde am 13. Dezember 1974 verhaftet und Ende November des folgenden Jahres vor Gericht gestellt. Dann, nachdem ich zwei Jahre im Serbskij-Institut verbracht hatte, wurde ich
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zurückgeschickt. Übrigens war ich dort mit dem russischen Historiker Vladimir Osipov, der die Gesetze besser kannte als ich und sagte, dass es eine bestimmte Zeit gibt, die man in Haft bleiben kann, bevor man angeklagt wird. Diese Zeit war bei mir bereits verstrichen. „Schreiben Sie und fordern Sie Ihre Freilassung, denn ...“ Ich habe zwei oder drei Anträge geschrieben. Und als ich nach Lefortovo zurückgeschickt wurde, brachten sie mir diese Anträge und sagten mir, dass meine Haft verlängert worden sei. Und einer unserer Zellengenossen hatte einen Kalender, auf dem immer das Datum von morgen stand. Ich weiß nicht, warum. Und so wurde ich gebeten, zu unterschreiben, und ich schrieb, „bekanntgegeben am 18. Juni 1975“. Ich hatte bereits auf zwei Zetteln geschrieben, und dann sagte dieser Mann in Uniform, der diese Zettel brachte, dass es nicht der 18., sondern 17. sei. Ich korrigierte wie ein schlampiger Schuljunge die Acht zu einer Sieben. Und am nächsten Tag kam er mit diesen Papieren zurück und sagte: „Streichen Sie das durch und schreiben Sie ‚bekanntgegeben am 18. Juni‘.“ Denn wenn sie bei der Inspektion dieses Dokument mit einer Korrektur finden, bekommt er eins auf den Hinterkopf ... Dann brachten sie mich zurück nach Tallinn, und am zwanzigsten November 1975 fand der Prozess statt. Der Prozess wurde offiziell für offen erklärt, aber in Wirklichkeit war er halb offen. Ein paar enge Verwandte durften den Gerichtssaal betreten. Ein alter Kollege, der heute Rektor einer technischen Universität ist, war ebenfalls anwesend. Einige der Sitze waren leer, und einige waren mit KGB-Offizieren und Polizisten besetzt. Und die nächsten politischen Prozesse fanden in kleinen Sälen statt, in denen nur enge Verwandte anwesend waren – etwa Vater und Mutter, vielleicht die Frau. Die übrigen Plätze wurden von den Tschekisten besetzt, und denjenigen, die teilnehmen wollten, wurde gesagt, dass es keine Plätze gäbe. Als ich bei einer der Prozesse sagte: „Ich kann stehen“, wurde mir gesagt, dass ich das nicht dürfe. Was können Sie tun ... Sie wurden zu sechs Jahren verurteilt. Wie hoch waren die Strafen für Ihre Gleichgesinnten? Soldatov und ich bekamen je 6 Jahre, Juskevitš und Kiirend je 5 Jahre, Varato bekam eine Bewährungsstrafe von 3 Jahren mit
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einer fünfjährigen Bewährungszeit. Er hat viel geredet. Aber wenn alle geredet hätten, wären sie alle ins Gefängnis gekommen, und es ging nur darum, zu zeigen, wie man sich verhalten sollte. Wurden Sie sofort in den Ural geschickt oder blieben Sie eine Zeit lang in Mordwinien? Ich war überhaupt nicht in Mordwinien, ich wurde direkt in den Ural geschickt. Erinnern Sie sich, Sie wurden in die Zone 35 geschickt ... ... in die 36. Zuerst in die Zone 36, wo ein strenges Regime herrschte. Beschreiben Sie bitte, was für ein Regime das war, was Sie gesehen haben, was Ihre ersten Eindrücke waren, wer Ihre neuen Freunde waren. Mein erster Eindruck war, dass es vorher noch schlimmer war. Ich war einige Zeit in Quarantäne, und am Jahrestag meiner Verhaftung wurde ich in die Zone entlassen. Der erste Tag war besser als vorher. Ich sah endlich normale Menschen und konnte zweihundert Meter hin und her laufen. Entlang der Birkenallee. Nein, nicht Birken, Vogelkirschen. Einer der ersten, die freigelassen wurden, war Gunārs Astra, ein Lette. Nach seiner Freilassung wurde er später erneut inhaftiert. Und die meisten von ihnen waren Litauer, so genannte „Waldbrüder“. Und wenn sie etwas organisierten, zum Beispiel Teetrinken in einer großen Runde, gab es sofort kleine Repressionen. Und die Litauer feierten Weihnachten mit der ganzen Mannschaft, etwa 25 Personen. Es gab noch einen Verbrecher, aber da er auch Litauer war, schloss er sich ihnen an. Und dafür wurden sie nicht einmal angefasst. Kurzum, man spürte schon damals, dass sich in der Welt etwas verändert hatte. Gunārs Astra war ein Mitglied der lettischen Nationalbewegung. Geboren 1931 in Riga, Lettland; Lette; technische Sekundarausbildung; arbeitete an der lettischen Staatsuniversität. Student der Abendabteilung der Fakultät
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für Fremdsprachen der Universität von Lettland. Am 23.02.1961 verhaftet und gemäß Artikel 65 Paragraf 1, Artikel 59 Paragraf 1 und Artikel 209 des Strafgesetzbuchs der Lettischen SSR zu 15 Jahren Haft mit Einziehung des Vermögens verurteilt. Er verbüßte seine Strafe in den Lagern DubravLag und Perm’. Nach seiner Entlassung arbeitete er als Angestellter der Straßenbehörde. Am 15.09.1983 wurde er erneut verhaftet und zu 7 Jahren Gefängnis und 5 Jahren Verbannung verurteilt. Er verbüßte seine Strafe in Kučino, Oblast’ Perm’. Er wurde am 1.02.1988 entlassen, starb aber bereits am 6. April 1988 in einem Krankenhaus in Leningrad.
Als Sergej Kovaljov zum Beispiel anlässlich der orthodoxen Weihnacht ein Teetrinken organisierte und Dissidenten einlud, waren wir etwa 15 Personen. Und noch etwas passierte dort: Die Leute wurden in Einheiten eingeteilt, und es war verboten, zu einer anderen Einheit zu gehen. Die Baracke war in zwei Teile geteilt, und man konnte auch nicht in die andere Hälfte der Baracke gehen. Und so wurde Kovaljov am Samstagabend für zwei Tage eingesperrt, weil er dieses gemeinsame Teetrinken organisiert hatte. Und da wir uns nur durch Papiere verständigen konnten, schrieben wir alle einen Protest, dass das Feiern von Weihnachten nicht als Gesetzesverstoß angesehen werden kann, da die sowjetische Verfassung Religionsfreiheit garantiert. Und wir sind der Meinung, dass die Bestrafung von Kovaljov rechtswidrig ist, und wir werden nicht zur Arbeit zurückkehren, bevor er nicht aus der Strafzelle entlassen wird. Unser Streik, der ‚große Streik‘, oder Sturm im Wasserglas, dauerte also etwa fünfzehn Minuten. Und dann kam jemand und sagte, dass Kovaljov freigelassen worden sei. Eine Zeit lang war ich diensthabender Elektriker. In der ersten Werkstätte stellten wir Heizelemente für Bügeleisen her. Dort war es sehr laut. Diejenigen, die dort arbeiteten, bekamen am Morgen Brei und Milch. Eine Zeit lang bekam ich das auch: An einem Tag gab man es mir, am nächsten Tag nicht mehr. Und dann habe ich dem Leiter der Abteilung gesagt: „Wenn sie mir keinen Brei und keine Milch mehr geben, dann gehe ich nicht mehr in die erste Werkstatt.“ Und sie fingen an, sie mir jeden Tag zu geben. Unsere Männer wollten ihre Memoiren schreiben. Und mit Hilfe der Aufseher wollten sie sie gegen Geld verschicken. Und es war Winter. Und die Aufseher trugen Stiefel, still und leise. Und ich saß im Kulturraum und hörte sie nicht kommen. „Was schreibst du da? Gib es her.“ – „Ich gebe es nicht her.“
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Aber sie haben es mir gewaltsam entrissen, sie beraubten mich meines „Geschäfts“ (Einkaufs) und meines Pakets. Und dann kamen zwei von ihnen zu meiner Bude, wo ich Elektriker war. „Und warum haben sie dir deinen Kiosk weggenommen?“ „Wegen diesem und jenem“, antwortete ich. „Aber das ist kein so großes Vergehen. Vielleicht können wir mit der Leitung sprechen.“ Und ich sagte ihnen: „Na ja, der Monat ist schon zu Ende.“ Und dann sagte jemand, dass ich sowieso auf die Liste gesetzt werden sollte. Und sie setzten mich auf die Liste. Und als ich als Heizer in der Zone 35 gearbeitet habe, war der Vorarbeiter dort ein ehemaliger „Waldbruder“. Im Sommer haben sie nicht geheizt, sondern nur repariert. Für einen Maurer, der dort einen Ofen repariert, reicht ein Helfer. Aber der Vorarbeiter ist für uns alles: „Nehmt euch Zeit, nehmt euch Zeit“. Wir hatten unsere Arbeit bereits beendet und saßen in unserer Umkleidekabine. Plötzlich kam der Leiter des Trupps herein und sagte zum Vorarbeiter: „Ich habe einen Vorschlag. Betoniert den Boden im Badehaus und im Umkleideraum.“ Der Vorarbeiter antwortete: „Ein Paket für jeden und Einkauf für 4 Karbovanec’“. Die Vorgesetzten bekamen natürlich ihr Geld, aber wir hatten auch ein Paket und 4 Karbovanec’ extra. Sie sagten uns auch, wir sollten vor Ladenschluss gehen und eine Erklärung schreiben, in der stand: „Bitte erlauben Sie mir, für 4 zusätzliche Rubel Schreibwaren zu kaufen.“ Sie sagten, dass 15 Personen politische Gefangene waren. Wie viele Personen waren es insgesamt? In der 36. Straße, als ich dort ankam, waren es etwa 120, und dann wurde es noch weniger. Es gab Polizisten, es gab „Waldbrüder“, es gab ein paar Tschekisten, die für Amerika oder jemand anderen spioniert hatten, es gab ehemalige Mitarbeiter der deutschen Geheimpolizei Deutsche? Russen. Sie waren in den Wäldern und arbeiteten mit den Deutschen zusammen, und als sie auf die roten Partisanen trafen, übergaben
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sie sie an die Deutschen. Es gab sowjetische Grenzschutzbeamte, die in den Westen flohen und dann zurückkamen. Es gab einen ehemaligen sowjetischen Diplomaten, der in der Schweiz geblieben war. Seine Frau und seine Tochter kehrten in die Sowjetunion zurück, und bald darauf kehrte auch er zurück, hier aber wurde er inhaftiert. An welchen Ukrainer erinnern Sie sich? Basarab. Mychajlo Basarab. Er war ein Bandera-Mann. Er nahm an einer Schlacht teil, in der ein polnischer General getötet wurde. Am Ständer lag die Zeitung „Visti z Ukraïny“ aus, und zwei oder drei Ausgaben beschrieben Basarabs Aktivitäten. Aber wir haben sie mit Vergnügen gelesen. Und es gab noch einen Russen, der in deutsche Gefangenschaft geriet, dann in Buchenwald war, und dort zum Provokateur wurde. Und er war auch hier ein Provokateur. Und einige Journalisten kamen, sprachen mit ihm und veröffentlichten dann einen Artikel in der Zeitschrift „K novoj žizni“ (Auf ein neues Leben). Es war unmöglich, diese Zeitschrift zu finden, aber wir hatten sie in unserer Bibliothek ausliegen. Und da stand zu lesen: „Vor uns sitzt ein Mann, der sich während des Krieges als Peiniger entpuppte. Er sitzt betont aufrecht vor uns, die Spitzen seines weißen Schnurrbarts sind hübsch gedreht.“ Und sie sagen, dass Dissidenten schlechte Menschen sind ...“ Vakhtang Kipiani, Kalju Mätik, 18. Mai 2004
Mustafa Džemiljev
„Es war wichtig, durchzuhalten und sich während des Prozesses einen moralischen Vorteil gegenüber ihnen zu verschaffen“ Mustafa Džemiljev (13. November 1943, Ay Serez, Krim). Als Mustafa sechs Monate alt war, wurde seine Familie zusammen mit anderen Krimtataren deportiert. Der spätere Dissident verbrachte seine Kindheit und Jugend in Usbekistan. Im Jahr 1961 wurde die Union der krimtatarischen Jugend unter Beteiligung von Džemiljev gegründet. Aus politischen Gründen verweigerte Džemiljev den Dienst in der Armee, wofür er 1966 verurteilt wurde. Er wurde zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Nach Verbüßung seiner Strafe engagierte er sich noch stärker in der Dissidentenbewegung und knüpfte Kontakte zu Menschenrechtsaktivisten aus anderen Teilen der UdSSR. Er vertrat die nationale Bewegung der Krimtataren, ließ aber auch die Probleme der Menschenrechtsverletzungen im ganzen Land nicht außer Acht und wandte sich gegen den Einmarsch in die Tschechoslowakei. 1969 trat er der Initiativgruppe für den Schutz der Menschenrechte in der UdSSR bei. Im selben Jahr wurde er zum zweiten Mal verhaftet. Insgesamt wurde Džemiljev sechs Mal vor Gericht gestellt, das 1986 verkündete Urteil aber wurde ausgesetzt. Dies wurde wahrscheinlich durch die Kampagne zur Verteidigung von Džemiljev und die Aufweichung des politischen Regimes durch die Perestroika begünstigt.1 Mustafa-Ağa, wie hat Ihre Mutter Sie genannt, als Sie ein Kind waren? Mustafa.
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Vgl. Sevhil’ Musajeva, Alim Alijev, Mustafa Džemiljev. Vydavnyctvo VIVAT, Charkiv 2017. 252 S.
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Gab es denn keine Kurzform? Nein, es war immer Mustafa, mein Sohn. Sie waren sechs Monate alt, als Ihr Volk deportiert wurde. Wahrscheinlich erinnern Sie sich nicht, wie die meisten Kinder, an Ihre Eindrücke. Was Ihre Mutter oder Ihr Vater oder die Ältesten in der Familie Ihnen erzählt haben. Wie haben Sie oder andere Kinder diesen Weg überstanden? Ich erinnere mich an etwas im Alter von 3-4 Jahren. Die ersten Episoden, die mir in Erinnerung geblieben sind: Wir zogen von einem Dorf in Usbekistan in ein anderes Dorf. Es war Nacht, das Heulen kam entweder von Schakalen oder von Wölfen, und ich weinte, weil ich dachte, dass sie mich jetzt fressen würden. Aber sie beruhigten mich: Du brauchst keine Angst zu haben, Vater wird mit den Wölfen fertig werden. Ich erinnere mich, dass wir nachts gezittert haben, aber es war schon 1947–48 [es geht um das Erdbeben].
Mustafa Džemiljev, Foto: Alim Alijev
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Hat Ihre Familie nicht über dieses Thema gesprochen: Wie haben Sie diese Reise überlebt, wie hat Ihre Mutter sie überlebt, wie hat Ihr Vater sie überlebt? Es wurde viel darüber gesprochen. Wenn Gäste kamen, drehten sich normalerweise alle Gespräche um dieses Thema. Denn damals gab es für uns eine Ausgangssperre, wir standen bis zu Stalins Tod unter Aufsicht, wir durften nicht weiter als vier Kilometer fortgehen, also bestand das Hauptvergnügen der Krimtataren darin, sich gegenseitig zu besuchen. Wir hatten sogar eine Liste von Leuten, die uns besuchten und denen wir einen Gegenbesuch abstatten mussten. Umgekehrt galt es als falsch, jemanden zweimal hintereinander zu besuchen, solange er nicht zu dir kam. Denn wenn Gäste kommen, muss man ihnen all die köstlichen Dinge vorsetzen, die es bei einem gibt. Und während dieser Besuche war die ganze Zeit von Deportation die Rede. Obwohl es natürlich auch Episoden über das Leben auf der Krim im Allgemeinen während der Zeit von Ibraimov [Veli Ibraimov, eine prominente Figur der nationalen Bewegung der Krimtataren, 1928 erschossen] gab. Oder über die Jahre 1917–1918, als die Regierung von rot zu grün, dann zu weiß und dann wieder zu rot wechselte. Und die Kinder hörten sich das alles an. Und im Allgemeinen haben die Krimtataren ihre Weltanschauung wahrscheinlich hauptsächlich in der Familie geformt, und deshalb hatte diese ganze sowjetische Propaganda, die zombifizierend war, irgendwie keine große Wirkung auf die Krimtataren. So unterschieden sie sich von ihrer Umgebung. Die Großmutter meiner Frau (ihre Familie wurde als Kulaken deportiert) sprach immer von ihrem Zuhause, dass es ein guter Ort war, an den sie sich ihr ganzes Leben lang erinnerte, 50 Jahre nach den 1930er Jahren. Was haben Ihre Eltern über ihre Heimat und ihr Land in Erinnerung? Unsere Familie stammte aus dem Dorf Ay Serez im Rajon Sudak, aber in den dreißiger Jahren wurden sie, genau wie Ihre Großmutter, als Kulaken deportiert und in die Oblast’ Molotov in den Ural, heut Oblast’ Perm’, geschickt. Von dort entkamen sie, kamen zunächst
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nach Melitopol’, und von Melitopol’ aus zogen sie heimlich auf die Krim. Aber sie kehrten nicht in ihr Heimatdorf zurück, um nicht ausgeliefert zu werden. Sie lebten im Rajon Stepove. Und dort hatten sie viele Erinnerungen, die mit dieser Dekulakisierung zusammenhingen: wie sich bestimmte Landsleute verhielten, wie undankbar die Leute waren – wie gut sie miteinander auskamen, und was sie taten, als die sowjetische Regierung kam. Und gleichzeitig gibt es Momente von hohem Anstand von Menschen, von denen man nichts dergleichen erwartet hätte. Wurde an diesen Tischen die sowjetische Regierung verflucht, wenn Gäste kamen? Das taten sie, aber meine Mutter stupste meinen Vater immer zurecht und sagte: „Pass auf, was du sagst, es sind Kinder da.“ Nicht, weil wir Pavliki Morosovi2 waren und denunzieren könnten, sondern einfach, weil Kinder Kinder sind, sie können etwas sagen, und dann kommt es bei den Behörden an … Und wir wussten das, und deshalb waren wir schlau und taten so, als ob wir schliefen. Und wir waren alle in einem Raum, und sie redeten furchtlos und dachten, wir würden schlafen. Und ich habe ihnen immer zugehört, es war sehr interessant. Und dort wurden die Dinge natürlich beim richtigen Namen genannt. Deshalb sage ich, dass die sowjetische Propaganda uns nicht beeinflusst hat, wir haben aus diesen Gesprächen die Wahrheit gelernt. In der Sowjetunion wurden allen Kindern Märchen vorgelesen. Hatte Ihre Familie diese Möglichkeit, konnten Sie Bücher in Ihrer Muttersprache mitbringen? Nein, es gab keine Bücher. Als die Soldaten kamen und sagten: „Ihr habt 15 Minuten Zeit, um euch fertig zu machen“, konnte meine Mutter an nichts denken. Mein Vater war nicht da, er war an der 2
Pavel Morosov war ein russischer Bauernjunge, der 1932 13jährig erschlagen worden ist, nachdem er zuvor seinen Vater wegen Versteckens von Getreide denunziert hatte. Die sowjetische Propaganda machte aus ihm auf verschiedene Weisen einen Helden-Pionier.
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Front. Und sie wusste nicht einmal, was sie einpacken sollte, denn wir waren fünf Kinder. Später erzählte man mir, dass sie alle Kinder mitnahmen, mich aber vergaßen. Später hat man sich daran erinnert. Meine Mutter nahm zuerst den Koran. Aber der Soldat erwies sich als einfühlsamer Mensch, er sagte zu ihr: „Was machst du da, du wirst weit weggebracht!“ Und dieser Soldat nahm etwa einen halben Sack Mehl und gab es ihr – und das hat uns auf dem Weg viel erspart. Aus diesem Mehl haben sie etwas Essbares gemacht und die Kinder gefüttert. Ich erinnere mich nicht an Märchen, aber … sie sang auf Krimtatarisch. Sie sang Schlaflieder, wenn wir nicht schlafen konnten, ich erinnere mich an ihren Gesang mit ihrer angenehmen krimtatarischen Stimme. Kannten Sie Menschen, die ihre Kinder während der Deportation direkt verloren haben, und wie haben sie diese Erfahrung verarbeitet? Daran kann ich mich nicht erinnern, aber ich weiß, dass Verwandte in verschiedenen Autos saßen. Ursprünglich war angeblich geplant, alle nach Zentralasien zu schicken, aber dann kam eine Art Anweisung, dass mehrere Züge in den Norden geschickt werden sollten. Und die Menschen, vor allem die Verwandten, die in verschiedenen Dörfern lebten, landeten auf verschiedenen Seiten des Urals. Viele Jahre lang suchten sie einander durch Briefwechsel, durch Erzählungen, wer wen gesehen hatte. Es war nicht möglich, nach ihnen zu suchen, weil eine Ausgangssperre galt. Erst später, nach Stalins Tod, nach Chruščёvs berühmter Rede im Jahr 1956, begannen wir, uns gegenseitig zu besuchen. Wie stand Ihre Familie zu den Menschen, die Parteimitglieder waren und versuchten, als Krimtataren in den Orten der „neuen Heimat“ Karriere zu machen, eine sowjetische Karriere? Wir haben die Menschen unabhängig von ihrer Position bewertet, denn es gab Menschen in hohen Positionen, die ihre Integrität nicht verloren haben. Und es gab Menschen, die, obwohl sie nicht an die Spitze aufstiegen, sich schändlich verhielten. Es gab keine klare Trennung zwischen denen, die den Sowjets dienten, und denen, die
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es nicht taten. Obwohl es natürlich eine gewisse negative Haltung gegenüber denen gab, die der sowjetischen Verwaltung dienten. Offen wurde es nicht geäußert, aber man hielt Distanz. Stimmt es, dass die Krimtataren keine geisteswissenschaftliche Ausbildung erhalten durften – geht zur Landgewinnung, aber Historiker dürft ihr nicht werden! Ja, so war es. Die ersten Jahre nach der Deportation, bis zur siebten Klasse, konnten wir lernen. Aber die nächste Stufe, die 8. und 9. Klasse, war aus irgendeinem Grund nicht erlaubt. Es dauerte eine kurze Zeit, dann konnte man die Sekundarschule abschließen. Aber um an die Universität zu kommen … Es gab keine offene Verfügung, aber sie nahmen uns einfach nicht auf. Später haben sie angefangen, an technischen Schulen Studenten zu akzeptieren. Und dann, nach der Rede von Chruščёv, nach der Bloßstellung des Personenkults, wurden sie an Instituten und Universitäten zugelassen, aber, wie Sie sagten, nicht für alle Fachrichtungen. Die Geisteswissenschaften, die Fachrichtungen für die militärische Laufbahn, die Fakultät für Chemie, die Fachrichtungen für Verteidigung – all das wurde nicht zugelassen. Deshalb gibt es unter den Krimtataren viele Spezialisten im Bauwesen, Lehrer für russische Sprache und Literatur usw. Wir hatten praktisch keine Juristen oder Journalisten. Und ich erinnere mich, dass es 1961, als wir die Organisation Union der krimtatarischen Jugend gründeten, nur einen einzigen Juristen unter uns gab. Seït-Amza Umerov, der einzige krimtatarische Jurastudent, ist gestorben. Und es gab noch einen anderen, der ebenfalls zu unserer Organisation gehörte und an der Fakultät für Arabische Sprache und Literatur studierte. Auch er wurde dort nicht angenommen. Ich zum Beispiel wollte auch an dieser Fakultät studieren, aber der Leiter des Zulassungsausschusses kam auf mich zu und sagte ganz offen: „Ich habe kein Recht, Ihnen das zu sagen, aber ich empfehle Ihnen, Ihre Unterlagen sofort von dieser Fakultät zurückzuziehen und sie bei einer anderen einzureichen. Sie werden nicht zugelassen.“ – „Warum sind Sie so sicher? Ich bereite
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mich jetzt vor, vielleicht bestehe ich mit Bravour!“ – „Sie werden nicht mit Bravour bestehen, denn wir haben die klare Anweisung, keine Krimtataren anzunehmen.“ Und das war seltsam. Aber dann stellte sich heraus, dass diese Fakultät der Zentralasiatischen Universität in Taschkent, die zwar Arabische Sprache und Literatur hieß und wo man auch wirklich Arabische Sprache und Literatur studierte, hauptsächlich Agenten für den Nahen Osten ausbildete. Und da wir sozusagen ein unzuverlässiges Volk waren, wurden wir dort nicht angenommen. Erzählen Sie uns, was Sie getan haben, warum haben Sie eine andere Fakultät gewählt? Schließlich habe ich meine Unterlagen zurückgenommen. Ich hätte mich für eine technische Fachrichtung bewerben können, aber es war zu spät, um mich von Grund auf auf die Prüfungen vorzubereiten. Also habe ich mich im folgenden Jahr beworben. Ich trat in das Bewässerungsinstitut in Taškent ein. Der Geist ruhte nicht? Nein, natürlich nicht. Ich hatte sehr mittelmäßige Noten an dieser Fakultät. Aber die Geisteswissenschaften, Geschichte, marxistische Philosophie fielen mir leicht, ich wurde immer dafür gelobt. Aber später, als ich sozusagen aus dem Institut ausgeschlossen wurde, weil ich unzuverlässig war, haben da alle Lehrstuhlinhaber gesprochen. Natürlich mussten sie schlechte Dinge über mich sagen, um meinen Rauswurf aus dem Institut zu rechtfertigen. Und ich war neugierig, was der Dozent für marxistische Philosophie sagen würde, denn er lobte mich immer. Und als er an der Reihe war, hoffte ich, dass er wenigstens etwas Gutes sagen würde, aber nein. Er sagte einige interessante Dinge: „Ich will nicht leugnen, dass Mustafa Džemiljev das Thema gut kennt, aber wissen Sie, wenn er über das Thema referiert, macht er immer den Vorbehalt ‚wie die marxistische Philosophie sagt‘, das heißt, er distanziert sich vom Marxismus.“
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Welche Menschen haben Sie am meisten beeinflusst: ältere Menschen oder Gleichaltrige? Mein Bruder hat mich am meisten geprägt. Er ist zwei Jahre älter als ich. Er hat viele Bücher gelesen, und er hatte Bücher, die nicht für sein Alter waren. Er hat mir sogar beigebracht, wie man die Wahrheit erkennt, wie man zwischen den Zeilen liest. Er hatte z. B. ein Buch mit dem Titel „Die UdSSR in Zahlen“ oder „Die Weltwirtschaft in Zahlen“. Und so zeigte er mir: Egal, was die sowjetische Propaganda sagt, schau dir die Zahlen an. Nehmen wir an, ich lese etwas, und er sagt zu mir: „Was verstehst du davon?“ – „Nun“, sage ich, „was dort steht.“ – „In der Tat, achte auf diese und jene Formulierung.“ Kurzum, er hat mich in vielerlei Hinsicht beeinflusst. Aber ich würde sagen, dass Ismail Gasprinskij den größten Einfluss auf die Bildung meiner Weltanschauung hatte. Er ist schon seit langem tot, seit 1914. Eines Tages stieß ich beim Stöbern in der Bibliothek auf die Zeitung „Terciman“ (Übersetzer), die von 1883 bis 1918 in Bağçasaray (Bachčysaraj) erschien. Und als ich zu meinem Vater sagte: „Was weißt du, was für eine Zeitung das war?“, war er ganz aufgeregt. „Wo hast du diese Zeitung gefunden? Wir haben diese Zeitung neben dem Koran aufbewahrt.“ Und als ich ihm sagte, dass die ‚Ali Schir Nawā‘i-Bibliothek diese Zeitung hat, war er zu Tränen gerührt: „Wenn ich doch nur eine Ausgabe dieser Zeitung sehen könnte.“ Und dann habe ich sie von 1883 bis 1905 (und sie wurde parallel auf Türkisch, Arabisch und Russisch veröffentlicht) gelesen. Und als ich bei 1905 ankam, konnte ich nicht mehr weiterlesen. Denn sie wurde auf Krimtatarisch veröffentlicht. Ich habe dann meinen Vater überredet, mich zu unterrichten. Und wir haben mehrere Monate lang gelernt, und dann habe ich diese Zeitung bis 1914 im Original weitergelesen. Und nicht nur seine Zeitungen, in denen er seine Weltanschauung ausprobierte, sondern auch seine anderen Bücher und Briefe.
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Ismail Gasprinskij
Sein Leben, seine Tragödie für das Volk der Krimtataren, seine Philosophie hatten auf sie die gleiche Wirkung wie das Werk von Taras Ševčenko auf die Ukrainer? Er gilt als Aufklärer nicht nur des krimtatarischen Volkes, sondern des gesamten muslimischen Ostens. Er wurde sogar für den Friedensnobelpreis nominiert, aber seine Ideologie war gegen den britischen Kolonialismus gerichtet. Er vertrat eine antikoloniale Weltanschauung und kam nicht durch. Dieser Mann war in der ganzen Welt bekannt, sogar in Kairo ist ein Platz nach ihm benannt – der Ismail-Platz. Er war der größte Reformer des Bildungswesens für muslimische Völker und engagierte sich trotz strenger Zensur in der Bildungsarbeit. Er stieß nicht nur auf den Widerstand der zaristischen Verwaltung, sondern auch auf den der Geistlichkeit. Wenn man seine Veröffentlichungen liest, ist man einfach nur erstaunt: Da scheint nichts zu geben, was für Zensur anstößig ist, und gleichzeitig drückt er seine Gedanken so klar aus! Jetzt aber wird versucht, mit seinem Namen zu spekulieren. Sie sagen, dass er sich gut über Katharina die Große geäußert hat, obwohl sie die
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Krim erobert hat, und dass er sich gut über Russland geäußert hat. Und er hat schöne Worte gesprochen, aber er hat es so gut gesagt, dass ein normaler Mensch es verstehen konnte. Und jetzt reißen sie es einfach aus dem Zusammenhang. Kann man ihn als nationalen Führer der Krimtataren in dieser Zeit bezeichnen? Er war damals ein nationaler Führer, nicht nur für die Krimtataren, sondern für die gesamte türkische Welt. Er wird auch in der Türkei als Führer angesehen, es gibt dort viele Denkmäler für Ismail Gasprinskij, er wird überall in der türkischen Welt verehrt. Warum frage ich? In Veröffentlichungen über Sie liest man oft die Worte „nationaler Führer der Krimtataren“. Wie fühlen Sie sich dabei? Ich war schon früher ein Führer, als ich an der Spitze des Vertretungsorgans des krimtatarischen Volkes stand. Einem Gremium, das direkt von den Krimtataren selbst gewählt wurde. Jetzt betrachte ich Refat Čubarov zu Recht als Führer, denn er ist der Vorsitzende der Medschlis. Der Kurultai sagte, Sie seien sozusagen der geistige Führer der Krimtataren. Ist es schwierig, mit diesem Etikett herumzulaufen? Nun, man muss ein heiliges Leben führen, lacht Mustafa-Ağa, es ist schwer zu sündigen, alle Augen sind auf dich gerichtet. Und manchmal möchte man sündigen. Sie hatten in Ihrer Jugend einen Onkel, er hieß Onkel Mahomet, der Sie als freidenkerischen, kritischen Menschen geprägt hat … Worüber haben Sie mit ihm gesprochen? Der ältere Bruder meines Vaters war der gebildetste Mensch in unserer Familie. Als mein Großvater im Sterben lag, hatte er ihm eine gute Ausbildung verschafft und viel Geld dafür ausgegeben, und als er starb, sagte er: „Ich habe dir eine gute Ausbildung gegeben, also bekommst du nicht viel von deinem Erbe.“ Und mein Vater, der nicht studiert hatte, bekam materielle Werte. Die letzten Worte meines Großvaters: „Aber helft euch trotzdem gegenseitig. Manchmal helfen materielle Werte nicht, man braucht Bildung.“
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In den letzten Jahren habe ich in den KGB-Archiven gestöbert, und sein Name taucht dort auf. Aus den Dokumenten und Berichten des NKVD geht hervor, dass sie sich der Kollektivierung widersetzten und einige der Aktivisten geschlagen wurden. Er wurde dafür sogar inhaftiert. Nachdem Veli Ibraimov verhaftet worden war, wurde er jedoch freigelassen. Während des Zweiten Weltkriegs muss er etwas mit den muslimischen Komitees zu tun gehabt haben, denn nach dem Krieg wurde auch er verhaftet. Er verbrachte fünf Jahre im Gefängnis, dann wurde er freigelassen. Und er hat sich natürlich nicht öffentlich geäußert, weil er genau wusste, dass er ständig überwacht wurde, aber in privaten Gesprächen war er sehr offen. Ich erinnere mich an folgende Episode: Nach meiner zweiten Entlassung, nachdem ich meine Strafe verbüßt hatte, kam er zu uns und begann, mich zu belehren. „Genug, Mustafa, du hast bereits zwei Strafen abgesessen, es ist unanständig, es ein drittes Mal zu tun, lass es jetzt andere tun. Bleib bei deinen Eltern zu Hause. Und Mutter sagte mir: „Frag ihn mal, wie viele Male er selbst gesessen hat!“ – „Du, vergleich Dich nicht mit mir!“ Er war vier- oder fünfmal verhaftet. Haben Sie sich durch seine Geschichten als Kind selbst im Gefängnis vorgestellt? Hatten Sie Angst oder dachten Sie, dass Sie diese Tortur durchmachen müssten, wenn Sie sie durchmachen würden? Nein, mein Onkel hat mir nichts davon erzählt. 1961 gab es in Taškent einen Prozess wegen der Organisation und Beteiligung an der Union der krimtatarischen Jugend. Unsere Jungs waren angeklagt. Die Anklage lautete wie folgt: Formal handelte es sich um antisowjetische Propaganda und Agitation sowie um die Gründung einer antisowjetischen Organisation mit der Absicht, die Sowjetmacht zu untergraben. Obwohl nichts dergleichen vorlag, waren keine terroristischen Handlungen geplant, es ging nur um die Notwendigkeit, das Volk zu konsolidieren, um der Regierung unsere Forderungen nach Rückkehr in die Heimat zu übermitteln. Das Gericht wurde geschlossen und wir wurden als Zeugen vorgeladen, um auszusagen, und nach unserer Aussage wurden wir nach draußen gebracht. Der Gerichtssaal wurde erst bei der Verlesung des Urteils für die Öffentlichkeit geöffnet. Und da wurde mir klar, dass ich mir ein Versprechen gegeben hatte: „Ok, wir werden bis zum Ende gegen dich kämpfen.“ Mit „bis zum Ende“ meinte ich
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mein Ende, und natürlich kam es mir nie in den Sinn, dass das Ende der Sowjetherrschaft kommen würde. Und ich wusste, dass früher oder später auch ich an der Reihe sein würde. Und ich bereitete mich sehr ernsthaft vor, ich studierte die politischen Prozesse der damaligen Zeit und ich studierte die Prozess- und Strafgesetze in gutem Glauben. Ich wusste, dass ich verhaftet werden würde. Natürlich war mir klar, dass ich inhaftiert, weggeschickt, zu Lagerstaub verwandelt werden würde. Aber es war wichtig, durchzuhalten und während des Prozesses einen moralischen Vorteil ihnen gegenüber zu erlangen. Vakhtang Kipiani, Mustafa Džemiljev. 20. August 2015.
Levko Luk’janenko
„Die nationale Idee ist eine bewusste Bekräftigung des ukrainischen Wesens“ Levko Luk’janenko (24.08.1928, Dorf Chrypivka, Rajon Horodnja, Oblast’ Černihiv – 07.07.2018, Kyïv) war Schriftsteller, Dissident, politischer Gefangener der UdSSR, Mitbegründer der Ukrainischen Helsinki-Gruppe und Vorsitzender der Ukrainischen Republikanischen Partei. 1959 beschloss Luk’janenko zusammen mit mehreren Gleichgesinnten die Gründung einer oppositionellen Untergrundorganisation, des Ukrainischen Arbeiter- und Bauernverbandes (URSS). Der Plan war, friedlich für die Einhaltung der Menschenrechte und später für die Unabhängigkeit der Ukraine zu kämpfen. Das Komitee für Staatssicherheit erfuhr schnell von der Existenz der URSS und verhaftete ihre Mitglieder Anfang 1961. Levko Luk’janenko wurde wegen „Vaterlandsverrat“ (Artikel 56, Paragraf 1) und „Organisationstätigkeit zur Begehung besonders gefährlicher Staatsverbrechen“ (Artikel 64 des Strafgesetzbuchs der Ukrainischen SSR) zum Tode verurteilt. Der Oberste Gerichtshof wandelte die Todesstrafe später in eine 15-jährige Freiheitsstrafe um. Kürzlich wurde berichtet, Levko Luk’janenko habe die Republikanische Partei, die er vor fast zehn Jahren gegründet hatte, verlassen. Warum ist das so? Das war eine falsche Information. Die Person, die das geschrieben hat, hat wohl die Glocke läuten hören, aber nicht gewusst, woher sie kam. Ich habe die Republikanische Partei nicht verlassen, ich habe das nicht erklärt. Es war etwas anderes. Ich habe angekündigt, dass ich von der Leitung der Republikanischen Partei zurücktreten werde, und dafür gab es einen langjährigen Grund. Schon 1998, vor den Wahlen zur Verchovna Rada, habe ich Jarošyns’kyj, dem damaligen Vorsitzenden der Republikanischen Partei, und Šandruk, seinem Stellvertreter, mitgeteilt, dass ich meine organisatorische 75
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Arbeit reduzieren möchte. Ich bin ein älterer Mann, ich möchte Memoiren hinterlassen.1 Damals habe ich jedoch zugestimmt, einer der fünf zu sein, weil ich dachte, dass ich damit unserer Nationalen Front bei den Wahlen half. Sie baten mich – ich stimmte zu und trat den fünf bei, aber ich sagte: Wenn wir gewinnen, werde ich nicht in die Verchovna Rada gehen, dann wird jemand anderes auf der Liste nachrücken. Und wenn wir nicht gewinnen, werde ich nicht in die Verchovna Rada einziehen. Es kam so, dass wir verloren, und da wir verloren, fühlte ich mich unwohl, meine Mitarbeiter im Stich zu lassen. Ich habe also nicht gleich aufgegeben, sondern bin zu den Sitzungen der Führung und des Rates gegangen, d. h. ich habe meine organisatorische Arbeit fortgesetzt. Als die Präsidentschaftswahlen anstanden, sah ich mir die Kandidaten an und beschloss, dass ich einen von ihnen unterstützen musste, und so kehrte ich wieder zu dieser Arbeit zurück. Jetzt, wo die Wahlen vorbei sind, ist es für mich eigentlich an der Zeit, das zu tun, was ich schon lange vorhatte – mich aus der aktiven Organisationsarbeit zurückzuziehen. Das war der Hauptgrund, warum ich gesagt habe, dass ich mich von der Leitung der Republikanischen Partei zurückziehen werde. Andere Gründe waren persönlicher Natur: Ich war mit einigen Entscheidungen unzufrieden, aber das stand eher im Hintergrund. Und im Vordergrund steht dies. Würden Sie mit Blick auf die sowjetische Vergangenheit sagen, dass es für Sie persönlich ein Fehler war, Jevhen Marčuks Kampagne so aktiv zu unterstützen? Wissen Sie, ich glaube nicht, dass es ein Fehler war. Selbst heute, wenn ich mir diese Gruppe von Kandidaten anschaue, sehe ich keinen besseren Kandidaten als Marčuk, denn auf der Linken hatten wir Symonenko, Vitrenko, Moroz und Tkačenko. Ich könnte diese Leute nicht wählen und sie aus offensichtlichen Gründen nicht unterstützen.
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Levko Luk’janenko, Z časiv nevoli. Spohady ta rozdumy. Svitlycja, Kyïv 2009.
Die nationale Idee ist eine
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Und Moroz? Für Moroz empfinde ich das Gleiche. Ich habe im Allgemeinen die gleiche Einstellung zu ihm … Ich setze ein Gleichheitszeichen zwischen alle vier, jeder dieser vier hat seine eigenen Merkmale. Vielleicht steht mir Moroz näher als die anderen drei, aber ich halte ihn für einen der vier linken Kommunisten, die ich aus Prinzip nicht unterstützen kann, weil sie noch nicht gezeigt haben, dass sie den ukrainischen Staat stärken wollen. Obwohl man Moroz vielleicht am wenigsten vorwerfen kann, rot zu sein. Aber er geht jedes Jahr zum Lenin-Denkmal und betet zu diesem Idol, dem Henker der ukrainischen Nation. Das heißt, wenn er sich von der Linken wegbewegt, dann ist es noch nicht so weit, dass ich klar sagen kann, was ihn von diesen vier unterscheidet. Bislang waren diese vier für mich mehr oder weniger kommunistisch, so dass ich sie nicht unterstützen konnte. Schauen wir uns nun die Mitte an. In der Mitte befand sich Kučma, den ich definitiv nicht unterstützen konnte, weil er gezeigt hatte, dass er die Ukraine zerstörte, anstatt sie zu stärken. Für Kučma zu stimmen hätte im Widerspruch zu den Realitäten gestanden, die ich auf Schritt und Tritt sehe. Jetzt gehen wir ein wenig nach rechts. Wer ist rechts? Da ist Marčuk, dann Udovenko, Kostenko und fünf andere, die durch die Entscheidung der Zentralen Wahlkommission zu Präsidentschaftskandidaten wurden. Diese Leute mögen sehr würdig sein, sie mögen als Individuen großen Respekt verdienen, aber sie sind keine Politiker auf ukrainischem Niveau geworden. Sie sind vor kurzem in die Verchovna Rada gewählt worden, sie mögen fähige Leute sein, sie haben eine große Zukunft vor sich, aber sie sind noch keine Führungspersönlichkeiten im nationalen Maßstab geworden, und deshalb gibt es nichts über sie zu sagen. Bleiben also drei: Marčuk, Udovenko und Kostenko. Zu Udovenko und Kostenko. Bei den Wahlen 1998 erhielt die Ruch 9,3% der Stimmen, und jetzt sind sie gespalten. Wenn man 9,3 Prozent halbiert, ergibt das etwa 4,5 Prozent. Dabei ist zu bedenken, dass viele Wähler die Spaltung insgesamt ablehnten. Sowohl Kostenko als auch Udovenko konnten also nicht einmal mit 4,5 Prozent rechnen, weil Kostenko drei Prozent der Stimmen bekommen würde.
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Das ist meine Berechnung vor der Wahl. Wenn Kostenko keine drei Prozent holt, wie können wir ihn dann unterstützen? Natürlich steht er mir näher, ich kenne ihn, aber er ist keine realistische Figur. Was Udovenko betrifft, so ist auch er keine realistische Figur, obwohl er der Ruch angehört, aber er wird nicht einmal die drei Prozent bekommen, die Kostenko erreichen konnte. Warum sollte ich also unrealistische Figuren unterstützen? Der Einzige, der übrig bleibt, ist Marčuk. Es tut mir leid, Sie zu unterbrechen, aber Marčuk hätte es nach Meinung vieler Ihrer Mitgefangenen und der öffentlichen Meinung moralisch nicht auf dieses Amt absehen sollen. Er ist ein Sicherheitsoffizier, also hätte er bei den Sicherheitsorganen arbeiten sollen, anstatt für ein öffentliches Amt zu kandidieren, denn das macht in gewisser Weise den Weg zunichte, den Sie zuvor gegangen sind. Er hatte kein Recht oder ich hatte kein Recht? Nein, er hatte kein Recht dazu. Schauen Sie sich an, was in der Welt passiert. Aserbaidschan wird von einem ehemaligen KGB-Offizier, Alijev, regiert, und Georgien wird von einem ehemaligen KGB-Offizier, Außenminister Schewarnadse, regiert. Russland wird von KGB-Offizieren regiert, mit Ausnahme von El’cin. Man kann nicht sagen, dass sich ihr Leben dadurch zum Besseren gewendet hat. Aber George W. Bush, der Präsident der Vereinigten Staaten, war Chef des CIA, bevor er Präsident wurde. Sie sehen, die Praxis der posttotalitären Sowjetrepubliken, der Staaten und der Welt zeigt, dass ehemalige Leiter von Geheimdiensten Präsidenten werden. Wie wir sehen, lehnt das moralische oder rechtliche Bewusstsein der Welt diese Möglichkeit nicht ab, so dass ihn das nicht abgeschreckt hat. Die Frage ist nun meinerseits: Warum habe ich Marčuk unterstützt? Ich habe ihn durch die Ausschlussmethode unterstützt. Ich konnte die Linke nicht unterstützen, ich konnte
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Levko Luk’janenko auf Händen getragen nach der Ausrufung der Unabhängigkeit der Ukraine. Foto: UNIAN
Kučma nicht unterstützen: Er hat die Ukraine sechs Jahre lang ruiniert, er hat unser Leben immer schlechter gemacht. Kučma ist ein doppelzüngiger Mensch. Manchmal gibt er Lippenbekenntnisse zu sehr guten Dingen ab. Ich beurteile einen Menschen nicht nach dem, was er sagt, sondern nach dem, was er tut, und Kučma hat die Ukraine sechs Jahre lang ruiniert und sie von Moskau abhängig gemacht. Er hat nicht versucht, einen Ölterminal in Odesa zu bauen, um die Abhängigkeit der Ukraine von der russischen Pipeline zu verringern. Das sind Taten, nicht Worte. Ich könnte keinen Präsidenten unterstützen, der die Ukraine sechs Jahre lang zerstört hat. Und die Kandidaten auf der rechten Seite sind nicht realistisch, sie sind gut, aber nicht realistisch. Was blieb also übrig? Ich hätte zu Hause bleiben und mich überhaupt nicht an dieser Propaganda beteiligen können, aber ich hätte die ukrainische Sache auch auf sich beruhen lassen können. Außerdem kenne ich Marčuk seit 1990. Im Jahr 1990, als ich in die Verchovna Rada kam und ihn tatsächlich traf, haben wir am 16. Juli die Erklärung zur staatlichen Souveränität verabschiedet. Damals organisierten wir eine Kundgebung auf dem Maidan Nezaležnosti, und ich sprach zu den Menschen (es waren wahrscheinlich dreihunderttausend
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Menschen dort, es war sehr voll) mit dem Text dieser Erklärung und sagte: „Liebe Leute, dieses Dokument kann zu einem Stück Papier werden, oder es kann zu einem Programm für den Aufbau einer unabhängigen Ukraine werden. Es hängt alles davon ab, wie wir mit diesem Dokument umgehen. Wir werden alles tun, was wir können, um zu verhindern, dass die Partei es in ein leeres Stück Papier verwandelt, wie sie es in der Vergangenheit getan hat.“ Aber Menschen sind Menschen: Sie haben zugehört und sind auseinandergegangen. Es war interessant zu wissen, wie der KGB darüber dachte, denn als republikanische, nationalistische Partei stehen wir in direktem Kontakt mit ihnen. Sie verfolgen uns irgendwo, blockieren uns irgendwo, und wir bekämpfen sie im Untergrund. Ich ging also zu Marčuk und sprach mit ihm über diese Erklärung, wahrscheinlich anderthalb Stunden lang. Ich habe ihm verschiedene Fragen gestellt, aber ich habe keinen einzigen Satz von ihm gehört, der gegen die Unabhängigkeit der Ukraine gerichtet gewesen wäre. So etwas gab es nicht. Seit jener Zeit habe ich begonnen mich mit ihm zu unterhalten. 1991 arbeiteten wir bereits an dem Gesetz über den Sicherheitsdienst, und später nahmen der Parteivorsitzende und ich an verschiedenen Sitzungen in der Verchovna Rada und mit dem Präsidenten teil, so dass wir uns treffen mussten. Jedes Mal, wenn ich etwas über Marčuk hörte, versuchte ich zuzuhören und verfolgte seine Entwicklung genau wie die von anderen Politikern. In dieser Zeit habe ich nie erlebt, dass er sich gegen eine unabhängige Ukraine ausgesprochen hätte. Wenn es nur ein einziges Mal war, könnte ich sagen, dass er mir einen Streich gespielt hat, aber wenn es von 1990 bis 1999 war, kann eine Person nicht so lange einen übertölpeln. Außerdem habe ich während des Wahlkampfes viele Artikel und Beiträge gelesen, die Marčuk geschrieben hat, und er hat immer zu seiner Position der Eigenstaatlichkeit gestanden. Selbst, wenn er sich noch nicht entschieden hätte, könnte man das sagen. Als es ein Treffen beim Schriftstellerverband der Ukraine gab und Marčuk selbst dort sprach, fragte ihn niemand, ob er für die Rehabilitierung von OUN und UPA sei, oder besser gesagt, für die Anerkennung der UPA als Kriegspartei. Dann rief er selbst dazu
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auf, die Ukraine auf der Grundlage aufzubauen, dass wir uns gegenseitig die politischen Differenzen verzeihen und die Soldaten, die in der sowjetischen Armee gedient haben, mit den Soldaten der ukrainischen aufständischen Armee sowie die Offiziere der sowjetischen Armee mit den Offizieren der UPA gleichsetzen. Dies ist also ein positiver Gedanke. Es war das unglückliche Schicksal der Ukraine, dass ein Teil von ihr unter den Polen, der andere unter den Magyaren, der dritte unter den Rumänen und der vierte unter den Moskali2 war. Können wir also jemanden beschuldigen, der in der polnischen, magyarischen, rumänischen, russischen oder deutschen Armee gedient hat? Was werden wir also tun? Wir werden die Köpfe derjenigen schlagen, die in der falschen Armee gedient haben. Es ist an der Zeit, dass wir uns gegenseitig vergeben, was vor langer Zeit geschehen ist, und erkennen, dass wir Kinder desselben Volkes sind und eine unabhängige Ukraine aufbauen müssen. Dieser Gedanke gefiel mir. Und nach dieser Rede vor dem Schriftstellerverband sah ich darin einen Schritt in Richtung der rechten Kräfte. Ich hatte vielleicht Zweifel, ob das ein Spiel war, aber dann, während der Wahl selbst, las ich alle seine Artikel, las sein Buch über die fünf Jahre der ukrainischen Tragödie.3 Und ich war überzeugt, dass er fest zur Eigenstaatlichkeit steht. Und wenn er fest zur Eigenstaatlichkeit steht, dann besitzt er große Vorzüge gegenüber anderen Präsidentschaftskandidaten. Um festzustellen, ob Marčuk geeignet ist, sollten wir uns die Probleme ansehen, die in der Ukraine gelöst werden müssen, denn wie jede Person oder jedes Team haben wir zunächst eine Aufgabe und müssen dann einen Ausführenden für die Aufgabe gewinnen. Was ist die wichtigste Aufgabe für die Ukraine? Die mafiösen Verbrecherclans zu besiegen. Wenn sie nicht besiegt werden, 2
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„Moskal“ ist eine von Polen ab der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts verwendete Bezeichnung für die Untertanen des von Moskau regierten Reiches. Die „Russen“ hatten damals gerade Polen besetzt und die Erinnerung an die verschiedenen „Rus’“-Gebilde von Galizien, Kyïv, Novgorod, Vladimir und Moskau waren noch wach. In Polen und in der Ukraine ist „Moskal“ eine pejorative Bezeichnung für Russen. Vgl. Andrzej Kępiński, Lach i Moskal. Z dziejów stereotypu. Wyd. 1. Państwowe Wydawnictwo Naukowe. Warszawa, Kraków 1992. Jevhen Marčuk, Vystupy. Interv’ju. Znannja, Kyïv 1998.
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wird es weder Gerechtigkeit noch eine faire Privatisierung geben, wir werden nicht den Eigentümer haben, auf den wir schon lange gewartet haben, sondern eine oligarchische Diktatur, so wie in den lateinamerikanischen Ländern. Genau das wird passieren. Wer kann also die Mafia-Clans am besten besiegen? Moroz, Tkačenko, Vitrenko oder Symonenko? Nein, sie haben weder eine juristische Ausbildung noch praktische Erfahrung. Marčuk, der einen Doktortitel in Jura hat, arbeitete früher beim KGB in der Abteilung zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität, wie sie damals hieß, heute heißt sie Abteilung zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Er war in der Abteilung für die Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität tätig. Er hatte also eine gewisse praktische Erfahrung, die man heute braucht, und eine theoretische Ausbildung. Ich dachte, dass der Herrgott uns einen Menschen geschenkt hat, der, als er Präsident wurde, mit diesen bewaffneten Verbrechern fertig werden konnte, die die verfassungsmäßige Regierung der Ukraine in eine Clan-Regierung verwandelt hatten. Hätten Udovenko oder Kostenko das tun können? Nein, obwohl Kostenko das im Prinzip könnte. Kostenko ist kein realistischer Kandidat, und deshalb haben mich solche Überlegungen dazu gebracht, Marčuk zu unterstützen. Ich habe ihn unterstützt, und ich denke, es war die richtige Entscheidung. Erinnern Sie sich: Anfang der neunziger Jahre setzte sich die URP (Ukrainische Republikanische Partei) für einen Prozess gegen das Unternehmen ein, das für die Probleme der Ukraine verantwortlich ist. Mehrere Jahre lang war Marčuk für Abteilungen zuständig, die sich mit ukrainischen Patrioten befassten, man kann sich der Wahrheit nicht entziehen. Gibt es irgendeine Abfolge: Erst reden wir über die Entkommunisierung, es war sogar einmal von Lustration die Rede, die aber nie umgesetzt wurde, und jetzt unterstützen wir, die Patrioten, Marčuk? Ich war damals und bin heute dafür, dass der KPdSU der Prozess gemacht wird, dass der Sicherheitsdienst untersucht wird und dass strafrechtliche Entscheidungen gegen diese Organisation getroffen werden, die brutalste, unmenschlichste Organisation, die eine Menge Verbrechen begangen hat und gegen die es einen öffentlichen Prozess geben sollte. Aber es gibt ein Organ und es gibt eine
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Person. Sollte sich im Laufe der Ermittlungen herausstellen, dass Marčuk sich persönlich etwas zuschulden kommen ließ, müsste er sich verantworten. Er hat zwei Überprüfungen bestanden. Mit der ersten Überprüfung hatte ich nichts zu tun, und mit der zweiten bedingt. Als wir 1991, nachdem die Ukraine proklamiert ar, das Gesetz über den Sicherheitsdienst verabschiedeten, wurde eine Kommission zur Überprüfung des KGB eingesetzt. Dieser Kommission gehörten Mychajlo Horyn’ von der Republikanischen Partei, Chmara von der Republikanischen Partei, Movčan, ich glaube Altunjan an, ich weiß es nicht mehr, aber die Kommission hatte verschiedene Vertreter: von den Kommunisten und von uns. Davor gab es mehrere Kandidaten für den Posten des Leiters des Sicherheitsdienstes der Ukraine, und bevor wir in der Fraktion entschieden, ob wir Marčuk unterstützen würden oder nicht, hörten wir uns den Bericht dieser Kommission an. Die Kommission berichtete, dass sie keine persönlichen Verfehlungen bei Marčuk gefunden habe. Der Beschluss des Volksrates lautete: Wer wählen will, soll wählen. Es gibt keine Beweise dafür, dass der Volksrat dafür gestimmt hat: einige stimmten dafür, andere nicht. Und Marčuk wurde Chef des Sicherheitsdienstes. Dies ist die erste Überprüfung, die von Mitgliedern der Republikanischen Partei durchgeführt wurde. Ich war in der Gruppe, die das Gesetz über den Sicherheitsdienst entworfen hat, und einige Republikaner gehörten dem Ausschuss an, der den Sicherheitsdienst selbst überprüfte. Es gab keinen Grund, gegen seine Ernennung zum Leiter des Sicherheitsdienstes zu stimmen. Und so wurde er es. Das zweite Mal war es schon eine kleinere Überprüfung, als er zum Premierminister ernannt wurde. Bei dem Gespräch mit Marčuk waren wir vier von der Staatspartei anwesend. Ich stellte ihm die folgende Frage: „Wissen Sie, ich bin älter als Sie, also werde ich ganz offen sprechen. Als ich im Gefängnis nichts zu tun hatte, habe ich Psychologie des Managements studiert, und wenn ein Organ funktioniert und Menschen in diesem Organ ausgetauscht werden, durch neue Menschen ersetzt werden, dann passen sich von diesen dreißig Prozent der neuen Menschen einige an und andere werden ausgestoßen. Und das Organ arbeitet weiter auf die alte Weise. Damit ein Organ die Art seiner Aktivitäten ändern
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kann, müssen mehr als dreißig Prozent des Personals gleichzeitig ausgetauscht werden. Ist Ihnen das klar?“ sagt Marčuk: „Ich weiß.“ „Werden Sie dreißig Prozent des Ministerkabinetts und des Ministeriums auf einmal ändern?“ „Das werde ich.“ Wir waren zu viert, wir stellten ihm verschiedene Fragen, und ich trat mit solchen Fragen an ihn heran. Für mich war es wichtig, das Personal auszutauschen, das alte kommunistische Personal. Marčuk sagte, er würde es tun. Und dann haben wir beschlossen, ihn politisch als Premierminister zu unterstützen. Das war unsere Entscheidung. Hat er sein Wort gehalten? Nun, es vergingen etwa zwei oder drei Monate, und er tauschte sie nicht aus. Wir begannen zu untersuchen, warum. Und wir sahen, dass sie ihn tatsächlich an Leute anseilten, die nicht von ihm abhängig waren. Er wird von der Verchovna Rada ernannt, aber die stellvertretenden Ministerpräsidenten werden vom Präsidenten ernannt, die Minister werden vom Präsidenten ernannt, die Abteilungsleiter und die Leiter der Abteilungen werden vom Präsidenten ernannt. So sieht es also aus. Und jetzt sind alle anderen nicht mehr von ihm abhängig, sondern vom Präsidenten. Das hat uns natürlich sehr die Hände gebunden. Und wir haben in der Fraktion darüber diskutiert, was man tun könnte. Man konnte nichts tun. Entweder müssen wir die Verfassungsordnung ändern, um den Premierminister unabhängiger zu machen, oder wir müssen das über den Präsidenten erreichen. Auf jeden Fall, was von ihm verlangen, wenn er gebunden ist. Diese Realität hatten wir schon vor der Ablösung akzeptiert. Marčuk hat jedoch etwas getan. Er hat unsere jungen Leute für Praktika ins Ausland geschickt, um das Personal hier zu ersetzen. Dieses System hat sich etabliert, und Sie wissen, dass es ein dem Ministerkabinett unterstehendes Institut gibt, das Personal ausbildet. Dieses Institut wurde auf Initiative der ukrainischen Botschaft in Kanada gegründet, auf meine Initiative hin. Es funktioniert also und schickt jetzt Leute für Praktika ins Ausland, entsprechend dem Plan von Marčuk. Das war ein kleines Stück Arbeit.
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Eine letzte Frage zu Marčuk. Haben Sie sich seit der Wahl mit ihm getroffen? Pflegen Sie Kontakt? Hat er sich bei Ihnen bedankt? Nach der Wahl hatten wir ein Treffen. Anfangs waren nicht viele Leute da, dann weniger, dann wieder viele. Er bedankte sich bei allen, und dann sprachen wir in einem etwas engeren Kreis darüber, was zu tun sei und wie man es tun solle. Ich habe ihm dasselbe gesagt, weil es einige Arbeitsbereiche und einige Verantwortlichkeiten geben könnte. Ich habe ihm gesagt, dass ich mit der aktiven Organisationsarbeit fertig bin: er ist jünger, soll er das machen, ich bin ein älterer Mann. Ich werde nun etwas schreiben, ich möchte mich ein bisschen befreien von diesem ganzen Herumlaufen, von dieser ganzen Organisationsarbeit. Also verabschiedeten wir uns und gingen getrennte Wege. Ich habe ihn danach nicht mehr getroffen, vielleicht wäre es gut gewesen, wenn wir uns getroffen hätten. Ich weiß es nicht. Es gibt keine große Notwendigkeit, auf diesen Treffen zu bestehen. Wenn wir uns treffen würden, würde ich mich natürlich freuen, mit ihm zu reden, aber ich habe kein großes Bedürfnis. Ich glaube nicht, dass er sich mir gegenüber verpflichtet fühlt, ich habe nicht das Gefühl, dass er mir etwas schuldet. Ich habe ihn nicht unterstützt, weil er mein Schwager oder Bruder war. Ich war anders zu ihm, und ich bleibe anders zu ihm. Das ist kein Mann, über den ich sagen kann: Oh, er ist seit zehn Jahren in der Republikanischen Partei, also bin ich mit ihm zu Kundgebungen gegangen, ich habe eine große Vergangenheit mit ihm. Nein, wir sind unterschiedliche Menschen, aber ich denke, dass er von allen Kandidaten zu dieser Zeit nicht der beste war. Ich habe ihn unterstützt, ich habe ihn für mich selbst unterstützt. Ich hielt ihn für die würdigste Person für die Ukraine. Er hat es nicht geschafft, nun ja, er hat es nicht geschafft [ … ] Tut es Ihnen nicht leid, dass Sie und Mychajlo Horyn’ auf entgegengesetzten Seiten der Wahlbarrikaden gelandet sind? In gewissem Maße – ich weiß, es ist schwierig, vielleicht irre ich mich – haben die politischen Umstände der späten 1990er Jahre eine Art mentalen Dienst erwiesen, den die Akademiker in den 1960er Jahren nicht leisten konnten. Wissen Sie, ich bin sehr verbittert, dass wir uns auf diese Weise getrennt haben. Das bereitet mir immer sehr unangenehme
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Gefühle. Aber es waren nicht die Präsidentschaftswahlen oder die Wahlen zur Verchovna Rada, die daran schuld waren, es geschah früher wegen einer einfachen Sache. Es geschah Ende 1994. Der fünfte Kongress der Republikanischen Partei analysierte Kučmas Aktivitäten als Premierminister und schon ein wenig als Präsident und kam zu dem Schluss, dass es notwendig sei, eine Opposition gegen einen solchen Präsidenten zu bilden. In der Opposition zu sein, war etwas Neues, keine Partei hatte jemals erklärt, dass sie in die Opposition gegangen war. Das Wort „Opposition“ wurde von vielen, auch unter den Republikanern, so verstanden, als sei es gegen den Staat gerichtet ... Aber wir sind gegangen, weil die Führung nicht verstanden hat, was Opposition ist. Wir gingen in die Opposition, nicht gegen den Staat, sondern gegen die Regierung, die von Kučma geführte Regierung. Denn diese Regierung machte die Dinge falsch, nicht so, wie sie sein sollten. Es war das Ende des Jahres 1994. Mychajlo Horyn’ hat nichts getan, um diese Opposition zu umzusetzen. Warum nicht? Weil sein Bruder Mykola der Leiter der L’viver Gebietsverwaltung war. Klar, wie hätte er Kučma verärgern können? Kučma hätte ihn anrufen können: „Hör zu, ich habe deinen Bruder in einer so wichtigen Position, und du verarschst mich hier.“ Und so hat Mychajlo keine Opposition zu erkennen gegeben. Das führte zu Unzufriedenheit. Ich reiste durch die Oblast’e, sprach mit vielen ihrer Führer und wollte nach meiner Rückkehr aus Kanada die Aktivitäten der Republikanischen Partei intensivieren, um sie revolutionärer und offensiver zu machen. Ich konnte das nicht tun, denn Mychajlo war Vorsitzender, er war offiziell für die politische Linie verantwortlich, und ich konnte sie nicht umkehren. Und dann endete es damit, dass die Parteiversammlung Mychajlo Horyn’ ablöste. Und das hat uns auseinandergebracht. Zuvor hatte Mychajlo mir in Kanada geschrieben, dass er es leid sei, die Strippen zu ziehen, dass es jemand Jüngeren brauche, und ich glaubte ihm. Und dann, als er auf der fünften Parteiversammlung gewählt wurde, war ich so wie ich es jetzt mit euch beiden bin, auch mit ihm. Mychajlo sagte: „Das wars, das ist das letzte Mal, ich mache nicht mehr mit, es ist genug, wir müssen die Führung an jemand Jüngeren übergeben.“ Ich
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glaube ihm, ich glaube ihm aufrichtig, ich habe ihm mein ganzes Leben lang geglaubt. Ich hielt ihn für einen sehr anständigen Menschen, und dann ist etwas passiert. Es hat mich überrascht, bitterlich überrascht, und ich fühle mich immer noch unwohl dabei. Sie haben jetzt keinen Kontakt zu ihm. Wie soll ich sagen … Wenn er mir die Hand reichte, würde ich ihm die Hand schütteln. Manchmal begrüße ich ihn bei irgendwelchen allgemeinen Begegnungen. Während dieser Zeit habe ich vielleicht einen scharfen Artikel über ihn geschrieben. Er hat viele Dinge gegen mich gesagt. Ich bin bereit, ihm alles zu vergeben und zu einer Art engeren Beziehung zurückzukehren. Obwohl es natürlich unmöglich ist, die Wärme wiederherzustellen, die wir vorher lange Zeit hatten, denn das hat alles kaputt gemacht. Aber ich respektiere ihn, er ist ein Mann, der für die Unabhängigkeit war und sich in der Politik gut auskennt. Es tut mir leid, dass das so passiert ist. Wer ist jetzt in Ihrer Nähe? Wer sind Ihre Freunde? Sie leben außerhalb von Kyïv, vielleicht sind auch Dorfbewohner unter ihnen? Ich habe viele Bekannte im Dorf. Einer von ihnen ist von der Republikanischen Partei, er war früher aktiver. Also, mit ihnen dort habe ich mich unterhalten. Es sind ganz normale Leute. Und der Kreis der Leute, mit denen ich ernsthaftere Beziehungen habe, gehört zu den politischen Kreisen. Was machen Sie jetzt? Sie sagten, Sie hätten die Politik verlassen, um Ihre Memoiren zu schreiben. Schaffen Sie es, zu schreiben? Nein, ich schaffe es kaum. Ich bin Vorsitzender der Vereinigung der Holodomor-Forscher in der Ukraine. Dieser Verband macht eine sehr gute Arbeit, wir haben einen Wettbewerb ausgeschrieben. Für den Wettbewerb wurden viele Arbeiten eingereicht, und ich musste sie lesen. Das ist meine Aufgabe, und es gibt immer ein paar heiße Themen. Schließlich bekomme ich Anrufe von Republikanern aus allen Oblast’en. Und ich kann nicht einfach hinschmeißen und
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auflegen, denn das sind Leute, mit denen ich schon seit Jahren zusammenarbeite. Ich habe mich also noch nicht hingesetzt, um meine Memoiren zu schreiben, aber ich denke, ich werde nach und nach mehr schreiben. Ich habe gehört, dass Sie fast alle Unterlagen des Sicherheitsdienstes, die Sie persönlich betreffen, gesammelt haben. Haben Sie sie alle gesammelt oder nicht? Ich habe die Unterlagen, die mir bei meiner zweiten Verhaftung in Černihiv abgenommen wurden, aus Kyïv mitgenommen. Der stellvertretende Leiter des Sicherheitsdienstes, General Prystajko, hat sie mir zurückgegeben. Ich habe angefragt, und sie haben sie mir zurückgegeben. Und noch etwas: Bevor ich nach Kanada abreiste, übergab mir einer der Beamten des Gefängnisses in Černihiv den Überstellungsschein an das Gericht im ersten Fall, den Überstellungsschein an den Vollzug, sowohl den erste Überstellungsschein an den Vollzug als auch dasjenige, das mir ausgehändigt wurde. Es gibt sowohl den Überstellungsschein an den Vollzug als auch einen Überstellungsschein an das Gericht. Der Überstellungsschein an den Vollzug ist das, was das Innenministerium ausstellt. Das sind offizielle Dokumente. Am Anfang steht die Anklage, dann kommt das Urteil und alles andere, und der Rest ist Geschichte. Das sind offizielle Dokumente. Ich habe sie nicht erhalten, ich hätte gerne den Überstellungsschein des Geheimdienstes erhalten, denn es gibt noch einen. Aber ich habe diese beiden erhalten. Sie haben mir die Möglichkeit gegeben, das Buch „Ich werde die Ukraine nicht sterben lassen“ zu schreiben, und ich habe darin viel Material verwendet.4 Haben Sie sich gewandt an ...? Ich habe mich an die Stadt Perm’ gewandt. Sie schrieben mir, dass alles vernichtet wurde. Das ist schade, denn es gab einige Dinge, die ich dort geschrieben habe, und sie haben sie mir weggenommen. Ich habe auch in Saransk geschrieben, und dort haben sie mir 4
Levko Luk’janenko, Ne dam zahynut Uktaïni Sofija, Kyïv 1994.
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vieles weggenommen, was schade ist, denn erstens habe ich nicht unter normalen Bedingungen geschrieben, und zweitens habe ich das dort versteckt, und etwas ist verschwunden, weggenommen, beseitigt. Die Dokumente selbst sind inhaltlich interessant, und die Geschichte aller Dokumente ist interessant, und die Namen von Personen – Aufsehern, Offizieren – werden dort immer wieder genannt. Das ist eine objektive Information. Ich habe nach Saransk geschrieben, und sie haben auch von dort aus zurückgeschrieben, wir haben nichts, das heißt, du bekommst nichts mehr. Sagen Sie mir, wie viele Hektar haben Sie? Haben Sie dort Arbeit? Ich habe gehört, dass Sie Gemüse anbauen? Fünfzehn Hektar. Auf diesen fünfzehn Hektar gibt es ein Haus, eine Garage und eine Sommerküche. Dieses Haus war ein gewöhnliches Haus, wie alle nebendran, es gab dort einen staatlichen Bauernhof, und der staatliche Bauernhof hat es gebaut. Sie standen in einer Reihe, und sie waren alle gleich. Aber als ich es 1980 kaufte, kaufte ich es heimlich, denn laut Gesetz war es mir nicht erlaubt, in der Hauptstadt und näher als hundert Kilometer zur Hauptstadt zu wohnen, aber ich kaufte das Haus über eine Person. Es war mir nicht erlaubt, eine Wohnung in Kyïv zu kaufen, sonst hätte ich in einer Wohnung in Kyïv gewohnt. Ich habe das Haus gekauft, weil ich dazu gezwungen war. Das Haus war furchtbar kalt, obwohl der Heizkörper manchmal so heiß war, dass man ihn nicht mit den Händen anfassen konnte. Das Haus war kalt, dreizehn Grad. Als ich nach Kanada ging, beschlossen meine Frau, die ein sparsamer Mensch ist, und ich, dort Geld zu sparen. Wir sparten Geld, etwas mehr als siebentausend Dollar, und als wir ankamen, bauten wir ein zweites Stockwerk. Jetzt ist es warm, denke ich, und wir haben ein anständiges Haus. Was den Garten angeht … wir haben Äpfel und verschiedene Bäume. In meiner Freizeit grabe ich gerne im Garten herum. Natürlich ist das jetzt ein bisschen schwierig für uns, weil wir beide nicht mehr jung sind, also überlassen wir immer mehr davon dem grünen Gras. Es gibt noch einen kleinen Gemüsegarten, mit Kartoffeln, Erdbeeren und Zwiebeln.
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Lesen Sie irgendwelche Zeitschriften oder Bücher? Was wissen Sie über die neuesten interessanten Dinge? Zeitschriften lese ich sehr wenig, ich versuche, die Zeitungen, die ich abonniert habe, durchzusehen. Ich habe einfach keine Zeit, sie zu lesen, ich würde sie manchmal gerne lesen, aber ich habe keine Zeit. Ich habe über ein neues Thema nachgedacht, vielleicht würde ich dafür etwas Zeit brauchen. Ich habe angefangen, meine Erinnerungen aus den Konzentrationslagern aufzuschreiben, aber dann habe ich sie beiseitegelegt, ich denke, ich werde etwas später darauf zurückkommen. Ich möchte darüber nachdenken, was die ukrainische nationale Idee ist. Ich habe zu Hause eine Bibliothek, und ich habe alle meine Bücher gelesen. Das ist sehr interessantes Material, es ist schon sehr umfangreich, weil viele Leute in der Ukraine über dieses Thema geschrieben haben, und ich bin sehr an diesem Thema interessiert, und ich habe alles gelesen. Jetzt möchte ich alles überdenken und versuchen, es irgendwie zusammenzufassen. Das ist es, was mir näher liegt.5 Ich verstehe, dass die nationale Bewegung sehr komplex ist, aber gibt es eine Quintessenz, die ein normaler Mensch, ein Durchschnittsleser, verstehen kann, worum es bei der nationalen Idee geht? Die meisten Autoren geben keine Definition, sie beschreiben sie alle; offensichtlich, weil die ukrainischen Philosophen nicht genug empirisches Material gesammelt haben, und die ukrainische Wissenschaft ist in der Phase, in der sie verschiedene Meinungen zu diesem Thema sammelt … und das Konzept selbst ist noch nicht entwickelt worden. Wenn ich später darauf zurückkomme, wenn meine Definition der Kritik standhält, insbesondere meiner eigenen, werde ich sie stehen lassen, und wenn nicht, werde ich alles noch einmal überdenken. Selbst die Ansätze sind unterschiedlich: Es gibt eine nationale Idee, eine staatliche Idee und eine ukrainische nationale Idee. Sie sagen, dass wir uns auf die Begriffe einigen können. 5
Vgl. nun Levko Luk’janenko, De ty, dole Ukraïny? Vyd. PP Teleradiokompania „IK“, Kyïv 2011. https://chtyvo.org.ua/authors/Lukianenko_Levko/De_ty_ dole_Ukrainy7/
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Vielleicht wird sich die ukrainische philosophische Literatur einfach darauf einigen, dass die ukrainische nationale Idee der beste Begriff ist, der das umfasst, was alle meinen, ob sie nun einfach „nationale Idee“ oder „Staatsidee“ oder was auch immer sie sonst verwenden, schreiben. Also, alle Autoren, die beschreiben, was die nationale Idee ist, sagen zunächst, dass die nationale Idee eigentlich eine Aktivität ist, die auf die Gründung einer Nation abzielt, und daher ist die Gründung der nationalen Idee der Chmel’nyc’kyj-, später der Koliïvščyna-Aufstand, dann der Kampf für die ukrainische Volksrepublik während des Ersten Weltkriegs, des Zweiten Weltkriegs und so weiter. Ich möchte einen Unterschied machen zwischen der nationalen Idee als bewusste Behauptung des Ukrainischseins, denn wir sprechen in einem philosophischen oder politikwissenschaftlichen Sinne, und der unbewussten Behauptung des Ukrainischseins. Selbst wenn eine ukrainische Frau in den Kaukasus kommt und sich dort ein Haus bauen lässt, tüncht sie es. Oder als einfache Bäuerinnen im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert nach Kanada auswanderten, bekamen sie für ein sehr geringes Geld Land und bauten Häuser. Sie tünchten die Häuser. Im Haus gibt es Ikonen oder so etwas, und die Frau hat sie mit bestickten Handtüchern geschmückt. Es gibt einen Tisch oder eine Art Nachttisch, auch dort hat sie ein besticktes Handtuch hingelegt. Die Frauen brachten den ukrainischen Geist dorthin. Sie hatten kein theoretisches Konzept, denn sie waren sehr einfache Frauen. Ist das nun eine Bestätigung des Ukrainischen oder nicht? Es ist eine Bejahung des Ukrainischseins. Aber können wir sie als Trägerinnen der ukrainischen nationalen Idee bezeichnen? Das ist ein kompliziertes Problem. Wenn wir über eine Idee sprechen, sprechen wir in gewisser Weise nicht über das Primäre, sondern über das Sekundäre, über die Reflexion. Denn wir haben die Materie und wir haben ihr Spiegelbild. Oder vielleicht war das Wort zuerst da und dann die Materie? Aber lassen wir dieses philosophische Problem, was zuerst da war: die Materie oder der Geist, beiseite. Auf jeden Fall gibt es einen Gegenstand, und es gibt ein Verständnis von ihm. Es gibt den ukrainischen Nationalgeist, der sich im Haus, in der Tünche,
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in den Stickereien der Frauen, in den Hemden der Männer usw. ausdrückt. Im Schnurrbart. Wie ist er zu verstehen, wie ist er zu interpretieren? Die Gelehrten interpretieren dies als sekundär. Das Wichtigste ist, dass es ein Factum gibt: Es gibt einen Schnurrbart, es gibt ein besticktes Hemd. Das ist das primäre Factum. Ich neige immer noch dazu, die ukrainische nationale Idee enger zu interpretieren, als eine bewusste Behauptung des Ukrainischseins. In diesem Fall fällt die unbewusste Behauptung aus dieser Behauptung heraus, aber auch das ist ein komplexes Problem, an dem gearbeitet werden muss, und hier ist eine Unterscheidung zu treffen. Schließlich wollte dieselbe ukrainische Frau neben der französischen Frau in dem kanadischen Dorf auch ihre Identität zeigen. Wusste sie, dass sie Ukrainerin war? Sie wusste es, weil sie ukrainische Stickereien trug. Sie hatte also einfach einen anderen Ansatz, um das zu behaupten. Sie dachte nicht an Staatlichkeit, vielleicht dachte sie nicht an Unabhängigkeit, vielleicht dachte sie nicht, dass diese Idee zum Aufstieg eines nationalen Bewusstseins führen würde, sie dachte nicht daran, eine größere Armee zu schaffen, eine Art unabhängige Armee. Aber auf ihrer Ebene ist sie sich vielleicht auch bewusst, dass sie dies tut, weil sie Ukrainerin ist. Bejaht sie nun ihr Ukrainischsein oder nicht? Ja, das tut sie. Das sind komplizierte Dinge. Ich denke gerade darüber nach, und ich würde gerne einige Zeit damit zubringen. Wenn ich die Zeit und ein Dutzend solcher Zeitschriften hätte, könnte ich wahrscheinlich eine Menge interessanter Dinge zu diesem Thema finden. Aber ich habe nicht genug Zeit, weil ich noch andere Dinge zu tun habe, wie diese Parteisachen und Reisen. Aber das ist auf jeden Fall für mich das Wichtigste. Bitte sagen Sie mir, wer Ihrer Meinung nach unter den Ukrainern im zwanzigsten Jahrhundert die größten Anstrengungen unternommen hat, um die nationale Idee zu etablieren? Das ist eine schwierige Frage. Hruševs’kyj hat eine Geschichte der Ukraine in zwölf Bänden geschrieben. Einige Bände bestehen aus zwei Büchern. Er brachte seine Geschichte voran bis ins siebzehnte Jahrhundert. Er schuf die ideologische Grundlage für die gesamte Tendenz des Staatsdenkens. Er hat eine Menge getan.
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Doncov hat eine ganze junge Generation erzogen. Doncov kam nach Hruševs’kyj. Und Doncov ist ganz anders als Hruševs’kyj. Aber Doncov schuf eine Generation von Kämpfern. Die Menschen, auf die Doncov von den 1920er Jahren bis 1940, bis 1939 eingewirkt hat … Das waren die zehn Jahre, in denen er das Bewusstsein der Jugend Galiziens beherrschte! Und die galizische Jugend wurde von zweierlei beeinflusst: vom Kobzar und von Doncov. Aus dem Kobzar schöpfte die Jugend die tiefe nationale Seele. Und von Doncov lernte sie Festigkeit und eisernen Mut zum Kampf. Und wenn es stimmt, dass die Angehörigen der Bandera-Generation außergewöhnlich tapfere Kämpfer waren, die selbstlos kämpften, dann hat Doncov sie geschaffen. Ševčenko ist der allgemeine Hintergrund. Das Werk von Doncov ist der allgemeine Hintergrund. Wer hat also mehr getan? Und jetzt wollen wir es weiterführen. Sehen Sie, wir haben das zwanzigste Jahrhundert … Das neunzehnte Jahrhundert war so aufgeklärt. Im zwanzigsten Jahrhundert gab es zwei Verschiebungen im bewaffneten Kampf, die sehr hartnäckig und verbissen waren. Von 1918 bis 1922–1925 … Koval’ schreibt über diese Atamane, er hat sie sehr lange studiert, als die Ukrainische Volksrepublik besiegt wurde, kämpften Dutzende bewaffneter Gruppen weiter. Und jetzt, in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts und darüber hinaus, war es unter dem Slogan des „Petljura-Unwesen“6. Jetzt gibt es etwas, das den Namen „Bandera-Unwesen“ erhalten hat. Wer hat mehr getan? Das Wort „Petliura-Unwesen“ kam aus dem Munde der Tschekisten als Anschuldigung gegen diejenigen, die vor dem Zweiten Weltkrieg für die Unabhängigkeit der Ukraine kämpften. Auch das Wort „Bandera-Unwesen“ wurde aufgezwungen. Hier können wir sagen, dass sie offensichtlich objektiv die größte Figur im Kampf für die Unabhängigkeit der Ukraine sahen. Denn sie hätten diejenigen, die diesen Weg eingeschlagen haben, nicht als Nebenfiguren bezeichnet, denn das war der Vorwurf!
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Hier wie schon kurz zuvor bei den beiden Aufständen habe ich mir erlaubt, das jeweilige ukrainische „-stvo“ durch Adjektive oder genauere Sachverhalte zu bestimmen. Im Deutschen gäbe es ansonsten die nicht sehr schöne Variante „-tum“.
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Petljura-Anhänger zu sein bedeutete, dass man vor Gericht gestellt und verurteilt werden musste. Vielleicht hat ihr Kampf gegen die Ukrainer also diese erste Person herausgegriffen, die wahrscheinlich die wichtigste für das gesamte Jahrzehnt von den 1920er Jahren bis 1940 war. Von diesem Zeitpunkt an begannen die Feinde, die die nationale Befreiungsbewegung niederschlugen, jeden, der den Weg des Unabhängigkeitskampfes einschlug, als Bandera-Anhänger zu beschuldigen. Wahrscheinlich haben sie auch hier aufgrund der Beobachtung und des Kampfes von außen die Figur herausgegriffen, die diesen Kampf am meisten symbolisierte – Bandera also. Und jetzt läuft der dritte nationale Befreiungskampf bereits friedlich ab. Es gibt hier Massen von Menschen, und er konzentriert sich nicht mehr auf eine Person, sondern ist ausgeweitet. Das ist die Sache. Es gibt also praktische Führer, wie Petljura und Bandera, nach denen zwei Epochen benannt sind. Und es gibt Leute, die sie ideologisch geschaffen haben. Und wenn wir uns die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ansehen, dann waren das die Prosvita-Bewegung, Ševčenko, Michnovs’kyj, Dorošenko und andere Persönlichkeiten. Und danach war es natürlich Doncov. Es ist unmöglich, eine einzelne Figur herauszuheben. Im neunzehnten Jahrhundert können wir bedingt eine Figur herausgreifen – Ševčenko. Im zwanzigsten Jahrhundert wuchs die Bewegung, und hier haben wir nicht nur eine, sondern mehrere prominente Persönlichkeiten. Viele Demokraten setzen große Hoffnungen in Viktor Juščenko. Haben Sie Vertrauen in diese Figur? Juščenko ist ein aufrichtiger Mensch. Er will aufrichtig das Gute für die Ukraine. Ich glaube nicht, dass er in der Lage sein wird, den verbrecherischen Mafia-Clans, die es gibt, das Handwerk zu legen. Außerdem sollten wir uns vor Augen halten, was mit Marčuk geschehen ist. Er trat nur im Fernsehen auf und wies bloß darauf hin: „Wo ist dieses Geld?“ Wo ist das Geld? Das ist ja eine riesige Rechnung, nicht wahr? Sehen Sie, was sie dafür bezahlt haben. Dies ist ein zusätzlicher Beweis dafür, dass Marčuk in seinen Einstellungen gegenüber dem Staat aufrichtig ist, ein zusätzlicher Beweis dafür, dass ich mich nicht geirrt habe, als ich glaubte, dass er Präsident werden könnte, so wie ich nicht den allergeringsten Zweifel daran
Die nationale Idee ist eine
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habe, dass dies vor ein paar Tagen gerade vorgetäuscht war, dass es kein zufälliger Autounfall war. Das ist der Preis für das, was er gesagt hat. Wenn es also eine Gruppe an der Spitze gäbe, Juščenko, Marčuk, ein Dutzend von ihnen, dann könnten wir hoffen, dass sie etwas ändern würden. Bis jetzt sehe ich, dass die Macht nicht auf seiner Seite ist. Ich bin nur froh, wenn Juščenko länger durchhält, denn er will wenigstens das Gute für die Ukraine. Und je länger er durchhält, desto mehr kann er vielleicht die Interessen der Ukraine wenigstens ein bisschen verteidigen. Vakhtang Kipiani, Levko Luk’janenko, 23. Februar 2000.
Leonid Pljušč
„Niemand nannte mich einen Dissidenten – sie mochten dieses Wort nicht Leonid Pljušč (geb. 26.04.1939, Naryn, Kirgisistan – 04.06.2015, Bessèges, Frankreich). Mathematiker, Kybernetiker. Bekannter Publizist, Menschenrechtsaktivist, Literaturkritiker, Mitglied der Initiativgruppe für den Schutz der Menschenrechte, Mitglied des Außenvertretung der Ukrainischen Helsinki-Gruppe. 1964, nach dem Sturz von Nikita Chruščёv, schrieb Leonid Pljušč einen Brief an das Zentralkomitee der KPdSU, in dem er seine Ansichten über die Demokratisierung in der UdSSR darlegte. Im Jahr 1966 begann er, Artikel im
Leonid Pljušč 1950er Jahre
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Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Selbstverlag zu schreiben. Im Mai 1969 wurde er Mitglied der Initiativgruppe für den Schutz der Menschenrechte in der UdSSR (IG). Am 20. April 1969 unterzeichnete er den ersten Brief der IG über deren Gründung und später, am 26. November 1969, über die Repressionen gegen die Mitglieder der Gruppe. Im Mai 1970 informierte er in einem Brief an die APN und die Nachrichtenagentur Reuters über die IG, und im November 1971 rief er in einem Schreiben an den Fünften Internationalen Psychiaterkongress zum Widerstand gegen die Strafpsychiatrie in der UdSSR auf. Nach mehreren Durchsuchungen wurde Pljušč am 15. Januar 1972 verhaftet und gemäß Artikel 62 Paragraf 1 des Strafgesetzbuchs der Ukrainischen SSR wegen antisowjetischer Agitation und Propaganda angeklagt. Im Januar 1973 erklärte das Kyïver Regionalgericht, das ohne seine Beteiligung tagte, Leonid Pljušč für unzurechnungsfähig und wies ihn mit der Diagnose „lethargische Schizophrenie“ zur Zwangsbehandlung in das psychiatrische Spezialkrankenhaus Dnipro ein.
Welche Verbindungen gab es zwischen der ukrainischen und der russischen Dissidentenbewegung in den 1960er und 1970er Jahren? Ich war gewissermaßen ein Verbindungsmann, das heißt, ich habe mich zuerst der gesamtsowjetischen Demokratiebewegung angeschlossen. Sie wurde anders genannt: Menschenrechtsbewegung, demokratische Bewegung. Niemand nannte uns Dissidenten – sie mochten dieses Wort nicht. Und dann, irgendwann, wurde mir klar, dass es sehr wichtig war, solche Kontakte durchzusetzen. Ich weiß, dass Les’ Tanjuk, der bereits in Moskau lebte, zu dieser Zeit einen solchen Kontakt aufbaute. Dann begannen die Leute, dorthin zu gehen und Samizdat auszutauschen. Zu dieser Zeit war Moskau offensichtlich das Zentrum der Menschenrechtsbewegung. Von Moskau aus wurden Beiträge und Informationen in den Westen geschickt, und die Leute gaben westlichen Radiosendern Interviews usw. Und Moskau war sehr ehrlich, was die ukrainische Bewegung betraf, d.h. sie gaben fast alle Beiträge weiter, die wir hatten.
Niemand nannte mich einen
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Ein Dissident, den ich kannte, beklagte sich einmal über seine Moskauer Kollegen, die nationalistische Texte oder Texte, die sie als nationalistisch oder russophob ansahen, nicht durch ihr Sieb ließen, und solche Texte gelangten nicht ins Ausland. Ist das bei Ihnen auch so gewesen? Ich kann bestätigen, dass es so etwas gegeben hat. Eine Zeit lang stand ich Viktor Krasin und Jakir sehr nahe. Und schon in Amerika sagte Pavlo Lytvynov zu mir: „Ihre Artikel sind mit ‚Maloros‘ – Kleinrusse – unterzeichnet.“ Das waren immer Artikel zu nationalen Themen. Wie sich herausstellte, ließ man sie nicht durch, erlaubte ihnen nicht, überhaupt in den Samizdat einzufließen. Lytvynov hat das gesagt, und ich fürchte, es ist wahr. Denn ich war sehr überrascht, dass praktisch keiner meiner Artikel zu diesem Thema im Westen erschienen ist. Sie spielten seinerzeit eine große Rolle in der Moskauer Bewegung. Es gab jedoch einen weniger lauten, weniger idealisierten Kreis jüngerer Leute, die die „Chronik der laufenden Ereignisse“ schufen. In erster Linie war es Nataša Gorbanevskaja. Wie kam es zur Gründung der „Chronik der laufenden Ereignisse“? Für die Tataren war es eine Massenbewegung, im Gegensatz zu allen anderen. Nun, es gab eine Handvoll ukrainischer Dissidenten, baltische Dissidenten, Zionisten, russische Dissidenten – sie alle waren isolierte Intellektuelle. Nun, mehr oder weniger. Aber bei den Tataren war die ganze Nation als Dissidenten. Deshalb schufen sie eine Art Informationsbulletin, das unter dem Volk verteilt wurde, und dann begannen sie, es an den Samizdat zu schicken – nach Moskau, Kyïv und in andere Städte. Und unter dem Einfluss des tatarischen Bulletins erschien die „Chronik der laufenden Ereignisse“ und dann der „Ukraïns’kyj Visnyk“. Das war sehr positiv, weil es alle Informationen sammelte. Wie weit war der russische Samizdat in der Ukraine verbreitet? Ziemlich weit verbreitet. Ich würde sagen, vielleicht sogar weiter verbreitet als der ukrainische Samizdat. In der Ukraine, und nicht nur in Kyïv oder L’viv. Nun, in L’viv, in der Westukraine im Allgemeinen, gab es verständlicherweise hauptsächlich ukrainischen Samizdat. Und so ging es in alle großen Städte. Wir haben
100 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht aber gemerkt, dass Samizdat allein wenig bewirkt. Aber allmählich begannen die Intellektuellen und jungen Leute in allen großen Städten zu verstehen, in was für einem Land sie lebten. Und selbst wenn sie nicht protestierten, wussten sie bereits, was vor sich ging. Vakhtang Kipiani, Leonid Pljušč. Ein Ausschnitt aus dem Programm „Istoryčna Pravda mit Vakhtang Kipiani“.
Mychajlo Horyn’
„Ich gehe das Risiko ein, aber ich werde mein Schlusswort scharf formulieren“ Mychajlo Horyn’ (17. Juni 1930, Dorf Kniselo, Rajon Žydačiv, Oblast’ L’viv – 13. Januar 2013, L’viv) Aktivist der sechziger Jahre, aktiver Teilnehmer an der Selbstverlags- und Menschenrechtsbewegung, ukrainischer politischer Gefangener. 1962 gehörte er zu den Gründern des L’viver Klubs der kreativen Jugend „Prolisok“ und verbreitete aktiv selbstveröffentlichte Texte. Im August 1965 wurde er wegen „antisowjetischer Agitation und Propaganda“ verhaftet und zu sechs Jahren Haft in einem Lager strengen Regimes verurteilt. Er verbüßte seine Strafe in einem Lager in Mordwinien, wurde aber 1967 wegen Propaganda und Verbreitung von Samizdat unter den Gefangenen zu weiteren drei Jahren im Gefängnis von Vladimir verurteilt. 1976 beteiligte er sich aktiv an der Ausarbeitung der Gründungsdokumente der Ukrainischen Helsinki-Gruppe. Als die Gründer der UHG verhaftet wurden, gab er deren Informationsbulletin heraus. Ende 1981 wurde er erneut verhaftet. ... Ich kam im März 1961 in L’viv an, begann im Labor [dem experimentellen wissenschaftlichen und praktischen Labor für Psychologie und Physiologie der Arbeit im L’viver Gabelstaplerwerk] zu arbeiten und lernte die Stimmung in L’viv kennen. Die Jahre 1961–1963 waren, so würde ich sagen, der Höhepunkt der Pseudodemokratisierung in der Chruščёvschen Version. Die Begegnungen mit der L’viver Intelligenz überzeugten mich davon, dass ich meine akademischen Studien aufgeben und mich mit viel wichtigeren Dingen als der Wissenschaft befassen musste – mit dem Versuch, das Ukrainische in der Ukraine wiederzubeleben und darüber nachzudenken, wie sich das Volk aus der Umklammerung, in der es sich befand, befreien kann. 101
102 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Irgendwann im April 1962 kam eine Gruppe junger Kyïver Schriftsteller nach L’viv, darunter Ivan Drač, Mykola Vinhranovs’kyj, Ivan Dzjuba und, Dmytro Pavlyčko, der sich, wie wir immer sagten, „zu ihnen gesellte“, weil er ein Galizier war, der zunächst als Doktorand nach Kyïv kam, sich aber sofort ins künstlerische Leben stürzte. Dieser Besuch machte einen außerordentlichen Eindruck auf uns. Wir sahen junge Menschen (Drač war damals erst 26 Jahre alt), die von einem großen Wunsch erfüllt waren, das Ukrainische wiederzubeleben. Ihre Gedichte begeisterten das Publikum. Ich saß hinter dem Schriftsteller Anton Šmyhels’kyj. Er war Mitglied von „Sil’Rob“ und unterstützte die sowjetische Regierung auf jede erdenkliche Art und Weise, ohne darauf zu achten, was sie tat. Šmyhels’kyj saß in der ersten Reihe, und als diese Jungs in der Universität sprachen, sagte er: „Wovon reden die da? Das sind Eintagsfliegen. Denen wird bald die Luft ausgehen.“ Da hob ich die Hand und bat darum, sprechen zu dürfen. Und der Abend wurde von Rostyslav Bratun’, einem bekannten Dichter, moderiert: „Hier wird Horyn’ auftreten. Und es gibt einen zweiten Horyn’– vielleicht tritt auch der zweite Horyn’ auf?“ Ich sagte: „Wir sind Zeugen der Geburt neuer Stimmungen in der ukrainischen Literatur. Es gibt hier Leute, die sagen, dass diese jungen ukrainischen Dichter Eintagsfliegen sind. Aber ich möchte Ihnen sagen, dass eine neue Kraft in der Literatur entsteht, und das sind keine Eintagsfliegen – sie sind für immer!“ Es gab stürmischen Beifall. An diesem Abend traf ich Ivan Dzjuba zum ersten Mal. Im Jahr zuvor, 1959, hatte er meinen ersten Artikel in der Zeitschrift „Vitčyzna“ veröffentlicht. Wir kannten uns nicht persönlich – wir korrespondierten nur miteinander. Ich sprach mit Dzjuba, und wir verstanden uns gut. Seitdem begann etwas, das man die Sechzigerjahre-Bewegung nennt. Es erschienen interessante Artikel. Der erste dieser Artikel, der sich gegen die Politik der Kommunistischen Partei richtete, wurde von jemandem aus dem Kuban-Gebiet geschrieben – „Gedanken und Überlegungen eines verwirrten Lesers!“. Er war durch die Russifizierung verwirrt.
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Die emotionale Stimmung in diesen Artikeln entwickelte sich von einigen allgemeinen humanistischen Prinzipien zu einer scharfen Kritik an der imperialen Politik der Kommunistischen Partei. 1964 gab es [im Samizdat] einen Artikel im Zusammenhang mit der Brandstiftung in der Bibliothek der Akademie der Wissenschaften, „Über den Pohružals’kyj-Prozess“, wahrscheinlich von Jevhen Sverstjuk geschrieben. Und dann gab es einen noch schärferen Artikel, „Ukrainische Bildung in einer chauvinistischen Schlinge“. Jevhenija Kuznecova war an diesem Artikel beteiligt. Sie stellte Materialien des Bildungsministeriums über die Russifizierung des ukrainischen Bildungswesens zur Verfügung. Im Jahr 1965 wurde sie zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Sie saß sie ab und starb zwei Jahre später. Es war ein sehr seltsamer Tod, aber darüber schreibt niemand. Sie wurde in den höchsten Tönen gelobt: Fünf Jahre waren eine der schwersten Strafen. Damals hatten nur zwei Menschen in der Ukraine sechs Jahre bekommen – ich und Mychajlo Masjutko, und Opanas Zalyvacha und Kuznecova hatten jeweils fünf Jahre. Die anderen hatten drei oder vier Jahre, mein Bruder Bohdan hatte drei, Mychajlo Osadčyj hatte zwei und Myroslava Zvaryčevs’ka hatte nur ein Jahr. Der Chef des KGB der Ukrainischen SSR, Generaloberst Nikitčenko, war ein „Liberaler“. Einige Jahre später wurde niemand mehr zu drei Jahren verurteilt – wir waren die einzigen, die so viel Glück hatten. Ich möchte die Aufmerksamkeit auf eine weitere Person lenken. Das ist Ivan Svitlyčnyj. Wissen Sie, es hat mich sehr interessiert, wie Menschen, die in der Dnipro-Ukraine geboren wurden, in die Widerstandsbewegung gekommen sind. Als ich Dzjuba traf, sprachen wir uns sofort mit dem Vornamen an. Ich sagte: „Ivan, erzählen Sie mir, wie haben Sie – ein Mann, der die russische Abteilung des Stalinschen Pädagogischen Instituts absolviert hat, ein Postgraduiertenstudium aufnahm und eine Dissertation über Majakowski zu schreiben begann – wie haben Sie alles aufgegeben?“ Ich fragte ihn, wie er die Stereotypen der kommunistischen Schul- und Universitätsausbildung überwand und sich einer scharfen antikommunistischen Literaturkritik zuwandte. Und er sagte: „Ich wurde stark von den Briefen von Borys
104 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Hrinčenko beeinflusst.“ Ich war immer an den Ursprüngen des Nonkonformismus interessiert. Es stellte sich heraus, dass jeder seinen eigenen hatte. Und 1962 kam Ivan Svitlyčnyj. Ich hatte viele Begegnungen mit Svitlyčnyj und Dzjuba, sowohl allein als auch zusammen mit meinem Bruder Bohdan. Dzjuba heiratete eine Galizierin. Es war ein interessanter Trend: Drač und Vinhranovs’kyj heirateten ebenfalls galizische Frauen. Wir glaubten, dass dies eine Art Manifestation der Überwindung eines gewissen Misstrauens zwischen der Bevölkerung der Dnipro-Ukraine und der Westukraine war, das durch die imperiale Propaganda geschürt wurde. Im Sommer 1962 traf ich mich also mit Svitlyčnyj und führte ein sehr ernstes Gespräch darüber, was wir tun sollten. Ich glaube nicht, dass ich je ein so ernstes Gespräch mit jemandem von den Dnipro-Ukrainern hatte. Ich hatte auch ein Gespräch mit Dzjuba. Er sagte: „Weißt du was? Wir sollten eine theoretische Begründung für den Stand der Dinge und für das weitere Vorgehen schreiben.“ Bereits 1962 konzipierte Dzjuba, was 1965 dann erschien: „Internationalismus oder Russifizierung?“1 Die Frühlingsluft berauschte uns. Schon in den ersten Tagen begannen wir, ohne uns zu kennen, offen über völlig staatsfeindliche, völlig antikommunistische Dinge zu sprechen. Irgendwo verschwand die Angst, irgendwo verschwand die Rückversicherung. Ich kann diese Gespräche nicht mehr rekonstruieren, aber wir haben uns sofort mit Vornamen angesprochen und sofort sehr scharfe Meinungen geäußert. Als wir uns dann mit Svitlyčnyj trafen (ich weiß nicht mehr, ob Bohdan dabei war), fragte ich ihn, was wir als nächstes tun sollten. Und er sagte: „Was denkst du?“. Ich antwortete: „Es gibt die Erfahrung der UPA, es gibt die Erfahrung der OUN: den Untergrund.“ Und Svitlyčnyj sagte: „Weißt du, der Untergrund wird in erster Linie einen sehr kleinen Personenkreis abdecken und keinen Zugang zu den breiten Massen des ukrainischen Volkes haben.“ Deshalb schlug er vor, dass wir mit offenem Visir vorgehen sollten: Wir sollten unsere Ideen offen verkünden. Vielleicht werden 1
Ivan Dzyuba, Internationalism or russification?, München 1968. Weidenfeld & Nicolson, London 21970.
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diese Ideen nicht hundertprozentig durchgesetzt – irgendwo wird es Elemente des Konformismus geben –, aber es ist besser so, weil wir in der Zwischenzeit eine große Zahl von Menschen erreichen werden. Svitlyčnyj empfahl, eine Art Struktur zu schaffen, durch die unsere Ideen gefördert werden könnten. Er erinnerte sich: „Sehen Sie, Les’ Tanjuk hat den Club der kreativen Jugend gegründet. Es gibt bereits Klubs in Kyïv, Charkiv und Dnipro, und in L’viv wird gerade einer gegründet. Über diese Klubs können wir unsere Ideen verbreiten.“ Darauf sagte ich: „Das erinnert mich an die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts, an die Narodniki. Ich werde in die Bibliothek gehen und nach Materialien über die Narodniki suchen. Denn es gibt keinen großen Unterschied zwischen der zaristischen Garde und dem kommunistischen KGB – dieselbe Praxis und Erfahrung.“ Ich ging in die Bibliothek. Es gelang mir, mehrere Auswahlausgaben von Werken, Untersuchungsberichten und Gerichtsakten von Personen zu finden, die an der Volksbewegung der siebziger Jahre teilgenommen hatten. Es gab eine Zeit, in der die Volksaktivisten auch zu den Menschen gingen. Allerdings gab es unterschiedliche Formen der Arbeit. Aber ihre Organisationen waren nicht von langer Dauer. Später begannen sie, im Untergrund Propaganda zu betreiben, weil sich herausstellte, dass es unter dem totalitären Regime unmöglich war, legale antistaatliche Arbeit zu leisten. Am Ende war die Zeit ihrer Aktivitäten kurz – zwei oder drei Jahre – und sie wurden verhaftet. Nachdem ich mir die Gerichtsverfahren angesehen hatte, fuhr ich nach Kyïv und erzählte Svitlyčnyj davon. Die Arithmetik ist einfach. Wenn das Vorgehen des KGB auf den Erfahrungen der zaristischen Gendarmerie beruht, werden wir 1964 bis 1965 verhaftet. 1962+2=1964, 1962+3=1965. Ivan erwidert: „Dann drehen wir eben am Rad!“ Wir waren uns also bewusst, dass wir nicht lange durchhalten würden. Und in der Tat war meine Vorhersage einzigartig genau: Zwei Jahre später, 1964, kam Ivan Drač aus Kyïv und sagte: „Mychajlo! Ich habe mit einem Oberst des KGB gesprochen und er sagte, dass man dich fassen wird.“
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f. 16, op. 01, spr. 1175-0115
Nun, wir begruben alles, bereiteten uns vor: es würde Durchsuchungen geben, sie würden mitnehmen. Meine Frau, Ol’ha Maceljuch, wurde schon als Studentin für 25 Jahre inhaftiert (sie saß vier Jahre ab), also war es für sie nicht überraschend. In unserer Familie gab es keine Konflikte, dass ich mich in der Politik engagierte, dass ich sie mit dem Kind allein lassen konnte. Wir hatten diese Probleme nicht. Ich habe zwei oder drei Monate lang gewartet und gewartet - sie wollten mich nicht schnappen! Lass uns das Gleiche noch einmal machen. Aber im Oktober 1964 kam Brežnev an die Macht. Es wurde kälter, das Tauwetter war vorbei. Mehrere Leute aus unserem
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Kreis wurden zum KGB vorgeladen und gewarnt, dass sie inhaftiert werden würden: „Hören Sie auf.“ Ich wurde nie vorgeladen. Zehn Monate später wurden wir verhaftet. Wir wurden verurteilt und in Konzentrationslager geschickt – insgesamt 20 Personen. Und es gab etwa 100 Häftlinge, gegen die ermittelt wurde. Das war das Ende der ersten Periode der sechziger Jahre. Aber was haben Sie konkret getan? Als erstes haben wir Abende und Diskussionen zu nationalen Themen veranstaltet und Klubs für kreative Jugendliche gegründet. Zweitens haben wir Konzerte organisiert. Ich weiß noch, wie schön Andrij Kozak Ševčenko rezitiert hat. Er schuf wunderbare Kompositionen unter Verwendung von Ševčenkos „Kaukasus“, so dass jeder verstand, dass es gegen das russische Reich ging. Die Ševčenko-Abende waren wunderbar. Bei ihnen kamen viele Menschen in L’viv zusammen, und wir gingen mit ihnen hinaus in die Rajons. Drittens tippten wir Beiträge, Artikel und Gedichte ab und verteilten sie unter den Menschen. Wir verteilten nicht nur Artikel, sondern auch Gedichte von Ivan Drač, Mykola Vinhranovs’kyj, Lina Kostenko, Vasyl’ Symonenko, Borys Mamajsur und anderen russischen Dichtern. Diese Publikationstätigkeit war sehr umfangreich und mit erheblichen Papierkosten verbunden. Viertens fanden abends Treffen mit Mitarbeitern verschiedener Hochschuleinrichtungen statt. So versammelten sich beispielsweise etwa zwanzig Dozenten und Studenten des Handelsinstituts in meiner Wohnung. Ich hielt einen Vortrag über die politische Lage in der Ukraine. Aber das Wichtigste war, Artikel auf Schreibmaschinen zu drucken und sie an die Leute zu verteilen. Und sie auch wieder zu abfotografieren. Das Prinzip war wie folgt. Zum Beispiel haben wir ein im Ausland veröffentlichtes Buch mit dem Titel „Der Entzug der Rechte der Ukraine“ neu fotografiert und aus den Fotokopien dicke Bücher gemacht.2 Ich übergab Valentyn Moroz in Ivano-Frankivs’k 2
Der unter einem historischen Pseudonym erschienene Text: Pylyp Orlyk, Vyvid prav Ukraïny 1712, 1925 und dann 1954 in Zeitschriften erschienen, wurde zunächst auf Französisch 1922 in Dinteville aufgefunden
108 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht die Foto-Negative und sagte: „Du musst fünf Kopien machen – vier behältst du für dich, und eine Kopie gibst du mir, um sie weiter zu verteilen.“ Diese Arbeit nahm viel Zeit in Anspruch. Sie wurde von vielen Menschen in vielen Institutionen durchgeführt. Wir mussten das alles organisieren. Das waren die Sechzigerjahre-Bewegung: Klubs kreativer Jugendlicher, Ševčenko-Abende in L’viv, in Kyïv – Kundgebungen am Ševčenko-Denkmal am 22. Mai – und die Arbeit unserer begabten Publizisten, die mit ihren Artikeln die Stimmung der Ukrainer an beiden Ufern des Zbručs aufheizten. Zu dieser Zeit war Vjačeslav Čornovil in L’viv. Er arbeitete als Sekretär der Komsomol-Organisation beim Bau des Kyïver Wasserkraftwerks, war dann in einem Fernsehstudio tätig und blieb lange Zeit in L’viv, vor allem nach seiner Heirat [er war mit der Ärztin Olena Antoniv verheiratet]. Wir waren in ständigem Kontakt. Ich möchte Ihnen sagen, dass Čornovil als Organisator, Čornovil als Redakteur, eine einzigartige Persönlichkeit war. Er war ein unerschöpflicher Produzent von neuen Ideen. Und das nicht nur im Journalismus. Im Jahr 1964 kam Čornovil aus Kyïv und sagte: „Mychajlo, wir müssen uns treffen.“ Wir fuhren in die Nähe von L’viv, wo sich heute das ethnographische Freilichtmuseum befindet. Er brachte aus Kyïv einen Artikel mit dem Titel „Wege und Aufgaben der ukrainischen Befreiungsbewegung. Kurze Thesen zur Diskussion“. Damals wusste ich nicht, wer ihn geschrieben hatte. Jetzt wissen wir, dass es Jevhen Pronjuk war, vielleicht zusammen mit jemand anderem. Es handelte sich um ein Projekt oder ein Exposé für ein zukünftiges Programm, in dem die Frage der Bildung eines unabhängigen ukrainischen Staates aufgeworfen wurde. Ich war von dem Artikel fasziniert. Wir haben ihn gelesen, sind herumgelaufen und haben ihn diskutiert. Wir liefen auf diese Weise um den Berg herum. Wir dachten, dass uns niemand erwischen würde. Ein runder, mit Wald bewachsener Berg. Wie ein Heuhaufen. Wir schauen uns um, und plötzlich springt ganz oben – obwohl es ein Wald ist – ein junges Mädchen heraus und schaut sich um. „Wir haben ein
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Anhängsel mitgebracht!“, sage ich: „Slavko, das wars – wir sind entdeckt worden.“ Das war 1964. Wir druckten den Artikel „Wege und Aufgaben ...“ und verteilten ihn. Das war eigentlich der Beginn einer neuen Etappe der politischen Tätigkeit der sechziger Jahre. Mir wurde klar, dass wir uns bereits auf eine scharfe Konfrontation mit den Behörden einließen. Wir verteilten diesen Artikel in einem engen Kreis zur Diskussion, damit wir uns dann zusammensetzen und schließlich ein Programm formulieren konnten. Mein erstes Gespräch darüber fand also mit Čornovil statt. Er unterstützte die Idee. Aber wir hatten keine Zeit, uns vorzubereiten. Im Jahr 1965 sagte ich zu meiner Frau: „Olja, so kann ich nicht mehr weitermachen.“ Ich war bis zum Äußersten erschöpft. Kandidatenexamen, Dissertation, Arbeit im Labor, Aufbau eines zweiten Labors … Ich arbeitete in einer Gabelstaplerfabrik und organisierte gleichzeitig ein Labor bei der Eisenbahn. Ich bin auf dem Führerstand einer elektrischen Lokomotive mitgefahren, um Beobachtungsmaterial zu sammeln. Du verstehst doch, wie Wissenschaft gemacht wird, oder? Es gibt experimentelle Daten, aber es gibt auch Beobachtungen. Man fährt mit einem Elektro- oder Diesellokführer, zum Beispiel von L’viv nach Šepetivka, und beobachtet ihn direkt, macht Fotos von ihm und erhält so sehr interessantes Material über die Psychologie der Arbeit des Lokführers. All das habe ich gemacht. Mein Arbeitstag sah folgendermaßen aus: Bis vier Uhr arbeitete ich in der Gabelstaplerfabrik und forschte über die Arbeiter, und von vier bis sieben arbeitete ich bei der Eisenbahn und forschte dort. Außerdem haben wir in der Werkstatt unsere eigenen Apparate gebaut. Nach sieben ging ich in die Bibliothek der Akademie der Wissenschaften und bereitete mich auf Prüfungen vor, schrieb dort etwas. Ich war sehr erschöpft. Ich sagte: „Olja, lass uns mindestens zwei Wochen wegfahren.“ Natürlich hatten wir kein Geld, denn wir gaben es für Druckerpapier und Schreibmaschinen aus. Sehen Sie, jedes Mal mussten wir einen gewissen Teil unseres Gehalts für diese Dinge sparen. Und unser Gehalt war nicht hoch: Ich hatte 140 Karbovanec’, oder 100–150, und meine Frau hatte 60–70. Wir
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Mychajlo Horyn’ Foto: V. Kipiani
hatten also 200 für die Familie, und davon 30–40 Karbovanec’ abzuzwacken, Sie verstehen, war ziemlich schwierig. Ich sagte: „Lass uns in den Urlaub fahren.“ Wir fuhren nach Feodosija, wo unser guter Freund Mychajlo Masjutko lebte. Aber das Wetter war sehr schlecht – der Wind war schrecklich, es war unmöglich, im Meer zu schwimmen, und es war unmöglich, am Ufer zu sitzen und zu frieren. Und man sagte, dass es in Koktebel’, 30 Kilometer von Feodosija entfernt, einen Erholungsplatz für den Schriftstellerverband der UdSSR gibt. Dort gibt es eine Meeresbucht, hohe Berge auf beiden Seiten, und in dieser Bucht ist es ruhig, kein Wind, man kann schwimmen und sich entspannen. Wir einigen uns also und nehmen den Bus, 30 km sind nicht so weit. Wir kommen in Koktebel’ an, und jemand erzählt mir, dass Dmytro Pavlyčko dort Urlaub macht. Wir sind nicht ans Meer gefahren, sondern haben uns auf die Suche nach Pavlyčko gemacht. Wir kamen zum Erholungszentrum des Schriftstellerverbandes. Es war ein großes eingezäuntes Gelände mit kleinen Häusern mit zwei Zimmern. Sie waren für Familien gedacht. Diese Häuser waren wie Pilze aus dem Boden geschossen! Es stellte sich heraus, dass Roman Ivanyčuk, Dmytro Pavlyčko und Ivan Drač dort waren. Wir sprachen mit ihnen. Beim zweiten Treffen sagte ich ihnen: „Wisst ihr was, Jungs? Jedes Mal, wenn ich nach Koktebel’ fahre, ist ein Mann bei mir – groß, stark, mit einem Rucksack. Ich habe den Eindruck, dass das eine Kreatur des KGB ist.“ Sagte einer von ihnen: „Das ist Verfolgungswahn, du bist schon krank.“
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Wir gingen in die Berge. Ich erzählte ihnen den Artikel von Chruščёv über Stalins Tod, der aus der französischen Zeitschrift „Paris Match“ ins Russische übersetzt worden war. Wir verteilten ihn. Es war eine detaillierte, wahre Geschichte. Und als ich zum zweiten Mal ankam, sagte ich: „Leute, ich habe den Eindruck, dass der Mann, der mit mir fährt, ein KGB-Offizier ist.“ Sie sagten mir, es sei Verfolgungswahn. Wir fuhren zum Kara Dag, einem großen Berg mit einer Steilwand, hundert Meter über dem Meer. Wir standen schwindelerregend über dieser Klippe. Plötzlich sehen wir einen großen Wildrosenstrauch, vielleicht einen Meter im Durchmesser. Wir gehen näher heran und sehen meinen Freund mit einem Rucksack unter diesem Rosenbusch, aus dem eine Antenne herausragt. Ich sagte: „Na, Leute – Wahnsinn?“ Pavlyčko war wie umgedreht – er hatte Angst. Er hatte mit dem KGB zu tun gehabt, er war einmal verschleppt worden. Er verstand also, was das bedeutete. Aber das war das Ende meines Aufenthalts auf der Krim, denn ich hatte nur 70 Rubel mitgenommen und weitere 70 Rubel im Haus gelassen – dann stahl der KGB sie, und wir standen ohne einen Pfennig da. Also sagte ich zu Pavlyčko: „Dmytro, du fährst mit dem Auto nach Kyïv. Ich habe fast kein Geld – nur Fahrkarten und einen Rubel, um ein Stück Brot für die Fahrt zu kaufen, sonst nichts. Nimm uns mit nach Kyïv – du und deine Frau und wir beide. Und von Kyïv aus werde ich nach L’viv kommen.“ Dmytro erwiderte: „Wenn du die Schnellstraße erreichst, werde ich dich mitnehmen.“ Ich sagte: „Weißt du, meine Frau nimmt immer einen Koffer mit, wenn sie verreist – sie packt alles Mögliche ein, was niemand braucht, und ich habe Bücher eingepackt, also wird es für mich schwer sein. Ich gehe nicht raus. Wenn du willst, dann komm doch – es sind etwa anderthalb bis zwei Kilometer von der Schnellstraße bis zu Masjutkos Haus. Komm mit dem Auto, wir steigen ein und fahren los. Wenn du nicht kommst, dann kommst du eben nicht.“ Dmytro kam nicht. In Feodosija war bereits gutes Wetter, und wir wollten länger bleiben, aber wir hatten kein Geld. Wir gingen ans Meer, breiteten eine Matte aus, Olja ging schwimmen, und ich stand am Rande.
112 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Ich sehe einen Mann vorbeigehen, der seine eigene Matte neben unserer ausbreitet und sich hinlegt. Olja kommt aus dem Meer, ich komme hinzu und lege mich hin. Und der Mann sofort: „Guten Tag! Sind Sie Frau Olja?“ („Frau Olja“ im Jahr 1965!). Sie sagte: „Ja.“ „Und wissen Sie, ich war in der Verbannung mit Ihren Kameraden Ira Strilčyk und Gena Pavljuk.“ Wir kamen ins Gespräch, und er sagte, sein Name sei Jaroslav. Seinen Nachnamen nannte er nicht, aber ich erinnerte mich daran. „Wo wohnt ihr?“ – „Wir wohnen bei Masjutko.“ – „Ich komme euch besuchen.“ Er kam und brachte Cognac mit. Masjutko trank gerne. Wir tranken Cognac und redeten. Ich mochte ihn nicht. Ich sagte zu Olja: „Ich mag ihn nicht, er ist sehr obsessiv.“ Er fragt: „Wie lange wollt ihr hier bleiben?“ – „Wir reisen morgen ab.“ – „Habt ihr Fahrkarten?“ – „Nein, wir haben keine Fahrkarten, wir hoffen, sie am Bahnhof zu kaufen.“ Aber im August fahren die Züge alle zehn Minuten, viele Menschen verlassen die Krim. „Ich komme mit, ich helfe euch“, sagt Jaroslav. „Bleiben Sie hier?“ – „Nein, ich habe meine Nachforschungen erledigt und fliege heute mit dem Flugzeug nach L’viv.“ Wir kommen zum Bahnhof. Aber wer wird dich mitnehmen? Alles ist überfüllt! Wir eilen zu den Waggons – nichts. Vielleicht kommt ein zweiter oder dritter Zug. Jaroslav nähert sich einem Waggon und zeigt, wie ich sehe, ein Büchlein. Das habe ich bemerkt. Aber er stand mit dem Rücken zu mir und bemerkte nicht, was ich gesehen habe. Jaroslav winkt uns zu: „Ich habe mich um eure Angelegenheiten gekümmert.“ Aber wir haben keine Fahrkarten. Ich frage den Schaffner, wo der nächste Bahnhof ist. „P’jatychatky.“ Das ist schon außerhalb der Krim. „Okay, können Sie uns eine Fahrkarte kaufen?“ Ich gebe ihm Geld, aber die Fahrkarte ist schon billiger, denn wir sind umsonst nach P’jatychatky gekommen. Der Schaffner bringt uns die Fahrkarten, und ich will mich mit etwas bedanken, er aber lehnt ab. Er steckt uns in ein Abteil mit einem Mann in den Vierzigern mit einem Kind. Ich war damals kontaktfreudig. Ich ging auf den Gang hinaus und sah so einen hundertprozentigen Galizier herumlaufen. Kennen Sie die Galizier in den 1930er Jahren? Sie trugen einen Anzug, unter der Jacke obligatorisch eine Weste und eine Uhr
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mit einer Zwiebel in der Tasche der Weste. Ein typischer Galizier. So ein rundes Bäuchlein, ein rundes Gesicht – wie ein Popo. Ich fing an, mit ihm zu reden. Prima, er begann sofort, die sowjetische Regierung zu kritisieren. Er redete mir nach dem Munde. Olja sagte: „Du bist ein seltsamer Mensch – du könntest mit einer Säule reden.“ Wir kommen in Krasne an, das 40 km von L’viv entfernt ist. Plötzlich kommt ein Mann in das Abteil. Er sagte nichts, sondern setzte sich schnell hin. Ich sagte: „Warum sitzen Sie hier? Sie sehen doch, dass das Abteil besetzt ist. Was wollen Sie hier? Die Frau begibt sich zum Ausgang – verlassen Sie das Coupé!“ Das ist fast wörtlich. Er ist rausgesprungen. Aber eine Minute später geht die Tür auf und vier Leute kommen herein, angeführt von einem Polizeihauptmann. Es sind zwei oder drei Polizisten und, wie üblich, einer in Zivilkleidung. Er stellte sich vor, fragte mich nach meinem Namen und sagte: „Sie sind festgenommen. Machen Sie sich bereit, wir fahren nach L’viv, um die Situation zu klären.“ Sie ignorierten meine Empörung. Aber noch bevor der erste Besucher ausgewiesen wurde, gelang es mir, es meiner Frau zu sagen: „Olja, es ist aus!“ Ich hatte verstanden, dass es ein KGB-Offizier war. Wir packten zusammen und gingen. Die Menschen füllten den gesamten Korridor des Waggons. Ich rief: „Liebe Leute, die ihr nach L’viv reist, bitte informiert, dass ich verhaftet bin! Mein Name ist Horyn’!“ Und ich gebe ihnen Adressen, die meines Bruders und einiger anderer. Sie setzten uns in ein Auto. Der KGB liebte Atrappen: Sie griffen zwei Leute, einen Mann und eine Frau, und drei Autos fuhren davon. Das erste Auto war leer, im zweiten war ich, und im dritten meine Frau. Wir wurden nach L’viv gebracht und dem KGB übergeben. Sofort, ohne uns Zeit zu geben, uns zu erholen, sagten sie, dass wir zur Hausdurchsuchung aufbrechen. Mich allein nahmen sie mit, Olja haben sie nicht mitgenommen, Olja blieb im Gefängnis. Wir kamen nach Hause. Ich war schockiert. Als wir nach Feodosija fuhren, versteckten wir die gesamte Literatur. Und die Jungs kamen (sie hatten Schlüssel) und brachten mir diese Literatur … Zweifellos hätte ich mich während der Ermittlungen anders gefühlt, wenn ich
114 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht diese Literatur nicht gehabt hätte. Ich glaube, dass der KGB in diesem Fall eine „Dampflok“ brauchte. Aber da sie so viel Literatur in meinem Haus fanden, wurde ich zur „Dampflok“. Sie sagten „Jungs“. Meinten Sie Ihre Jungs oder den KGB? Meine Jungs, meine Jungs. Vor allem meinen Bruder Bohdan. Aber da war noch ein interessantes Detail. In Žytomyr arbeitete Anatolij Ševčuk, der Bruder von Valerij Ševčuk, in einer Druckerei. Bohdan fand das heraus. Als Anatolij in der Typografie arbeitete, konnte man da nicht eine Schrift zu bekommen? Denn einer unserer L’viver Typografen sagte, dass man eine Schrift in einen quadratischen Rahmen setzen, ausbinden und drucken kann. Das ging viel schneller als mit einer Schreibmaschine. Also fuhr Bohdan nach Žytomyr und brachte mehrere Kilogramm Schrift mit zurück. Ein Teil davon war in Kyïv (Halja Sevruk hatte sie irgendwo an den Pečers’ker Hängen versteckt), und Bohdan brachte einen Teil davon nach L’viv. Ich dachte mir, warum nicht in eine große Kaffeedose geben und Kaffee darüber schütten? Und es hat funktioniert: Sie haben sie nicht gefunden. Als die Durchsuchung begann, habe ich mich auf das verrsteckte Geld gestürzt. Aber das Geld war weg. Unter ihnen war jemand namens Batyšev. Er hatte mit mir an der Universität studiert. Ich erinnere mich bereits nicht mehr genau wie, aber dieser Batyšev hat diese 70 Rubel gekalut. Es war der 26. August 1965. Sie brachten mich am Nachmittag zum Haus. Die Durchsuchung dauerte acht Stunden, vielleicht bis spät in die Nacht, vielleicht bis ein Uhr nachts. Sie brachten mich ins Gefängnis. Olja wurde freigelassen. Ich fand mich sofort in einer sehr schwierigen Situation wieder – es gab so viel kompromittierendes Material gegen mich, wie man nur wollte. Das schlimmste davon war „Wege und Aufgaben der ukrainischen Befreiungsbewegung“. Wie habe ich mich während der Ermittlungen verhalten? In den ersten sechs Tagen habe ich mich geweigert, überhaupt mit ihnen zu sprechen. Als sie mir das Zeugnis des verstorbenen Teodozij Staryk und andere Zeugnisse auf den Tisch legten, nahm ich folgenden Standpunkt ein: „Hier ist nichts antisowjetisch! Es ist
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Kritik an der Sowjetregierung, aber es ist kein Verstoß gegen die Verfassung, es ist kein Kampf für die Trennung der Ukraine von der Sowjetunion.“ Und so weiter. „Aber Sie hatten diese Literatur?“ – „Ja, hatte ich. Ich konnte nicht sagen, dass jemand sie zu mir nach Hause gebracht hat. Ich gab also zu, dass ich diese Literatur besaß, aber es war nichts Kriminelles daran. „Haben Sie sie jemandem zum Lesen gegeben?“ – „Ja, das habe ich.“ Ich denke, wenn du versuchst zu beweisen, dass du unschuldig bist, ist das völlig aussichtslos. Das wurde mir am Ende der Ermittlungen klar. Da habe ich eine harte Haltung eingenommen. Bei der Verhandlung hielt ich die letzte Rede, in der ich die Politik von Chruščёv, Kosygin und Brežnev scharf kritisierte. Es gab viele Leute unter uns, die dachten, sie könnten verhaftet werden. Aber es gab auch viele Kunstschaffende, die sich nicht um Politik kümmerten. Ivan Svitličnyj aus Kyïv wurde verhaftet, aber Ivan Dzjuba, Jevhen Sverstjuk und viele andere blieben verschont. Ich würde sagen, dass die Sechzigerjahre-Bewegung in ihren Ansichten unterschiedlich war. Und die Taktiken waren unterschiedlich. Die Weltanschauung der Galizier war auf den Aufbau eines unabhängigen ukrainischen Staates ausgerichtet. Viele Leute aus der Oblast’ Dnipro, darunter auch Dzjuba, wollten das bestehende Regime kritisieren und den kommunistischen Staatsapparat verbessern. Das Ziel war also ein anderes, aber der Ansatz war derselbe. Sie spürten es. In der Untersuchungshaftanstalt – wir waren vor dem Prozess acht Monate dort – waren wir für unser Alter sehr naiv. Der KGB legte uns Fallstricke. Ich hoffte immer noch, dass wir mit anderen Zellen Kontakt aufnehmen könnten. Sie brachten uns zum Waschbecken – es war ein Trogwaschbecken, und unter dem Gitter des Trogs waren Löcher. Ich wusste nicht, dass die Löcher speziell für Leute wie uns gemacht waren. Ich steckte Notizen hinein und versuchte, die Ermittlungen zu lenken. Aber alles landete in den Händen der Ermittler. Einmal wurde ich dafür in eine Strafzelle gesteckt.
116 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Es gab einen sehr interessanten Vorschlag. Es gab einen KGB-Offizier namens Klym Jevgenjevič Gals’kyj ...3 Ich glaube, er war ein sehr intelligenter Mann. Ich denke, er war der gebildetste aller KGB-Offiziere in Moskau, Kyïv und L’viv. Ich habe weder unter den KGB-Offizieren in Moskau noch in Kyïv je einen Menschen gesehen, der so gut mit dem literarischen Prozess vertraut war. Er kannte sich in der Literatur sehr gut aus. Er kam von Zeit zu Zeit zu den Ermittlungen. Ich war sogar daran interessiert, mit ihm zu sprechen. Aber ich wusste bereits, dass es „Fallstricke“ gab, ich wusste, dass ich gescheitert war, und sie nutzten meine Versuche, Kontakte zu knüpfen (keiner von uns tat das mehr). Bohdan erzählte mir später (er wurde am selben Tag wie ich verhaftet), dass er eines Tages in Gals’kyjs Büro gebracht wurde. Gals’kyj war nicht da, aber ein KGB-Offizier stand an der Tafel und lernte fleißig, in meiner Handschrift zu schreiben. Auf der Tafel? Ich glaube ja. Ich habe die Details vergessen, aber Bohdan hat es bemerkt. Gals’kyj kam herein und rief: „Idioten! Was macht ihr da!“ Sie machten ihm klar, dass eine Art von Provokation vorbereitet wurde. Als sie mir nach der Untersuchung die Anklageschrift vorlegten, fragten sie mich, ob ich mich schuldig bekennen würde. Ich habe wie die anderen gesagt, dass ich mich teilweise schuldig bekenne. Im faktischen Teil, aber nicht in der Qualifizierung meiner Handlungen als antisowjetisch. Ich beschloss, während des Prozesses zu sprechen. Waren Sie der Einzige in dem Fall oder gab es mehrere von Ihnen? Es gab viele von uns, aber wir wurden später in Gruppen aufgeteilt. Mychajlo Osadčyj, Myroslava Zvaryčevs’ka und Bohdan Horyn’ blieben bei mir. Wir waren also zu viert. Ich bereitete mich fleißig auf den Prozess vor. Ich wollte wissen, wie unser Fall begonnen 3
Inzwischen ist in der ukrainischen Wikipedia ein eigener Artikel dem um 1925 geborenen Jevstafij Gals’kyj gewidmet, der unter dem Pseudonym Klym Dmytruk zahlreiche propagandistische Werke veröffentlichte.
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hatte. Gals’kyj kam herein: „Wonach suchen Sie hier, was graben Sie da nach dem Grund warum?“ Und die Akte bestand aus siebzehn Bänden. „Alle haben sie längst gelesen, den Artikel unterschrieben, und Sie haben sie immer noch nicht durchgelesen?“ – „Ich kann nicht alles in einer Woche lesen – jeder Band hat 300 Seiten. Ich habe das Recht, mich mit dem Anklagefall so lange vertraut zu machen, wie ich brauche.“ Ich habe mir einen ganzen Band mit Exzerpten gemacht. Und unser Fall begann ganz einfach. Es war, als ob Myroslava Zvaryčevs’ka in die Bibliothek der Akademie der Wissenschaften der Ukrainischen SSR gekommen wäre und einen Artikel in dem Buch vergessen hätte, das sie gerade abgab. Al’bert und Moskalenko, zwei Angestellte der Bibliothek, schrieben eine Erklärung an den KGB, dass sie in dem Buch ein antisowjetisches Dokument gefunden hätten. Dies war die Version des KGB, um seine Agenten, die mit uns arbeiteten, zu decken. Ich hatte mich auf meine Rede vorbereitet. Aber als die Verhandlung begann, wollten sie alle meine Unterlagen mitnehmen: Ich konnte nichts mitnehmen. „Wie kann ich nichts mitnehmen? Warum kann ich meine Notizen nicht mitnehmen? Ich werde mich selbst verteidigen!“ Sie wollten wissen, was ich geschrieben hatte. Denn wenn ich spazieren gegangen bin, habe ich alles mitgenommen. „Warum nimmst du sie mit?“ – „Weil es meine Notizen sind.“ Sie versuchten, sie mir bei einem Spaziergang wegzunehmen, sie wollten sie mir wegnehmen, als sie mich zur Verhandlung brachten – ich habe sie nicht herausgegeben. Meine Rede war auch im Voraus geschrieben. Am ersten oder zweiten Tag beschloss ich, etwas zu tun, damit nicht alle zu sehr leiden würden. Ich wusste, dass sie meine Strafe um ein oder zwei Jahre erhöhen würden, wenn ich eine scharfe Schlussrede halten würde. Ich schrieb einen Brief an Bohdan, Osadčyj und Zvaryčevs’ka. Es gab einen Aufseher namens Ivan, einen Galizier aus der Gegend. Die Richter gingen zum Mittagessen, und wir wurden in „Boxen“ festgehalten. Das war eine enge Zelle, in der man sich nicht einmal umdrehen konnte. Sie war etwa 50 cm breit und vielleicht einen Meter lang. Es gab einen Sitz und sonst nichts. Ich sage Ivan, der mich bewacht: „Ivan,
118 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht hör mal, könntest du meinem Bruder einen Zettel geben?“ Und sie – Bohdan, Zvarychevs’ka und Osadčyj – wurden in einen anderen Raum gebracht, nur ich wurde getrennt gehalten. Ich verstand, dass sie mich „als Zaren“, als Hauptangeklagten, vorbereiten wollten. „Könntest du meinem Bruder diesen Zettel geben?“ – „Das werde ich.“ – „Ivan, aber ich bitte dich: Wenn du mich verkaufen willst, nimm ihn nicht. Wenn du ihn aber nimmst, gib ihn dem Bruder, nicht dem KGB.“ – „Mach ich.“ Ich schreibe einen Zettel, der in etwa so lautet: „Bohdan, ich gehe das Risiko ein, aber ich werde mein Schlusswort scharf formulieren.“ Ich weiß nicht mehr, ob ich schrieb: „Ihr müsst es aber nicht.“ Und ich übergebe ihn Ivan. Nach der Pause kehren wir in den Gerichtssaal zurück. Ich sehe, dass der Staatsanwalt ein Stück Papier in der Hand hält, das wie mein Zettel aussieht. Hat Ivan das wirklich getan? Der Staatsanwalt steht feierlich auf (die Verhandlung hatte noch nicht begonnen) und sagt: „Nun, Horyn’, gehen Sie das Risiko ein? Horyn’ hat versucht, den Zettel an seinen Bruder weiterzugeben. Bitte fügen Sie den Zettel der Akte bei.“ Und er übergibt ihn dem Richter. Da wurde mir klar, jetzt ist es aus. Der Prozess dauerte, glaube ich, sechs Tage ... Alle weigerten sich, das Schlusswort zu haben, aber ich wollte es sagen. Ich begann zu sprechen, und die Zuhörer begannen zu lärmen. Der KGB brachte Leute aus dem Friseursalon neben dem Landgericht in den Saal, seine eigenen Leute – uns völlig fremd, niemand aus unserem Kreis. Als ich meine Meinung äußerte, machten sie Lärm und schrien. Dann ging das Gericht in eine Sitzung. Das Gericht kam zurück, der Richter verkündete das Urteil, und sie schrien: „Nicht genug! Nicht genug!“ Sie brachten uns raus und setzten uns in ein Auto. Interessant ist, dass ich nicht wusste, dass eine Gruppe von Kyïver Bürgern mit dem Bus zum Gericht gekommen war, dass Lina Kostenko, Ivan Drač, Mychajlyna Kocjubyns’ka, Ivan Dzjuba und andere dort waren, dass sie dem Gericht gewisse Schwierigkeiten bereiteten. Ich wusste nicht, dass sie von der Polizei auseinandergetrieben wurden. Wir wurden nicht durch den Hauptausgang aus dem Gericht geführt, sondern durch einige Seitenstraßen, durch die Offizierskantine, die in einer ganz anderen Straße liegt – in der
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Pekars’ka. Ich sah, dass etwas an die Wand geschrieben war, aber was konnte man lesen? Sie sagten, Lina Kostenko hätte ein Gedicht oder so etwas geschrieben. Am 18. April wurden wir verurteilt. Ich atmete erleichtert auf – sechs Jahre. Ich habe sechs Jahre, Ivan Hel’ – drei Jahre, Bohdan – drei Jahre, Osadčyj – zwei Jahre, und Zvaryčevs’ka – ein Jahr. Nicht einmal ein Jahr – sie haben nur achteinhalb Monate abgesessen. Ich kam ruhig nach Hause, aber ich sah, wie sich die Einstellung der Aufseher mir gegenüber dramatisch verändert hatte. Nach Hause heißt doch in die Zelle, oder? Ja, nach Hause heißt in die Zelle. Die Haltung der Aufseher änderte sich – sie wurden respektvoller, menschlicher. Ich dachte mir: Schau mal, sie müssen sogar Mitleid mit mir gehabt haben, nachdem sie mein Schlusswort gehört hatten. Ich wurde sofort in die Einzelhaft verlegt. Da passierte etwas Interessantes. Ein junger Aufseher, ein kleiner Kerl-, der rein ukrainisch sprach, kam eines Abends in die Zelle und sagte: „Mychajlo Mykolajovyč, könnten Sie mir ein paar Aufsätze schreiben? Ich studiere nämlich Jura und kann nicht schreiben, und ich möchte wirklich lernen. Ich werde Ihnen ein paar Themen suchen, und Sie können sie bitte schreiben.“ Ich sagte: „Kozak, ich brauche keine Themen – ich habe in der Schule gearbeitet, die Themen sind Standard. Ich schreibe für Dich über alle Themen, die es gibt, aber bring mir einfach Bücher über russische Literatur mit, denn ich habe nicht Russisch unterrichtet. Und über die ukrainische Literatur kann ich Dir auch so schreiben. Aber das Einzige, worum ich Dich bitte, ist, dass Du es richtig abschreibst, damit Du keine Fehler machst. Wenn Du es richtig schreibst, ohne ein einziges Komma oder einen Buchstaben zu vergessen, bekommst Du eine Eins, das garantiere ich Dir.“ – „Okay. Ich muss also nicht nach Themen suchen?“ – „Suche nicht danach, bringe mir Papier und Tinte, damit ich sie hier habe, und ich schreibe es für Dich.“ Ich habe ihm jeden Tag mehrere Aufsätze geschrieben – drei oder vier, je nach Lust und Laune. Teilzeitstudenten machen ihre Prüfungen früher, nicht erst im August. Und dann kam er eines
120 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Tages zu mir und sagte: „Mychajlo Mykolajovyč, ich habe eine Eins!“ – „Ich habe es dir gesagt!“ Dann hat er für einen russischen Aufsatz wieder eine Eins bekommen! Ich sagte: „Siehst du! Jetzt musst du mir helfen.“ – „Wie?“ – „Geh zu meiner Frau und sag ihr, wann sie mich abholen werden. Ich möchte sie sehen.“ – „Okay.“ – „Aber denk daran, dass Eure Leute unser Haus bewachen, es gibt dort einen Agenten. Wenn du erwischt wirst, gehst du nicht nur nicht auf die Universität, sondern du wirst diese Arbeit nicht mehr sehen! Sei sehr vorsichtig!“ – „Gut.“ Es verging nicht viel Zeit. Eines Abends öffnete sich die Tür, und der Aufseher kam herein und trug einen Rucksack, der etwa 80–90 Zentimeter hoch war. Ich hob ihn hoch – einen halben Zentner! Ich sagte: „Bist du blöd? Wie soll ich das denn mit mir herumtragen? Hast Du meine Frau gesehen?“ – „Habe ich.“ – „Hat sie Dir das gegeben?“ – „Hat sie.“ – „Wann werde ich abgeholt?“ – „Jetzt.“ – „Wie jetzt?“ – „Um fünf Uhr.“ Und es war vielleicht zwei Uhr nachts. Ich fing an, es durchzusehen – mein Gott! Und da war Zucker – zehn Kilogramm. Da waren 10- bis 15-mal Sprotten, verschiedene Konserven. Und obendrein befanden sich am Boden diese Speckseiten, 35 mal 35, Salo, vielleicht 15 Stück. Pro Viertel mindestens 2 kg … Tatsächlich kam um fünf Uhr ein Rabe, und ich wurde zum Bahnhof gebracht … Eigentlich nicht zum Bahnhof, sondern zu dem Ort, wo der Gefangenentransport, der „Stolypin“, gebildet wurde, etwa sechs Kilometer von L’viv entfernt. Ich komme aus dem Raben – meine Frau! (anschließend verabschiedete die Frau auch Opanas Zalyvacha. Sie hoffte, Bruder Bohdan zu sehen. Ihn aber schickten sie mit einem anderen Zug nach Žytomyr. Dann hat er es ihr gesagt? Hat er, dieser interessante Junge. Meine Frau warf Blumen durch die Eskorte, wir schüttelten uns die Hände, küssten uns, umarmten uns … Ich war begeistert: Schau dir dieses Kind an! Wie er das geschafft hat! Zusammen mit Osadčyj fahren wir nach Mordwinien.
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Sperren sie euch in einen „Stolypin“-Waggon, in einen „Dreier“ oder wohin? Nein, wir fahren zusammen mit den Verbrechern. In dem Abteil waren 15–20 Leute. Sie haben einen Mann aus dem Rajon Rohatyn mitgenommen. Er wurde wegen Beteiligung an der Untergrundorganisation OUN zu 15 Jahren Haft verurteilt. Er war während der deutschen Besatzung ein Starost irgendwo in der Oblast’ Vinnycja. Er wurde von der OUN dorthin geschickt, um eine Untergrundorganisation aufzubauen. Ich fragte ihn, warum er so spät verhaftet wurde. Er war der Sekretär des Exekutivkomitees des Rajons Rohatyn. Sie wussten über ihn Bescheid, aber sie behielten ihn eine Zeit lang. Denn sie wussten, wie sie die Stimmung in der Gesellschaft aufrechterhalten konnten. Der KGB – das waren schlaue Leute! Sie haben nicht alle auf einmal ins Gefängnis gesteckt, damit es aufhört, sondern jedes Jahr zwei oder drei Leute. Um die antinationale, anti-ukrainische Stimmung aufrechtzuerhalten. Fragment eines Gesprächs, das von Vasyl’ Ovsijenko und Vakhtang Kipiani am 7. und 19. Dezember 1999 aufgezeichnet wurde.
Nadija Svitlyčyna
„Auf der Schreibmaschine stand unten ‚Selbst-Verlag‘“ Nadiia Svitlyčyna (8. November 1936, Dorf Polovynkyne, Rajon Starobil’s’k, Oblast’ Luhans’k – 8. August 2006, Matawan, New Jersey, USA). Teilnehmerin der Sechzigerjahre-Bewegung, Menschenrechtsaktivistin, Mitglied des Auslandsbüros der ukrainischen Helsinki-Gruppe, Redakteurin und Herausgeberin des „Visnyk represij v Ukraïni“ (USA), Trägerin des Taras-Ševčenko-Preises. Nach ihrer Verhaftung im Jahr 1972 wurde Nadija Svitlyčyna fast jeden Tag zum Verhör durch den KGB im Fall ihres Bruders vorgeladen. Vor jedem Besuch verabschiedete sie sich von ihrem zweijährigen Sohn Jarema. Beim nächsten Verhör am 18. Mai 1972 wurde sie verhaftet und fast ein Jahr lang im KGB-Gefangenenlager in der Volodymyrs’ka-Straße festgehalten. Jarema wurde in ein Waisenhaus in Vorzel’ bei Kyïv gebracht. Nur durch die Bemühungen der Frau ihres Bruders, Leonida Svitlyčna, konnte er von dort zu seiner
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124 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Großmutter in der Oblast’ Luhans’k gebracht werden. Ende Mai 1973 wurde sie vom Kyïver Oblast’gericht wegen antisowjetischer Agitation und Propaganda zu vier Jahren strenger Lagerhaft verurteilt. In dem Dorf Baraševo im Rajon Tengušov in Mordwinien, wo sie ihre Strafe verbüßte, beteiligte sich Nadija Svitlyčnyj zusammen mit anderen weiblichen Gefangenen aktiv an Protesten und Hungerstreiks. Im Mai 1976 kehrte sie nach Kyïv zurück, und einige Zeit später reiste sie aus in die Vereinigten Staaten. Die erste Frage ist ein wenig philosophisch und methodisch. Wann haben Sie das Wort „Samvydav“ (Samizdat) zum ersten Mal gehört (nicht nur in dieser Zeit, sondern zum ersten Mal überhaupt)? In welcher historischen Zeit tauchte dieses Wort oder dieser Begriff auf, und was bedeutete er? Ich nehme an, dass es 1964 war. Warum ich das annehme, weil ich mich daran erinnere, dass für den Samizdat nachgedruckt wurde, der damals noch nicht so hieß, sondern einfach für die Verbreitung verschiedener Sachen nachgedruckt wurde, und ich erinnere mich daran, was unten auf der Schreibmaschine stand (ich weiß nicht, wer es erfunden oder vorgeschlagen hat, aber ich habe es selbst getippt): „selbst herausgegeben“. Nicht „Samizdat“, sondern „selbst herausgegeben“. Am Anfang. Das war, glaube ich, 1964. Ich weiß nicht mehr, um was für Beiträge es sich handelte. Vielleicht waren es Gedichtsammlungen, denn zu dieser Zeit gab es eine Menge selbstverlegter kleiner Zusammenstellungen … Ich habe kürzlich mehrere solcher Ausgaben vom KGB zurückerhalten. Vielleicht war es eine Gedichtsammlung von Symonenko? Da waren verschiedene Autoren. Vasyl’ Symonenko, Drač, Vinhranovs’kyj … Tel’njuk, Cholodnyj – sie waren damals sehr populär, und es gab sie entweder zusammen oder einzeln, aber meistens wählten sie gemeinsam ein, zwei oder drei Gedichte aus und veröffentlichten sie … Nun, mehr oder weniger … Aber es gab solche kleinen Zusammenstellungen, in verschiedenen Formaten und unterschiedlichem Umfang. Es waren 10–15 Seiten,
„Auf der Schreibmaschine stand unten ‚Selbst-Verlag‘“ 125 20–30 Seiten, meist auf dünnem Papier, aber meist geheftet, auf irgendeine Weise gestaltet. Auf künstlerische Weise gestaltet? In der Regel waren sie nicht künstlerisch gestaltet. Vielleicht waren sie in irgendeiner Weise gestaltet, wahrscheinlich, weil es viele von ihnen gab. Aber in der Regel war es ein einfaches Bändchen: ein farbiger harter Einband mit einer aufgeklebten Seite, innen dünnes Papier und maschinengeschriebene Gedichte. Zumeist nicht die ersten Exemplare. Übrigens habe ich in den Zusammenstellungen, die ich jetzt habe und die vom KGB zurückgegeben wurden, dieses Wort nicht gesehen: „Samizdat“ oder „selbst herausgegeben“. Aber ich weiß, dass sie es auch auf Nachdrucken von Beiträgen eines befreundeten Kohlzüchters schrieben. 1964 war der 70. „Geburstag“ von Hors’ka und Svitlyčnyj, und sie veröffentlichten … Ich habe schon vergessen, welche Art von Beiträgen, aber ich weiß, dass es ein „Divulgatorium“ mit ihren Verpflichtungen gab. Es gab das CJuK, das Zentrale Jubiläums-Komitee ... Ja, das Zentrale Jubiläumskomitee … Und ich weiß nicht mehr, ob es eine Rede des Vorsitzenden dieses Komitees oder andere Materialien gab, aber ich weiß, dass es ein Wort der Jubilare gab, und es wurde in diesem Samizdat veröffentlicht. Es gab Verpflichtungen, die nächsten fünf Jahre in zweieinhalb Jahren zu überstehen, und alles Mögliche ... Am 19. September 1964 feierte die schöpferische Jugend von Kyïv im Atelier der Künstlerin Ljudmyla Semykina den gemeinsamen 70. Geburtstag von Alla Hors’ka und Ivan Svitlyčnyj. Die Feiernden waren zu diesem Zeitpunkt jeweils 35 Jahre alt. Ivan Svitlyčnyj plante nicht nur eine lustige Veranstaltung, sondern auch eine Aktion mit einem gewissen politischen Unterton. Zur Vorbereitung des „Jubiläums“ wurde ein Zentrales Jubiläumskomitee (CJuK) gegründet. Der siebenundzwanzigjährige Journalist Vjačeslav Čornovil wurde zum Vorsitzenden des CJuK gewählt. Am „Jahrestag“ hielt der Leiter des CJuKs eine „historische Rede“. Ivan Svitlyčnyj hielt eine „nicht weniger historische“ Antwortrede im Namen der „berührten Jubilare“. Beide machten sich über den Personenkult, die Argumentation und alle möglichen „schicksalhaften Entscheidungen“ von Parteiplenen und -kongressen lustig.
126 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Könnten Sie mir bitte sagen, ob es in den 1960er Jahren Versuche gab, eine Zeitschrift regelmäßiger Erscheinungsweise zu erstellen? Das heißt, wo der Titel, die Nummer und so weiter angegeben werden würde? Vielleicht noch nicht als Zeitung, noch nicht als Zeitschrift, aber mit einer gewissen Regelmäßigkeit? In den späten 1960er Jahren gab es Gespräche darüber. Ivan Dzjuba kann Ihnen davon berichten, denn mit ihm haben wir einmal über eine solche Zeitschrift gesprochen. Aber das war vielleicht schon 1970 oder 1971. Ich glaube, dass die Idee schon früher aufkam. Etwa zur gleichen Zeit, als der „Ukraïns’kyj Visnyk“, eine politische Bürger-Zeitschrift, erschien, hatte Dzjuba die Absicht, eine literarische und künstlerische Zeitschrift zu gründen. Und ich glaube, dass er keine Zeit hatte, oder vielleicht hat er diese Gespräche nicht geführt, um es selbst zu tun. Ich bin nicht in der Lage, mich an all diese Dinge zu erinnern. Aber es gab damals Untergrundorganisationen, und vielleicht haben sie etwas veröffentlicht. Der „Ukraïns’kyj Visnyk“ war eine unzensierte gesellschaftlich-politische Zeitschrift (Januar 1970 – März 1972; August 1987 – März 1989). Im Gegensatz zur „Chronik der laufenden Ereignisse“ enthielt sie nicht nur Informationen über die Repressionen und die Lage der politischen Gefangenen, sondern präsentierte auch Werke, die im Samizdat üblich waren – historische Untersuchungen, Daten über den Völkermord an den Ukrainern, literarische Werke, Gedichte und Prosa. Der Herausgeber und Chefredakteur war der Journalist Vjačeslav Čornovil.
Ich weiß, dass „Volja i Batkivščyna“ (Wille und Vaterland) ... Nun, „Wille und Vaterland“ ist russisch, ja ja … Das versteht sich von selbst. Das ist bekannt. Aber es gab viele solcher Organisationen. In verschiedenen Oblast’en der Ukraine. Ich weiß nicht, ob sie ihre eigenen gedruckten Medien hatten oder im Selbstverlag herausgaben. Können wir also annehmen, dass der „Ukraïns’kyj Visnyk“ von Čornovil im Prinzip das erste bekannte Projekt war, das über den Kreis hinausging? Und über die Untergrundgruppe hinaus, denn er betonte, dass es sich nicht um eine Untergrundzeitschrift handelte. Sie haben ihn
„Auf der Schreibmaschine stand unten ‚Selbst-Verlag‘“ 127 heimlich gemacht, kein Zweifel, sonst hätte niemand eine einzige Ausgabe gesehen, aber er betonte immer wieder, dass es keine Untergrundzeitschrift sei. Wann haben Sie den „Ukraïns’kyj Visnyk“ in den 1970er Jahren kennengelernt? Hatten Sie Zeit, ihn zu lesen? Ich hatte nicht nur Zeit, es zu lesen, ich hatte sogar Zeit, mich daran zu beteiligen. Erzählen Sie mir ein wenig darüber. Ich werde Ihnen von einer Ausgabe erzählen. Ich habe vergessen, welche es war, entweder die erste oder die vierte, 1970, in der es um Alla Hors’ka und Symonenko ging. Ich glaube, sie war beiden gewidmet: dem Andenken an Hors’ka und Symonenko. Ich erinnere mich gut an diese Ausgabe. Ich weiß, dass im März, ganz am Anfang, vielleicht am 2. und 3. März 1970, Olenka Antoniv, die Ex-Frau von Čornovil, nach Kyïv kam, um mir zu meinem neugeborenen Sohn zu gratulieren, und irgendwo in ihrem Rock einen eingenähten „Ukraïns’kyj Visnyk“ mitbrachte. Aber es war wahrscheinlich nicht die Ausgabe, die dem Andenken von Alla Hors’ka gewidmet war. Am nächsten Tag, ich glaube, es war der 5. März, musste ich in das Dorf meiner Mutter in der Oblast’ Luhans’k fahren, und ich wusste nicht, was ich damit anfangen sollte. Zumal man ja nicht einmal jeden konsultieren kann. Aber Alla Hors’ka begleitete mich zum Flughafen, und wir saßen lange am Flughafen, das Flugzeug hatte mehrere Stunden Verspätung … Und ich gab ihr diesen „Ukraïns’kyj Visnyk“. Es tut mir also leid, dass diese Ausgabe nicht Alla Hors’ka gewidmet sein kann ... Oder enthielt diese Ausgabe vielleicht etwas aus ihrem künstlerischen Schaffen, sozusagen? Nein, er war nicht Alla Hors’ka gewidmet, denn Alla Hors’ka gewidmet war er ...
128 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht ... nach ihrem Tod ... Nach ihrem Tod, ja … Nein, es war die erste Nummer, offensichtlich. Ich habe vergessen, was für Beiträge darin waren. Und sie erzählte mir später, dass sie sie zu Jevhen Sverstjuk brachte, aber ich weiß nicht, ob sie sie bei ihm ließ, ob sie ihn später besuchte oder ob sie es ihm irgendwo gab. Das heißt, ich kann mich nicht an ihr weiteres Schicksal erinnern. Aber wahrscheinlich hat sie mir später davon erzählt. Ich weiß es nicht mehr. Ich hatte 1969, im Herbst oder Spätsommer, ein Gespräch mit Slavko Čornovil über den „Ukraïns’kyj Visnyk“. Es war wahrscheinlich am Ende des Sommers, etwa im August 1969. Ich fuhr nach L’viv und wohnte bei Olenka Antoniv und Čornovil, die immer noch gemeinsam wohnten, in der Spokijna-Straße 13. Und Slavko Čornovil sprach mit mir auf der Straße darüber. Wir gingen irgendwo hin, in Eile, und er bat mich, ihm zu helfen, eine Zeitschrift in Kyïv zu machen. Er sagte, dass er in L’viv alles einrichten würde, aber er wollte, dass ich in Kyïv einen Teil der Arbeit übernehme. Er sagte, du könntest vielleicht nach Tychyj Chutir gehen … Tychyj Chutir ist ein Dorf in der Oblast’ Čerkasy, das Dorf von Mykola Plachotnjuk. Und aus irgendeinem Grund hat er sich wohl erinnert, nach Tychyj Chutor zu gehen, denn dort gab es niemanden, seine Mutter war gestorben, das Haus war leer, und er sagte, dort könne man in Ruhe sitzen und tippen. Sie würden uns eine Schreibmaschine zur Verfügung stellen. Ich weiß nicht mehr, ob ich sofort abgelehnt habe, oder ob ich gesagt habe, dass ich darüber nachdenken, es abwägen muss … Ich weiß nicht mehr, wie, aber ich weiß, dass ich abgelehnt habe. Und ich nehme an, dass dieses Gespräch mitgehört wurde, denn während der Ermittlungen ging es in den Gesprächen hauptsächlich um meine Teilnahme, um die Tatsache, dass ich [den „Ukraïns’kyj Visnyk“] außerhalb von Kyïv druckte. Sonst nichts. Aber ich habe ihn nicht wirklich gedruckt ... Mykola Hryhorovyč Plachotnjuk (geb. 08.05.1936 – gest. 5. Februar 2015, Kyïv) war ein Phthesiologe und HNO-Arzt, ein Mitglied der SechzigerjahreBewegung, der ukrainischen Menschenrechtsbewegung. Nach den Verhaftungen am Denkmal 1967 rief er die Anwesenden auf, zum Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Ukraine zu gehen und die Freilassung der Verhafteten zu fordern. Er beteiligte sich an der Herausgabe
„Auf der Schreibmaschine stand unten ‚Selbst-Verlag‘“ 129 des unzensierten maschinengeschriebenen „Ukraïns’kyj Visnyk“, der vom Bruder seiner Frau, Vjačeslav Čornovil, herausgegeben wurde (er erschien seit Januar 1970), und baute in Kyïv ein Netz zur Sammlung von Materialien über die Ereignisse des kulturellen und künstlerischen Lebens und die Verfolgung von Aktivisten wegen ihrer Teilnahme an nationalen und öffentlichen Aktivitäten auf. Er wurde am 12. Januar 1972 verhaftet. Er wurde nach Artikel 62, Paragraf 1 des Strafgesetzbuchs der Ukrainischen SSR („antisowjetische Agitation und Propaganda“) angeklagt. Nach einer in Auftrag gegebenen Untersuchung im Allsowjetischen wissenschaftlichen V. SerbskijForschungsinstitut für allgemeine und forenische Psychiatrie entschied das Kyïver Oblast’gericht, dass Plachotnjuk in eine Zwangsbehandlung eingewiesen werden sollte. Als Opfer der sowjetischen Strafmedizin wurde er in einem psychiatrischen Krankenhaus in Dnipro und ab 1976 im Kazaner „Krankenhaus“ festgehalten. Im Juni 1984 wurde er auf Bewährung entlassen und arbeitete als Phthysiologe. Im Jahr 1991 wurde er rehabilitiert.
Und Sie haben offenbar nicht über das Gespräch mit Čornovil gesprochen? Nein, nein, niemals. Das war nur zwischen uns. Es konnte ihnen also nur aus diesem Gespräch bekannt sein. Zunächst konnte ich lange Zeit nicht verstehen, was mir vorgeworfen wurde, denn der „Visnyk“ war der Hauptvorwurf in dem Gespräch mit dem Ermittler, und erst am Ende der Untersuchung fragte ich: „Was werfen Sie mir vor, sagen Sie es mir konkret?“ Und der Ermittler sagte dann entweder etwas zu mir oder schlug vor, dass ich eine Art Erklärung über den „Ukraïns’kyj Visnyk“ schreiben sollte, aber in Wirklichkeit hatte ich nichts mit seiner Entstehung zu tun, außer der Tatsache, dass Olenka wahrscheinlich etwas mitbrachte … Aber davon wussten sie nichts. Natürlich wollte ich ihnen nichts davon erzählen, aber was sie vermuteten, ist nicht passiert, und ich konnte es leicht leugnen, obwohl es schwer zu beweisen war. Ich sagte nur, okay, ich bin einverstanden, ich kann unterschreiben, was Sie mir sagen, dass ich den „Ukraïns’kyj Visnyk“ in der Nähe von Kyïv gedruckt habe, aber sagen Sie mir genau, wo es war? Ich muss genau wissen, wo es war. Sie sagen mir: Zeigen Sie mir das Haus … Und welches Haus kann ich Ihnen zeigen, wenn es nicht passiert ist? Wo habe ich in der Zeit mein Kind hingebracht? Solche konkreten Dinge … Und diese Anschuldigung wurde nirgendwo offiziell erhoben. Ich weiß jetzt nichts über meinen Fall, ob er in den offiziellen Protokollen stand, denn es war alles nur Gerede.
130 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Haben Sie die Akte überhaupt mal gezogen? Nein. Ol’ha hat sie studiert, Ol’ha hat Exzerpte gemacht, und ich habe diese Auszüge, aber ich habe sie noch nicht angeschaut, denn es gibt eine Menge Informationen, ich habe keine Zeit, es gibt 15 Bände dieses Falles. Ich habe wirklich keine Zeit. Nun, es wäre interessant, aber sich hinzusetzen und sie zu lesen … Nein. Sie sind in der Verbannung mit Mykola [Rudenko] in Kontakt gekommen. Oder in der Zeit zwischen Ihrer Freilassung und Ihrer Abreise ins Ausland? Ich wurde im Mai ‘72 verhaftet, im Mai ‘76 entlassen, weil ich vier Jahre abgesessen hatte, und Ende 1978, im Oktober, verließ ich Kyïv. Während dieser Zeit war ich mit der ukrainischen Helsinki-Gruppe verbunden, die gerade im Entstehen war. Ich war kein Mitglied, d.h. kein offizielles Mitglied, obwohl man es mir angeboten hatte. Aber ich lehnte ab. Wer hat Ihnen dieses Angebot gemacht? Das Angebot kam von den jüngeren Mitgliedern der Gruppe, d.h. von Matusevyč und Marynovyč, mit denen ich befreundet war, und etwa eine Woche vor meiner Verhaftung wurde ich das letzte Mal von Rudenko angesprochen. Am 19. Dezember war ich auf der Geburtstagsfeier von Mykola Danylovyč in Konča Zaspa, und ich glaube, wir unterhielten uns, aber ich erinnere mich noch gut daran, wie er zu mir nach Hause kam, in die Umans ’ka-Straße, nur eine Woche vor seiner Verhaftung, und mich bat, der Helsinki-Gruppe beizutreten, aber ich lehnte ab und sagte, dass ich keine Notwendigkeit dafür sah, weil ich für die Gruppe arbeitete und es weiterhin tat. Ich dachte, um Mitglied zu werden, brauche man einen Namen … Eine Woche später wurde Rudenko verhaftet. Ich weiß, dass Horyn’ in L’viv Bulletins herausgegeben hat, obwohl er kein Mitglied der Gruppe war … Gab es Informations-Bulletins in Kyïv? Wurden sie verteilt, gedruckt? Es waren hauptsächlich Memoranden ...
„Auf der Schreibmaschine stand unten ‚Selbst-Verlag‘“ 131 Sie wurden von Mykola Danylovyč geschrieben, soweit ich weiß? Nicht nur. Meistens war es vielleicht Berdnyk zu dieser Zeit. Aber Rudenko hat sie wahrscheinlich auch geschrieben, und Meško hat wahrscheinlich etwas geschrieben ... Wurden sie im Samizdat vertrieben oder wurden sie eher für Radiosendungen gemacht? Schwer zu sagen. Ich glaube, die Ausrichtung war immer noch nach Westen. Und es ist schwer zu sagen, wie weit sie hier verbreitet waren. Ich übersetzte einige Memoranden, entweder vom Russischen ins Ukrainische oder vom Ukrainischen ins Russische, aber das wurde vor Gericht diskutiert. Dann wurde ich offiziell verwarnt, gemäß einer Art Erlass von 1972. Die Art von Verwarnung, die mit angeschalteten Tonbandgeräten und allem Drum und Dran ausgesprochen wurde … Und die Verwarnung, nach der sie mich vor Gericht bringen konnten, das heißt, mich vor Gericht stellen oder so. Das war im Dezember ‘77, wenn ich mich nicht irre. Und da haben sie mich tatsächlich beschuldigt, in der Helsinki-Gruppe zu arbeiten, obwohl ich eigentlich kein offizielles Mitglied war. Aber ich habe nicht geleugnet, dass ich ihnen geholfen habe. Ich weiß nicht mehr, in welcher Form diese Gespräche geführt wurden. Sie gingen im Dezember 1978 ins Ausland. Konnten Sie sich dort über die Kanäle für die Übergabe der Spitzen-Beiträge ins Ausland informieren? Es gab eine ganze Reihe davon. Ich konnte nicht über alle etwas herausfinden. Es gab einen Fall: Im ersten Monat nach meiner Ankunft fand der zweite oder dritte Kongress des WCFU statt. Der World Congress of Free Ukrainians (WCFU) wurde 1967 in New York gegründet. Ziel der Vereinigung ist es, das ukrainische Volk in seinem Kampf für Freiheit und staatliche Unabhängigkeit zu unterstützen und die Aktivitäten seiner Mitglieder zu koordinieren. Im Jahr 1993 wurde der Name in den aktuellen Namen – Ukrainian World Congress – geändert.
Es war in New York, im Hotel „Americano“, im November 1978. Ich kam am achten November an, das war Ende November
132 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht [23.–26. November 1978]. Und ich erhielt einen Anruf von Zinkevych, dem Direktor von „Smoloskyp“, der mich fragte, ob ich Šumuks Handschrift kenne: dass er den ersten Teil erhalten habe, d.h. den Anfang des ersten Teils, ohne den das Buch „Jenseits des östlichen Horizonts“1 veröffentlicht wurde. Und er hatte den Anfang des ersten Teils, das Manuskript, erhalten und wollte wissen, ob es seine Handschrift war. Ich sagte, dass ich die Handschrift gut kenne und sie identifizieren könne. Wir vereinbarten ein Treffen im Hotel. Wir treffen uns. Er zeigte mir ein Notizbuch, oder besser gesagt, eine Kopie des Manuskripts, das von meiner Hand gemacht war. Die Geschichte dieses Notizbuchs war interessant. Es war ein Notizbuch, das ich nach meiner Entlassung zufällig auf dem Regal im Badezimmer gefunden habe. Wie ist es dorthin gekommen, warum war es dort? Aber ich hatte solche Angst, Ol’ha davon zu erzählen, weil sie einen Herzinfarkt bekommen würde, denn wer weiß, was man dort noch alles finden kann, also nahm ich es schnell an mich und vereinbarte mit einem meiner Freunde, dem Mann meiner Freundin, dass er es verstecken würde. Wir waren uns einig, dass wir niemandem davon erzählen würden, und er versteckte dort noch ein paar andere Dinge, wie Tagebücher oder etwas anderes. Ich sammelte noch ein paar Briefe [ … ], wir trafen uns irgendwo, gingen zu einer Hausruine, zu der er Zugang hatte, und versteckten sie hinter einem Rohr, er zeigte mir den Ort, und wir vereinbarten kategorisch, dass weder er noch ich irgendjemandem auf der Welt davon erzählen würden. Wir haben es nie jemandem auf der Welt erzählt [ … ]. Wir taten es in aller Stille, niemand konnte uns belauschen. Und dann, buchstäblich zwei Monate später, ging ich dorthin und sah eine Kopie des Notizbuchs. Und ich fragte Zinkevych, wie es dorthin gekommen war, denn es war mein Werk, die Kopie eines Notizbuches, das eine seltsame Verwandlung durchgemacht hatte, und ich wollte wissen, wie das war. Er sagte: „Wir können unsere Quellen nicht offenlegen.“ So sagte er. Ich weiß nicht, wie ...
1
Danylo Šumuk, Za schidnym obrijem. Smoloskyp, Paris-Baltimore 1974 (Biblioteka Smoloskyp; 16).
„Auf der Schreibmaschine stand unten ‚Selbst-Verlag‘“ 133
Nadija Svitlyčyna in der Redaktion von Radio Svoboda 1988. Aus dem Bestand des Museums der Sechzigerjahre-Bewegung
Aber in der Regel, so weiß ich, arbeiteten sie mit Hilfe sowjetischer Seeleute in den Häfen … Oder Sportler. Die Ukrainer arbeiteten auch viel mit Sportlern … Besonders „Smoloskyp“ mit Hilfe von Sportlern … „Proloh“ vielleicht auch. Und außerdem nur mit einigen Persönlichkeiten, mit einigen vertrauenswürdigen Leuten, die kamen. Früher, in den 60er Jahren, kam vieles über die Tschechoslowakei, über Polen, aber hauptsächlich über die Tschechoslowakei. [...] Wie sind Sie auf die Idee gekommen, ein Vermittler zwischen der ukrainischen Bewegung hier in der Ukraine und der Welt zu werden? Viele Leute sagen, dass es dank Ihnen, Zinkevych, mehrere Stellen gab, an denen Samvydav betrieben wurde, an denen Werke veröffentlicht wurden ... Da ich in der Ukraine mich viel mit Samvydav beschäftigt habe, war es nur natürlich, dort, wo es alle Möglichkeiten gibt, weiterzumachen und zu publizieren. Außerdem lernte ich dort das Umfeld von „Proloh Sučasnosti“ kennen. Dort gab es die größten Samizdat-Archive, viele Archive, an denen ich beteiligt war, und
134 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht das hat mich auch an sie gebunden. Und das dritte Motiv: Gleich nach unserer Ankunft, während dieses WCFU, waren wir dort Ehrengäste: Ich, der gerade angekommen war, also frisch und jung, Petro Hryhorenko, der etwas früher, ein Jahr früher als ich, angekommen war, und Leonid Pljušč, der zwei Jahre früher angekommen war, und wir drei trafen uns dort und vereinbarten, ein Auslandsbüro der ukrainischen Helsinki-Gruppe zu gründen, zumal das Genehmigungsschreiben, ein schriftliches Genehmigungsschreiben, auf den Namen von Leonid Pljušč lautete. Wurde es von der Gruppe in Kyïv ausgestellt? Es wurde in Kyïv von der Gruppe erstellt … Es wurde geschrieben – wissen Sie, es wurde bereits veröffentlicht, eine Faksimile-Kopie wurde gedruckt – es wurde in einer solchen Handschrift geschrieben, wie kann ich Ihnen sagen … Nicht gedruckte Briefe, sondern solche gemalten Briefe, in einer ungewöhnlichen Handschrift, ich weiß nicht, wer sie geschrieben hat – und es war im Namen der Gruppe. Wir haben es in unserem Archiv. Und auch an Hryhorenko wurde herangetreten, erstens, und zweitens war er ein Gründungsmitglied der Gruppe … Er war ein Vermittler zwischen der ukrainischen und der Moskauer Gruppe, das heißt, er war sowohl Mitglied der ukrainischen als auch der Moskauer Gruppe. Und so schufen wir ein Auslandsbüro der ukrainischen Helsinki-Gruppe. Petro Hryhorovyč leitete es, und Leonid und ich – er in Frankreich, ich in Amerika – waren Assistenten. Wann immer ein Appell zu unterzeichnen war, unterzeichneten mehrere Personen. Auch Mitglieder der Vertretung unterschrieben, manchmal auch nur namentlich, zum Beispiel: Ayşe Seitmuratova, Raïsa Moroz, Viktor Borovs’kyj, der oft bei uns war, und ein paar andere. Außerdem brauchten wir unter den Gründern der ukrainischen Helsinki-Gruppe, um sie offiziell zu registrieren, auch Vertreter der Diaspora, amerikanische Bürger … Und Myron Smorodsky kam. Er kam mit Anwälten hierher und machte diese Sache. Es kostete jedes Mal eine Menge Geld … Obwohl wir alle ehrenamtlich arbeiteten, erstellten wir viele Verlautbarungen. Sobald wir ein Dokument erhielten, versuchten wir, es sofort an die Presse weiterzugeben, und manchmal nummerierten wir diese Mitteilungen
„Auf der Schreibmaschine stand unten ‚Selbst-Verlag‘“ 135 nicht, vergaßen, sie zu nummerieren, so dass es jetzt schwer ist, ihre Anzahl zu bestimmen. Die Presse – Sie meinen die ukrainische Presse? Nicht nur ... Und wie viele Publikationen haben solche Berichte über die Ereignisse in der Ukraine erhalten? Das variiert … Von drei bis anderthalb Dutzend, sagen wir mal ... „Ameryka“, „Svoboda“? „Svoboda“, „Narodna Volja“, „Ameryka“, es gab auch … es gab Zeitungen wie „Batkivščyna“, „Meta“, „Naša Meta“, und es gab eine sehr gute Unterstütztung seitens des Auslandsbüros der UHG namens „Ukraïns’ke žyttja“. Wir schickten auch Artikel an den kanadischen „Holos Ukraïny“ und „Novyj šljach“ ... „National Tribune“. „National Tribune“, ja … Und hat die englischsprachige Presse irgendwelche Nachrichten erhalten? Die englischsprachige Presse … Bestimmt hat „Ukrainian Weekly“ sie erhalten … Wir schickten Nachrichten an die amerikanische Presse, aber nicht immer, natürlich, fanden sie eine Antwort … aber gelegentlich kam es vor ... Wie ist es zu erklären, dass Amerika auf politischer Ebene die Geschehnisse in der UdSSR verurteilte, während die amerikanische Presse gegenüber den nackten Tatsachen der Unterdrückung in der UdSSR sich kalt verhielt? Das ist schwer zu sagen … Die Sache ist die, dass wir nicht so ein offensives Tempo bei der Verbreitung von Samizdat auf unserer Seite hatten … Zum Beispiel haben wir auf einer Menschenrechtskonferenz eine Dokumentation in englischer Sprache vorbereitet und erstellt, von
136 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Zeit zu Zeit haben wir uns an Senatoren und Kongressabgeordnete gewandt und sie an jeden von ihnen namentlich oder an den Kongress im Allgemeinen geschickt. Das variierte … Oder an den Präsidenten … Aber das ist nicht genug. Damit es effektiv funktioniert, muss man ständig Lobbyarbeit betreiben, man muss eine gut entwickelte Technik haben. Und wir … ich, Hryhorenko, wir haben es gedruckt und verschickt und uns damit beruhigt. Aber man muss weiter Druck ausüben. Man muss nach Leuten suchen, die man kennt, telefonieren, herumgehen … Es gibt eine Organisation namens „Americans for Human Rights in Ukraine“ (AHRU). Sie haben uns sehr geholfen. Sie haben Erfahrung, Kontakte, einen ausgetretenen Pfad … Sie hatten ihre Unterstützer unter den Senatoren, und sie halfen uns, den Durchbruch zu schaffen … Dann gab es in Philadelphia das „Valentyn-Moroz-Verteidigungskomitee“, anfangs gab es nur Moroz-Komitees. Manchmal haben sie geholfen. Zum Beispiel gab es im Kongress eine Anhörung zum Thema Postvergehen der Sowjetunion. Und über das Philadelphia-Komitee wurde ich gebeten, nicht nur Dokumente, sondern auch physische Beweise für solche Verstöße zu sammeln. Und ich gab ihnen die Originale, keine Kopien. Und ich bedauere, dass ich ihnen zum Beispiel einen Brief von Oksana Meško gegeben habe, in dem sie sehr deutlich ihre Querelen mit der Post beschrieb und ihre postalischen Rechte verteidigte. Ich habe einen Brief meines Bruders dorthin abgegeben, der zu mir zurückkam … Meine Adresse auf dem Umschlag war deutlich, seine Adresse war verschwommen. Er wurde wegen eines technischen Schadens zurückgeschickt. Ich übergab ihn als sachliches Indiz. Dann hatte ich noch eine interessante Geschichte: Ich habe natürlich Pakete geschickt, um zu helfen, und zwar mehr als einmal, und sie wurden an mich zurückgeschickt. Sehr oft kamen sie nicht an … Einmal fing ich an, von ihnen zu verlangen, dass sie erklärten, warum sie sie zurückschicken. Und „VnešPosylTorg“ in Moskau, die auch den internationalen Warenverkehr überwachte, schickte eine Erklärung an das Unternehmen, über das ich die Waren verschickt hatte. Sie gaben ihnen eine Kopie (ich habe auch eine Kopie, es ist ein interessantes Dokument): „Paketnummer so und so“ – und es gab ein Paket auf den Namen meines Bruders, mit einer
„Auf der Schreibmaschine stand unten ‚Selbst-Verlag‘“ 137 Druckmaschine, die verschickt werden durfte, also kein Verstoß gegen die Vorschriften war. Und er war bereits gelähmt, und ich hoffte, dass ihm das irgendwie bei seiner kreativen Arbeit helfen würde, vielleicht am Anfang. Für meinen Bruder also die Maschine, für Andrij Horbal, den Sohn von Horbal, einige Kindersachen, und das dritte Paket war für meine Mutter. Außerdem ein Paket mit Kleidern … Und sie schickten alle drei Pakete zurück, aber sie formulierten es so, dass es nicht erlaubt war. Nach einigen ihrer Gesetze ist das nicht erlaubt. Dann sagten sie, dass sie keine Pakete von irgendjemandem im Namen dieser Adressaten annehmen dürfen, und sie dürfen keine Pakete von mir für irgendjemanden annehmen. Das ist ein interessantes Dokument, das ich habe. Ich habe auch nach der amerikanischen Presse gefragt, die nicht sehr interessiert war ... Sie haben manchmal veröffentlicht … Die „Washington Post“, glaube ich, hatte eine große Veröffentlichung von Zenovij Krasivs’kyjs Briefen, aber noch einmal, das ist nicht unser Verdienst, das von mir und Petro Hryhorovyč, das ist der Verdienst der Gruppe von „Amnesty International“, Iris Akahoshi, wir hatten Korrespondenz mit ihnen. Anna Procyk war ihre Übersetzerin … Es gab Veröffentlichungen in der amerikanischen Presse, die gab es. Es gab einen großen Artikel über Stus, ich weiß nicht mehr wo, aber er stand in der „Washington Post“, oder in der „Washington Times“, mit Gedichten, mit übersetzten Gedichten. Das war noch vor dem Tod von Stus? Es war wohl vor dem Tod. Ich erinnere mich nicht mehr … es gibt sie natürlich, aber wo? Wann haben Sie angefangen, ganze Ausgaben des „Ukraïns’kyj Visnyk“ nachzudrucken? Sobald sie ankamen. Sobald wir sie bekamen, haben wir sofort versucht, sie nachzudrucken.
138 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Das war 1987, das System war schon etwas liberaler ... Nun ja, sie waren etwas konspirativ … Obwohl wir schon viel telefoniert haben. Viele Informationen kamen damals schon über Telefongespräche. Ich habe zum Beispiel Bohdan Horyn’ angerufen. Er hat mir Informationsblätter vorgelesen, einfach vorgelesen, und ich habe sie aufgeschrieben. Ich erhielt auch Briefe. Es gab Briefe mit konkreten Anweisungen, an mich oder an Hryhorenko, und es gab einfach Briefe an die Diaspora. Zinkevych hatte diese Tendenz, die ein bisschen krankhaft war, er versuchte, alles abzufangen. Oder vielleicht hatten sie alle diese Einstellung, ich weiß es nicht ... Es war für ihn ein verlegerischer Aspekt ... Vielleicht. Aber meistens gab es eine Art krankhafte Tendenz, der Erste zu sein. Und jeder versuchte, der Erste zu sein. Das ist im Prinzip normal, aber nicht auf Kosten von … Zinkevych hat mich oft einfach schamlos abgefangen. Er hat mich angerufen und gesagt: „Sie sollten diese und jene Sammlung erhalten. Haben Sie die Sammlung von Kalynec’ erhalten?“ – „Nein, habe ich nicht.“ Ein paar Tage später erhielt ich die Sammlung von Kalynec’, aber es war meine Sammlung, von mir umgeschrieben, und er hatte nichts damit zu tun. Da habe ich ihm schon nicht gesagt, was ich erhalten hatte … Ich weiß nicht, wie er es herausgefunden hat, denn es wurde über verschiedene Leute weitergegeben. Es gab mehr als ein- oder zweimal solche Fälle, aber ich nehme an, dass diese Leidenschaft des Entdeckers in vielen war, nicht nur bei ihm. Haben Sie die ersten sechs Ausgaben des „Ukraïns’kyj Visnyk“ nachgedruckt? Nein, nein. In der Tat wurden sie nachgedruckt, aber das war vor meiner Beteiligung daran. Sie wurden auch nachgedruckt, offenbar im Rahmen eines Wettbewerbs, bei dem es darum ging, wer sie als Erster abfangen und drucken würde, und zwar in „Proloh“, „Smoloskyp“ und der „Ukraïns’ka vydavnyča spilka“ (UVS) in London. Ich habe vergessen, welche – ich glaube, die fünfte – hat uns nicht erreicht, aber sie ist in London erschienen. Ich bin sicher, dass es veröffentlicht wurde, aber es war sehr schwierig, es in irgendeiner
„Auf der Schreibmaschine stand unten ‚Selbst-Verlag‘“ 139 Form zu finden, und dann habe ich mit Hilfe von Nina Strokata eine Kopie bekommen. Und es gab sogar parallele Nachdrucke, zum Beispiel „Smoloskyp“ und „Proloh“, „Smoloskyp“ und die Presse-Edition der Helsinki-Gruppe. Vielleicht haben sie sie parallel erhalten, ich weiß es nicht. Wir veröffentlichten, das heißt, das Auslandsbüro der Helsinki-Gruppe, unser offizieller Name war „Ljudstvo v dvadcatomu storičči“ (Menschlichkeit im 20. Jahrhundert), so waren wir registriert, aber informell nannte man uns das Auslandsbüro der ukrainischen Helsinki-Gruppe, so waren wir besser bekannt. Wir haben die achte Ausgabe nach der Erneuerung, die „Čornovil“-Ausgabe, die neunte bis zehnte in einem Buch, die elfte bis zwölfte in einem Buch neu herausgegeben. Und die dreizehnte. Außerdem die Express Newsletters. Ich weiß nicht mehr, ob Sie sie auf Ihrer Liste haben ... Ich habe sie auf meiner Liste … Ich weiß, natürlich, aber ich habe sie nicht. Wir haben etwa drei oder vier davon nachgedruckt. Sie müssen sie Ihnen also am Telefon vorgelesen haben? Nein, nein, sie waren zu umfangreich, um sie am Telefon vorzulesen. Sie waren dreißig … fünfzig … Seiten lang. Die achte Ausgabe war … nein, die erste Ausgabe war es. Denn wir hatten die Titelseiten verwechselt, und später haben wir sie von acht auf eins korrigiert, so dass die erste Ausgabe die achte war … So wurde das Cover gestaltet … der Künstler hat es auch für den „Ekspres-Visnyk“ gemacht. Auch für die erste, achte und dreizehnte Ausgabe. Wir haben versucht, dem „Ekspres-Visnyk“ die gleiche Farbe zu geben wie dem „Visnyk“ der entsprechenden Ausgabe. Das heißt, die elfte bis zwölfte Ausgabe war gelb, und so war auch der „Ekspres-Visnyk“ gelb. Die dreizehnte Ausgabe war rosa, also war auch der dreizehnte „Ekspres-Visnyk“ rosa. Der dreizehnte „Ekspres-Visnyk“ handelte, glaube ich, von den Kundgebungen in Kyïv, und eine andere Ausgabe des „Ekspres-Visnyk“ war den Kundgebungen in L’viv gewidmet, sie hieß „Zehn Tage, die L’viv erschütterten“. So lautete der Untertitel. Ich weiß nicht mehr, wann die erste Ausgabe erschienen ist und welche Art von Material sie enthielt.
140 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Wie hoch war die Auflage der „Visnyky“, also des „Ukraïns’kyj Visnyk“ und des „Ekspres-Visnyk“? Ich habe es vergessen … wahrscheinlich bis zu tausend … wahrscheinlich weniger als tausend ... Hatten Sie etwas mit der Veröffentlichung von „Kafedra“ zu tun? Wir veröffentlichten zwei Ausgaben von „Kafedra“, dann bekamen wir eine weitere „Kafedra“, aber wir waren nicht mehr in der Lage, sie zu veröffentlichen. Und es scheint, dass sich die Atmosphäre in der Ukraine bereits geändert hatte, es bestand nicht mehr die dringende Notwendigkeit, sie zu verbreiten … Es war wahrscheinlich billiger, hier [in der Ukraine] zu drucken als dort … Wir hatten unsere finanziellen Ressourcen bereits erschöpft, weil Petro Hryhorovyč starb, und Rudenko war ein wenig anders orientiert, obwohl er die ukrainische Helsinki-Gruppe nach Hryhorenko leitete, aber er hatte eine andere Ausrichtung. Er war mehr auf die Parteiaktivitäten konzentriert. Er begann, die Ukrainische Helsinki-Union zu unterstützen, aber ich persönlich wollte nicht, ich wollte der Ukrainischen Helsinki-Union nicht beitreten, vor allem, weil sie sich bereits zu einer Partei entwickelte. Was war der Grund dafür? Es war nicht aus prinzipiellen Gründen. Ich unterstützte Čornovil, seine Aktivitäten, die Union, und ich half ihnen, aber ich wollte nicht, dass das Auslandsbüro der ukrainischen Helsinki-Gruppe ein Organ der Helsinki Union wurde, ich war dagegen. Vielleicht, weil es dort eine Parteiorientierung gab, und wir wollten das nicht, und nach der Satzung konnten wir das wohl auch nicht. Einerseits gab es einige Einschränkungen, unsere satzungsmäßigen, und andererseits wollte ich persönlich keine Energie für die Partei aufwenden, ich wollte nicht mit der Partei in Verbindung gebracht werden, so sehr ich sie auch mochte. Wir haben gesehen, dass es neunhundert Veröffentlichungen gab, zumindest die, von denen wir heute wissen. Ist Ihnen diese informelle Presse in
„Auf der Schreibmaschine stand unten ‚Selbst-Verlag‘“ 141 die Hände gefallen? Nicht nur die dicken literarischen und politischen Zeitschriften, sondern auch die eher massenhaft produzierten Flugblätter und Zeitungen? Ja, sind sie. Wir haben einige Ausgaben, verschiedene Zeitungen. Nun, „Naša Vira“ (Unser Glaube) traf regelmäßig ein. Ich glaube, ich habe alle Ausgaben von „Naša Vira“, sogar die allerersten. Ich habe auch einige einzelne Ausgaben, zum Beispiel „Kam’janyj Brid“, ich habe mehrere Ausgaben. Ich kenne so eine Zeitung gar nicht. Aus Luhans’k. Luhans’k. Nun, ich habe ein paar Nummern. Ich habe noch nicht einmal davon gehört ... Hajvorons’ka war die Herausgeberin dieser Zeitung. Ich glaube, sie war in der ganzen Welt unterwegs, oder so. Wie ist ihr Name? Hanna, ich glaube, Hajvorons’ka. Ich werde nächste Woche in Luhans’k sein … Ich habe sie nie getroffen. Als ich sie traf, wusste ich nicht, wer sie war, und ich ging weg, weil sie anfing, mit meinem Begleiter zu sprechen, und ich ging weg, um sie nicht zu stören, und dann fand ich heraus, dass das Hajvorons’ka war. Ich habe viele Zeitungen über die „Samizdat-Beiträge“ bekommen ... Was für ein Kanal war das, erzählen Sie uns. Bei „Radio Liberty“ wurde eine eigene Abteilung eingerichtet: „Samizdat-Beiträge“. Sie wurde von einem Amerikaner, Peter Dornan, gegründet. Ich habe vergessen, in welchem Jahr sie gegründet wurde, aber als ich ankam, war sie bereits voll ausgelastet, es gab bereits ein Hauptquartier in dieser Abteilung, und in der Tat ging eine Menge Material über sie in den Westen. Das heißt, es gelangte nicht direkt an die ukrainischen Publikationen dort, den ukrainischen
142 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Samizdat, einschließlich ukrainische Selbstveröffentlichungen, als zu „Smoloskyp“ oder zur Helsinki-Gruppe oder zu „Proloh“. Zum Beispiel der „Chrystyjans’kyj Holos“, alle Ausgaben von Terelja. Josyp Terelja (geb. 27. Oktober 1943, Kelečyn, Ukraine – gest. 16. März 2009, Toronto, Kanada) war ein ukrainischer Mystiker, Märtyrer, moderner Prophet und heutiger Prophet aus der Westukraine, Schriftsteller, griechischkatholischer Dissident, politischer Gefangener und Emigrant aus der UdSSR, der in Toronto lebte.
Terelija veröffentlichte die „Chroniky katolyc’koï Cerkvy“ ... Ich meine die „Chroniky katolyc’koï Cerkvy“, sie ist meistens ... Ich habe sie übrigens auch nicht ... Ich habe sie ... Ein paar Titel kenne ich, aber ... Ich habe es vergessen, aus irgendeinem Grund habe ich sie mit der „Chrystyjans’kyj Holos“ in Verbindung gebracht. Obwohl „Holos“, er schrieb 1 (34), er setzte die Nummerierung von Terelja fort. Ich habe mehrere Ausgaben, wahrscheinlich nicht alle. Aber viele, vielleicht zehn, ich weiß es nicht … Ich war einmal für zwei Wochen in München, entweder ‘82 oder ‘83, und Peter Dornan bat mich, ihm bei etwas zu helfen. Er ist jetzt berühmt beim Sender, ein Amerikaner, lebt in Philadelphia oder sonst wo, ich weiß nicht, ob er noch lebt. Er ist kein sehr alter Mann, aber er ist im Ruhestand. In dieser Abteilung arbeiteten mehrere Personen – vielleicht sechs Personen. Sie veröffentlichten diese Beiträge und verteilten sie – ich weiß nicht, wie viele Exemplare, aber jede Abteilung bei „Radio Liberty“ erhielt diese Materialien. Und Bibliotheken bekamen sie.
„Auf der Schreibmaschine stand unten ‚Selbst-Verlag‘“ 143 Waren es Bücher oder Broschüren? Das waren „Heftchen“. Und neben den Samizdat-Beiträgen gab es noch mehrere andere Abteilungen, die Beiträge verteilten. Bibliotheken konnten zum Beispiel ein Abonnement abschließen, und einige Forscher erhielten kostenlose Kopien. „Smoloskyp“ hat es natürlich bekommen, „Proloh“ hat es bekommen, ich habe es separat bestellt, und es wurde mir jeden Tag zugeschickt, ich bekam … sowohl russischen Samizdat als auch ukrainischen Samvydav. Also gab es eine tägliche Ausgabe? Es gab tägliche Ausgaben. Aber das waren keine „Beiträge des Samizdat“. Vakhtang Kipiani, Nadija Svitlyčyna. 21. August 2003.
Ivan Hel’
„Der Ehrenkodex. Der Status eines politischen Gefangenen“ Ivan Hel’ (17. Juli 1937, Dorf Klicko, Powiat gródecki, Woiwodschaft Lwów, Republik Polen – 16. März 2011, L’viv, Ukraine) Ivan Hel’ wurde in die Familie eines ehemaligen UGA-Soldaten geboren, der die örtliche „Prosvita“ leitete und mit der Ankunft der Sowjets Leiter einer Kolchose wurde, aber aktiv die OUN im Untergrund unterstützte. Wegen seiner Zusammenarbeit mit der OUN wurde Ivan Hel’s Vater 1950 zu 20 Jahren Lagerhaft verurteilt. Als er Mychajlo Horyn’ kennenlernte, schloss er sich der Dissidentenbewegung an und begann, Samizdat zu produzieren und zu verbreiten. Am 24. August 1965 wurde er verhaftet und im März des folgenden Jahres wegen „antisowjetischer Agitation und Propaganda“ und „organisatorischer Tätigkeiten“ zu drei Jahren Lagerhaft verurteilt. Im Jahr 1972 wurde er zum zweiten Mal verhaftet und zu 10 Jahren Lager und 5 Jahren Verbannung verurteilt, da er als besonders gefährlicher Rückfalltäter galt. Im Gefängnis schrieb er das Buch „Facetten der Kultur“, in dem er die Situation der ukrainischen Kultur während der russischen Besatzung analysierte.1 Auf dem Kalender steht bereits 1975. Karavans’kyj und ich hatten die Idee, für den Status eines politischen Gefangenen zu kämpfen. Es war eine sehr schmerzhafte, aber notwendige Sache – sowohl dieser Status als auch der Kampf selbst. Der Kampf ist sehr hart, anstrengend und undankbar, denn man muss hungern, sich weigern zu arbeiten, das Abzeichen mit dem eigenen Namen abnehmen
1
Stepan Hoervlja (= Ivan Hel’), Hrani kul’tury. L’viv 1984. NTŠ, L’viv 1993; Stepan Hoverla, The facets of culture. Ukrainian Central Information Service, London 1988.
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146 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht
Ivan Hel’, Foto: V. Kipiani
f. 16, op. 01, spr. 1050-0280
… Es war eine sehr starke Idee, aber sie erforderte Hingabe, echte Askese. Zu dieser Zeit gab es einen sehr bedeutenden Moment in der psychologischen Atmosphäre. Wenn nur ein oder zwei politische Gefangene der sechziger Jahre – Ivan Svitlyčnyj, Levko Luk’janenko, Vasyl’ Stus oder sogar jemand von kleinerem Kaliber – in diesem Sonderregime gewesen wären. Und wer war dort? Kriminelle. Auch Danylo Šumuk, Balys Gajauskas – erschöpfte Menschen. Eduard Kuznecov, Oleksij Murženko, Jurij Fedorov – die „Flieger“ [„Letuny“ – Teilnehmer an der versuchten Entführung eines Passagierflugzeugs in Leningrad am 15. Juni 1970 – Anm. d. Red.] Sie wollten sich daran nicht beteiligen. Ich glaube, ich muss hier ganz offen darüber sprechen. Wir müssen die Wahrheit sagen, die wahren Fakten, die wichtigsten Dinge. Karavans’kyj und ich sind immer die Initiatoren gewesen. Als ich also Kuznecov über den Status eines politischen Gefangenen und den Hungerstreik erzählte, antwortete er wie folgt: „Andreevič, Sie und ich sind wichtige Persönlichkeiten. Man wird uns nicht fragen, wie wir überlebt haben – wichtig ist, dass wir überleben, und dafür werden wir Nationalhelden sein. Wie wir überleben, ist eine andere Frage. Wozu zum Teufel braucht ihr diese Hungerstreiks? Wozu zum Teufel braucht ihr diese Proteste? Lebt einfach friedlich, solange ihr noch könnt“.
„Der Ehrenkodex“ 147 Und die „Piloten“ hatten immer noch Stereo-Postkarten (und einige unserer Jungs, vor allem Mychajlo Osadčyj und ein wenig Vasyl’ Romanjuk, was für eine Schande). Sie wurden aus Israel und Moskau geschickt. Die Gefangenen und Gefängniswärter nannten sie einfach „Morguškas“, „Zwinkernde“. Wenn man sie schräg dreht, öffnen sich die Brüste einer Frau und die Schönheit zwinkert. Manchmal auch eine nackte Frau. Und für kriminelle Gefangene und Polizisten war der Besitz einer „Morguška“ ein ungewöhnlicher „Nervenkitzel“, teurer und wichtiger als Geldmittel. Eine Stereokarte war konvertierbares Geld. Sie war das wichtigste Zahlungsmittel für alles, fügt Vakhtang Kipiani hinzu. Ja, für alles. Ein Verbrecher würde Edik Kuznecov fünf dieser „Morguškas“ abnehmen und ihm eine Monatsdiät hergeben. Und er selbst litt an Tuberkulose. Diese Diät unterschied sich nicht sehr von der allgemeinen Ration, aber sie enthielt etwa 30–40 Gramm Butter, 50 Gramm Zucker, Weißbrot, mehr Fleisch, und es gab Reis, nicht „Graupen“ und Hirse. Kurzum, sie unterschied sich von den üblichen Häftlingsrationen. Er gibt auch 5 „Morguškas“ her – und die Kriminellen arbeiten für ihn, um die monatliche Quote zu erfüllen. Die Arbeit ist schädlich – wir schleifen Kristall mit einem Schleifmittel und müssen die monatliche Quote erfüllen. Zwei an den Kriminellen – auf die Weise tut Edik nichts – er geht zur Arbeit, hat aber Zeit zum Lesen, nimmt ein Buch mit zur Arbeit. Šumuk ist bei ihm. Er ist über 60 Jahre alt und hat bereits das Recht, nicht zu arbeiten. Sie sitzen und reden während der ganzen Arbeitszeit. Sie lesen und tun nichts, und jemand anderes „arbeitet“ für Edik. Dieser Gefangenenstatus ist sehr ansteckend. Es ist wie eine Ansteckung mit Profit für die Oligarchen. Es ist sehr schwer, unter diesen Bedingungen auszuhalten und moralisch stabil zu sein, weil man immer hungrig ist und immer hart arbeitet. Kuznecov und Murženko haben uns also alle damit angesteckt. Dann schrieben Karavans’kyj und ich den „Ehrenkodex eines politischen Gefangenen“. Dieser „Ehrenkodex“ bestand aus etwa 20 Punkten. Er enthielt elementare Dinge: Ein Politgefangener hat kein moralisches Recht, die Essensrationen
148 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht eines anderen zu kaufen; ein Politgefangener hat kein moralisches Recht, einem anderen Gefangenen die Arbeitsnorm abzukaufen, indem er auf die Schwächen eines anderen spekuliert. Denn warum haben die Kriminellen ihre Rationen und ihre Normen verkauft? Weil sie drogenabhängig und starkteesüchtig waren. Ein Krimineller gab einem Polizisten eine Postkarte, und der Polizist brachte ihm für eine Postkarte fünf Päckchen Tee. Können Sie sich das vorstellen? Fünf Päckchen Tee in einer Sonderzone bedeuten die Möglichkeit, fünf Tage lang Čyfir-Starktee zu trinken. Er gibt die Postkarte einem anderen, und dieser bringt ihm fünf Päckchen Hustentabletten mit Codein. Der Kriminelle ist krank, drogenabhängig. Auf diese Weise spekulierten die „Flieger“ darauf, den Tod der Tuberkulosepatienten zu beschleunigen. Vorauseilend möchte ich sagen, dass mit der Ankunft von Alexander Ginzburg der Handel mit „Morguškas“ im Wesentlichen zum Erliegen kam. Er nahm die harte Arbeit trotzig auf: Er sprach nicht mit Kuznecov, und es kam zu einem offenen Konflikt zwischen ihnen. Also schrieben Karavans’kyj und ich diesen „Ehrenkodex“ und gaben ihn allen politischen Gefangenen zu lesen. Die meisten von ihnen handelten jedoch stillschweigend. Aber die kriminellen Häftlinge waren nicht still. Obwohl sie ihre Essensrationen verkauften, empörten sie sich darüber, dass sie ihnen zu viel wegnahmen, dass sie sich an der Ernährung von Tuberkulosekranken „mästeten“. Die „Flieger“ waren über den Kodex selbst empört. Wie können Sie es wagen, uns zu lehren, wie wir leben sollen? Besonders Kuznecov. Und Osadčy: „Komm schon, Ivan … Wenn du ein Heiliger sein willst, wir sind im Gefängnis.“ Denn es war oft so: Man erinnerte ihn an den Hungerstreik, etwa am 10. Dezember, und er sagte: „Sie werden dir deinen Kiosk wegnehmen ...“ Der Kiosk, das hieß, man konnte für 4 Rubel Zigaretten oder ein Kilo dieser „Polsterchen“ kaufen, oder ein halbes Kilo gemischtes Essen, oder etwas anderes. Kurz gesagt, das Leben ist hart, es ist eine Prüfung, eine wichtige Phase im Leben eines Gefangenen: Du wirst überleben oder nicht. Die Kombination all dieser Faktoren führte dazu, dass die Zone in zwei Teile geteilt wurde. Ich war mit Karavans’kyj in der Minderheit. Balys Gajauskas ist neutral. Und die Wichtigsten sind
„Der Ehrenkodex“ 149 die „Flieger“. Sie wissen, wie man die Dinge dreht: Murženko und ich sitzen in derselben Zelle. Sie werden also negative Informationen verbreiten … Auf der anderen Seite stehen Šumuk, Sarančuk, Osadčyj und ein wenig Vater Romanjuk (als Ivan Svitlyčnyj starb, kam ich zur Beerdigung in die St. Volodymyr Kathedrale. Romanjuk lud mich in den Altarraum ein und entschuldigte sich für das, was in Sosnovka geschehen war. Er sagte, ich bin sehr erleichtert, dass ich meine Seele vor Ihnen gereinigt habe. Wir unterhielten uns lange, und ich nahm es ihm nicht übel, aber er gehörte tatsächlich zu denen, die sich anschlossen). Kuznecov war ein gerissener und übrigens auch ein guter Organisator, wie ein „Pate“: Er schüchterte einige Leute ein und gab anderen ein „Zuckerbrot“ – eine „Morguška“. Wenn man sich also gegen ihn stellt, wird er einem nichts geben. Ich hätte sie natürlich nicht genommen, aber er hatte genug von diesen Postkarten, um sie Osadčyj und Romanjuk zu geben. Šumuk ging ständig zur Arbeit, aber es wurden keine Anforderungen an ihn gestellt. Er machte sich keine Sorgen um seine Arbeit. Es war vor allem das Zellenregime im Gefängnis, das dazu führte, dass die Gefangenen in zwei Teile geteilt wurden, in diejenigen, die angeblich koscher waren, und diejenigen, die es nicht waren. Aber Leben ist Leben. Als Moroz aus dem geschlossenen Gefängnis zurückkehrte, verkomplizierte er den Konflikt. Denn Moroz war als politischer Gefangener in jeder Hinsicht moralisch auf einem sehr hohen Niveau. Er nahm an Hungerstreiks teil, er war ein sehr aktiver Politgefangener. Moroz’ Problem war jedoch, dass er nicht wusste, wie er mit den Menschen reden sollte, wie es die Situation erforderte. Es wurden zwei Gruppen gebildet, und er wurde als Schiedsrichter eingeladen, um zu urteilen, denn es gab zwei Positionen. Aber sie wollten ihn auf ihre Seite ziehen. Und Moroz machte einen taktischen Fehler. Moroz sagte: „Leute, ihr wart während der Ermittlungen so standhaft und habt euch überall wie Helden verhalten, und jetzt lasst ihr euch von zwei miesen Juden manipulieren?“ Wenn er das nicht gesagt hätte, wäre die Konfliktsituation vielleicht nicht aufgeflammt. Vielleicht wäre sie nicht ganz verschwunden, aber sie wäre auch nicht explodiert. Moroz’ Satz war wie eine Atombombe: Wenn sie eine kritische Masse erreicht, explodiert sie. Warum? Weil Moroz einen
150 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht nationalen Faktor anstelle eines rein moralischen einführte. Und Šumuk hat den Konflikt absichtlich provoziert: Moroz sprach so nur unter Ukrainern. Man konnte ihn verurteilen. Damit gut. Aber Šumuk traf sich mit Kuznecov und verriet die Position von Moroz. Das heißt, er verriet Moroz absichtlich. Von diesem Zeitpunkt an hatte Moroz eine absolut negative Reputation. Und Šumuk, als erfahrener Intrigant, gewann Verbündete. Sie schrieben mir sofort, dass Moroz ein Antisemit sei, dann schrieben sie mir, dass ich mich wegen meiner Position zu Kaufdiäten und Rationierung mit Kriminellen gutstelle. Und sie waren mir zahlenmäßig überlegen, weil sie sich zusammenschlossen und es mehr von ihnen gab. In der Tat, sie jagten mich: Edik Kuznecov und Murženko überredeten und provozierten andere, vor allem Kriminelle, indem sie behaupteten, Hel’ sei gegen die Lieferung von „Morguškas“. Sie mussten ihm einfach eine Lektion erteilen. Zu dieser Zeit befand ich mich im Hungerstreik, um den Status eines Politgefangenen zu erhalten. Sarančuk wurde in meine Zelle geschickt, um den Hungerstreik zu beenden. Aber nach einiger Zeit wurde das Atmen leichter. Als Alik Ginzburg ankam, schloss er sich unserer Gruppe an. Er tat demonstrativ das Übliche. Um diese „Morguškas“ zu entwerten, verschenkte er sie an kranke Kriminelle, denn auch er bekam eine Menge davon. Und wegen dieses unmoralischen Verhaltens kam es zu Konflikten zwischen Kuznecov und Ginzburg. Sie grüßten sich nicht mehr und sprachen nicht mehr miteinander. In dieser bereits recht angespannten Atmosphäre, aber lange vor dem Konflikt, hatten Svjatoslav Karavans’kyj und ich eine Idee und schrieben die „Verhaltensregeln zum den Status eines sowjetischen Politgefangenen“. Karavans’kyj schrieb die Präambel, und ich formulierte 14 Punkte mit Forderungen. Wie sich später herausstellte, blieben die Präambel und die ersten 14 Punkte im gesamten Dokument unverändert. Es wurden lediglich neun oder zehn weitere Punkte hinzugefügt. Sie wurden von Vjačeslav Čornovil formuliert. Die Situation stellte sich wie folgt dar. Zu diesem Zeitpunkt waren Kuznecov, Murženko, Sarančuk und ich sowie Ivan Lozyns’kyj und Ostap Knap (Soldaten eines deutschen Bataillons, das zur Bekämpfung belarussischer Partisanen eingesetzt wurde
„Der Ehrenkodex“ 151 und denen Kuznecov und Murženko mit besonderer Verachtung und Intoleranz begegneten) von den Gefängniswärtern in derselben Zelle untergebracht. Natürlich gehörten Kuznecov, Sarančuk und Murženko zu den ersten, die das Dokument lasen, obwohl alle politischen Gefangenen es gelesen hatten. Kuznecov war ein entschiedener Gegner des Kampfes um den Status, und Šumuk sagte, es sei eine „dumme Idee“, weil niemand sie unterstützen würde, da sie zu viel Geld erfordere. Wir wickelten das Dokument in Zellophan ein. Es konnte nur über das Krankenhaus in andere Gebiete gebracht werden. Kuznecov wurde nach Baraševo geschickt. Und zudem von unserer Zelle aus, wo das Dokument auf seine Zeit wartete. Im Auftrag des „Spezialisten“ schicken wir das Dokument über Kuznecov in andere Zonen. Ich glaube, als er sich mit Čornovil in Baraševo traf, musste er die Autoren nennen, weil er wusste, wer die Bestimmungen geschrieben hatte. Kuznecov stellte sich aber gegenüber Čornovil als Verfasser des Dokuments vor. Čornovil stellte es fertig und schickte es nach Moskau, wobei er ihn als „Mitverfasser“ bezeichnete (Sehen Sie, wie anständig). Es ist daher verständlich, warum Ljudmila Alekseeva in ihrem Werk diese Namen als Autoren der Idee und des Dokuments über den Status der politischen Gefangenen nennt. Und in den Informationen über O. Murženko scheinen Sie, Herr Vasyl’, zu schreiben, dass Kronid Ljubars’kyj und O. Murženko in Baraševo zum ersten Mal über den Status eines politischen Gefangenen gesprochen haben. Es ist auch alles klar: Lange vor der Etappe in Baraševo hatte Murženko die Verordnungen gelesen und mit Ljubars’kyj recht „kompetent“ über dieses Thema gesprochen. Und Ljubars’kyj hat nach seiner Entlassung aus der Haft auch nobel und ehrlich über Murženkos „Verwicklung“ in den Status eines politischen Gefangenen informiert.2 So gingen die beiden „Flieger“, die sich am heftigsten gegen die Idee wehrten, für den Status eines politischen Gefangenen zu 2
V. Kipiani / V. Ovsijenko, Art. O. Murženko, in: Jevhen Zacharov / Vasyl’ Ovsijenko (ukl.), Mižnarodnyj biografičnyj slovnyk dysydentiv kraïn central’noï ta schidnoï Jevropy i kolyšnoho SRSR. Tom 1. Ukraïna. 1. Charkivs’ka Pravozachysna Hrupa, Charkiv 2006, 496–499.
152 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht kämpfen, ironischerweise und durch ihre Fähigkeit zu stehlen und sich anzueignen, was ihnen nicht gehörte, als die Urheber der Idee und der „Verhaltensregeln zum den Status des Politgefangenen“ in die Geschichte ein. Warum mussten sie für den Status kämpfen, wenn sie ihn, wenn auch einen schwachen Status, für „Morguškas“ gekauft haben? Nach seiner Rückkehr aus Baraševo wurde Kuznecov irgendwie überstürzt und ohne ersichtlichen Grund in eine andere Zelle verlegt. Wir trennten uns recht freundschaftlich. Karavans’kyj merkte jedoch, dass Edik etwas im Schilde führte, als er unsere Zelle, in der er wie ein Lord lebte, ohne Grund verließ. Kuznecov und Murženko akzeptierten Karavans’kyj nicht, weil sie ihn für einen deutschen Komplizen hielten, und Šumuk hasste ihn einfach, weil Karavans’kyj ihn nicht als regionalen Anführer der OUN anerkannte, als der sich Šumuk immer präsentierte. Mychajlo Soroka weigerte sich demonstrativ, ihm die Hand zu geben – ich habe das mehrmals in Gesellschaft gesehen, aber Mychajlo hat nichts erklärt, sondern nur gesagt: Ich werde diesem Mann niemals die Hand geben. Und das war in Javas, während meiner ersten Inhaftierung. Und bei der „besonderen“, als Šumuk sich wieder einmal, während des üblichen Gesprächs über alte Zeiten, als regionaler Führer bezeichnete, konnte Karavans’kyj nicht umhin, im Beisein mehrerer Personen sarkastisch zu bemerken: „Warum, Danylo, erinnern Sie alle mehrmals am Tag daran, dass Sie regionaler Anführer waren? Diejenigen, die es waren, sprechen nicht darüber. Und Sie wurden in die Oblast’ Žytomyr geschickt, bekamen 13 Kämpfer und den Auftrag, ein Untergrundnetzwerk aufzubauen. Wenn Sie es aufgebaut hätten, wären Sie vielleicht dessen Anführer geworden. 40–50 km von Ihrem Ausgangspunkt entfernt sind Sie in die Hände der Wachen gefallen. Wie mir Ihre eigenen Leute erzählt haben, haben sie dir nicht einmal einen ordentlichen Kampf geliefert – Sie haben sofort ‚Hände hoch‘ gemacht“ – „Ihnen steht es nicht zu, mich zu verurteilen, Sie haben doch selbst ein Geständnis abgelegt“, warf Šumuk hysterisch ein, stand auf und ging. Aber er musste warten, bis er Feierabend hatte. Alle gingen auch wieder an die Arbeit. Das war ein guter Eimer Öl für den sich anbahnenden, aber noch nicht flammenden Konflikt.
„Der Ehrenkodex“ 153 Anfang 1976 habe auch ich schreckliche Fehler gemacht … Ich bereitete mich darauf vor, für den Status eines Politgefangenen in den Hungerstreik zu treten, aber ich wartete auf den Frühling, denn die Zellen werden ab Mitte April nicht mehr geheizt, und bis Mitte Mai ist es hundekalt. Nachdem ich viel Erfahrung mit Hungerstreiks gesammelt hatte, war mir klar, dass ich einen Hungerstreik in der Nebensaison nicht lange durchhalten würde, da ich durch Hunger und Kälte geschwächt war. Daher plante ich, Mitte Mai zu beginnen, wenn es draußen und in den Einzelhaftzellen, in denen die Hungerstreikenden isoliert waren, wärmer sein würde. Etwa im Februar oder März, vielleicht sogar im April, kam die Information aus der „großen Zone“, dass Osadčyj über die unerträglichen Bedingungen seines Gefängnislebens verzweifelte Briefe nach Hause schrieb und bereit war, in einem deprimierten Zustand ein Geständnis abzulegen. Dies war sehr ernst und bedauerlich, obwohl es Osadčyj selbst nicht betraf. Die Quelle der Information war Vater Vasyl’ Romanjuk. Er hatte sie von einem Besuch von seiner Frau mitgebracht. Von seinem Besuch brachte er auch eine andere Information mit ins Lager: dass Raja Moroz angeblich mit dem KGB zusammenarbeitete. Was Osadčyj betrifft, so schlug Šumuk vor, einen Boykott auszurufen. Da wir nicht miteinander sprachen, kam Vater Vasyl’ mit dieser Idee zu mir (ich nannte ihn übrigens Vater, weil er sich, als er ins Lager kam, als Vasja Romanjuk vorstellte, und die Kriminellen ihn so nannten). Und ich fing demonstrativ an, ihn Vater Vasyl’ zu nennen, erklärte ihm, wie wichtig das für ihn sei, und half ihm als Geistlichem sogar, die Norm zu erfüllen. Er war ja schließlich so klein wie ein Stängel). Ich sagte dem Vater, dass ich dem nicht zustimmen könne, weil Osadčyj noch nicht bereut habe, und wir würden schon anfangen, ihn zu boykottieren. Das sei es, was ihn zur Reue bewegen werde, wenn er mit dieser Idee herumläuft. Im Gegenteil, Osadčyj müsse von Aufmerksamkeit, moralischer Unterstützung und Hilfe umgeben sein. Aber Šumuk, Osadčyj und Romanjuk waren in der gleichen Zelle, so dass sie seinen psychologischen Zustand beeinflussen konnten. Was Raja anbelangt, so bat ich Romanjuk, diese schmutzige Information mit niemandem zu teilen, da dies höchstwahrscheinlich eine Provokation am
154 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Vorabend von Moroz’ Eintreffen war. Romanjuk versprach es und hielt sich eine Zeit lang an sein Wort, bis Valentyn kam und sie wegen des Skandals ausschimpfte, worüber ich wohl schon oben gesprochen habe. Ein paar Tage später kam Vater Romanjuk wieder heraus, um in derselben Schicht wie ich zu arbeiten, und sagte, dass Šumuk mit der Idee einverstanden sei, dass Osadčyj nicht schon vor der Ausführung boykottiert werden sollte, sondern dass man sich um ihn kümmern und ihm helfen solle. Und er fügte hinzu: „Šumuk erkennt dich als Anführer im Lager an und ist bereit, dein Stellvertreter zu sein.“ Es war, als würde ich mit kaltem Wasser übergossen, ich brach buchstäblich in Wut aus, denn mir kam der Gedanke: So sieht es aus – statt zu kämpfen, das Regime zu bekämpfen, kämpft es um die Führung, um die Phantommacht. Natürlich hätte ich diese „Anerkennung“ „gnädig“ annehmen, mich bei ihm bedanken oder einfach nur ruhig reagieren sollen. Stattdessen spuckte ich vor Wut aus: „Wer kümmert sich um Führung und darum, ob ich ihre Anerkennung brauche!“ Das halte ich für meinen schrecklichen Fehler. Denn diese Art von Charakteren definieren sich entweder selbst als Anführer und zerstören alles um sich herum, wenn man ihnen nicht zuhört oder sie nicht anerkennt, oder sie suchen einen Anführer, um sich an denen zu rächen, die sie „beleidigt oder verletzt“ haben, indem sie sie nicht anerkennen. Šumuk fand in Kuznecov einen solchen autoritären Führer. Und so begann es ... Ich weiß immer noch nicht, was Šumuk, Kuznecov oder irgendjemand anders in seinen Büchern über den Konflikt geschrieben hat. Vor allem über die Ursache des Konflikts. Denn ihre Bücher sind bibliografisch rar. Ich habe nicht einmal nach ihnen gesucht. Denn in meinem Alter interessiert mich das Thema nicht mehr. Aber der Konflikt hat mich so viel Blut und Nerven gekostet, dass ich ihm viele Jahre lang nicht gleichgültig gegenüberstehen konnte. Indem ich sowohl mein eigenes Verhalten als auch das Verhalten anderer Menschen, oder besser gesagt, die Typen von Gestalten, analysierte, kam ich schon vor langer Zeit zu dem Schluss, und ich habe ihn bis heute nicht geändert, abgesehen von einigen Nuancen: Der Konflikt war wie programmiert, unvermeidlich
„Der Ehrenkodex“ 155 unter den Lebensbedingungen und unter den Menschen, die das Lager des Sonderregimes in Sosnovka bildeten. Als ich mich lange vor meinem dreißigsten Lebensjahr, d.h. bereits während meiner ersten Inhaftierung, wie von außen betrachtet habe, wusste oder erkannte ich, dass ich keine Führungsqualitäten besaß und meinem inneren Zustand entsprechend Autoritarismus, kategorische Urteile und entsprechende Entscheidungen nicht akzeptierte. Ich fühlte mich zu spiritueller Brüderlichkeit und Harmonie der Seelen in Beziehungen und Besessenheit im Handeln hingezogen. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum ich in L’viv Mychajlo Horyn’ näher stand als Bohdan, mit dem ich auch geschäftliche Kontakte hatte. In Javas kam ich Mychajlo Soroka, Vasyl’ Levkovyč, Ivan Pokrovs’kyj und Stepan Soroka näher. Panas Zalyvacha und Jaroslav Lesiv standen mir sehr nahe, und ich ihnen. In Kyïv waren solche Menschen Alla Hors’ka, Nadija und Ivan Svitlyčnyj. Als spirituell inspirierte und ganzheitlich denkende Menschen übten sie eine große Anziehungskraft aus. Sie erhoben nie den Anspruch, Führer zu sein, sondern stellten sich einfach in den Dienst der Sache. Das war nicht einmal eine Pflicht, eine Selbstmobilisierung, sondern ein innerer Ruf, eine Hingabe. Im Lager, sowohl während der ersten Strafe als auch während des Sonderstrafe, war ich sehr selbstlos, als würde ich „die Scharte auswetzen“ – ich trat in den Hungerstreik, führte auf eigene Initiative Protestaktionen durch oder organisierte sie, insbesondere den Status der Politgefangenen, die Tage der sowjetischen und ukrainischen Politgefangenen, den Tag der Menschenrechte usw. Es gab keinen einzigen Fall, in dem ich nicht auf eine Anfrage zur Unterstützung eines persönlichen Protests reagiert hätte. Wenn ich nun auf das Gespräch mit Vasyl’ Romanjuk und Šumuks Vorschlag zurückkomme, mich als Führer und ihn selbst als meinen Stellvertreter anzuerkennen, so muss ich sagen, dass dies unweigerlich Empörung und Ablehnung hervorrief. Davon bin ich auch heute noch überzeugt, denn die Reaktion erfolgte reflexartig und unmittelbar auf Šumuks Zynismus. Ich spreche mich nach wie vor nicht von einer Mitschuld an dem, was geschehen ist, frei. Gleichzeitig handelte es sich um eine persönliche Beziehung
156 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht zwischen Šumuk und mir, und meine Reaktion auf seinen Vorschlag gab ihm nicht das moralische Recht, öffentlich darüber zu diskutieren, sich in Briefen zu beschweren, die der KGB in Zeitungen veröffentlichte und damit den Skandal weiter aufblähte, und erst recht nicht, mit Kuznecov ein Komplott zu schmieden, um sich zu rächen: der eine für eine angebliche persönliche Beleidigung, der andere für den „Ehrenkodex eines politischen Gefangenen“ und die „Morguškas“. Im März oder April 1976, aber noch vor Ausbruch des Skandals, verließ Kuznecov plötzlich und unerwartet unsere Zelle, ohne dass es einen Grund dafür gab, obwohl wir ein normales, freundschaftliches Verhältnis zueinander hatten. Während der gesamten Zeit unseres Zusammenlebens, die anderthalb bis zwei Jahre dauerte, gab es nicht eine einzige Reiberei oder einen Skandal in der Zelle. Aber es gab auch keine Freundschaft. Es war einfach eine Gentleman-Beziehung. Deshalb war sein Verhalten als Hauptorganisator der Verschwörung zunächst unverständlich. Erst später erfuhr ich von Karavans’kyj, dass Kuznecov nach dem verhängnisvollen Satz von Moroz aktiv an der Anheizung des Konflikts beteiligt war. Dieser Satz war es, der den Skandal auslöste, obwohl Šumuk schon vorher begonnen hatte, Denunziationsbriefe zu schreiben. Am 10. oder 15. Mai trat ich in einen Hungerstreik, um den Status eines Politgefangenen einzufordern und gegen die Beschlagnahmung meiner Briefe zu protestieren – fünf in Folge, d.h. mehr als sechs Monate lang – ein Brief pro Monat – meine Familie hatte keine Nachricht von mir und war natürlich besorgt über das, was passiert war. Es war einer der ersten, und in unserem speziellen Fall der erste Hungerstreik mit Statusforderungen. Murženko sollte die Informationen darüber lange vor dem Hungerstreik weitergeben – wir waren Zellengenossen und ich habe ihm den Kassiber mit der Erklärung und den Forderungen persönlich übergeben. Es ist nicht bekannt, wo sie hingekommen ist und ob sie in Sosnovka oder in Moskau war. Aber die Information über meinen Hungerstreik erschien erst anderthalb Monate nach seiner Ankündigung, und sie war völlig verfälscht [ … ].
„Der Ehrenkodex“ 157 Von der weiteren Entwicklung des Konflikts, seiner Konzentration auf Moroz und allen Maßnahmen, die uns diskreditieren sollten, einschließlich der Briefe Šumuks an die „große Zone“, er fuhr ich viel später von Karavans’kyj und Moroz, im November-Dezember. Dies geschah, weil ich genau einhundert Tage lang im Hungerstreik war. Das war nicht mein Ziel, aber ich habe es so lange ausgehalten, und die Gefängniswärter haben einige Zugeständnisse gemacht. Am 11. Tag nach dem Hungerstreik, als ich anfing, meine Beine mehr oder weniger zu bewegen, brachten mich zwei Krankenträger in Begleitung eines Aufsehers zur Untersuchung in die medizinische Abteilung. Sie wogen mich. Mein Gewicht betrug 44 kg. Einige Tage später erhielt ich 3 Monate Einzelhaft, wie es der Status vorschreibt. Während des Hungerstreiks – und ich befand mich in strikter Isolation! – wurde jedoch Petro Sarančuk zu mir gebracht, der im Namen von Šumuk und Kuznecov verlangte, dass ich den Hungerstreik beende, weil ich, wie sie sagten, die Leute in Misskredit bringe – es gäbe keine Leute, die bereit wären, weiterzumachen – und der Hungerstreik selbst als eine Form des Protests – niemand würde ihn in Zukunft so lange aushalten, und wenn man ihn für eine kleine Anzahl von Tagen ankündigt, würden die Gefängniswärter keine Zugeständnisse machen und der Hungerstreik würde seinen Wert als wirksame Form des Protests verlieren. Ich sagte, dass ich den Hungerstreik nicht abbrechen würde, und er sei wahrscheinlich der erste, der sich, anstatt den Hungerstreikenden moralisch zu unterstützen, mit dem KGB solidarisierte und den Abbruch der Aktion forderte. Petro fühlte sich beleidigt und verließ zusammen mit dem Ment die Zelle mit den Worten: „Wir werden Ihnen eine solche Sturheit nicht verzeihen.“ Während meiner Zeit in Einzelhaft (in derselben Zelle, in der ich den Hungerstreik hielt) gelang es mir, ein Buch mit dem Titel „Facetten der Kultur“ zu schreiben. „1984 erhielt die Bibliothek, in der ich arbeitete, eine Neuerscheinung aus dem Vereinigten Königreich: Stepan Hoverla. Facetten der Kultur. Der Name des Autors war ein Pseudonym. Ein unbekannter Autor, ein Gefangener sowjetischer Konzentrationslager, der die nationale Frage im Imperium
158 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht
„Hrani kul’tury“, unter dem Pseudonym Stepan Hoverla in London 1984 erschienen
Ivan Hel’ „Hrani kultury“ Ausgabe L’viv 1993
am Beispiel der Ukraine beleuchtete, setzte zu meiner großen Zufriedenheit endlich alle Punkte auf das „i“: Er bezeichnete die Politik Moskaus gegenüber der Ukraine als Ethnozid, als Ausbluten der ukrainischen Nation, als Versuch, sie in einem alles verzehrenden imperialen Kessel zu vermischen und zu zerstören; er betonte den Wunsch aller eroberten Völker, das koloniale Joch abzuwerfen.“3 Die Zelle war gut isoliert – hinter drei Eisentüren; die Leute schenkten mir, geschwächt durch den Hungerstreik, weniger Aufmerksamkeit und schauten nicht so oft herein, was es mir ermöglichte zu schreiben. Noch wichtiger war die Tatsache, dass ich eigens Transformatorenpapier mitgenommen hatte – zur Kaschierung „verpackte“ ich damit das Foto meiner Tochter, eine Postkarte mit Ševčenko usw. Und das, was ich bis zum Mittagessen geschrieben hatte, übertrug ich auf das Papier und versteckte es in dem grob gespritzten Putz der Wand. Die Technik „entwickelte“ ich auf der Grundlage seiner begrenzten Möglichkeiten. Alles wirkte wie maßgeschneidert. Sobald ich mit dem Schreiben fertig war und das ganze Werk in einem „Container“ montiert hatte, kam ein oder zwei Wochen später (d.h. die dreimonatige 3
R. MOROZ, Історія однієї книжки. Пам’яті Івана Геля (Die Geschichte eines Buches. Zum Gedenken an Ivan Hel’), in: „Istoryčna Pravda“ 12.03.2012. V.K.
„Der Ehrenkodex“ 159 Einzelhaft neigte sich dem Ende zu) der Aufseher in die Zelle und sagte: „Strafgefangener Hel’, machen Sie sich mit Ihren Sachen auf zur Etappe.“ Ich fühlte mich, als würde ich sterben, denn meine Einzelhaft war noch nicht zu Ende und vor allem war der Container in der Wand, aber der Ment ging nicht weg. Aber plötzlich, wie das in schwierigen Situationen so ist, wurde es mir klar: „Okay“, sagte ich, „aber ich muss auf die Parascha“. „Gut, setz Dich“, sagte der Gefängniswärter und schloss die Zellentür. Er schaut nicht durch das Guckloch. Schnell ziehe ich den Container aus der Stuckatur und verstecke ihn dort, wo er hingehört, Sie verstehen. Ich beginne, meine Sachen zu packen, aber es sind nur wenige. Ein anderer Ment holt meinen Rucksack aus dem Lagerraum, der so genannten Kapt’orka, sie durchsuchen ihn, und ich werde in die Verbotszone gebracht, in einen „Raben“ gesteckt und nach Pot’ma gebracht. Und von hier aus in Etappen nach L’viv. Das Kalkül war „genial“. Die KGB-Offiziere gingen davon aus, dass ich, geschwächt durch den Hungerstreik und deprimiert durch den Konflikt, keinen großen Widerstand leisten würde und sie mich brechen würden. Eine Woche später gewährten sie mir als „Zuckerbrot“ ein Treffen mit meiner Frau. Eine persönliche Verabredung. Drei Tage lang! Ich habe sie nicht aufgeschoben und bin den Container sofort losgeworden. Marija hat ihn versteckt. Nach anderthalb Tagen nahmen sie mir die Verabredung mit dem Argument weg, wir würden gegen die Regeln des Regimes verstoßen, wir würden nicht viel reden und meine Frau ermutige mich nicht zur Reue. Aber wir sprachen wirklich nur über alltägliche Themen, und obwohl wir kein Papier und keinen Stift hatten, kommunizierten wir mehr schriftlich: Marija knetete und rollte ein großes Stück Teig aus, bestäubte es mit Mehl, und wir schrieben mit einem Streichholz wie auf einer Schultafel. Das klappte prima: ich schrieb, sie las, ausradieren. Erneut: sie schrieb, ich las, ausradieren. Die Aufseher drangen mehrmals ein, durchsuchten den Besuchsraum und gingen, als sie nichts fanden, wieder, weil Marija während der Durchsuchung den Teig für Nudeln „knetete“. Aber die Stille war sehr beunruhigend, so dass wir vorzeitig um unsere Verabredung beraubt wurden. Vielleicht war das aber auch so gewollt. Als ich vorzeitig von meiner Verabredung abgeholt
160 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht wurde, wurde ich gründlich durchsucht, und Marija wurde auf einen gynäkologischen Stuhl gesetzt. Niemand schenkte ihrer Empörung Beachtung, aber der Container war an einer anderen Stelle … So landete meine Arbeit ganz einfach, glücklich und ohne Zwischenfälle in der „großen Zone“. Marija hat sie abgeschrieben, oder besser gesagt, mit einer sechsfachen Lupe entziffert. Dann hat sie sie abgetippt. Zeno Krasovs’kyj nahm „Facetten der Kultur“ unter dem Tisch vor einer Überwachungskamera im Haus von Mychajlo Horyn’ auf Film auf. Dank der guten Freunde von Jaroslava Menkuš, die aus England nach L’viv kamen (man bedenke, dass dies die Jahre der so genannten „Entspannung“ waren), gelangten die Filme im Januar 1977 auch ohne Zwischenfälle zum Verlag „Ukraïns’kyj vyzvol’nyj šljach“ (Ukrainische Befreiungsbewegung) in London. Der Verlag bat Leonid Pljušč, eine verdeckte Rezension zu verfassen, in der er das Werk zwar allgemein lobte, aber mehrere kategorische Schlussfolgerungen zog: a) Es gibt heute in der Ukraine keinen Publizisten von der Qualität des Autors, der dieses Werk schreiben könnte. Nur Ivan Dzjuba kann das, aber er hat bereits „Internationalismus oder Russifizierung?“ aus einer marxistischen Perspektive geschrieben, und dieses Werk ist aus einer idealistischen und nationalistischen, staatstragenden Perspektive geschrieben, was Dzjuba nicht tun könnte; b) die Anmerkung besagt, dass das Buch im Gefängnis geschrieben wurde, und in sowjetischen Gefängnissen und Lagern ist dies nicht einmal theoretisch möglich: dies zu tun würde bedeuten, ein Kunststück zu vollbringen, und dies beweist einmal mehr die Falschheit der Geschichte über die Ausfuhr des Werkes aus der UdSSR; c) Laut L. Pljušč wurde das Buch von einem der OUN-Ideologen in der Diaspora geschrieben, um zu zeigen, dass die OUN mit den Prozessen, die heute in der Ukraine stattfinden, verbunden und direkt daran beteiligt ist. Mit dieser Rezension „tötete“ Pljušč die Veröffentlichung des Buches für sieben Jahre. Marija schickte die maschinengeschriebene
„Der Ehrenkodex“ 161 Fassung des Buches an Samvydav (Samizdat). Es wurde im Ganzen und in Teilen verteilt, und in London schlummerte das Werk im Verlagshaus. Erst als einer der Teile wieder im Westen ankam, regte sich London und das Buch wurde 1984 veröffentlicht. Allerdings wurde es mit einem Vorwort einer prominenten Persönlichkeit der Diaspora, Bohdan Stebels’kyj, veröffentlicht. Mein Manuskript war wieder scheinbar hermetisch in Zellophan eingewickelt und versteckt: begraben in einem Blumentopf, wo es leise vor sich hin faulte, weil die Blumen gegossen wurden. Ich glaubte, dass das Werk, wie viele andere Beiträge, verschwunden war. Erst Anfang 1990 schenkte mir Zen’o Krasivs’kyj zwei Exemplare, die ich von Slava Stec’ko erhalten hatte. Aber mit seinem eigenen Kommentar: „Ivan, nach der Lektüre des Buches bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass du in direktem Zusammenhang mit dem ukrainischen Nationalismus stehst, und ich hatte immer gedacht, dass du, wie Čornovil und andere, nur ein gewöhnlicher Dissident bist.“ Das Buch fand großen Anklang, wurde 1985 mit dem Preis der Antonovych-Foundation ausgezeichnet und noch im selben Jahr auf Englisch neu aufgelegt. Aber das ist ein anderes Thema. Kommen wir zurück zum Gefängnisleben. Nach dem Datum begannen die KGB-Offiziere, mich zu brechen. Mit Versprechungen, dass ich sofort freigelassen würde, wenn ich Reue zeigte, dass ich die Universität abschließen dürfe, eine Verteidigung, eine Wohnung, einen Job bekäme usw. Und mit Drohungen: Ich würde im Gefängnis verschimmeln, meine Tochter und meine Neffen würden nicht an den Universitäten studieren; mit Erpressung – auf den Etappen würden sie mich Verbrechern vorwerfen, die mich entweder „ans Messer liefern“ oder „erniedrigen“, d. h. vergewaltigen würden. Wie in solchen Fällen üblich, machte der eine KGB-Offizier Drohungen und Versprechungen, während der andere dies nicht tat. Nach außen hin sah es so aus, als ob sie sich nicht kennen würden. In Wirklichkeit arbeiteten sie mit Psychologen zusammen, um einen Aktionsplan zu entwickeln, und der Arbeitsplan blieb derselbe. So blieb ich abgesehen davon, dass ich durch den Hungerstreik bis zur Erschöpfung geschwächt war, geistig stark, und meine Position machte ihrer
162 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Psyche mehr und mehr zu schaffen. Obwohl ich ruhig blieb und sie nicht als Faschisten bezeichnete, begannen sie – sowohl der „Gute“ als auch der „Böse“ – immer öfter zusammenzubrechen, zu schreien und fast in Hysterie zu verfallen. Vielleicht spielten sie, vielleicht waren die Erwartungen zu hoch, und der Druck ihrer Vorgesetzten brachte sie beide bereits aus dem Gleichgewicht. Ich wurde zwei- oder dreimal pro Woche gerufen. Und nach vier, vielleicht fünf Wochen wurde ich unerwartet so wie aus Sosnovka und L’viv abgeholt, und zwar gewaltsam: Etwa eine Stunde vor dem „Aufstehen“, also gegen fünf Uhr morgens, weckte mich der Aufseher des KGB-Gefängnisses „an der Ulica Łąckiego“ und sagte mit leiser Stimme: „Wer ist auf H?“, obwohl niemand sonst in der Zelle war: Ich hatte am Tag meiner Ankunft die Bedingung gestellt, dass ich allein sein wollte, zumal meine Einzelhaft noch nicht abgelaufen war, sonst würde ich überhaupt nicht reden. Und die KGBler haben mich in Ruhe gelassen. Als ich also sagte, dass ich Hel’ sei, sagte der Ment noch lauter: „Ziehen Sie sich an, gehen Sie schnell mit Ihren Sachen raus.“ Er gab mir jedoch die Gelegenheit, mich auf der Toilette zu waschen. Anderthalb Stunden später, nachdem ich alle „Prozeduren“ durchlaufen hatte – Durchsuchung, Übergabe an die Eskorte, als „Gestreifter“ in eine Einzelbox des „Raben“ gesteckt – war ich bereits auf dem Weg zum Brygidky-Gefängnis, wo man auch mehrere kriminelle Häftlinge in den allgemeinen Fahrzeugraum brachte und sie zum „fünften Park“ – dem Bahnhof – brachte, Dort wurden Züge zu verschiedenen Zielen zusammengestellt, ein Güterwagen für Etappen-Häftlinge mit Eskorte und Hunden wurde an einen speziellen Bahnsteig angehängt, und von dort aus wurden die Häftlinge in das „Coupé“ des Wagons gesetzt. Von dort aus kam der Zug im Hauptbahnhof von L’viv an und fuhr, nachdem er die normalen Fahrgäste aufgenommen hatte, durch die „Weiten der UdSSR“. Unsere Etappenstationen waren ganz kurz: L’viv – Charkiw – Cholodna Hora – Voroneš – Rjažsk – Rusajevka – Pensa-2 – Potma und unsere „Heimat“ Sosnovka. In Sosnovka wurde ich mit Svjatoslav Karavans’kyj, Valentyn Moroz, Jurij Fedorov, Ivan Lozyns’kyj und Ostap Knap in eine Zelle gesteckt. Wir begannen, Informationen auszutauschen. Karavans’kyj erzählte, wie sich der Konflikt entwickelte, nachdem
„Der Ehrenkodex“ 163 Šumuk versucht hatte, Moroz auf seine Seite zu ziehen, und Moroz’ Einschätzung, dass im Allgemeinen mutige Menschen – durch Intrigen und Ränkespiele wie Medvedčuk und Tymošenko in der heutigen Ukraine – so verdreht werden, wie Kuznecov und Murženko es wollen. Moroz beklagte sich, dass Rebryk während des Hungerstreiks brutal beleidigende Sätze an die Zellentür brüllte. Ich habe sie persönlich in der Einzelhaft gehört. Ich kannte die Quelle dieser widerlichen Informationen und wusste auch, dass Moroz mich mit einem Hungerstreik für den Status eines politischen Gefangenen unterstützt hatte – er trat 65 Tage lang in den Hungerstreik und brach ihn ab, nachdem er sich wundgelegen hatte. Aber ich wusste nichts von der Diskussion unter den Ukrainern über die Konfliktsituation und der Tatsache, dass Moroz nach den geäußerten Meinungen zum „Hauptschuldigen“ und zur ersten Zielscheibe der Verfolgung wurde. Damals sprach Romanjuk über Raïsa, und als Moroz in den Hungerstreik trat, um seinen Kampf um den Status eines politischen Gefangenen fortzusetzen, „half“ Rebryk ihm und „unterstützte“ ihn moralisch, indem er [ … vulgäre Worte gegen Moroz und Raïsa] unter der Zellentür hervorschrie. Er schrie dies jeden Tag, wenn ich zur Arbeit und wieder zurückgebracht wurde. Ich glaube, dass dies der Hauptgrund für Valentyns skandalöse Scheidung von Raja in Amerika war. Der Grund für Rebryks, Šumuks und Romanjuks Hass auf Moroz, der von Kuznecov geschürt wurde: „Ich werde meiner Tante (Elena Bonnėr) und Sacharov schreiben, dass du ein Antisemit bist, und niemand wird sich an dich erinnern, du wirst eine politische Leiche sein und sterben“, war purer Neid. Svitlyčnyj, Čornovil und ich taten viel, um die Popularität von Moroz auf die höchste Stufe zu heben. Ivan setzte sich ständig mit dem Westen in Verbindung und informierte ihn über die Verhaftung und den Prozess gegen Valentyn, während er in der „großen Zone“ war. Vjačeslav widmete die fünfte Ausgabe des „Ukraïns’kyj Visnyk“ Alla Hors’ka und Valentyn Moroz, und ich sammelte alles, was Moroz geschrieben hatte, und veröffentlichte ein dickes Buch mit meinem eigenen Vorwort, „Unter dem Schnee“,
164 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht das ich ins Ausland schickte und im Westen veröffentlichen ließ.4 [Klarstellung: Ausgabe IV ist Alla Hors’ka gewidmet, und die Ausgaben IV und V enthalten mehrere Artikel über V. Moroz. – Red.] Als also der lokale Konflikt ausbrach, war Valentyn auf dem Höhepunkt seines Ruhms. Senatoren, Abgeordnete, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens usw. schrieben ihm, und ein Großteil der Korrespondenz ging sowohl nach Vladimir als auch nach Sosnovka (Valentyn wurde zu 6 Jahren in einem „geschlossenen“ Gefängnis verurteilt und in Vladimir untergebracht). Dies verursachte enormen Neid. Rebryk zum Beispiel war Hauptfeldwebel in der sowjetischen Armee und diente als Funker in der Luftfahrt. Als er und seine Crew zum Abwurf einer Test-Atom- oder sogar Wasserstoffbombe auf die Insel Taimyr flogen, ging etwas schief, die Bombe explodierte vorzeitig, das Flugzeug konnte nicht mehr abdrehen, und die Druckwelle erfasste das Flugzeug, schüttelte es durch, und Rebryks Kopf schlug hart auf die Seite des Flugzeugs auf, wodurch er sein Augenlicht verlor. Die Armee war behinderten Menschen, insbesondere aus dem Westen, nicht lange wohlgesonnen – sie schrieb ihn als Bürger ab und gab ihm eine kleine Rente. Als er in der Oblast’ Ivano-Frankivs’k versuchte, eine Erhöhung seiner Rente zu erreichen, schlug er den Weg des Antisowjetismus ein. Er führte ihn verbal, wofür er zu 3 Jahren strengem Regime verurteilt wurde. So lernten wir uns 1967 in Javas kennen. Im Jahr 1974 – in Sosnovka wegen ähnlicher Aktionen. Ich versuchte, ihn in Hungerstreiks und andere Formen des Protests einzubinden, aber dafür braucht man ein hohes Ziel, Engagement, Handlungswillen usw. So fand er sich schnell in der Gesellschaft von Šynkaruk wieder und beherrschte dessen Methode, für „Gerechtigkeit“ zu kämpfen – mit einem Hammer auf die Knie. Nach Šynkaruks skandalöser Selbstenthüllung seiner Homosexualität – er wurde von Aufsehern und Zellengenossen beim Aufwachen von der zweiten Schicht in flagranti mit einem anderen Häftling erwischt – wurde Šynkaruk, um Spott zu vermeiden, in Einzelhaft isoliert, durfte nicht arbeiten und wurde bald nach Vladimir geschickt, wohin 4
Valentyn Moroz, Among the snows: protest writings from Ukraine. Ukrainian Informations Service. London 1971.
„Der Ehrenkodex“ 165 auch Šuchevyč gebracht wurde. Doch Rebryk schrie Šynkaruk nichts Beleidigendes zu, wenn er an seiner Zelle vorbeikam. Nur Morozov. Als Šynkaruk starb, führte Rebryk wie ein gehorsamer Kosake die Anweisungen von Kuznecov aus. So richtete die Gruppe ihre Aufmerksamkeit auf Moroz. Rebryk rief schmutzige Parolen, andere machten sich über seine Yogakurse lustig, und wieder andere spotteten über seinen Appell an die Regeln des Fair Play und der nationalen Solidarität, wenn es nur um den Sieg ging. Die Schläge unter die Gürtellinie, die Briefe Šumuks, die Anschuldigungen des Antisemitismus, die Einsetzung eines Komitees, das Kuznecov nach Belieben manipulierte, und der Prozess in Abwesenheit der „OSO-Troika“5 – Kuznecov, Šumuk und Romanjuk – waren das Ergebnis der Leidenschaften, die Kuznecov geschürt hatte, um seine Rivalen moralisch zu vernichten und den Menschen seine Spielregeln zu diktieren. Es ist bekannt, dass, wenn sich eine lose Gruppe von Menschen zusammenschließt und gegen die Werte oder Führer rebelliert, die sie zuvor (vor der Rebellion) anerkannt hatten, sie versuchen, diese Werte um jeden Preis zu vernichten oder sich anzueignen, und die Führer in Außenseiter zu verwandeln. Die Situation im Lager des Sonderregimes ist ein klassisches Beispiel für diese These. Nach meiner Rückkehr aus L’viv informierte ich mich bei Karavans’kyj und Moroz über die Entwicklung des Konflikts und die Ereignisse, die sich während meiner Abwesenheit zugetragen hatten. Ich traf Moroz zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder, denn seit unserer Diskussion über die Veröffentlichung des Artikels „Unter dem Schnee“, in dem er Ivan Dzjuba scharf angriff und ich mich ebenso scharf gegen die Veröffentlichung aussprach, hatten sich unsere Wege nicht mehr gekreuzt: Er wurde am 1. Juni 1970 verhaftet, ich am 12. Januar 1972, und wir trafen uns Ende November oder Anfang Dezember 1975. Es gelang ihm noch einige Male, durch mein Fenster, das auf den Innenhof hinausging, zu rufen: „Ivan, halte durch, ich werde dich unterstützen.“ Aber dafür erhielt er 10 Tage in der Strafzelle, und nach der Strafzelle wurde er in einen anderen Hof gebracht. Nachdem er in den Hungerstreik 5
Ironische Bezeichnung als Gerichts-Troika in Analogie zu Spezialgerichten des NKVD.
166 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht getreten war, hat er es 56 oder 65 Tage ausgehalten. Leider erinnere ich mich nicht mehr an die genaue Zahl. Es war sehr lang, aber er hatte keine Kraft für mehr. Rebryks ständige Schikanen brachten ihn um. Der Hungerstreik in Vladimir und Sosnovka unterschied sich deutlich in der Grausamkeit der Zwangsernährung durch das medizinische Personal: In Vladimir begannen sie mit der Zwangsernährung ab dem fünften oder zehnten Tag und fütterten mich ständig jeden zweiten Tag, nach einer Weile jeden Tag, und in Sosnovka begannen sie, mich nach der endgültigen Erschöpfung am 20. und 25. Tag zu füttern, den körperlich schwachen Vater Romanjuk am 16. Tag, und während meines hunderttägigen Hungerstreiks kamen am 32. Tag die Aufseher und ein Feldscher (einfacher Lagerarzt), drehten mir die Arme nach hinten, fesselten sie, der Feldscher öffnete meinen Mund mit einem Munddilatator, zog meine Zunge mit einer Zange heraus, steckte einen Schlauch mit einer Kanne an und goss zwei 450-Gramm-Becher mit dünnem Kascha durch. (Ich nenne die Einzelheiten für diejenigen, die nicht wissen, was ein Hungerstreik und eine bewusst erniedrigende künstliche Zwangsernährung sind. Oft konnten die Gefangenen diese Demütigung psychisch nicht ertragen und beendeten den Hungerstreik). Darüber hinaus bekam Valentyn Moroz Wundliegen. Tatsache ist, dass man sich während eines längeren Hungerstreiks zwingen muss, aufzustehen und, mit den Händen an die Wand gelehnt, zumindest ein paar Schritte in eine Richtung und wieder zurückzugehen, damit die Beine nicht vom langen unbeweglichen Liegen nachgeben (wie es Anatolij Lupynis passierte) und sich von einer Seite auf die andere drehen, obwohl dies auch für eine erschöpfte Person schwierig ist. Ansonsten führt das Liegen auf dem Rücken zu Wundliegen. Ein Hungerstreik ist ein starkes und wirksames Mittel für einen politischen Gefangenen gegen die Gefängniswärter. Sie haben große Angst vor Hungerstreiks und sind bereit, Zugeständnisse zu machen, vor allem, wenn die Welt darüber spricht, d.h. wenn der Hungerstreik im Voraus vorbereitet wird. Aber der Hungerstreik testet oft die Stärke des Geistes eines Menschen. Deshalb ist es für eine schwache Person besser, ihn nicht zu beginnen, sondern nach anderen Wegen zu suchen, sonst wird das Ereignis entweiht. Deshalb traten in Sosnovka nur ich,
„Der Ehrenkodex“ 167 Moroz und Karavans’kyj in den Hungerstreik für den Status eines politischen Gefangenen – ich nenne sie in zeitlicher Reihenfolge –, und später im Ural in Kučino wieder ich, Viktoras Petkus und Vasyl’ Stus. Das ist bis Anfang 1982, denn schon im Dezember 1981 wurde ich in die Republik Komi in die Verbannung geschickt. In Sosnovka trat Vater Vasyl’ Romanjuk weitere 16 Tage in den Hungerstreik. Ich werde nicht über den 10. Dezember, den Tag der Menschenrechte, den 12. Januar und den 30. Oktober, den Tag der ukrainischen und sowjetischen politischen Gefangenen, sprechen, denn die meisten Ukrainer und Litauer traten für ein oder drei Tage in den Hungerstreik. Ein eintägiges Fasten kann jedoch nicht als Hungerstreik angesehen werden. Die Etappen von und nach L’viv trugen nicht viel zu meiner Erholung nach einem so langen Hungerstreik bei. Aber gleich nach meiner Ankunft begannen die Gefängniswärter, mich zur Arbeit zu bringen und die Quote zu verlangen. Um im Winter nicht in die Strafzelle zu müssen, musste ich also arbeiten. Unsere Zelle wurde zusammen mit den Zellen von Romanjuk, Osadčyj, Rebryk, Šumuk sowie den Litauern und Murženko zur Arbeit gebracht. Es geschah während der zweiten Schicht. Es war 10 Uhr abends. Ich arbeitete noch in der Werkstatt, und Moroz und Romanjuk stritten sich im Hof darüber, wer die Information über Raja im Lager verbreitet hatte. Sie brachte es in Wallung, denn als ich ankam, sprachen alle darüber und niemand blieb gleichgültig: einige waren empört über das Verhalten von Raja – im Gefängnis macht jeder sich Sorgen um das Schicksal der Familie, die Gesundheit der Kinder, die Stärke der Familie, also hatten einige Mitleid, andere konnten die abscheuliche Nachricht nicht glauben, und wieder andere freuten sich und spotteten. Wir hatten noch keine Gelegenheit gehabt, mit Moroz über dieses heikle Thema zu sprechen. Aber Karavans’kyj fragte, ob ich etwas wüsste. Ich antwortete, dass Romanjuk mir lange vor dem Skandal und dem Hungerstreik davon erzählt hatte, aber ich hatte ihn gebeten, es niemandem zu sagen. Nachdem ich in den Hungerstreik getreten war, habe ich Vater Vasyl’ nicht mehr gesehen. „Vielleicht hat er vor deinem Hungerstreik darüber geschwiegen, aber nach dem Kuznecov-Skandal waren die Verleumdungen über Raja in aller Munde als ‚Argument‘ gegen Moroz. Deshalb
168 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht schrie Rebryk diese Verleumdungen raus, um Kuznecov zu gefallen“, erklärte mir Karavans’kyj. Ich war also noch dabei, auf einer großen gusseisernen Scheibe Kristall zu schleifen, als Moroz auf mich zukam und mich bat, in den Hof hinauszugehen. Ich beendete das Schleifen der Kristall‚Pralinen‘, die sich auf der Scheibe befanden, schaltete sie aus und ging auf den Hof hinaus. Auf der einen Seite des hohen Zauns liefen Moroz und Romanjuk hin und her, gestikulierten emotional und sprachen heftig miteinander, und auf der anderen Seite ging Šumuk auf die gleiche Weise. Als ich mich Moroz und Romanjuk näherte, fragte mich Valentyn: „Ivan, hat dir Vasyl’ von Raja erzählt, denn er sagt, dass es nicht von ihm kommt?“ – „Ja, das hat er, er hat die Nachricht von einer Verabredung mitgebracht und ich habe ihn gebeten, sie nicht preiszugeben, weil es eine KGB-Provokation gegen Moroz sein könnte, bevor er im Lager eintrifft.“ Vasyl’ wurde hysterisch, und er war ein sehr emotionaler Mensch, und begann zu schreien: „Wollt ihr mich zum Verräter machen!“ Aber weder er noch Moroz und ich konnten auch nur daran denken, jemanden zu schlagen. Aber Šumuk kam, wie Karavans’kyj und Murženko später sagten, vom Hof in die Werkstatt und begann ebenfalls hysterisch zu schreien: „Hel’ und Moroz verprügeln Romanjuk!“ Rebryk und Osadčyj sprangen aus der Werkstatt und griffen mich an, schlugen mir auf den Kopf und traten mich. Durch das Unerwartete habe ich mich nicht einmal gewehrt, weil ich schockiert war – das hatte ich nicht erwartet. Romanjuk selbst schrie noch lauter und versuchte, mich mit sich zu decken, aber der Wutausbruch war unkontrollierbar. Erst als Murženko hinauslief, verhinderten er und Romanjuk, dass die beiden „Militanten“ mich erreichten. Und Moroz blieb, als Rebryk und Osadčyj aus der Werkstatt rannten, stehen und landete ein wenig hinter Vasyl’ und mir, weil wir so weitergingen wie bisher. Als Moroz sah, dass ich geschlagen wurde, stürzte er nicht, um sich zu verteidigen, sondern versteckte sich in der Werkstatt, wo andere Häftlinge waren, die nicht hörten, was auf dem Hof geschah. Am nächsten Tag kamen weder Romanjuk, Šumuk noch Osadčyj zur zweiten Schicht. Nur Rebryk ging auf Anweisung von Kuznecov absichtlich mit unserer Schicht zur Arbeit, um zu
„Der Ehrenkodex“ 169 überwachen, was in der Werkstatt geschah, und um uns zu warnen, dass dies jedem passieren würde, der sich nicht an die von Kuznecov aufgestellten Regeln hielt. Sobald wir in die Werkstatt gebracht wurden, kam er auf mich zu und sagte: „Na, hat dir die Lehre von gestern gefallen? Wir werden dich in die Schranken weisen.“ Dieser arrogante Zynismus machte mich wütend. Ich stellte ihm eine Gegenfrage: „Warum hast du mich gestern geschlagen?“ Er lächelte, und ich schlug ihm ins Gesicht. Und sogleich noch einmal und noch einmal. Diesmal war er einen Moment lang verwirrt, begann sich aber zu wehren. Er wollte mir aus der Ferne in den Unterleib treten. Aber ich hielt sein Bein mit den Händen fest, verdrehte es, und Rebryk fiel zu Boden. Die Häftlinge rannten heran, trennten uns, und eine Minute später kamen die Aufseher, weil jemand den Alarmknopf gedrückt hatte. Rebryk wurde in eine Zelle gebracht. Am nächsten Morgen wurde Rebryk mit demonstrativem Pomp in das Krankenhaus von Baraševo gebracht, von wo aus sich die Information über den Skandal im Sonderregime in alle Zonen verbreitete. Kuznecovs Interpretation, versteht sich. Während dieser ganzen Zeit wurde keiner von uns wurde nach Baraševo gebracht, wo wir uns mit Häftlingen aus anderen Lagern hätten treffen können. Weder Karavans’kyj, noch Moroz und schon gar nicht ich, obwohl ich mich nach dem Hungerstreik sehr schwach fühlte. Nach Rebryk wurde Šumuk nach Baraševo gebracht, wo er sich mit Čornovil traf. Vjačeslav begann, Šumuk für die Denunziationsbriefe, die Šumuk an seine Freunde in der „großen Zone“ schickte, und für seine Intrigen bei der Arbeit zu beschuldigen. Šumuk antwortete mit einer Ohrfeige für Vjačeslav. Und als er aus Baraševo zurückkehrte, prahlte er vor allen, dass er Čornovil geohrfeigt hatte. Nachdem ich 1987 aus Komi zurückgekehrt war, fragte ich Vjačeslav, was zwischen ihm und Šumuk vorgefallen war und warum er von Šumuk eine Ohrfeige erhalten hatte, denn wir nahmen diese Ohrfeige auf als moralische Unterstützung von Čornovil für uns. Vjačeslav reagierte sehr scharf auf meine Frage und empörte sich darüber, dass Šumuk vor jedem Neuankömmling mit den von ihm geschriebenen Briefen prahlte und dass er und Kuznecov Hel’, Moroz und Karavans’kyj eingesetzt hatten, die zu
170 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht ihrem eigenen Ruhm verschiedene Gründe für den Hungerstreik erfanden – den Status und die Tage der politischen Gefangenen, den Ehrenkodex, den Tag der Menschenrechte – und ihn von den Menschen verlangten, während die meisten sich nicht an den Protesten beteiligen wollten. Čornovil sagte, dass Šumuk offenbar keine Informationen über die Haltung zur Teilnahme an den Protesten in anderen Lagern hatte, und in der Hoffnung auf Vjačeslavs Unterstützung ihm gegenüber offen war. Er hatte nicht erwartet, dass Čornovil anders reagieren würde, und als Vjačeslav dies als Gemeinheit und Intrige bezeichnete und die Briefe als Denunziationen, gab Šumuk ihm eine schallende Ohrfeige. Aber Vjačeslav reagierte nicht auf den Schlag, er packte nur seine Hände, um Šumuk daran zu hindern, ihn erneut zu schlagen, und begann selbst, Šumuk verbal zu schlagen. Vjačeslav erzählte mir: „Ivan, ich habe ihn so weit getrieben, dass Šumuk auf die Knie fiel, anfing zu betteln und zu bereuen. Ich sagte ihm, dass die ganze Welt von der Gemeinheit gegenüber den Svitlyčnyjs erfahren würde und dass man den Skandal aus Profitgründen angeheizt hätte. Danach fühlte sich Šumuk moralisch vernichtet, und während wir in Baraševo waren, fühlte er sich schuldig. Und die Tatsache, dass du sagst, dass er in Sosnovka damit geprahlt hat, mich ins Gesicht geschlagen zu haben, bestätigt seine innere Gerissenheit, Niedertracht und Hinterlist.“ Laut Čornovil war dies die Beziehung zwischen ihm und Šumuk in Baraševo während ihres Aufenthalts im Krankenhaus. Nach der Ankunft von Aleksandr Ginzburg im Lager [im Sommer 1978 – Anm. d. Red.] begann er trotzig zu arbeiten. Und obwohl die Arbeit hart und schmutzig war, kaufte er nicht die Normen für „Morguškas“. Mehr noch, er begann sie absichtlich zu entwerten – er erhielt eine Menge davon und verschenkte sie an diejenigen, die sie haben wollten. So konnte weder Kuznecov noch sonst jemand Rationen oder Diäten mehr billig kaufen. Ginzburg schloss sich sofort den Protesten an. Dies führte zu erheblichen Spannungen zwischen ihm und Kuznecov. Auch die Ankunft von Oleksa Tychyj entspannte die Situation. Er blieb jedoch neutral, was beiden Seiten nicht half. Doch kurz nach seiner Ankunft trat Oleksa, gleichsam aus Solidarität mit uns, in einen Hungerstreik für
„Der Ehrenkodex“ 171 den Status eines Politgefangenen. Und er hielt ihn mehr als fünfzig Tage lang durch, und als er ihn brach, prallten zwei Methoden zur Beendigung des Hungerstreiks aufeinander: Karavans’kyj hatte einen sehr leistungsfähigen Organismus – sein Magen arbeitete wie ein Traktor, und als er den Hungerstreik brach, begann er am zweiten oder dritten Tag alles zu essen, was in seinen Rationen war. Er hatte keine Probleme. Ich, der ich viel Erfahrung gesammelt hatte, hielt mich an die Regel, dass man mindestens 10 Tage lang den Hungerstreik brechen und erst am zehnten oder zwölften Tag anfangen sollte, die gesamte Ration zu verzehren. Oleksa befolgte Karavans’kyjs Rat – nach fast zweimonatigem Hungerstreik begann er sofort mit dem Verzehr der Häftlingsrationen, Kohlsuppe und saurem und schlecht durchbackenem Brot, was ihm sofort den Magen verdarb. Vier Monate lang war Tichyj buchstäblich am Kotzen. Er entwickelte ein Magengeschwür, das er bis zu seinem Tod nicht mehr loswurde, weil sie ihm keine Diät verordnen. Und er weigerte sich beharrlich, etwas zu kaufen. Die Ankunft von Levko Luk’janenko [in der zweiten Hälfte des Jahres 1978 – Anm. d. Red.] beendete schließlich den Konflikt, obwohl er Šumuks Briefe als Denunziation bezeichnete und sie in Šumuks Anwesenheit weiterhin auf diese Weise bewertete. Das ist natürlich der Grund, warum sich einige Leute von Šumuk und Kuznecov abwandten und sich auf Luk’janenko und Ginzburg „umorientierten“. Und sie waren zunehmend davon überzeugt, dass der Konflikt weder einen ideologischen noch einen antisemitischen Inhalt hatte, wie es diejenigen darzustellen versuchten, die ihn, in den Worten Čornovils, aus persönlichen eigennützigen Interessen heraus provozierten. Nach einer Weile wurden Moroz und Levko in meine Zelle verlegt, aus der Murženko ging, und etwas später folgten Lozyns’kyj und Knap. Wir drei fühlten uns sowohl psychologisch als auch räumlich wohl, denn in dieser Zelle war ursprünglich acht Personen untergebracht, dann sechs, und schließlich drei. Doch schon bald wurden Moroz, Ginzburg und Kuznecov zur Etappe gebracht, nach Moskau transportiert und von dort aus der UdSSR ausgewiesen und gegen sowjetische Spione ausgetauscht (27./28. April 1979). In dieser Zelle schrieb ich eine Protesterklärung, in der ich 1977 zum ersten Mal den
172 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Begriff „satanisches Imperium“ verwendete, wofür ich 15 Tage in der Strafzelle erhielt. Der KGB-Offizier warnte mich „autoritativ“, dass mir eine neue Haftstrafe drohen könnte. In derselben Zelle (Nr. 8) schrieb Levko Luk’janenko auf meine Anregung hin und mit einigen Ergänzungen den berühmten „Appell der ukrainischen nationalen Befreiungsbewegung bezüglich der ukrainischen Unabhängigkeit“, den ich herausgab. Das Wichtigste für mich war, die Thesen des Dokuments so zu formulieren, dass die Begriffe „Unabhängigkeit“, „Staatlichkeit“, „Befreiungsbewegung“ usw. darin vorkommen. Denn die meisten Aussagen oder Beschwerden der Gefangenen enthielten „Menschenrechtsverletzungen“, Beschwerden über die Willkür der Gefängniswärter, Proteste gegen die Verschärfung des Gefängnisregimes usw. Deshalb habe ich auf dieser Formulierung des Dokuments bestanden und bei der Überarbeitung ein paar Formulierungen hinzugefügt. Levko, als echter Staatsmann, brauchte nicht viel Überzeugungsarbeit für die dringende Notwendigkeit solcher Appelle zu leisten, aber einige Gefangene hatten immer noch Angst, die Worte „unabhängige Ukraine“ zu verwenden. Dies wurde getan. Wir wählten auch gemeinsam die Namen der Personen aus, die den Appell unterzeichnen sollten und die im Falle eines Scheiterns nicht aufgeben würden. Levko lehnte auch die Namen von Šumuk, Romanjuk und Osadčyj ab, weil er seinen Namen nicht neben den ihren setzen wollte. Ich hatte natürlich keine Einwände. Deshalb stand vom Sonderregime unter den Dokumenten neben Levko mir und Oleksa Tychyj sonst niemand mehr. Von den Menschen, deren Namen wir unter den „Appell“ setzten, hatten wir im Vorfeld nicht ihre Zustimmung, da die meisten von ihnen in anderen Lagern inhaftiert waren. Aber das war unser Plan: Die Namen von Häftlingen aller Generationen sollten unter dem „Appell“ erscheinen, um die Kontinuität des Kampfes für die Unabhängigkeit der Ukraine zu zeigen. Im Westen wurden solche Dinge nicht sehr positiv aufgenommen – das wussten wir –, denn die UdSSR beschuldigte den Westen, die Politik des Eingriffs in die territoriale Integrität der UdSSR zu unterstützen, und die Schlussakte selbst bekräftigte die Unverletzlichkeit und Integrität der Nachkriegsgrenzen der europäischen Staaten. Für
„Der Ehrenkodex“ 173 die Ukrainer war jedoch der Zusammenbruch der UdSSR und die Selbstbestimmung der Ukraine entscheidend. Das heißt nicht, dass ich die Menschenrechtsbewegung unterschätzt hätte. Unmittelbar nach der Ankunft von Oleksa Tychyj, also etwa im November-Dezember 1977, reichte ich einen Antrag auf Aufnahme in die UHG ein, doch Morozovs Reaktion war negativ: „Was willst du denn in der UHG machen, Ivan, du bist doch Schlosser.“ Aus irgendeinem Grund wurde die Bewerbung nicht nach Kyïv oder in den Westen geschickt. Da ich das nicht wusste, habe ich den Antrag nicht vervielfältigt. Als ich 1987 aus Komi zurückkehrte, fand ich nicht heraus, ob ich Mitglied der Gruppe war oder nicht, und ich suchte auch nicht nach den Verantwortlichen. Ich hatte mehr Arbeit, als ich ohne sie erledigen konnte. Čornovil, Krasivs’kyj, Mychajlo und Bohdan Horyn’, Vasyl’ Barladjanu und Pavlo Skočok waren immer bei mir zu Hause, um verschiedene Probleme zu besprechen, und ich war der Exekutivsekretär des „Ukraïns’kyj Visnyk“, so dass sich die Frage nach einer formellen Mitgliedschaft erübrigte – ich nahm an allen Treffen teil und war über alle Ereignisse „im Bilde“. Aber ich habe auch keinen Antrag gestellt. Bevor ich jedoch aus dem Gefängnis zurückkehrte, reichte meine Frau Marija einen Antrag bei der UHG ein. Aber auch sie ist nicht als Mitglied der UHG aufgeführt. Keiner von uns empfindet dies natürlich als Verlust im Leben, es ist nur eine Frage über die Weise der Büroführung: Einige wurden ohne ihr Wissen aufgenommen (z. B. Šuchevyč), andere wurden sogar bei abgegebenen Anträgen übergangen. Das Interview mit Ivan Hel’ fand in drei langen Gesprächen statt, die am 25. Juni 2003 im Fernsehzentrum in der Mel’nykova-Straße 42 in Kyïv begannen und am 11. September in L’viv endeten. Wir veröffentlichen einen Auszug aus diesem Gespräch zwischen Ivan Hel’ und Vakhtang Kipiani und Vasyl’ Ovsijenko.
Josyf Zisel‘s
„Man muss bauen, was einem nahe ist“ 1978 schloss sich Josyf Zisel‘s der ukrainischen Helsinki-Gruppe an. Im selben Jahr wurde er verhaftet und wegen „verleumderischer ausgedachter Geschichten zur Verunglimpfung des sowjetischen Staates und Gesellschaftssystems“ zu drei Jahren Haft in einer Hochsicherheitskolonie verurteilt. Im Jahr 1984 wurde er erneut zu 3 Jahren Haft in einer Kolonie verschärfter Sicherheit verurteilt. Im Jahr 1987 lehnte er die vorgeschlagene Amnestie ab, da er sich nicht verpflichten wollte, auf politische Aktivitäten zu verzichten.1 Josyf, 1988 wurde in Černivci, in Czernowitz, die Jüdische Sozial- und Kulturstiftung gegründet, die später mit der Herausgabe eines Informationsbulletin begann. Wie wurde das jüdische Umfeld Ende der 1980er Jahre geschaffen – ein neues jüdisches Umfeld? Welche Rolle haben Sie dabei gespielt? Ich hatte in den 1970er Jahren kein besonderes „jüdisches Empfinden“. Natürlich hatte ich in den 1970er Jahren Kontakt zu Gruppen von „Verweigerern“, sowohl in Moskau als auch in Czernowitz, wo ich lebte, aber das dominierte meine Aktivitäten in jenen Jahren nicht. Als ich inhaftiert war, erhielt ich viele Briefe. Beim ersten Mal und beim zweite Mal. Und die meisten dieser Briefe kamen von Juden. Fremde, Aktivisten, die als „Refuseniks“2 inhaftiert waren, sahen es als ihre Pflicht an, mit den Gefangenen zu korrespondieren. Als ich das erste Mal inhaftiert war, wollte man mich sogar zum „Gefangenen Zions“ erklären. Meine Frau fragte mich in einem Brief, ob ich 1 2
Iza Chruslins‘ka, Josyf Zisel‘s, Hospody, Ty vidkryješ usta moï ... Josyf Zisel‘s u rozmovach z Izoju Chruslins‘koju. Duch i Litera. Kyïv 2017. Zu den Refuseniks, die auf Russisch „Otkazniki“ heißen, vgl. als einen ausführlichen Erlebnisbericht auch Mark Ya. (Jakovlevič) Azbel, Refusenik: trapped in the Soviet Union, ed. by Grace Pierce Forbes, with a foreword by Freeman Dyson. Houghton Mifflin, Boston 1981. Weitere Memoiren haben Natan Sharansky und Yuri Tarnopolski verfasst, außerdem E. Kuznecov.
175
176 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Einwände dagegen hätte. Aber ich lehnte diesen Status ab, denn ich war kein Gefangener Zions, das heißt, ich habe nicht gekämpft. Ich selbst wollte vor meiner ersten Inhaftierung nicht nach Israel gehen, ich verteidigte die Freiheit der Auswanderung, aber im Rahmen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und anderer Rechte. Doch was geschah? Während meiner beiden Verhaftungen, zwischen meinen Verhaftungen von 1981–1984, während der dunkelsten Zeit des Samizdat und des dissidentischen Untergrunds, als die Menschen nicht aus den Gefängnissen entlassen wurden, als sie in den Lagern zu zweiten Haftstrafen verurteilt wurden, herrschte „Dunkelheit ohne Licht“, wie ich es nenne. Und die „Dunkelheit vor der Morgendämmerung“ kam 1985. Zwischen den Haftstrafen reiste ich nach Moskau und versuchte, Kontakte zu knüpfen, da ich in Kyïv keine hatte. Die ukrainischen Kontakte, die ich seit den 1970er Jahren hatte, waren sehr geschwächt. 1982 konnte ich niemanden finden, weil viele zum zweiten Mal inhaftiert waren. Und sie wurden zum dritten Mal inhaftiert. Ich ging nach Moskau und fand dort niemanden, abgesehen von einigen jüdischen Refusenikgruppen, die gerade noch durchhielten, Hebräisch unterrichteten usw. Anfang der 1980er Jahre suchte ich nach Möglichkeiten, zwischen den Haftstrafen aktiv zu sein, aber leider fand ich keine Gelegenheiten für angemessene Aktivitäten. Stattdessen intensivierte sich in den 1980er Jahren der jüdische Teil meiner Aktivitäten. In Czernowitz versuchten meine Freunde und ich, das Hebräischstudium zu etablieren, fotografierten Lehrbücher ab, kopierten sie. Welches Jahr? Ende 1981 wurde ich freigelassen, also 1982 oder 1983 … Bis zu meiner zweiten Verhaftung im Jahr 1984. Zwei meiner jüdischen Freunde wurden mit mir inhaftiert, die nichts mit Dissidententum zu tun hatten. Sie waren vielmehr jüdische Nationalisten, Leonid Šrajer und Jakiv Rozenberg. Es war Lёnja Šrajer, der Hebräischlehrbücher kopierte. Bei einer Durchsuchung fanden sie in seinem Besitz diesen Film. Der Schwerpunkt meiner Tätigkeit verlagerte sich also zwischen den Verhaftungen und während meiner zweiten Inhaftierung, als ich aktiv Briefe erhielt. Als ich
„Man muss bauen, was einem nahe ist“ 177 freigelassen wurde, suchte ich sofort Sacharov auf und sprach aktiv mit ihm … Welches Jahr war das? Oktober 1987. Ich stand noch ein Jahr unter Aufsicht in Czernowitz, aber auf dem Weg dorthin hielt ich bei Sacharov in Moskau und dann in Piter, in St. Petersburg. Ich schaffte es, ihn in drei Tagen zu besuchen. Während ich dort Zeitschriften las, spürten wir die allgemeine Euphorie von Ende 1987. Sacharov bat mich, den Kopf unten zu halten und eine Weile still zu sitzen. Das hat mich übrigens sehr überrascht. Schließlich schien es so, als sei die völlige Freiheit schon da, das heißt, man könne machen, was man wolle. Die jüdischen Kreise in Moskau waren 1987 sehr aktiv. Damals begann man, die „Refuseniks“ freizulassen, die seit Anfang der 1970er Jahre 16 Jahre lang inhaftiert waren, weil sie sich geweigert hatten, das Land zu verlassen, insbesondere die Menschen aus Czernowitz. Hebräischkurse wurden aktiv durchgeführt. In Moskau wurde bereits ein Bulletin über zu Fragen der Repatriierung und der jüdischen Kultur veröffentlicht. Die Frage war nicht mehr, ob man zerstören und Widerstand leisten sollte. Nehmen wir an, wir haben es getan, oder es ist zusammengebrochen (ich übertreibe die Rolle der Dissidenten bei
Josyf Zisel‘s und Vakhtang Kipiani
178 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht diesem Zusammenbruch nicht!) Was nun? Es muss also etwas aufgebaut werden. Fast jeder kann zerstören, aber man muss etwas aufbauen, das einem näher ist. Etwas, in dem man eine Basis, ein Fundament finden kann, auf dem man aufbauen kann. Ich hatte eine ganz natürliche Hinwendung zu jüdischen Themen. Ich bin in einer jüdischen Stadt aufgewachsen, in Czernowitz, unter Juden. In den Jahren vor meiner Inhaftierung habe ich mich mit nichtjüdischen Themen beschäftigt. Ich habe meine ukrainischen Kontakte erneuert. Čornovil besuchte mich, als ich in Czernowitz unter Aufsicht stand. Wir waren dabei, die Ukrainische Helsinki-Union zu gründen. Er arbeitete mit dem „Visnyk“ zusammen. Ich war auch bereit, mich daran zu beteiligen, aber dennoch gab es eine Veränderung in mir. Ich habe oft sowohl mit Horyn‘ als auch mit Čornovil darüber gesprochen: Jeder weiß etwas besser als der andere, auch wenn er es gut weiß. Man muss das, was man versteht und gut kennt, wieder aufbauen. Ich bin in einer jüdischen Familie in einer ukrainischen Stadt aufgewachsen, so dass dieser Übergang zum Judentum ganz organisch war. Da ich unter Aufsicht stand und abends nicht ausgehen durfte, durfte ich nirgendwo hingehen, ein „Kreis“ begann sich dann Ende 1987 bei mir zu Hause zu treffen. Ich war schon ein älterer Mann, in den Vierzigern, und junge Leute kamen zu mir … Damals war es nicht so beängstigend wie nach meiner ersten Verhaftung, nach der „Dunkelheit“. 1982 schnappten sie Leute, die ich einfach auf der Straße gegrüßt hatte, und schleppten sie zum KGB. Aber 1987 war alles normal. Langsam organisierte sich bei mir zu Hause ein „Kreis“ von jungen Leuten, die sich für jüdische Fragen interessierten. Es gab nebenbei bemerkt sogar einen Gläubigen, einen waschechten Chabadnyk3,. Er brachte einen gewissen religiösen Aspekt ein. Wir begannen, jüdische Feiertage zu feiern. Im Jahr 1987 feierten wir Chanukka und 1988 Pessach. Es waren sehr viele Leute da, und wir fanden eine große Wohnung.
3
Die Anhänger des Chabad, auch als Lubawitscher bezeichnet, sind chassidische Anhänger der Kabbalah.
„Man muss bauen, was einem nahe ist“ 179 Wie muss man sich das jüdische Leben in Czernowitz in den Jahren 1987 und 1988 vorstellen? Nichts. Eine jüdische Stadt, aber kein besonderes jüdisches Leben. Das heißt, nur Menschen … Mehr als zehntausend Menschen liefen herum und wussten, dass sie Juden waren, also hatten sie nie Probleme mit ihrer jüdischen Identität, aber es gab keine Aktivität. Es war einfach immer etwas los. Es hat nie aufgehört zu funktionieren. In der Ukraine gab es immer 14 Religionsgemeinschaften, auch zu Sowjetzeiten. Eine davon war die Gemeinde von Czernowitz. Sie verfügte über eigene Räumlichkeiten (nicht alle hatten sie zu Sowjetzeiten). Sie besaß ein Synagogengebäude mit interessanter Architektur. Aber die Synagoge war nie ein Wegbegleiter für uns, weil wir wussten, was sie zu Sowjetzeiten war. Trotzdem versammelten wir uns an Feiertagen in der Synagoge, nicht so sehr in ihr, sondern in ihrer Nähe. Damals hatte die Große Alija noch nicht stattgefunden. Die Große Alija war eine Massenrückwanderung von Juden aus der UdSSR und den GUS-Staaten nach Israel, die 1989 begann.4
Ich erinnere mich an den ersten Jom Kippur im Jahr 1988, an dem ich teilnahm, da ich nicht mehr inhaftiert war. Es war großartig in Czernowitz. Die Straßen waren blockiert, und Tausende von Menschen kamen. Dann begann die Große Alija, und das hat sich natürlich nie mehr wiederholt. Worum ging es bei dieser Bewegung? Es ist wie eine Wiederbelebung des Geistes, daher ist es schwer zu sagen, um welche Art von Bewegung es sich handelte. Der Kreis, der sich bei mir zu Hause traf, war zum Beispiel eine spontane, chaotische Form. Ich wusste nicht einmal, was ich mit ihm machen wollte. Aber die Leute kamen ganz natürlich zusammen und begannen zu diskutieren. In Czernowitz hat es nie eine starke ukrainische 4
Vgl. Lothar Mertens, Alija: Die Emigration der sowjetischen Juden. Brockmeyer, Bochum 1991.
180 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Bewegung gegeben, außer in den 1940er und 1950er Jahren, als es die OUN und die UPA gab. In den 1970er und 1980er Jahren gab es keinen starken ukrainischen Untergrund in Czernowitz. Ich reiste nach L‘viv und Kyïv, um Kontakte zu knüpfen. In Czernowitz habe ich niemanden getroffen. Ich suchte nach einigen der dortigen Gefangenen. Ich erinnere mich, dass jemand sogar in einem psychiatrischen Krankenhaus als Pförtner gearbeitet hat … Haben Sie versucht, einen der Gefangenen zu finden? Ja. Es gab ein paar Gefangene, aber sie verbüßten kurze Haftstrafen, hatten keine Verbindungen, nur einen einzigen Fall von Widerstand in irgendeiner Form. Und mit dieser Gruppe fing alles an: Wir organisierten Feiertage, besprachen, was wir machen wollten. Im Frühjahr, im April, als es wärmer wurde, beschlossen wir, auf den jüdischen Friedhof zu gehen. Das war unsere erste öffentliche Aktion – die Pflege des jüdischen Friedhofs. Das war der Anfang von allem. Der Rest kam später. Feiertage, Friedhöfe. Dann, im Juni 1988, überredete ich einen meiner Freunde, der Hebräisch kann, weil er es mit der Thora studiert hatte, zu unterrichten. Er war sehr zurückhaltend. Ich hatte ihm in den frühen 1980er Jahren angeboten, zu unterrichten, aber er lehnte ab. Wir begannen unseren ersten Hebräischkurs im Juni 1988. Seine Teilnehmer waren Leute, die sich für Hebräisch interessierten. Wie viele ungefähr? Ich glaube, es waren nicht mehr als 20 Personen. Außerdem war es keine feste Gruppe, der Kern bestand aus etwa 10 Personen. Von dieser Kerngruppe, der Hebräisch-Gruppe, gingen alle anderen Aktivitäten aus. Es war Anfang Juni. Im Juli kündigten wir die Gründung einer Initiativgruppe für eine jüdische Stiftung an. Zunächst hieß sie Jüdische Sozial- und Kulturstiftung Czernowitz (in Anlehnung an unsere Friedhofsangelegenheiten). Dann wurde daraus die Gruppe für die Gründung der Stiftung [seit August 1988: Jüdische Bürger- und Kulturstiftung Czernowitz – Anm. d. Red.] Die erste Ausgabe des Bulletins wurde im August veröffentlicht. Als altes Untergrundmitglied, als Mitarbeiter der „Chronik“, ging
„Man muss bauen, was einem nahe ist“ 181 ich natürlich nicht davon aus, dass man ohne ein Informationsblatt irgendeine Tätigkeit ausüben könnte … Das ist einfach … Sie haben auch an der „Chronik“ mitgearbeitet? Ja, natürlich. Ich hatte eine Menge Material aus den 1970er und 1980er Jahren sowie Bulletins über die Moskauer Psychiatriekommission in jenen Jahren. Ich habe mit fast allen Redakteuren der „Chronik“ zusammengearbeitet und eine Menge Material über die Westukraine vorbereitet. Die meisten davon waren psychiatrisch, und ich habe mich auf Psychiatrie spezialisiert. Das ist sehr interessant, denn ich werde dem Sacharov-Zentrum ukrainisches Material der „Chronik“ anbieten. Ein wenig später, im Herbst 1988, wurde eine Sonntagsschule organisiert. Ich glaube, Ira Bojko war unsere erste Schuldirektorin. Die Lehrer waren diejenigen, die den ersten Hebräischkurs besucht hatten. Diejenigen, die mit der Herausgabe des Bulletins begannen, kamen aus dem Hebräischkurs: Volodymyr Bojko (jetzt in Israel), Mark Charach (jetzt in Israel) und mein Bruder, Semen Zisel‘s. Sie waren die Hauptverantwortlichen für dieses Bulletin. Meine Artikel wurden dort veröffentlicht. Ich war auch in der Redaktion, aber ich war weniger involviert. Sie tippten … Von einer meiner ersten Reisen brachte ich ein Textverarbeitungsgerät aus dem Ausland mit. Es war eine Mischung aus einem Computer und einer Schreibmaschine. Volodymyr Bojko hatte sie. Es verstaubt weiterhin in einem Lager irgendwo in Czernowitz. Es war unser erstes Druckgerät, denn alle meine Schreibmaschinen wurden mir bei den Durchsuchungen weggenommen. Wir haben dieses Bulletin darauf getippt und ihn dann auf der „Era“ kopiert. Wo haben Sie die „Era“ gefunden? Wir haben sie in irgendeinem Projektinstitut gefunden, das war 1988 schon kein Problem mehr.
182 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Ich glaube, es war ein Problem, sie zu finden und zu kopieren. 1988? Nun, wir haben hier 1989 kopiert. Wir kopierten hier unser erstes Bulletin des Koordinationsrates für die Gründung des „Vaad Ukraine“5, aus dem später „Chadašot“ wurde. Ich kann mich sogar daran erinnern, dass wir an der Universität kopiert haben, ebenso wie in der Leninstraße, wo sich jetzt das Restaurant „Domašna Kuchnja“ befindet, wo es ein Projektinstitut gab. Wir stellten dort Wörterbücher und gebundene hebräische Lehrbücher zusammen. Šura Kotljars‘kyj war dafür zuständig. Er war es, der diesen Platz gefunden hat. Aber das war später. Sie können alles dem Bulletin entnehmen: Im Herbst 1988 begann der Unterricht – eine Sonntagsschule, die von Ira Bojko unterrichtet wurde; der Friedhof dauerte den ganzen Sommer – wir hielten Sonntagsveranstaltungen ab, an denen 300–400 Menschen teilnahmen. Der jüdische Friedhof war noch nicht zerstört worden … Es gibt nicht nur einen jüdischen Friedhof in Czernowitz. Zwei wurden zerstört, und meiner Meinung nach nicht einmal während des Krieges, sie wurden einfach überbaut. Es waren zwei sehr alte Friedhöfe. Und zwei sind geblieben. Auf einem von ihnen haben wir die Gräber von Rabbinern restauriert. Im Herbst 1988 erhielten wir einige Mittel von Chabad. Michail Greenberg kam aus Moskau und brachte etwas Geld mit. Wir restaurierten Denkmäler in der Nähe von Czernowitz, in Vyžnycja, Kosiv und Zabolotiv. Das wurde von Kurban Maškovs‘kyj und Saško Maškovs‘kyj gemacht, einem religiösen Mann, der alle Feiertage leitete. Er hieß Saško? Er hieß Saško. Er stammte aus Chmel‘nyc‘kyj, er heiratete ein Mädchen aus Czernowitz. Sie leben jetzt in Israel, in Kirjat Jam, in der Nähe von Hebron, wo 2006 ein Terroranschlag stattfand. Ich erinnere mich, dass ich sie unmittelbar danach angerufen habe. 5
Die Allukrainische Vereinigung (Vaad) jüdischer Organisationen und Gemeinschaften betreibt eine Web- und eine Facebook-Seite, http://vaadua .org und https://www.facebook.com/vaadua/.
„Man muss bauen, was einem nahe ist“ 183 Das Bulletin wurde unregelmäßig veröffentlicht. Wir haben so viel veröffentlicht, wie wir Gelegenheit und Kraft dazu hatten. Alles war so demokratisch. Als wir Geld für die Instandsetzung des Friedhofs sammelten, druckten wir Finanzberichte auf den Seiten des Bulletins ab. In diesen Bulletins berichteten wir buchstäblich auf die Kopeke genau … Es gab Nachdrucke verschiedener Artikel, Originalbeiträge und einige meiner Beiträge. Mein Bruder, Mark Charach, und Vova Bojko haben sie geschrieben. Dann haben wir angefangen, sie nachzudrucken. Als ich Ende 1988 zum ersten Mal Israel besuchte, brachte ich die zwei Bände von Hugo Golds „Geschichte der Juden in der Bukowina“ in deutscher Sprache mit. Er lebte in Israel. Hugo Gold? Hugo Gold, ja. Diese beiden Bände befinden sich jetzt in Czernowitz. Dies ist das einzige Exemplar in der Ukraine. Es wurde mir von der Witwe dieses Schriftstellers geschenkt. Das Buch wurde in einer Auflage von nur 500 Exemplaren in Israel veröffentlicht, ich
Hugo Gold, Geschichte der Juden in der Bukowina. 2 Bände. Olamenu, Tel Aviv, 1958, 1962
184 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht glaube 1956. Es enthält viele Fotos. Diese beiden Bände sind in großem Format. Wir haben begonnen, sie in Fragmenten zu übersetzen. Ich habe einen Freund in Kyïv, Mark Belorusec‘, der aus dem Deutschen übersetzt. Er war es, der Auszüge aus der „Geschichte der Juden in der Bukowina“ übersetzt hat. Wir haben sie in unserem Bulletin veröffentlicht. Zur gleichen Zeit, 1988 und 1989, haben wir nach dem Gemeindearchiv gesucht. Im Staatsarchiv, richtig? Im Oblast‘-Archiv. Wir haben ein Vorkriegsarchiv der jüdischen Gemeinde gefunden, der staatlichen Gemeinde. Es gibt ein Gemeindehaus in Czernowitz, und es gab eine staatlich finanzierte Gemeinde, eine staatliche Organisation. Wir sahen ihre Archive durch und übersetzten ihre Satzung, denn uns interessierte, was die Gemeinde damals tat, da es in Czernowitz fast keine Vorkriegsjuden mehr gibt. Diejenigen, die nicht umgekommen sind, sind fast alle weggezogen: einige nach L‘viv, Stanislav und einige nach Novohrad-Volyns‘kyj. Wir haben ein paar ältere Menschen gefunden und es geschafft, die Satzung zu rekonstruieren und später zu veröffentlichen. Im Jahr 1989 war ich in Israel. Ich glaube, es war im Januar, als die Gesellschaft für jüdische Kultur gegründet wurde. Die Parteibehörden versuchten, den Dissidenten die Initiative zu entziehen, so wie sie es bei der ukrainischen Bewegung getan hatten. Vom Oblast‘komitee der Partei kam ein Rundschreiben. Es ist noch heute auffindbar, wahrscheinlich in den Archiven der Partei. In Kyïv wurde Levitas von der Partei ernannt, und das geschah über die Kulturstiftung. Und in Czernowitz … Außerdem wurde die Gesellschaft dort im August 1988 gegründet (früher als in Czernowitz), aber unsere Stiftung gab es damals schon. Soviel wir wissen, war unsere Organisation die erste in der Ukraine. Später, als die Parteibewegungen begannen und die Reaktion auf diese Aktivitäten von unten kam, wurden wir von mehreren Personen kontaktiert, die vom Oblast‘komitee der Partei beauftragt wurden, sich in Czernowitz damit zu befassen. Es handelte sich um Leonid Finkel‘ und Mitglieder des ehemaligen antizionistischen Komitees der sowjetischen Öffentlichkeit. Ha! Die Partei fand immer
„Man muss bauen, was einem nahe ist“ 185 dieselben Leute – diejenigen, die sie in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren als Aktivisten des Antizionistischen Komitees eingesetzt hatte. Sie waren es, die das jüdische Leben wiederbeleben sollten. Da war eine gewisse Ženja Fink – eine einzigartige Frau, die seit der rumänischen Zeit dem Untergrund angehört, eine Kommunistin, die Jabotinskij mit faulen Tomaten bewarf, wenn er herkam. Sie ist heute noch am Leben! Einfach eine Legende! Wirklich? Ja, eine lebende Legende in Czernowitz. Die Hauptsache ist, dass sie eine konsequente Antizionistin ist, im Gegensatz zu anderen, die ihre Überzeugungen je nach Windrichtung änderten. Sie ist immer noch eine Antizionistin! Sie ist eine einzigartige Person. Obwohl ich gegenteilige Überzeugungen habe, kann ich nicht anders, als sie zu bewundern. Ich kenne sie gut. Sie ist jetzt über 90 Jahre alt, aber sie ist immer noch ganz die Alte … Also wurde sie in das regionale Parteikomitee eingeladen … Dann war da noch ein Professor … der Leiter der Halbleiterabteilung … Ich erinnere mich nicht an seinen Namen … Er war auch im antizionistischen Komitee. Ich habe mit ihm in der Abteilung gearbeitet. Sie waren auch zu diesem Empfang eingeladen. Sie kamen zu uns. Ich war nicht anwesend, weil ich in Israel war. Ich ging zum ersten Mal dorthin, als die Aufsicht endete. 1989 nahmen Bojko und mein Bruder an der Gründung der Gesellschaft für jüdische Kultur teil. Die Inoffiziellen traten also offiziell bei? Es war ein Versuch der Zusammenarbeit. Das hat natürlich nicht geklappt. Es waren völlig unterschiedliche Generationen, unterschiedliche Mentalitäten. Die jungen Leute konzentrierten sich mehr auf einige israelische Dinge, auf die Literatur, und wollten weg. Es gab einige radikale Bewegungen. [ … ] Anfang 1989 gab es den Versuch einer Zusammenarbeit. Dieser Versuch findet sich übrigens in den Bulletins wieder. Später trennten sich unsere Wege. Die Stiftung blieb auf sich allein gestellt, die Gesellschaft auf sich allein gestellt. Ich war sogar stellvertretender Vorsitzender der Gesellschaft für Jüdische Kultur, aber nach ein paar Sitzungen bin
186 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht ich von dort weggelaufen – mir war einfach die Zeit zu schade. Sie versuchten, alle Tätigkeitsbereiche einzuschränken, wollten Hebräisch unterrichten und das Thema Israel überhaupt nicht diskutieren. Das war zunächst ein typisch sowjetisches Verhalten. Denn es handelte sich natürlich um Menschen der älteren Generation, die Angst hatten. Sie hatten ihr ganzes Leben in Angst gelebt. Sie knickten ein, sobald sie den Namen „Israel“ hörten. Aber trotzdem gab es einen Versuch. Das Bulletin existierte nur für relativ kurze Zeit – zwei oder drei Jahre. Wie viele Ausgaben wurden veröffentlicht? 22, glaube ich, oder 23. Und wie hoch war die Auflage? Die größte war nicht höher als 500 Exemplare. Wurden sie verkauft? Gott bewahre! Wir haben sie nur unter den eigenen Leuten verteilt. Wir haben unsere Publikationen nie verkauft, auch nicht in jenen Jahren. Wir hatten eine freiwillige Spendenaktion. Übrigens haben wir immer im Bulletin darüber berichtet, wie viel Geld auf dem Friedhof gesammelt wurde. Das Bulletin wurde auch mit freiwillig gesammeltem Geld veröffentlicht. Aber das war vor der Pavlova-Reform 1991, die Leute hatten also etwas Geld, und sie waren sehr enthusiastisch. Das Bulletin wurde mit diesem Geld herausgegeben. Und Ihre Auflage? Meine Auflage betrug drei Blättchen durch einen Kopierer. 20 Exemplare, nicht mehr. Später haben wir versucht, sie auf der „Era“ zu kopieren. Da Czernowitz eine sehr aktive Stadt war, wollten wir, dass mehr Menschen von unseren Aktivitäten erfahren, um sie anzulocken.
„Man muss bauen, was einem nahe ist“ 187 Wurden die Leute, die in der Redaktion arbeiteten, bezahlt oder geschah alles auf ehrenamtlicher Basis? Nein, nein, sauber. Auch unsere Hebräischlehrer haben nichts bekommen. Oleh Bubis, der erste Hebräischlehrer in Czernowitz, hat immer umsonst gearbeitet. Später wurden seine Schüler, die Hebräischkurse belegten, Lehrer: Mark Charach, Volodymyr Bojko und Julja Kac. Sie ist heute eine Vertreterin der konservativen Bewegung für die israelische Unabhängigkeit in Russland, der Ukraine und Moldawien. Sie alle arbeiteten also zunächst unentgeltlich. Ich weiß nicht einmal, wann sie anfingen, für den Unterricht zu bezahlen, wahrscheinlich nicht vor 1990. Aber die ersten zwei oder drei Jahre waren völlig unbezahlt. Ich spreche nicht mit viel Wehmut darüber, denn es ist ein unvermeidlicher Übergang zur Professionalisierung. Man kann nicht auf Amateurniveau unterrichten. Es sollte immer Enthusiasten und Freiwillige geben, aber das wichtigste Rückgrat sind Menschen, die ihre ganze Zeit dafür aufwenden. Übrigens waren wir die erste ukrainische Organisation, die sich professionalisiert hat. Das Ergebnis liegt auf der Hand: Heute sind die jüdischen Kulturvereine, die damals unter Anleitung und dann unabhängig agierten, praktisch nur noch Schimären. Der Grund dafür ist, dass sie sich nicht rechtzeitig professionalisiert haben. Wir haben uns freiwillig auf die Professionalisierung eingelassen, auf Strukturen zur Ausbildung von Fachleuten, auf diverse Seminare, Kurse, Schulungen, auf Kontakte zu westlichen Stiftungen, auf diverse Programme und haben so überlebt. Ende der 1980er Jahre wuchs die jüdische Informationskooperation, ein Zusammenschluss von Interessierten, die bereit waren, sich zu ihrem Judentum zu bekennen, um nach Israel zu ziehen. Man tauschte Informationen mit anderen Organisationen aus. Ja, natürlich. Wir haben das Moskauer Bulletin in unserem eigenen nachgedruckt. Unser Bulletin enthielt immer einige Beiträge aus dem Moskauer Bulletin. In den 80er Jahren druckte das Moskauer Blatt ständig uns nach, weil wir gute Kontakte nach Moskau hatten, sogar bessere als nach Kyïv.
188 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Welches Moskauer? Das Informationsbulletin zu Fragen der Repatriierung, jüdischen Geschichte und Kultur. Es gibt auch Archive dieser Bulletins. Sie begannen etwa 1986 zu erscheinen. Hatten Sie irgendwelche Verbindungen zu den L‘viver oder Kyïver Bulletins? Wir haben den Kontakt zu Šofar hergestellt, als wir in Kyïv zu arbeiten begannen. Mit L‘viv gab es nur eine schwache Verbindung. Als wir in Kyïv die erste Koordinierungsgruppe für die allgemeine ukrainische Koordinierung einrichteten, begannen wir, Verbindungen zu diesen Städten zu haben und Informationen zu erhalten. Dies spiegelt sich zum Teil in dem Bulletin wider, das Kotljars‘kyj herausgab. Es gab nur drei oder vier Ausgaben. Wie hieß es? Nun, das ist das, was später „Chadašot“ wurde. Es gab eine im Selbstverlag herausgegebene Zeitschrift namens „Chadašot“.6 Aber die erste hieß nicht „Chadašot“, glaube ich, und sie wurde auch als eine Art „Informationsbulletin“ bezeichnet. Ab der zweiten Ausgabe wurde sie zu „Chadašot“. Sie war illustriert. Als sie entworfen wurde, verwendete man Zeichnungen von Lev Filipov aus Kyïv. Sie war ähnlich wie die Moskauer Zeitschrift „Kol Zion“7, wenn Sie sich daran erinnern. „Chadašot“ war eine Kopie davon. Natürlich war sie unsere. Ich weiß nicht, ob ich sie kopiert habe oder nicht. Sie wurde von Kotljars‘kyj herausgegeben, der jetzt in Israel lebt. Er veröffentlichte drei oder vier Ausgaben. Die erste Ausgabe von „Chadašot“ kam offiziell im August ‚91 heraus. Davor gab es eine Pause. Im Jahr 1989, glaube ich, begann „Chadašot“ zu erscheinen. Es wurden drei oder vier Ausgaben veröffentlicht. Ich habe alle Ausgaben in meinem Archiv. 6 7
חֲדָ שֹות/ Хадашот. Kiev, 1991 ff. http://hadashot.kiev.ua/ קול ציון/ Голос Сиона, Moskva, 1989–1990.
„Man muss bauen, was einem nahe ist“ 189 Hatten Sie vorher etwas mit „Chadašot“ zu tun? Natürlich war ich es, der Kotljars‘kyj vorschlug, sie zu veröffentlichen. Und auf meine Bitte hin begann er … Er war Mitglied unserer Initiativgruppe, unterrichtete Hebräisch und gründete den „Lavy“ Club, einen Klub von Hebräischlehrern. In Kyïv? In Kyïv, ja! Ich bekam den Kontakt zu Kotljars‘kyj, als ich im Mai 1989 a.m. ersten Kongress, einer Konferenz über jüdische Geschichte und Kultur, teilnahm. In Riga fand ein Rundtischgespräch statt. Ich habe dort gesprochen. Man gab mir Kotljars‘kyjs Kontakt. Als ich aus Riga zurückkehrte, fand ich ihn. Dann begannen wir, zusammenzuarbeiten. Das war im Juni 1989. Und ich glaube, es war, als es noch „Svitlyj Ljambus“ gab, da erschien die erste Ausgabe des Bulletins, das später als „Chadašot“ bekannt wurde. Deshalb nannten wir auch die Ausgabe von 1991 „Chadašot“. Wie haben sich die Rundbriefe von Czernowitz zu „Šofar“ verändert? Informationsbulletins sind etwas so Trockenes, dass sie an Samizdat der 1970er Jahre erinnern. Ich weiß nicht mehr, wer – entweder Bojko oder Charach – sich den Namen Šofar ausgedacht hat. Dann erschien Šofar in L‘viv, aber das war später. Unser hieß eine Zeit lang Šofar, aber nicht lange. Ich meine, dann kam es nicht mehr heraus. Auf der Titelseite war sogar ein alter Mann mit diesem Horn, mit einem Schofar. Hatten Sie vor dieser neuen Gruppe irgendwelche Kontakte mit der Polizei und dem Sicherheitsdienst? Nein. Wegen meiner Vergangenheit wurden wir in Czernowitz generell gemieden. Sie haben uns überhaupt nicht angefasst. Im Herbst 1988 gab es einen Versuch, etwas gegen uns zu unternehmen. Natürlich steckten die Parteibehörden und der KGB dahinter. Es geschah auf der Ebene der Zeitungen: In der Zeitung „Radjans‘ka Bukovyna“ erschien ein Artikel, in dem wir als „Söhne von Leutnant Schmidt“ bezeichnet wurden, aber ich wurde nicht
190 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht einmal namentlich genannt. Sie nannten mich nicht einmal bei meinem Nachnamen. Worin bestand die Hauptidee? Die Hauptidee des Artikels war, dass wir irgendwie auf dem Friedhof tätig waren, und das war wahrscheinlich ein Schwindel, ein Betrug. Da der Titel „Enkel von Leutnant Schmidt“ lautete, war es klar, dass es sich um Betrüger handelte. Aber sie erwähnten nicht einmal meinen Namen. Das heißt, sie waren sehr vorsichtig. Die Alteingesessenen dort fingen natürlich sofort an zu reden: „Die werden jetzt ins Gefängnis kommen“. Das war schon lächerlich: November 1988. Das war kurz vor meiner Reise nach Israel. Als ich dann nach Israel ging, dachten alle, ich würde dort bleiben. Hatten Sie etwas mit dem Entstehen des „Czernowitz-Projekts“ zu tun? Keine. Weder direkt noch indirekt. Man gründete die Gesellschaft für jüdische Kultur. Leonid Finkel‘ war ihr Vorsitzender. Er lebt heute in Israel und ist Sekretär der russischsprachigen Sektion des israelischen Schriftstellerverbandes. Josef Burg war mit der Geschäftsführung betraut. Dann wollte Finkel‘ nach Israel umziehen, also schlug ich Burg vor. Er wurde Leiter der Gesellschaft und begann mit der Umsetzung des „Czernowitz-Projekts“. Der Focus lag auf der jiddischen Seite. Ich war an dem jiddischen Radioprogramm in Czernowitz beteiligt, weil ich ... Es läuft doch im Radio, oder? Im Radio, ja. Und es gab auch ein Fernsehprogramm. Ich fand dort Mittel … „Sochnut“ unterstützte diese Sache. Also war das alles ein „Czernowitz-Projekt“? Ja, natürlich. Es war wie ein Vater und eine Mutter. Der Wert lag in der jiddischen Seite, denn es gab keine andere Zeitung in Kyïv oder in der Ukraine mit einer solchen Ausrichtung.8 8
Josef Burg hatte 1934–1937 die jiddischsprachige Zeitschrift „Ṭšernowitzer bleṭer: umophengiker organ far poliṭik, kulṭur un wirṭšafṭ“ herausgegeben.
„Man muss bauen, was einem nahe ist“ 191 Einige Beiträge wurden in separaten Ausgaben sowohl des L‘viver „Šofar“ als auch der Kyïver Zeitungen wie „Jevrejs‘ki visti“ veröffentlicht. Die Zeitschrift, die Tyščenko in Odesa herausgab, war auf Hebräisch, erschien aber auch nur für kurze Zeit, einmal im Quartal. Wie viel Prozent der Juden in Czernowitz konnten in den späten 1980er Jahren Jiddisch? Ich glaube, wenn wir die Volkszählung von 1989 nehmen, dann waren dort 16.700 in der Oblast‘ Czernowitz. Verringern wir die Zahl … Damals lag das Durchschnittsalter bei etwa 54 Jahren. Ich glaube, die Hälfte dieser Menschen war definitiv jiddisch. Ich konnte kein Jiddisch, weil ich faktisch als Waisenkind aufgewachsen bin. Ich hatte einen Vater, keine Mutter, dann eine Mutter, keinen Vater. Ich habe es in meiner Familie einfach nicht gehört. Aber ich verstehe es, weil meine Nachbarn es sprachen, die Eltern meiner Freunde sprachen es. Ich verstehe es. Wenn ich in einer rein jüdischen Familie aufgewachsen wäre, das heißt, wenn meine Eltern noch gelebt hätten, dann würde ich sicherlich Jiddisch sprechen, weil ich zu dieser Generation gehöre … Meine Klassenkameraden sprechen Jiddisch. Aber das war natürlich nicht in einer jüdischen Schule, oder? Nein. Ich hatte 24 Juden in meiner Klasse, von 28 Schülern. Es war ein jüdisches Viertel. Ich habe zwar nicht in diesem Viertel gelebt, aber alle meine Klassenkameraden schon. Es war ein rein jüdisches Viertel. Und das Ghetto befand sich übrigens dort, wo auch die Schule war, ganz in der Nähe … Das ist eine paradoxe Situation, denn die Menschen waren Träger der Identität, aber sie waren keine Träger der Kultur. Ich meine, wir hatten keine Probleme mit der Identität, jeder wusste ganz genau, dass wir Juden waren, aber … Die ganze Kultur endete mit Scholem Alejchem, wissen Sie? Selbst unter den Intellektuellen. Ich bewundere oft meine Klassenkameraden, die Zum Aufbruch der jüdischen Gemeinden damals vgl. Sue Ann Harding, The Jews of Chernivtsi https://kehilalinks.jewishgen.org/sadgura/jqharding.html.
192 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht fast alle in Israel leben. Wir organisieren sogar alle fünf Jahre ein Wiedersehen. Heute sehe ich, dass sie in Israel Israelis sind. Das heißt, sie haben keine jüdische Kultur, sie feiern die Feiertage nicht so aktiv … Sie setzen sich an den Tisch, natürlich, aber sie zünden keine Kerzen an. Sie sind Juden wie niemand sonst, aber sie sind nur dem Namen nach Juden, die in Israel leben. Diejenigen, die seit den späten 80er Jahren mit uns an der Bewegung teilgenommen haben, waren nicht einmal halbjüdisch, das heißt, sie hatten keine ethnische Identität, aber sie sind heute aktive Juden. Ihr Glaube … sie sind religiös, und das ist alles … Verstehen Sie also, worin das Paradox liegt? Es scheint, dass es für diejenigen, die Träger der Kultur sind, viel einfacher wäre, Träger der Kultur zu sein, aber diejenigen, die von der Wiedergeburt berührt wurden, erwiesen sich als Träger der Kultur. Das ist ein interessantes Phänomen, mit dem ich mich noch nie beschäftigt habe, aber es ist interessant, es zu erforschen. Heutzutage wird viel über Identität diskutiert, es gibt Konferenzen über Identität. In Israel wehren sie sich gegen die Ankunft von Nicht-Juden im Land. Meiner Meinung nach ist das, was sie sagen, absurd; sie wehren sich gegen die Ankunft von NichtJuden – Halb-, Vierteljuden. Gerade sie waren es, die mit uns wiedergeboren wurden, sie wurden von dieser Welle der Wiedergeburt ergriffen. Sie wurden zu Trägern der Kultur, sowohl der religiösen als auch der nicht-religiösen. Sie lasen Bücher, kannten israelische und nicht-israelische Autoren. Meine Klassenkameraden wussten nicht, wer Singer oder Saul Bellow waren, und sie kannten auch keine der zeitgenössischen Figuren der jüdischen Kultur. Wie ist der aktuelle Stand der jüdischen Gemeinde in Czernowitz? Quantitativ gesehen, ist sie schrecklich. Laut der Volkszählung ist Czernowitz die am stärksten „betroffene“ Stadt. Acht Prozent der jüdischen Bevölkerung, die 1989 dort lebte, sind noch dort. Heute gibt es laut der Volkszählung 1.400 Personen in der Oblast‘, aber das sind hauptsächlich Stadtbewohner. Aber es ist eine sehr aktive Gemeinde Ist die Gemeinde dennoch vielversprechend? Was bedeutet „vielversprechend“?
„Man muss bauen, was einem nahe ist“ 193 Ich meine, ist sie auf Alija ausgerichtet oder ... In Singapur gibt es hundert Familien. Sie haben eine Synagoge und eine Schule. Es gibt eine aktive jüdische Gemeinde. Sie ist wohlhabend. Es kommt nicht auf die Zahl an, sondern nur auf die geistigen Fähigkeiten, auf den Wunsch, zur Gemeinschaft zu gehören, und auf die finanziellen Möglichkeiten. Deshalb hat die Tatsache, dass es hier noch 1400 Juden gibt, keine Bedeutung. Die Gemeinde ist sehr aktiv. Es gibt mehrere Organisationen, eine Wohltätigkeitsstiftung und eine sehr aktive Tagesschule, eine der ersten in der Ukraine, die 1991 gegründet und 1990 in Betrieb genommen wurde. Übrigens sollte sie im Bulletin beschrieben sein, insbesondere in den Ausgaben von 1990. Die Stiftung organisierte sie und brachte Sponsoren aus Israel mit. Eine Sonntagsschule arbeitet dort noch immer, und es gibt eine gute Bibliothek. Ist das im Jüdischen Haus? Ja. Jetzt ist es ein gemeinsames, es gibt keine Trennung mehr. Es ist nicht ganz zurückgegeben worden, wir haben unsere Räume im Erdgeschoss, wo die Bibliothek ist. Die zwei Bücher von Hugo Gold sind dort untergebracht. Im dritten Stock befindet sich die Gesellschaft für jüdische Kultur, wo Burg ist, und im zweiten Stock gibt es einen Raum … Es gibt also vier bis fünf unserer Räume. Und die Möglichkeit, den Saal zu benutzen. Und wissen Sie, selbst jetzt würde ich nicht darauf bestehen, das gesamte Gebäude zurückzugeben, denn es muss instandgehalten werden, und das ist sehr teuer. Eine solche Möglichkeit gibt es in Czernowitz nicht. Es gibt zwar noch jüdische Geschäftsleute, aber sie sind nicht sehr aktiv im Sponsoring. Wie auch anderswo sind westliche Organisationen, insbesondere der „Joint“, federführend. Es wurde ein sehr gutes „Chesed“-Zentrum gegründet, ich habe den Direktor dafür gefunden ... Und das Bulletin wird dort veröffentlicht? Ja, natürlich ...
194 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht „Chesed Schoschana (Lilie)?“ Natürlich. Fast alle „Chesed“ geben Bulletins heraus. Heute gibt es reichlich jüdische Presse auf der Ebene der „Chesed“. Es gibt dort reformierte und konservative Gemeinden. Czernowitz ist die einzige Stadt, in der es alle drei Komponenten der Gemeinde gibt, d.h. konservativ, reformiert und orthodox. Und die progressive Gemeinde ist ... Ja. Eine Schule hat dort einen Kindergarten eröffnet. Die Stiftung hat dort einmal einen Kindergarten eröffnet, aber jetzt wird er von einem „Chesed“ betrieben. Wird dort Hebräisch unterrichtet? Ja. Nun, es ist auf dem Niveau von Kinderspielen. Es gibt etwa 15 Kinder in diesem Kindergarten. Und es gibt noch einen weiteren Kindergarten, den Chabad kürzlich eröffnet hat. Er hat über 300 Schüler. Fast die Hälfte von ihnen ist nicht jüdisch. Dies ist eine öffentliche Schule, und man kann dort die ethnische Zusammensetzung nicht so aufrechterhalten wie in einer Privatschule. Wie Sie sehen können, gibt es ein sehr aktives Leben, aber es gibt auch Probleme. Wie viele Juden haben Czernowitz in den letzten Jahren verlassen? Heutzutage verlassen nur wenige Menschen die Stadt, etwa ein Dutzend pro Jahr. Fast alle, die wegwollten, sind weggegangen. Es gibt keine Beschränkungen. In meinen Artikeln über die Auswanderung schreibe ich, dass die Auswanderung fächerförmig von Westen nach Südosten verlief. Das volle Potenzial der Auswanderung ist in den Gebieten, die als erste von diesem Fächer erfasst wurden, nahezu ausgeschöpft: Zakarpattja, Bukovyna, L‘viv. Nur wenige Menschen verlassen diese Gebiete. Heute verlassen die Menschen aktiv den Südosten, vor allem aus Dnipro, Donbas, Saporižža, Charkiv und Luhans‘k. An anderen Orten ist die Alija völlig versiegt.
„Man muss bauen, was einem nahe ist“ 195 Sie sind seit 1991 in Kyïv. Wissen Sie, mein Umzug nach Kyïv war nicht von Anfang an geplant. Ich begann einfach, dort mehr und mehr zu sein. Ab dem Frühjahr 1989 war ich ständig in der Hauptstadt. Davor war ich ebenfalls von Zeit zu Zeit in Kyïv. Meine erste Familie ist nach Israel gezogen, als ich meine Strafe verbüßte. Dann habe ich in der Hauptstadt geheiratet. Seit etwa 1991 lebe ich endgültig in Kyïv. Vakhtang Kipiani, Josyf Zisel‘s. 18. Januar 2000.
Les’ Tanjuk
„Aber die Ukraine hat damals nicht an die Wahrheit der Dissidenten geglaubt“ Leonid (Les’) Tanjuk (8. Juli 1938, Dorf Žukyn, Rajon Vyšhorod, Oblast’ Kyïv – 18. März 2016, Kyïv). Theaterdirektor, Organisator des Klubs der kreativen Jugend, Kunstkritiker, Übersetzer, öffentlicher und politischer Aktivist. Aufgrund der Verfolgung durch die Behörden war Les’ Tanjuk 1965 gezwungen, nach Moskau zu gehen. Künstler, Theaterregisseur und Politiker der SechzigerjahreBewegung, Mitglied der Verchovna Rada der ersten demokratischen Einberufung, war Les’ Tanjuk, einer von denen, die den Widerstand gegen das GKČP (Staatskomitee für den Ausnahmezustand) in der ukrainischen Hauptstadt am 19. und 21. August 1991 anführten. Anfang der 2000er Jahre sprach ich mit Les’ Tanjuk über diese drei Tage, die über das Schicksal der Nation entschieden. Zu dieser Zeit hatte er noch keine eigene Wohnung in der Hauptstadt. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, kurz bevor er ins Parlament gewählt wurde, kehrte er aus seinem erzwungenen „Exil“ in Moskau in die Ukraine zurück. Nach der Niederlage der Dissidentenbewegung untersagten ihm die ukrainischen Parteifunktionäre die Arbeit, unterbanden seine Auftritte, warfen eine Reihe von Büchern raus, die er geschrieben hatte, und drohten, ihn auf „Etappe“ zu schicken, um seinen Freunden Svitlyčnyj, Čornovil und anderen zu folgen. Nachdem er im Frühjahr 1990 die Wahlen zur Verchovna Rada gewonnen hatte, zog Tanjuk wie viele andere Abgeordnete in ein Hotel mit dem symbolischen Namen „Moskva“. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Augusttage? Ich hörte die Nachricht von der Einsetzung des Staatkomitee für den Ausnahmezustand (GKČP) im Radio. Ich eilte sofort 197
198 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht in die Verchovna Rada. Eine große Gruppe von Abgeordneten des Demokratischen Volksrats (Levko Luk’janenko, Volodymyr Filenko, Oleksandr Jemec’ und andere) versuchte, zum Parlamentsvorsitzenden Leonid Kravčuk vorzudringen. Er kam ganz blass und zitternd zu uns heraus. Es stellte sich heraus, dass die GKČPler Varennikov [stellvertretender Verteidigungsminister der UdSSR] und Gurenko [Erster Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei] ihn gerade verlassen hatten. Er sagt, sie hätten von ihm verlangt, dass er die Maßnahmen des Komitees unterstützt. Ich sagte zu ihm: „Leonid Makarovyč, warum haben Sie sie nicht verhaftet, Sie sind doch die legitime Autorität.“ Er lächelte verschmitzt: „Sie hätten mich verhaftet ...“ Am selben Tag trat Kravčuk im Radio auf. In seiner Rede vermied er es, die Aktionen des GKČP zu bewerten und rief zu einer erfolgreichen Ernte auf. Auf Antrag der Mitglieder des Präsidiums der Verchovna Rada wurde am Abend des 19. August eine außerordentliche Sitzung des Volksrates einberufen. Da die Beschlussfähigkeit nicht gegeben war, schlug Kravčuk (mit Erleichterung) einen „Meinungsaustausch“ vor. Wie ich später erfuhr, wurde einem Mitglied des Präsidiums der Verchovna Rada, dem Akademie-Mitglied Ihor Juchnovs’kyj, in L’viv die Fahrkarte verweigert. Ich bat um die Erlaubnis, eine Erklärung zu verlesen, in der der Staatsstreich verurteilt wurde. Kravčuk sagte: „Nein“. Ich: „El’cin verlas diese Erklärung aus einem Panzer, die Ehre der Ukraine ist bereits gerettet.“ Ich musste es ohne Erlaubnis lesen. Sobald ich zu dem Satz „kriminelle faschistische Junta“ kam, unterbrach mich Kravčuk und versuchte, mich zu stoppen, aber ich las es zu Ende. Zum Glück waren keine Panzer auf dem Chreščatyk. Aber soweit wir wissen, wurde ein Widerstandsstab eingerichtet und hat drei Tage lang gut funktioniert. Wie hat es funktioniert? Wir richteten das Kyïver Hauptquartier zur Bekämpfung des Putsches vier Stunden nach der ersten Meldung des GKČP ein. Vjačeslav Čornovil wohnte im Hotel „Moskva“, direkt gegenüber
„Die Ukraine hat nicht an die Wahrheit geglaubt“ 199 von meinem Zimmer. Er hatte einen Computer und ich hatte ein Faxgerät. Jemec’ und Filenko hatten ein anderes Hauptquartier. Wir begannen, uns mit den baltischen Staaten, Moskau und Leningrad zu verständigen. Der georgische Präsident Zviad Gamsachurdia schickte uns einen Appell an die Staatsoberhäupter der Welt, in dem er den Putsch verurteilte. Aus Moskau erfuhren wir, dass die Donec’ker Bergarbeiter gegen das GKČP waren und Aktionen zur Unterstützung El’cins vorbereiteten. Wir riefen sofort in Donec’k an und knüpften enge Kontakte zu ihnen. Das Telefon klingelt: „Les’ Stepanovyč, ich bin vom Haus der Offiziere. Könnten Sie um zwei Uhr mit den Abgeordneten des Volksrates zu uns kommen? Wir möchten, dass Luk’janenko, Skoryk, Jemec’ und andere dabei sind.“ Ich sagte, dass wir natürlich nicht dagegen sind, aber wir müssten uns beraten.
Chiffregramm. Eines der Indizien für die Ursurpation der Macht durch die Kommunistische Partei
200 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Ich habe Čornovil gegenüber meinen Eindruck geäußert: Ich glaube, sie wollen uns verhaften. Vjačeslav sagte: „Du sagst ihnen, dass wir kommen.“ Natürlich wollten wir nicht in eine Falle tappen. Am nächsten Tag, nachdem wir die zitternden Hände des Vizepräsidenten und GKČP-Leiters Janaev im Fernsehen gesehen hatten, beschlossen wir, Kontakt mit dem Militär aufzunehmen. Am Eingang des Offiziershauses stand ein streitlustiger Leutnant, der versuchte, die von uns eingeladene Presse aufzuhalten. Ich sagte ihm: „Wir diktieren hier die Bedingungen“, schob ihn weg und ließ die Journalisten durch. General Čečevatov, der damalige Befehlshaber des Kyïver Militärbezirks, sitzt mit einem Igelhaarschnitt im Saal. Er sagte: „Leute, ich verstehe nicht, was für eine Art von Unabhängigkeit die Ukraine hat? Frankreich hat die Region Bretagne, aber es gibt keine bretonische Armee. Wir haben nur eine Mutter Russland.“ Ein wilder Skandal brach aus, als Čečevatov Oberst Vilen Martirosjan [einen populistischen Politiker, Volksvertreter der UdSSR, der dem radikalen Teil des parlamentarischen Korps angehörte] aufforderte, den Saal zu verlassen. Die Abgeordneten drohten damit, aufzustehen und den Saal zu verlassen, falls Čečevatov versuchen sollte, seine Bedingungen zu diktieren. Er ließ sich nicht beruhigen und schrie den Abgeordneten Kendz’or an: „Hey, schalten Sie Ihr Gerät aus“ (wie immer in jenen Jahren hatte er eine Videokamera dabei). Jaroslav gab vor, das Gerät auszuschalten, nahm aber das gesamte Gespräch auf. Gab es Versuche, Gewalt gegen Sie anzuwenden, um das Hauptquartier zu aufzulösen? Ich erinnere mich an eine Episode. In der Hotellobby versammelten sich ständig Menschen, um ihre Abgeordneten zu unterstützen, Flugblätter zu verteilen usw. Plötzlich öffnete sich der Aufzug und ein Mann kam heraus, und als man ihn ansah, erkannte man sofort, dass er ein GBler war, er hatte etwas Unnahbares an sich – rein „professionell“. Als er die Menge Leute sah, sagte er: „Les’ Stepanovyč, Sie können nicht gegen die Ordnung des Hotels verstoßen. Es sind zu viele Leute hier. Ich bitte alle zu gehen!“
„Die Ukraine hat nicht an die Wahrheit geglaubt“ 201 Weiterhin kam es zu folgendem Dialog: „Entschuldigung, aber wer sind Sie?“ – „Niemand!“ – „Und ich bin Tanjuk. Könnten Sie sich bitte ...“ Ich musste ein starkes Wort benutzen. Alle wunderten sich über den reichen Wortschatz des Leiters der Kulturkommission, aber es gab keine andere Wahl, und er hätte es wohl kaum anders verstanden. Der Gast fuhr rückwärts in den Aufzug, und wir mussten alle lachen. Wenn die Putschisten die Macht gehabt hätten, hätten sie sowohl das Mitglied der Akademie der Wissenschaften Andrej Sacharov als auch Jurij Afanas’ev verhaften müssen. Hätten sie in jeder Republik 200–300 Personen verhaftet, hätte es zweifellos eine Rückkehr zum alten Regime gegeben. Mit einer totalen „Erschießungskommando“-Regierung wäre es ein Leichtes gewesen, die „Ordnung“ im Lande wiederherzustellen. In den demokratischen Kreisen wäre es zu einer scharfen Spaltung gekommen: Die Minderheit wäre in den Untergrund gegangen, und die Mitglieder der Demokratischen Plattform in der KPdSU hätten einen Weg gefunden, sich mit der neuen Regierung zu einigen. Andererseits spürte das GKČP nicht, dass die Bevölkerung hinter ihr stand. Als ihre Sache scheiterte, beging nur einer von ihnen, der Innenminister der UdSSR Boris Pugo, Selbstmord, da er in seinem Verbrechertum ehrlich war. Alle anderen überlebten und begannen, ihre Memoiren zu schreiben. „Die Niederlage ist immer ein Waisenkind, aber der Sieg hat hundert Väter.“ Ist Ihnen etwas Ähnliches begegnet? Einige Leute waren „spät dran“. Noch ein paar Tage vor dem Putsch haben sie sich richtig kritisch über die Regierung geäußert, und dann sind sie untergetaucht. „Die Grünen“ und die Aktivisten der Gesellschaft für ukrainische Sprache verschwanden drei Tage lang vor dem Putsch. Volodja Javorivs’kyj wurde nicht gesehen, und Pavlo Movčan saß irgendwo auf dem Weg von der Krim fest. Serhij Holovatyj kam nicht aus dem „Untergrund“ heraus ... Aber als das „Treffen der Sieger“ auf dem Majdan Nezaležnosti begann, saßen sie in den ersten Reihen. Im Grunde war es ein Schreck der Intelligenz. Das einfache Volk hat es ganz
202 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht einfach genommen: „Die da oben haben wieder etwas angefangen, aber sie werden sowieso keinen Erfolg haben.“ Wie haben die kommunistischen Abgeordneten den Zusammenbruch des GKČP überlebt? Sie standen unter Schock! In diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass die Kommunistische Partei am 30. August aus dem Präsidium der Verchovna Rada verbannt wurde, sehr aufschlussreich. Mit dem Verbot ihrer Partei haben sie sich im übertragenen Sinne ihren eigenen Blinddarm herausgeschnitten. Nun, die Logik war klar – keine Kommunistische Partei, keine Verantwortung. Schließlich hatten die Mitglieder des Volksrates nur acht Sitze in der Führung der Verchovna Rada, während die Kommunisten doppelt so viele hatten. Nach dem Verbot der Kommunistischen Partei warfen mehr als 75% ihrer Mitglieder ihre Parteibücher weg und traten nie in die Kommunistische Partei ein, die einige Jahre später wieder erneuert wurde. Können wir davon ausgehen, dass die ukrainische kommunistische Partei zu drei Vierteln aus Menschen mit demokratischen Ansichten bestand? Nein, natürlich nicht, es waren nur 5–6% von ihnen, der Rest waren Opportunisten. Woran erinnern Sie sich an den Tag der Unabhängigkeitserklärung? An die unglaublich hitzige Diskussion unter den Mitgliedern des Volksrates. Wofür sollten wir zuerst stimmen – für das Verbot der Kommunistischen Partei oder für die Unabhängigkeit? Wir hätten uns fast gegenseitig umgebracht. Wer würde heute noch glauben, dass Larysa Skoryk dazu aufrief, nicht für die Unabhängigkeitsakte zu stimmen? Sie sagte, wir sollten die Unabhängigkeit nicht aus den „schmutzigen Händen“ der kommunistischen Mehrheit nehmen. Ich vertrat einen anderen Standpunkt: Wenn wir heute die Kommunistische Partei verbieten und die Mitglieder der „Gruppe 239“ aus dem Parlament ausschließen, dann wird es morgen niemanden geben, der für eine unabhängige Ukraine stimmt.
„Die Ukraine hat nicht an die Wahrheit geglaubt“ 203 Frau Skoryk hat eine schlaue Idee nicht in Betracht gezogen. Die Spitze der Verchovna Rada verstand sehr wohl, dass die Kommunistische Partei auf der Sitzung nicht verboten werden konnte, sondern dass sie sich untereinander einigen musste. Mit einem Vorsprung von – bildlich gesprochen – anderthalb Stimmen beendete das Präsidium der Verchovna Rada die Tätigkeit der Kommunistischen Partei und entzog sich damit selbst die gesetzgebenden Funktionen. Es wurde unmöglich, sie „zurückzugewinnen“. Es gibt eine Meinung, dass die Ukrainer dem Sieg der Demokraten in Moskau und Boris El’cin persönlich für ihre Unabhängigkeit danken sollten ... Ich würde das Gegenteil behaupten. Wir sind El’cin und seinem Panzer nicht für das Erscheinen der unabhängigen Ukraine auf der Landkarte dankbar, sondern für den Zusammenbruch des kommunistischen Regimes und der imperialen Staatlichkeit. Dennoch war die Idee unserer Unabhängigkeit schon lange in unseren Köpfen vorhanden. Wir haben die Ereignisse im Baltikum, in Georgien und Moldawien verfolgt. Es war nicht El’cin, der uns die Unabhängigkeit schenkte, es war wahrscheinlich das Verdienst des GKČP, die die Sowjetunion schließlich zerstörte. Wie hätte Ihrer Meinung nach eine ideale Regierung einer unabhängigen Ukraine nach dem Modell vom August 1991 ausgesehen? Hätten die Demokraten das Personal gehabt, um nicht nur, grob gesagt, das Ministerium für Kultur, sondern auch den Wirtschaftsblock zu führen? Igor Rafaïlovyč Juchnovs’kyj wäre ein guter Premierminister gewesen. Übrigens, hätte Vjačeslav Čornovil die Präsidentschaftswahlen gewonnen, wäre er in dieses Amt berufen worden. Oleksandr Jemec’ hatte alle Qualifikationen, um die Sicherheitskräfte zu führen. Erinnern Sie sich daran, wie Stepan Chmara ihn bei seiner Ernennung zum Leiter des Sicherheitsdienstes „abservierte“. Aber derselbe Chmara konnte perfekt Kontrollfunktionen ausüben und die Korruption bekämpfen. Mit seiner Energie! Volodymyr Pylypčuk hätte Wirtschaftsminister werden können. Es hätte
204 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht auch Arbeit für Volodymyr Hryn’ov und Volodymyr Lanovoj im Wirtschaftsblock der Regierung gegeben. Ich glaube nicht, dass die damalige demokratische Elite „kulturell“ war. Wenn Vjačeslav Čornovil 1991 zum Präsidenten gewählt worden wäre, wäre eine neue Klasse mit neuen Ideen an die Macht gekommen. Nach dem Verbot der kriminellen Kommunistischen Partei mussten natürlich hochrangige Funktionäre lustriert werden. Ich kann Ihnen versichern, dass das Auftauchen von Leuten wie Pavlo Lazarenko einfach ausgeschlossen gewesen wäre. Aber die Ukraine hat damals nicht an die Wahrheit der Dissidenten geglaubt. Wir sind keine Tschechen, Ungarn oder Deutschen ... Vakhtang Kipiani, Les’ Tanjuk. Beitrag für die Website „Istoryčna Pravda“, 24. August 2018.
Nikolaj Rudenko
„Es war eine starke Welle des Nationalismus“ Mykola Rudenko (19. Dezember 1920, Dorf Jur’ïvka, heute Rajon Lutuhyn, Oblast’ Luhans’k – 1. April 2004, Kyïv). Auf seiner Suche nach Gerechtigkeit unterhielt Mykola Rudenko Beziehungen zu russischen Dissidenten, darunter Andrej Sacharov, und wurde Mitglied von „Amnesty International“. Am 18. April 1975 wurde er zum ersten Mal verhaftet, aber als Kriegsveteran während der Ermittlungen freigelassen. Wie durch ein Wunder entkam er der Einweisung in eine psychiatrische Klinik. Am 9. November 1976 hielt Rudenko in Sacharovs Wohnung in Moskau eine Pressekonferenz für ausländische Journalisten ab, auf der er die Gründung der ukrainischen Helsinki-Gruppe ankündigte. Am 23. und 24. Dezember 1976 wurde Rudenkos Wohnung durchsucht, wobei man 39 untergeschobene US-Dollar
Mykola Rudenko, Kyïv, 1990er Jahre
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206 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht „fand“. Er wurde zu 7 Jahren strenger Lagerhaft und 5 Jahren Verbannung verurteilt. Rudenkos journalistische Artikel, belletristische Werke und mündliche Äußerungen wurden für verleumderisch erklärt, und alle seine Bücher in Buchhandlungen und Bibliotheken wurden beschlagnahmt. Herr Rudenko, am 9. November 1976 entstand in Kyïv die erste wirklich öffentliche Organisation, deren Rolle in der Geschichte der Ukraine leider noch Teil des großen gesellschaftlichen Bewusstseins wurde. Unsere Aufgabe ist es, die Menschen über die Wahrheit über die Helsinki-Bewegung in der Ukraine zu informieren, und wer wüsste das besser als Sie, der Organisator und erste Vorsitzende der Gruppe … Der verstorbene Jurij Lytvyn, möge er in Frieden ruhen, verglich die UHG einmal mit der Kyrill- und Methodius-Bruderschaft und stellte fest, dass die Bruderschaft von der zaristischen Regierung vollständig ausgerottet, vernichtet wurde und ihre Aktivitäten keine direkten Auswirkungen auf die Ukraine hatten. Es war ein starker Impuls der Nation zur Freiheit, aber die Ukraine wurde nicht bald frei … Die Ukrainische Helsinki-Gruppe (UHG) wurde organisatorisch in der Ukrainischen Helsinki Union (UHU, 1987–1990) fortgesetzt, und dann in der Ukrainischen Republikanischen Partei (URP) und anderen nationalen demokratischen Organisationen. Und das Wichtigste ist, dass wir einen unabhängigen ukrainischen Staat haben, in dem die wichtigsten Menschenrechte – Redefreiheit, Pressefreiheit, Verbreitung von Informationen ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen, Versammlungsfreiheit, Gründung von Bürgervereinigungen, Gewissensfreiheit, Freizügigkeit – irgendwie gewährleistet sind, obwohl viele Menschen mit dem Zustand der Menschenrechte in der Ukraine unzufrieden sind. Aber jetzt geht es um andere Rechte, vor allem um wirtschaftliche Rechte. Bitte sagen Sie uns, welches die politischen, historischen, philosophischen, moralischen und ethischen Grundlagen der Helsinki-Bewegung in der Ukraine waren. Dieses Datum – der 20. Jahrestag der ukrainischen Helsinki-Gruppe – ruft in mir besondere Gefühle hervor. Dies ist das Lebensalter, wenn man erwachsen ist … Aber abgesehen von den Gefühlen bestand die Neuheit dieses Phänomens darin, dass zum ersten Mal ukrainische patriotische Intellektuelle nicht im Untergrund, sondern offen und lautstark sprachen, trotz der offiziellen Ideologie, der Drohungen, ohne Angst vor Inhaftierung oder Repressalien: Wir
„Es war eine starke Welle des Nationalismus“ 207 erklären der ganzen Welt, dass wir da sind, wir wissen, dass ihr uns verhaften werdet, aber wir werden trotzdem die Wahrheit sagen. Das war eine Demonstration des Mutes. Aber ich muss sagen, dass damals die Voraussetzungen dafür gegeben waren. Zwei Welten prallten aufeinander: die sowjetische totalitäre Welt, die völlig falsch, betrügerisch und schwer bewaffnet war, und die westliche Demokratie, die ihre eigenen Taktiken dagegen entwickelte. Brežnevs Führung brauchte die Sicherheit, dass die im Zweiten Weltkrieg gezogenen Grenzen nicht revidiert werden konnten. Er musste die Eroberungen des Sowjetimperiums für immer sichern. Die demokratische Welt verstand, dass ein Krieg nicht zugelassen werden konnte. Es spielte keine Rolle, wo die Grenzen lagen. Das Sowjetimperium sollte aufgefordert werden, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO vom 10. Dezember 1948 anzuerkennen und sich zu verpflichten, die Rechtsbeziehungen im Lande auf dieser Grundlage zu entwickeln, d.h. die grundlegenden Menschenrechte zu respektieren. Die sowjetischen Demagogen dachten sich: Wir haben so viele Versprechungen gemacht, haben sie nicht erfüllt und sind damit davongekommen. Lasst uns wieder etwas versprechen, lasst uns den Westen täuschen. Am 1. August 1975 unterzeichneten 33 europäische Staaten, die Vereinigten Staaten und Kanada in der finnischen Hauptstadt Helsinki die Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die noch heute in Kraft ist. Aber die sowjetische Führung hat sich verkalkuliert: Sie hat nicht damit gerechnet, dass es Menschen geben würde, die die Wahrheit über den Zustand der Menschenrechte in der UdSSR sagen würden. Der Moskauer Helsinki-Gruppe war die sowjetische Gruppe von „Amnesty International“ vorausgegangen, der ich angehörte. Am 18. April 1975 wurde ich in Moskau drei Tage lang in einem Untersuchungsgefängnis festgehalten. Es war die Rede davon, ein Strafverfahren nach Artikel 187-1 „Verleumdungen zur Verunglimpfung des sowjetischen Staates und Gesellschaftssystems“ einzuleiten. Da jedoch der 30. Jahrestag des Sieges über Deutschland näher rückte und mir als Kriegsveteran
208 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht und Behindertem Amnestie gewährt werden sollte, wurde das Verfahren gegen mich eingestellt. Andrej Tverdochlebov jedoch wurde in diesem Fall verurteilt. Tatsächlich gründeten dieselben Personen – Mitglieder der Moskauer Gruppe von „Amnesty International“ – im Mai 1976 die Moskauer Öffentliche Gruppe für die Umsetzung der Helsinki-Vereinbarungen. Der Initiator dieser Gruppe war Jurij Orlov, Professor, korrespondierendes Mitglied der Armenischen Akademie der Wissenschaften und Astronom. Zu den Mitgliedern gehörten Aleksandr Ginzburg, Anatolij (Natan) Šaranskij, Petro Hryhorenko (Grigorenko), Elena Bonnėr (die Frau von Andrej Sacharov), Ljudmila Alekseeva, Mal’va Landa und andere Menschenrechtsaktivisten. Der Name ist, wie Sie sehen können, deklarativ, wie ein Schild: Wir helfen Ihnen, und es liegt an Ihnen, unsere Hilfe anzunehmen. General Petro Hryhorenko, der in Moskau lebte, und ich waren der Meinung, dass wir eine ukrainische Gruppe gründen sollten, und wir übernahmen diese Aufgabe. Ich überredete ihn, die Gruppe zu leiten, und er überredete mich. Es war klar, dass uns ein starker Wind entgegenwehte, der uns in den Abgrund blasen konnte. In der zweiten Oktoberhälfte 1976 hatte ich mein erstes Gespräch mit Oksana Meško, einer ehemaligen politischen Gefangenen in den stalinistischen Lagern und einer bekannten Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Ich wurde ihr von Petro Hryhorenko vorgestellt, der mir über sie einen Brief schickte. Wir erwiesen uns als gleichgesinnte Menschen. Ich hatte gute Beziehungen zu dem Science-Fiction-Autor Oles’ Berdnyk, ebenfalls ein ehemaliger politischer Gefangener. So trafen wir uns gegen 21 oder 22 Uhr in der zweiten Oktoberhälfte, ich weiß nicht mehr, an welchem Tag, im Haus von Oksana Meško in der Verbolozna-Straße 16 in Kurenivka. Wir haben im Haus nicht darüber gesprochen, denn es war immer noch verwanzt. Wir gingen eine schwach beleuchtete Straße entlang, über eine Klippe, bis zum Rand einer riesigen Schlucht. Der Mond schien, und ich sah eine ungewöhnliche Landschaft. Es war eine riesige Tongrube, in der seit Hunderten von Jahren Ton abgebaut wurde (wir sollten einmal dorthin fahren). Es war wie eine Mondlandschaft. Wir
„Es war eine starke Welle des Nationalismus“ 209 befanden uns also am Rande eines Abgrunds. Das ist symbolisch gemeint. Von unten konnte sich niemand nähern, und im Mondlicht konnte man sehen, ob sich jemand näherte. Wir diskutierten über die Schaffung einer Gruppe ähnlich der Moskauer Gruppe, aber sie sollte völlig unabhängig sein. Als sie ins Leben gerufen wurde, verbreiteten Moskauer Journalisten im Westen die falsche Information, dass es sich um einen Zweig der Moskauer Gruppe handele, was später widerlegt wurde. Wir waren also Kollegen der Moskauer Gruppe, aber wir völlig unabhängig. Später entstanden Gruppen in Litauen, Georgien, Armenien und Mitteleuropa. Oksana Meško, Oles’ Berdnyk und ich vereinbarten, dass wir mit den Juristen Levko Luk’janenko und Ivan Kandyba Kontakt aufnehmen würden, die im Januar nach 15 Jahren Haft entlassen worden waren und in Černihiv und Pustomyty bei L’viv unter behördlicher Aufsicht standen. Sie hatten kein Recht, irgendwohin zu gehen, sie mussten um neun Uhr abends zu Hause sein … Wir mussten zu ihnen gehen. Wir diskutierten das moralische Problem: Die Leute haben 15 Jahre gesessen – sollen wir sie erneut
Die Organisatoren der Ukrainischen Helsinki-Gruppe Mykola und Raïsa Rudenko, Zinaïda und Petro Horodenko, 1970er Jahre
210 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht hineinziehen? Wir beschlossen, sie über unseren Plan zu informieren, da sie verantwortungsbewusste Menschen sind, und sie entscheiden zu lassen. Ein oder zwei Tage später gingen Berdnyk und ich zum Haus von Luk’janenko. Wir betraten das Haus und sahen einen echten Kosakenführer fest auf dem Boden stehen. Es war klar, dass sie nicht im Haus redeten. Wir gingen zu einer Baugrube am Stadtrand von Černihiv, wo wir den Raum überblicken konnten – wir wussten, dass der KGB über Geräte verfügte, die ein Gespräch aus einem halben Kilometer Entfernung auffangen konnten. Levko gefiel unsere Idee. Er wusste von der Existenz der Moskauer Gruppe durch die Sendungen von „Radio Svoboda“, auch wenn diese gestört waren. Er war sozusagen in voller politischer und staatsbürgerlicher Form. Wir sagten ihm, dass wir jede Entscheidung, die er treffen würde, verstehen würden. Levko antwortete: „Wisst ihr was, Leute, lasst mich eine halbe Stunde nachdenken.“ Berdnyk und ich gingen voraus, und er blieb in 30–40 Metern Entfernung zurück. Genau eine halbe Stunde später kam er auf uns zu und nahm unsere Hände: „Gut.“ Er lächelte so traurig, weil er besser als wir wusste, welches Schicksal uns erwartete. „Gut. Ich schließe mich an. Betrachten Sie mich als ein Mitglied der Gruppe.“ Luk’janenko war also der Vierte. Dann ging ich nach L’viv und fand Mychajlo Horyn’. Er machte gerade eine schwierige Zeit durch. Er sagte, er sei nicht bereit, Mitglied der Gruppe zu werden, aber er würde sie unterstützen (und nach unserer Verhaftung übernahm er den größten Teil der Arbeit). Wir kannten seine Situation, und wir hatten es auf Ivan Kandyba abgesehen ... Entschuldigung: Wir haben Mychajlo Horyn’ im November 1982 im Hof des Konzentrationslagers Kučino im Ural formell als Mitglied der Gruppe aufgenommen. Jurij Lytvyn, Ivan Kandyba, Oleksa Tychyj und ich waren dabei. Das war, nachdem er vier Informationsbulletins der Gruppe vorbereitet hatte. Der KGB erwischte ihn nicht, aber sie „durchschauten“ ihn, fabrizierten einen Fall und sperrten ihn ein. In Pustomyty nahmen mich meine Nachbarn mit zu einem Stand auf dem Markt, wo Ivan Kandyba Bügeleisen reparierte. So verdiente
„Es war eine starke Welle des Nationalismus“ 211 der Jurist sein Geld. Er behandelte mich mit einigem Misstrauen. Vielleicht machte meine „Partokratie“-Kleidung einen solchen Eindruck. Aber er war höflich zu mir. Wir gingen zu seinem Haus. Ich nahm eine Flasche Wodka mit, aber Ivan trank sie nicht einmal aus. Ich machte ein kurzes Nickerchen, weil ich müde war. Armut im Haus – da gibt es nichts zu sagen … Dann gingen wir entlang der Bahnlinie zu einem Wald, zu einer Wiese. Ich spürte, dass ihn etwas hemmte. Er war nicht einverstanden. Nina Strokata, die Ehefrau des politischen Gefangenen Svjatoslav Karavans’kyj, die selbst gerade vier Jahre abgesessen hatte und jetzt in Tarusa im Gebiet Kaluga lebte, ließ über Ginzburg ausrichten, dass sie ebenfalls zustimmte, weil sie nicht abseits stehen konnte. Da es in Kyïv keine ausländischen Journalisten gab, musste ich nach Moskau fahren und verkündete am 9. November die Gründung der ukrainischen Helsinki-Gruppe. Ich verbrachte die Nacht bei Hryhorenko. Und am Morgen rief mich Ljudmila Alekseeva an: Meine Frau Raïsa hatte ihr erzählt, dass unsere Wohnung in Konča Zaspa bei Kyïv verwüstet worden war. Sobald sie die Meldung von „Radio Svoboda“ hörten – etwa zwischen 11 und 12 Uhr abends – kam eine kämpferische Meute aus dem Wald. Offenbar waren es viele, denn sie warfen in Sekundenschnelle Ziegelsteine auf die Wohnung im zweiten Stock. Da das Fenster mit einem Insektenschutznetz versehen war, gelangte nicht viel davon in die Wohnung. Aber man konnte eine halbe Wagenladung davon einsammeln … Oksana Jakovlevna Meško und meine Frau Raïsa waren in der Wohnung. Sie waren bereits im Bett und warfen sich sofort Decken und Kissen über. Oksana Jakovlevna wurde an er Schulter verletzt. Auf diese Weise begrüßte das Komitee für Staatssicherheit die Gründung der ukrainischen Helsinki-Gruppe ... Natürlich habe ich diese Information sofort in die Welt hinausgegeben. Kandyba erfuhr von der Gründung der Gruppe, erkannte, dass ich kein KGB-Agent war, und rief mich in Kyïv an, um sich zu entschuldigen: „Ich dachte, es wäre jemand anderes, der unter Ihrem Namen zu mir kam.“ Und er trat der Gruppe bei. Zwei weitere junge Männer kamen zu uns – Myroslav Marynovč und Mykola Matusevyč. Marynovyč war so ein
212 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht blühender Junge, er wirkte sehr jung, mit rosigen Wangen … Matusevyč war ein Kosake, ehrlich, direkt, etwas impulsiv, aber ein starker Mann, es war klar, dass er uns nicht verraten würde, er würde alle Prüfungen bestehen. Und so war es auch … Ich erinnere mich an die Worte von Marynovyč: „Wir wollen den Untergang des Imperiums miterleben und an diesen Ereignissen teilnehmen.“ Das waren schon neun Leute. Wir bekamen eine Menge Informationen. Wir stellten eine Liste mit hundert politischen Gefangenen zusammen – denen in Konzentrationslagern, Gefängnissen, psychiatrischen Anstalten und in der Verbannung. Ich schrieb das Memorandum Nr. 1. Wir definierten die Einstellung zur Ukraine als Völkermord. Das erforderte Mut. Ich verfasste auch die Grundsatzerklärung. Mit diesen Projekten ging ich zu Luk’janenko. Ein Mann kam herein. Er war intelligent, schneidig, gut gekleidet, und Levko stellte mich ihm vor: Oleksa Tychyj. Sie kannten sich beim Vornamen, wie Brüder, sie hatten eine gemeinsame KZ-Vergangenheit. Levko gab Oleksa unsere Dokumente und sagte, er könne sie lesen und sich uns anschließen. Oleksa fügte hinzu, wie sie ihn zum Zittern brachten und dass der Oberstleutnant ihn geschlagen hatte. Die KGB-Offiziere waren sehr besorgt darüber, dass ihre Namen in solchen Dokumenten auftauchten. Tychyj wurde das zehnte Gründungsmitglied der Gruppe. Dann traf ich ihn im Dezember in Alčevs’k, Oblast’ Luhans’k, im Haus meiner Schwester, und wir verbrachten einen Tag zusammen, und ich spürte, was für ein Mensch er war. Wir wurden beide am 5. Februar 1977 verhaftet. Dann trafen wir uns auf derselben Anklagebank ... Ich habe Dokumente aus dem Ausland und andere Quellen verwendet und eine Liste aller Mitglieder unserer Gruppe mit den wichtigsten Daten über sie zusammengestellt: wann sie geboren wurden, wie lange sie gedient haben. Das ist beeindruckend … Die Listen wurden 1992 und 1995 in der Zeitung „Samostijna Ukraïna“ veröffentlicht, 1994 in der 42. Ausgabe. Vielleicht mag mein Vergleich ein wenig frevelhaft erscheinen, aber Jesus Christus hatte 12 Jünger – einer verriet ihn. 41 Mitglieder hatte die Ukrainische Helsinki-Gruppe im Laufe ihres Bestehens. 39 wurden
„Es war eine starke Welle des Nationalismus“ 213 inhaftiert und verbüßten mehr als 550 Jahre in Gefängnissen, Lagern, psychiatrischen Anstalten und in der Verbannung, und vier – Oleksa Tychyj, Jurij Lytvyn, Valerij Marčenko und Vasyl’ Stus – starben in Gefangenschaft. Mychajlo Mel’nyk beging im Frühjahr 1979 Selbstmord, bevor er verhaftet werden konnte. Und nur einer von ihnen trat nach fünf Jahren Haft zurück. Es war eine mächtige Welle des nationalen Geistes. Am 5. Februar 1977 wurden Oleksa Tychyj und ich verhaftet, und dann wurde fast das gesamte erste Dutzend verhaftet, nur Petro Hryhorenko wurde in den Westen geschickt und Nina Strokata wurde nicht zum zweiten Mal inhaftiert. Aber nach uns traten nach und nach neue Leute der Gruppe bei, obwohl sie sahen, dass diejenigen, die zu Mitgliedern der Gruppe erklärt wurden, nicht lange frei blieben. Die Mitglieder der Gruppe sind nicht die ganze Gruppe. Es gab ein Umfeld, eine zweite Ebene, die Informationen sammelte, transportierte, druckte, wie meine Frau Raïsa, die eigentliche Sekretärin der Gruppe, die dafür fünf Jahre in der Verbannung saß. Es sei darauf hingewiesen, dass die ukrainische Helsinki-Gruppe nicht zerfiel oder sich auflöste. Die Moskauer Gruppe – einige wurden verhaftet, einige wurden ins Ausland „ausgewiesen“, einige wurden zum Schweigen gebracht – löste sich 1982 auf, aber unsere Gruppe überlebte, obwohl sie durch die Verhaftungen völlig gelähmt war (die Ukrainer wurden nicht ins Ausland ausgewiesen). Zu dieser Zeit befand ich mich im Konzentrationslager Kučino Nr. 36 im Ural, wo die ukrainischen Helsinki-Leute Oleksa Tychyj, Levko Luk’janenko, Vasyl’ Stus, Vitalij Kalynyčenko, Ivan Kandyba, Oles’ Berdnyk, Mychajlo Horyn’, Jurij Lytvyn, Valerij Marčenko, Mykola Horbal und Petro Ruban inhaftiert waren. Wir berieten darüber, wie es weitergehen sollte. Und wir waren fest entschlossen, die Gruppe nicht aufzulösen, selbst wenn wir aussterben müssten. Denn wir wussten, dass die Ukraine hinter uns stand. Einmal haben wir Levko Luk’janenko in der URP-Leitung geehrt. Der 24. August, der Unabhängigkeitstag, ist sein Geburtstag. Er erinnerte sich daran, wie er 1969 zu Gesprächen nach Kyïv gebracht
214 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht wurde. Der stellvertretende Leiter des ukrainischen KGB, Hladuš, sagte zu ihm: „Wie viele Nationalisten gibt es unter euch: etwa 50 Personen in der ganzen Ukraine. Und die ganze Nation baut den Kommunismus auf.“ Levko antwortete: „Diese 50 Menschen sind das Gewissen der ukrainischen Nation. Sie bewahren ihre Würde und bezeugen den Willen zur Unabhängigkeit.“ Vasyl’ Stus schrieb: „... wir sind nur wenige. Eine winzig kleine Handvoll. Nur zum Beten und Abwarten.“ Und doch haben wir die Kontinuität des Kampfes unterstützt, er ist nicht an uns zerbrochen. Auch wenn es ukrainische politische Gefangene gibt, ist die Ukraine noch nicht gestorben. Nach dem Niedermähen von 1972–1973 dachten unsere Feinde, dass sie die Ukraine zumindest für ein Jahrzehnt erobert hätten. Aber dem war nicht so: 1976 tauchte eine neue Kohorte auf. Alles, was in der Ukraine lebendig war, wurde in die Helsinki-Gruppe gezogen. Es war das erste Mal, dass sich nach Jahrzehnten des Schweigens eine so kleine Zahl ukrainischer Intellektueller organisierte und vor der ganzen Welt über die Versklavung und Entrechtung des Menschen und ihres Volkes sprach. Es war eine geniale Idee, das nationale Interesse der Ukraine in den Kontext der Konfrontation zwischen der totalitären UdSSR und dem demokratischen Westen zu stellen und auf eine internationale Rechtsgrundlage zu stellen. Die Menschenrechtsaktivisten machten sich keine Illusionen darüber, dass die Behörden ihnen gestatten würden, die Menschenrechte öffentlich zu verteidigen, indem sie sich auf die Helsinki-Akte beriefen, aber sie ließen sich von Überlegungen höherer Art leiten. Es war ein weitsichtiges Kalkül: die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die Menschenrechtssituation in der UdSSR zu lenken und damit Druck auf die Behörden auszuüben, um eine Liberalisierung herbeizuführen, die Raum für ein weiteres Einreißen des totalitären Systems schaffen würde. Dass sich die ukrainischen Menschenrechtsaktivisten in der politischen Situation richtig orientiert haben, beweist die Tatsache, dass dieser Weg in Verbindung mit wirtschaftlichem, politischem und ideologischem Druck aus dem Westen schließlich zum Zusammenbruch des russischen Sowjetimperiums und zur Ausrufung eines unabhängigen ukrainischen demokratischen Staates führte.
„Es war eine starke Welle des Nationalismus“ 215 Die Stärke und der enorme moralische Vorteil der Menschenrechtsverteidiger gegenüber dem Regime bestand darin, dass sie nicht in den Untergrund gingen, sondern Dokumente mit ihrem eigenen Namen unterzeichneten und sich offen auf das sowjetische Recht und von der UdSSR unterzeichnete internationale Rechtsdokumente beriefen. Die bittere Erfahrung, unter Bedingungen der Gesetzlosigkeit und der Verzerrung der Rechtsstaatlichkeit zu leben, führte die ukrainischen Freiheitskämpfer zu der grundlegenden Überzeugung, dass Freiheit nur dort möglich ist, wo das Gesetz regiert. Der Kampf der ukrainischen Menschenrechtsverteidiger für nationale und Menschenrechte entsprach dem universellen Streben nach Freiheit, weshalb sie in der demokratischen Welt wohlverdienten Respekt und Unterstützung erhielten 1978 war die Rede davon, den Führern der Helsinki-Gruppen den Friedensnobelpreis zu verleihen. Ich wünschte, er wäre uns damals verliehen worden. Er hätte nicht nur unser Leid gelindert, sondern auch die Zerschlagung des Imperiums und damit die Befreiung der Ukraine erheblich beschleunigt. 1985 wurde Vasyl’ Stus, Mitglied der UHG, für den Literaturnobelpreis nominiert: Das Regime beeilte sich, ihn zu vernichten, da es wusste, dass dieser Preis nur an Lebende verliehen wird. Der demokratische Westen unterstützte uns, insbesondere US-Präsident Jimmy Carter. Das Interesse der Ukraine deckte sich mit dem des Westens: Wir stellten das Imperium von beiden Seiten bloß, und es konnte dem wirtschaftlichen Wettbewerb und diesem „Kalten Krieg“ nicht standhalten. Manche Leute sagen, die Sowjetunion sei von selbst zusammengebrochen. Die Tatsache, dass die Menschenrechtsbewegung organisch mit der Ukraine verbunden war, beweist, dass die ukrainische Helsinki-Gruppe fast alle heutigen politischen und öffentlichen Organisationen mit nationaldemokratischem Charakter im Keim in sich trug. Gemeinsam haben wir die Redefreiheit und die Freiheit der politischen Betätigung errungen – und jetzt sind wir in verschiedene Parteien gegangen und versuchen, unsere Vision der Gesellschaftsordnung umzusetzen. In diesem Sinne hat die Ukrainische Republikanische Partei kein Monopol auf Kontinuität, auch wenn sie direkt aus der
216 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Ukrainischen Helsinki-Gruppe (und später der Union) hervorgegangen ist. Zur gleichen Zeit wurden mit uns Menschen inhaftiert, die Untergrundgruppen gegründet, zwei oder drei Dutzend Flugblätter verteilt und Samizdat veröffentlicht hatten. Sie erhielten die gleichen Strafen wie wir, aber niemand kannte sie. Ich schätze ihre Zurückhaltung sehr, aber die neue Zeit erforderte neue Methoden. Wir haben grundsätzlich beschlossen, uns nicht im Untergrund zu engagieren. Wir gehen unvoreingenommen hin, setzen unsere Unterschriften und Adressen auf die Dokumente: Hier sind wir, wir sagen die Wahrheit, und ihr macht mit uns, was ihr wollt. Das war der große moralische Vorteil der Menschenrechtsverteidiger gegenüber dem totalitären russischen Regime. Das Regime war verwirrt, sie wussten nicht, was sie mit uns machen sollten. Wissen Sie, dass ich auf Beschluss des Politbüros des Zentralkomitees der KPdSU verhaftet wurde? Das wurde bekannt, nachdem die KPdSU aufgelöst wurde. Sie haben die Dokumente gefunden: Der Generalstaatsanwalt der UdSSR, Rudenko, und der KGB-Chef, Andropov, beantragten die Genehmigung, mich, Ginzburg, Orlov und den Leiter der litauischen Helsinki-Gruppe, Venclova, zu verhaften. Das Politbüro genehmigte ihren Antrag. Außerdem erklärte es, Rudenko solle vor dem Donec’ker Oblast’gericht angeklagt werden, da es dafür „verfahrensrechtliche Gründe“ gebe. Mit anderen Worten: Ich sollte zusammen mit Oleksij Tychyj, der in der Oblast’ Donec’k lebte, vor Gericht gestellt werden. Aber Tychyj hatte nur die Dokumente unterschrieben, er hatte sonst nichts getan. Mit ihm hatten es die Behörden leichter: Er war ein ehemaliger politischer Gefangener, und ich war ein Kriegsveteran und -invalide … Der russische Präsident El’cin sagte einmal, dass die Moskauer Helsinki-Gruppe eine große Rolle bei der moralischen Erneuerung Russlands spielte. In der Ukraine wird die Rolle der Helsinki-Bewegung immer noch totgeschwiegen. Deshalb hat die Führung der Ukrainischen Republikanischen Partei alle ihre Organisationen angewiesen, jedes Jahr am 9. November Versammlungen, Lesungen, Treffen mit Veteranen der Helsinki-Bewegung, Auftritte in
„Es war eine starke Welle des Nationalismus“ 217 Presse, Rundfunk und Fernsehen sowie Konferenzen abzuhalten. Wir hoffen, dass unser Interview auch dazu beiträgt, dass die Öffentlichkeit die wahre Bedeutung dieses bemerkenswerten historischen Phänomens versteht. Vielen Dank. Dieses Gespräch zwischen Mykola Rudenko und Vasyl’ Ovsijenko fand Anfang November 1994 statt. Die Tonaufnahme des Gesprächs ist nicht erhalten geblieben.
Parujr Hajrikjan
„Sie spekulieren auf unsere Anständigkeit“ Parujr Hajrikjan (Ajrikjan, 5. Juli 1949, Eriwan, Armenien) Vorsitzender der Nationalen Einheitspartei Armeniens, Menschenrechtsaktivist und Politiker. Politischer Gefangener (1969–1973, 1974–1987). 1966 wurde er Mitglied der im Untergrund agierenden Nationalen Einheitspartei (NOP). Ihr Gründer und Führer war der Künstler Hajk Chačatrjan. Es handelte sich um eine Partei mit strenger Disziplin, strenger Geheimhaltung, einem Treueeid und Gehorsam gegenüber dem Leiter. Die Jugendstruktur der NOP „Šant“ („Blitz“) wurde von dem 17-jährigen Parujr geleitet. Ihr Ziel war es, die Geschichte des armenischen Volkes zu studieren, über die Reinheit der Sprache zu wachen, gegen Assimilation zu kämpfen und die Einheit der Nation zu verteidigen. 1968, nach der Verhaftung der NOP-Führung, wurde Hajrikjan de facto zum Führer der Partei. Kurz nachdem die „Šant“-Gruppe am 24. April 1969 in der Nähe des Denkmals für die Opfer des Völkermords von 1915 eine Radiosendung organisiert hatte, wurden sechs ihrer Mitglieder, darunter Hajrikjan, verhaftet und der antisowjetischen Agitation und Propaganda sowie der Beteiligung an einer antisowjetischen Organisation beschuldigt. 1973 saß ich in der Zone ZH-385-3/5, d.h. in Baraševo in Mordwinien, in Haft. Am Ende meiner Haftzeit sagte man mir, dass ein ukrainischer Dichter zu uns gebracht worden sei. Es war Vasyl’ Stus. Bald darauf verließ ich die Zone. Vasyl’ war ein besonderer Mensch, ein leidenschaftlicher Verfechter der Wahrheit. Um ehrlich zu sein, war ich ein wenig enttäuscht, denn ich dachte, dass ein Kämpfer im politischen Sinne 219
220 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht angekommen sei. In der kurzen Zeit hatte ich nicht die Zeit zu erkennen, dass er ein geborener Kämpfer war, ein Kämpfer als Dichter und ein Kämpfer als Mensch. Ich suchte in seinem Strafurteil nach politischer Motivation und dem Wunsch nach Unabhängigkeit und Freiheit, aber da war nichts dergleichen. Während meiner ersten Haftzeit lernte ich ihn kennen, und wir hatten ein gutes Verhältnis, aber wir wurden keine Freunde. Ich wurde entlassen, aber eineinhalb Jahre später kehrte ich in dieselbe Zone zurück. Normalerweise wird die Rückkehr in das Lager als ein schwieriges Ereignis empfunden. Aber gerade weil ich Stus damals entdeckte, ihn kennenlernte, war das eine der Freuden, die ich bei meiner Rückkehr in die Zone hatte. Ein bemerkenswertes Detail: Normalerweise, wenn jemand aus der Zone entlassen wird, verabschieden sich die Zurückgebliebenen von ihm, als wäre es für immer: freigelassen, und weg. Ich wollte es mir nicht anmerken lassen, aber es war schwer, in dieselbe Zone zurückzukehren. Stimmt, bei der Gerichtsverhandlung habe ich mich korrekt verhalten: Sie hatten so viel Angst vor mir, dass sie mich mit einem Sonderflugzeug ausflogen. Als ich zurückkam, war Aleksandrov der Leiter der dortigen Einheit. Er war ein fieser Kerl. Ich erinnere mich, dass er mir sagte,
Mychajlo Horyn’, Parujr Hajrikjan, Vakhtang Kipiani, Vasyl’ Ovsijenko am Grab von Vjačeslav Čornovil auf dem Bajkove-Friedhof, 11. September 1999
„Sie spekulieren auf unsere Anständigkeit“ 221 dass ich zurückkommen würde. Ich dachte, wenn ich Aleksandrov sehen würde, würde er mich daran erinnern: „Ich habe es dir gesagt ...“ Und ich würde für weitere sieben Jahre an seiner Seite sein – nach vier. Es war deprimierend. Ich erinnere mich an die erste Reaktion meiner Freunde, die mich einst verabschiedeten. Israil’ Zalmanson sagte: „Oh, Parujr, du bist wiedergekommen?“ Die anderen reagierten anders, sympathisch, aber er hatte diesen jungenhaften Blick … Und Vasyl’ schien, sobald er mich bemerkte, auf einmal um mehrere Jahre gealtert zu sein. Er hatte gehört, dass ich verhaftet worden war, aber dann sah er tatsächlich, dass ich nach der lang ersehnten Freiheit zurückgekehrt war. Ich erinnere mich an seine Worte. Als wir uns umarmten, streckte ich meine Hand aus, und Vasyl’ reichte seine und sagte: „Parujr!“ Das war der Beginn unserer echten Freundschaft. Wissen Sie, ich habe mich nur zufällig an all das erinnert. In Vasyl’s erstem Strafurteil stand, dass er gegen sein Volk war. Und das deprimierte ihn. Vasyl’ erklärte: „Als mir gesagt wurde, dass ich gegen das ukrainische Volk sei, dass das ukrainische Volk in dieser Gesellschaft lebt und ich dagegen bin, war das für mich gleichbedeutend mit dem Tod.“ Deshalb sagte er vor Gericht: „Ich bin nicht gegen mein Volk, ich kann nicht gegen mein Volk sein.“ Unsere Aktivitäten waren politisch. Und Vasyl’ war ein Dissident, ein Schriftsteller, wobei ich etwas sagen werde, was Sie, die Ukrainer, wahrscheinlich sehr gut wissen. Als man eine Erklärung zur Verteidigung von Valentyn Moroz schrieb, wollten Čornovil und andere, die das Talent von Vasyl’ Stus als Dichter schätzten, ihn übergehen, damit er diese gemeinsame Erklärung nicht unterschreibt, damit er wegbleibt und der ukrainischen Poesie dient. Später erzählte mir Čornovil, dass Vasyl’, wenn er allein war, sogar schärfer schrieb als sie alle zusammen. In den Jahren, in denen wir miteinander sprachen, spielte Vasyl’ eine historische politische Rolle, die wahrscheinlich nicht erwähnt wird. Die Bolschewiki spekulierten meist auf die Idee des Internationalismus und behaupteten, ihr Nationalisten kämpft für eure eigenen Interessen und hasst euch gegenseitig, aber wir sind Internationalisten, für uns gibt es keine nationalen Grenzen.
222 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Nach meiner Entlassung hatten wir bereits eine klare Linie in Richtung Unabhängigkeit als Ergebnis des Referendums festgelegt. Das ist eine Idee, zu der wir immer noch stehen: Sie bedeutet Befreiung des Menschen, seine Selbstbestimmung und durch die Selbstbestimmung des Menschen auch nationale Selbstbestimmung. Es ist uns gelungen, die Menschenrechte mit dem Recht der Nation zu verbinden. Das wurde zu einem Programm und fand eine verfassungsrechtliche Grundlage. Die sowjetische Verfassung war natürlich keine Verfassung. Aber wir fanden in ihr Unterstützung auf der Grundlage internationaler Prinzipien und der sowjetischen Verfassung. Doch die Bolschewiki verhafteten mich erneut und gaben mir sieben Jahre. Auch meine Freunde, Azat Aršakjan und Ašot Navasardjan, erhielten sieben Jahre. Parujr Hajrikjan, der 1973 entlassen wurde, stand unter behördlicher Aufsicht. Um ihn von öffentlichen Aktivitäten abzulenken, wurde ihm angeboten, in ein Institut einzutreten. „Wozu braucht Armenien noch einen Ingenieur? Patrioten sind wichtiger für das Land“, antwortete Hajrikjan. Auf einem geheimen Treffen der Leiter wurde er zum Führer der NOP gewählt und reorganisierte die Partei. Flugblätter, Broschüren und Inschriften an Gebäuden erschienen, und ein riesiges Lenin-Porträt an der Wand des „Intourist“-Hotels wurde verbrannt. Am 05.02.1974 wurde Parujr Hajrikjan verhaftet und vom Bezirksgericht in Eriwan wegen „Verstoßes gegen das Regime der Überwachung“ zu zwei Jahren strenger Lagerhaft verurteilt. Nach der Urteilsverkündung wurde er in das Untersuchungsgefängnis des KGB verlegt, wo gegen ihn ein neues Verfahren nach Artikel 65 Paragraf 2 und Artikel 67 des Strafgesetzbuchs der Armenischen SSR eingeleitet wurde. Er plädierte auf „nicht schuldig“. Mit seinem Schlusswort brachte er das Gericht in eine schwierige Lage: „Bürger des Gerichts! Unser Volk hat eine lange Geschichte. Es hat Millionen von Opfern unter den Armeniern gegeben, aber nie in der Geschichte haben die Armenier einen Armenier nur wegen Patriotismus verurteilt, weil er die Unabhängigkeit seines Volkes wollte. Ihr seid die ersten Armenier in der Geschichte, die für armenischen Patriotismus ein Strafurteil verhängt! Möge Armenien ewig leben! Ruhm für die kämpfenden Helden!“
Als wir in Mordwinien ankamen, wurden wir in verschiedenen Zonen untergebracht. Mehrere Armenier wurden zusammen festgehalten, aber in meiner Akte wurde vermerkt, dass keine Armenier mit mir zusammen inhaftiert werden sollten. Und dann machte der KGB einen Fehler: Sie steckten mich zu Vasyl’ Stus, zu dem ich eine engere Beziehung entwickelte als zu jedem anderen Armenier, mit dem ich je mich unterhalten hatte. Vor allem
„Sie spekulieren auf unsere Anständigkeit“ 223 das spirituelle Gespräch. Nach meiner Rückkehr, als ich ihn entdeckte und kennenlernte, wurde Vasyl’ zu dem Menschen, der mir am nächsten stand. Ich habe nie geweint. Ich habe nur einmal in der Zone geweint – als Michail Chejfec Stus’ Gedichte las und sagte: „Ich habe einen brillanten Dichter neben mir.“ Und er las die Gedichte von Vasyl’. Ich las eins, zwei, drei – und übersetzte sie ins Russische. Ich konnte nicht widerstehen. Doch als ich jedoch in die Zone 3/5 zurückkehrte, kam mir Vasyl’ entgegen. Ich umarmte ihn, aber er verstand nicht, was vor sich ging. Er sagte nichts, aber ich sagte: „Ich weiß, warum ich inhaftiert wurde, ich weiß, dass ich gegen die Kommunisten gekämpft habe und wollte, dass sie als politische Kraft von der Erdoberfläche verschwinden. Ich habe gegen sie gekämpft, für die Befreiung. Warum aber haben sie dich ins Gefängnis gesteckt?“ Und ich konnte mich nicht zurückhalten … Ich war begeistert von seiner Poesie. Er war die Person, die mir in der Zone am nächsten stand, und ich bin Chejfec dankbar, dass er in seinem Buch über ihn schreibt: „Wir waren alle Stus’ Freunde, aber sein wahrer Freund war Parujr Hajrikjan.“ Was er verewigt hat, ist ein Glück, und dafür bin ich dankbar. Ich habe jedoch über den strategischen Beitrag von Vasyl’ gesprochen. Darüber werde ich sprechen, und dann werde ich auf 1975 zurückkommen. Im Jahr 1976 erinnerte mich die Nationale Einheitspartei, der ich angehörte, regelmäßig daran, dass es in Armenien eine Partei gab, die ein Referendum anstrebte. Ihre Mitglieder wurden verhaftet. Diese Information wurde an den Westen weitergegeben, damit unsere Verbündeten ein Argument hatten. In der Regel unterstützten die echten politischen Gefangenen unsere Aktion. Wir hatten gemeinsame Aktionen: Wir unterstützten den Tag der ukrainischen politischen Gefangenen (12. Januar), es gab einen gemeinsamen Tag am 30. Oktober – den Tag des sowjetischen politischen Gefangenen, wir machten verschiedene Veranstaltungen zusammen, aber diese Veranstaltung diente nicht der Verteidigung der politischen Gefangenen, sondern politischen Zwecken. Am 11. August begannen wir einen Hungerstreik. Der Hungerstreik wurde von politischen Gefangenen in allen Zonen unterstützt.
224 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Armenier traten drei Tage lang in den Hungerstreik, während andere nur am letzten Tag in den Hungerstreik traten. Danach begann der KGB, sie intensiv zu bearbeiten. Was Gorbačёv später begann, machten sie mit den Armeniern, oder besser gesagt mit der Nationalen Einheitspartei. Der KGB machte sich daran, diese Partei oder vielmehr ihre Banner zu beseitigen, und jeder politische Gefangene war ein Banner. So wurden von den achtzehn Gefangenen in den Jahren 1973–1974 elf vorzeitig entlassen. Navasardjan sollte 9 Jahre absitzen, wurde aber nach zweieinhalb Jahren nach Hause entlassen, Aršakjan 10 Jahre, und wurde nach 3 Jahren entlassen. Und so wurden viele entlassen. Allerdings haben viele von ihnen keine Geständniserklärungen geschrieben. Einige taten es, aber die meisten nicht. Und nur diejenigen aus dieser Generation, die es kategorisch ablehnten, mit dem KGB zu sprechen, blieben in der Zone.1 Und zu dieser Zeit bereiteten wir die nächste Aktion vor. Ich musste offiziell anerkennen, dass es eine solche Partei gab. Vor der Verhaftung sagten wir, dass wir alle Anhänger der Partei waren, Anhänger der Unabhängigkeit und Befürworter eines Referendums, aber wir hatten keine organisatorische Verbindung zur Partei. Mit anderen Worten, wir wurden alle einzeln wegen kleiner, zufälliger Fälle angeklagt, die nichts mit der Organisation zu tun hatten. Der Plan war, dass ich zugeben würde, der Sekretär zu sein, und meine Komplizen würden sagen: „Ja, wir waren Mitglieder dieser Organisation, es gibt eine solche Partei, wir wollen die Unabhängigkeit. Ihr begeht Völkermord, indem ihr ihre Führer verhaftet, die die Selbstbestimmung anstreben.“ Der KGB wählte mich aus, und das beschleunigte die Freilassung meiner Freunde. Das machte einen großen Unterschied: Statt achtzehn durften sieben aussagen. Die anderen sagten nicht aus: Sie wären sofort verhaftet worden, denn die NOP war eine Untergrundorganisation. Eines Tages saß ich aufgebracht da. Wir sprachen über Azat Aršakjan. Stus hatte besonders zärtliche Gefühle für Azat – er liebte ihn wie einen jüngeren Bruder. Verwundert erinnerte er sich daran, wie Azat einmal etwas erzählte und vergessen hatte, wie man eine Biene auf Russisch benennt, also sagte er: „Vasyl’, das ist ein 1
Es gab auch eine Armenische Helsinki-Gruppe, 1977–1980.
„Sie spekulieren auf unsere Anständigkeit“ 225 fliegender Tiger.“ (Lacht.) Für Vasyl’ als Dichter, wie kann ein Tiger fliegen? Es stellte sich heraus, dass eine Biene wie ein Tiger aussieht. Vasyl’ erinnerte sich immer an diese Episode mit Azat. Vasyl’ wusste, dass ich unglücklich darüber war, dass Azat zugestimmt hatte, freizukommen. Immerhin war Azat einer der Anführer der NOP, ein Mitglied des Rates dieser Untergrundorganisation. Wozu brauchen wir die Freiheit, wenn unser Volk in Gefangenschaft ist? Und Vasyl’ sagte zu mir: „Du weißt etwas nicht. Azat hat sich nicht verkauft, er konnte sich nicht verkaufen.“ Später, als er im Krankenhaus lag, nahm Vasyl’ Kontakt zu Azat auf und bat ihn als erstes, mir zu sagen: „Sag Parujr, dass mit Azat alles gut ist.“ Aber schon vorher hatte Vasyl’ es mir gesagt: „Parujr, wir alle wissen, dass du der Anführer der Partei bist. Wir sehen, wie alle deiner Andeutung folgen. Aber was ist mit deinem Programm: Ist es so weit, dass Nicht-Armenier Parteimitglieder sind?“ Ich antwortete: „Das steht in der Satzung, aber in der Praxis gab es nur einen Fall, in dem ein Russe Mitglied der Armenischen Unabhängigkeitsorganisation wurde.“ Und Vasyl’ sagte zu mir: „Weißt du, ich möchte mich als Mitglied eurer Partei erklären, aber jedes Mal, wenn ich dich sehe, werde ich mich als Sympathisanten-Mitglied bezeichnen, um nicht strammzustehen und zu salutieren.“ Ich lächelte, denn das kam für mich unerwartet, und es stellte sich heraus, dass Vasyl’ alles durchdacht hatte. Viele Ukrainer folgten seinem Beispiel – Roman Semenjuk, Iryna Kalynec’, Vjačeslav Čornovil, Ivan Hel’, Gennadij Kuznecov – die Russen folgten, aber er gab das Beispiel vor. Litauer, Letten, Russen – vor allem aber Russen folgten ihm. Chejfec schreibt über diese Episode in seinem Buch (Der kriegsgefangene Sekretär)2: „Und was geschah? Unsere nationale politische Organisation wurde zu einer internationalen politischen Organisation, und dafür gebührt Vasyl’ Stus Anerkennung.“ Das heißt, der Dichter, der sich selbst als politikfern betrachtete, unternahm einen Schritt, der später dazu beitrug, dass wir uns 1988 versammelten. Denn die Idee war klar: Ihr kämpft für die nationale Befreiung, aber ich, ein Patriot meines Landes, verstehe euren Kampf und bin 2
Michail Chejfec, Voennoplennyj sekretar’: povest’ o Parujre Ajrikjane. Overseas Publ. Interchange, London 1985.
226 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht mit euch – so schrieb Vasyl’. Von da an wurden die armenische Sache und die ukrainische Sache innerhalb des Lagers zu einer gemeinsamen Sache. Und natürlich entwickelte sich dies in der Zukunft weiter. Aber zurück ins Jahr 1973 … Ich erinnere mich an folgende Episode. Slavko [Čornovil] wurde im Hungerstreik in unsere Zone gebracht. Es stellte sich heraus, dass in der Zone 17 der Aufseher Čekmarev war, ein besonders widerlicher Kerl, der alle so terrorisierte, dass die politischen Gefangenen, die sich gegen das Imperium auflehnten, sich an einen Ment wandten und versuchten, ihn zu entfernen. Sie begannen einen Hungerstreik. Sie haben den Ment nicht entfernt, aber Slavko wurde in unsere Zone verlegt. Ich glaube, sie wollten den Hungerstreik beenden und erlaubten Slavko, mit Vasyl’ Stus zu sprechen. Wir trafen uns und unterhielten uns eine Zeit lang. Slavko schien voller Energie zu sein, wahrscheinlich hat er auch Sport getrieben, obwohl er Probleme mit seinem Arm hatte. Aber er schrieb, las und musste Handschuhe nähen – er nähte eine normale Anzahl von Handschuhen in drei statt in acht Stunden, so dass er die restliche Zeit frei hatte und sich um sich selbst kümmern konnte. Auf den ersten Blick schien er eine eigenartige Gestalt zu sein, bis wir Freunde wurden, wir haben uns einfach getroffen und bestimmte Aktionen für die Zukunft geplant. Natürlich war er der Initiator. Als Slavko die Idee des Status eines politischen Gefangenen entwickelte, fiel mir auf, dass er und Vasyl’ nach diesem Treffen gleichsam nicht mehr im Lager waren. Sie lebten in der Literatur, der Kunst und der ukrainischen Geschichte. Ich wurde von dort weggeholt. Eine Episode erfuhr ich später von Vasyl’. Er sagte, dass sie den Kranken dort eine kurze Zeit lang Milch gaben. Einmal, sagte er, stand ich in einer Schlange, drei oder vier Leute sollten Milch bekommen. Ein Halunke, der aus der Sonderzone zu uns versetzt worden war, Volodja Sidelnikov, kam, drängelte sich vor und schob Vasyl’ weg. Vasyl’ fragte: „Was ist los mit dir? Wenn du es eilig hast, kannst du ruhig fragen, aber warum schubst du?“ Der Mann schlug Vasyl’. Hier sind seine Worte wortwörtlich, sagte Vasyl’: „Ich kann mir nicht vorstellen, wie man einen Menschen verletzen kann, also habe ich ihn einfach umarmt, seine Hand genommen, und wir sind
„Sie spekulieren auf unsere Anständigkeit“ 227 beide hingefallen.“ Dann rannten andere herbei und zogen sie auseinander. Vasyl’ hielt ihn einfach fest. Vasyl’ selbst war körperlich stark, seine Herkunft aus dem Bergbau war offensichtlich. Er war körperlich stark, aber sein Temperament war so stark, dass er nicht reagieren konnte, und ich zitiere seine Worte wortwörtlich: „Er hat mich geschlagen, aber wie kann ich einen Menschen verletzen?“ Das ist unsere intellektuelle Erziehung. Die politischen Gefangenen forderten, dass dieser Sidelnikov aus der Zone 3/5 entfernt wird. Für die Verwaltung war es vorteilhaft, politische Gefangene von so hohem Rang mit gewöhnlichen Häftlingen, die ebenfalls als politisch galten, in Konflikt zu bringen. Er wurde für fünfzehn Tage inhaftiert. Übrigens sollte ich den bereits erwähnten Čekmarev nicht vergessen, der die politischen Gefangenen leiden ließ. Später gelang es mir mit Hilfe anderer politischer Gefangener, dafür zu sorgen, dass Vasyl’ nicht leiden musste. Wir haben vorgetäuscht, dass Čekmarev unser Mitarbeiter sei, und er wurde entfernt. Aber das ist noch nicht alles. Sie wissen das doch, oder? Ja, nickt Vasyl’ Ovsijenko mit dem Kopf. Es war so gut arrangiert … Ich beschloss, ihn aus den Händen des KGB zu holen – nicht um ihn zu entlarven, sondern um so zu tun, als würde er uns helfen, als würde er Briefe für uns austragen. (Lacht.) Chejfec schreibt nicht viel darüber. Was geschah hier? Sie forderten, dass Sidelnikov als Provokateur entfernt wird, die Verwaltung tat das Gegenteil, und unsere politischen Gefangenen traten in einen Hungerstreik. Und dann kam Azat Aršakjan aus dem Krankenhaus – es war wie eine Erlösung. Er kam und fragte: „Was ist los, warum seid ihr im Hungerstreik?“ Man sagte es ihm: „Sidelnikov hat Vasyl’ geschlagen, also verlangen wir, dass er entfernt wird – wir können ihn nicht schlagen. Er ist ein Provokateur.“ Azat sagte: „Okay.“ Er geht zu Sidelnikov und sagt: „Volodja, hast du Angst vor mir?“ Und er antwortet: „Nein.“ Azat ist ein Boxer, er hat früher geboxt. Er schlug Sidnikov. Und dann hat er ihn wieder gefragt: „Na, hast du Angst?“ – „Azat, was ist denn los?“ Er sagte: „Nimm deine Sachen
228 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht und geh zum Wachhabenden.“ Sidelnikov nahm seine Sachen und ging zum Wachhabenden. Dort wurde er gefragt: „Was ist passiert?“ Und er sagte nichts. Er war so verängstigt, dass er schwieg. Und der Hungerstreik endete. Vasyl’ sagte: „Das ist unglaublich! Wir wollten als große Mannschaft kämpfen, aber wir hätten alles mit einem Faustschlag lösen können.“ Er löste das Problem auf einfachere Weise, ergänzt Mychajlo Horyn’. Nun, ich habe mich gerade an die Episode mit Vasyl’ erinnert. Ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll. Jetzt, wo Vasyl’ nicht mehr da ist, erinnere ich mich daran, wie sehr wir jede Zeile seiner Poesie schätzten – Juden, Ukrainer, Armenier, Russen, Litauer, Letten … Außerdem hat Vasyl’ nie betont, dass er ein Dichter war, dass er etwas Besonderes war – nein, nie. Dessen waren wir selbst uns bewusst. 1976 hatte ich einen besonderen Verdienst, der vielleicht für eine kurze Zeit trügerisch war … Es gab eine Durchsuchung in der Zone. Sie durchsuchten die Habseligkeiten aller Häftlinge, aber am Ende stellte sich heraus, dass niemandem etwas entwendet wurde, nur die Manuskripte von Vasyl’ Stus. Und es wurde uns klar, dass es um den Anschein ging und alles gegen Stus gerichtet war. Am 30. Oktober 1976 beschlossen wir, die Rückgabe der Manuskripte an Vasyl’ zu fordern. Wenn sie sie nicht zurückgeben würden, würden wir in allen Zonen in den Hungerstreik treten. Es gelang mir, sie über meine Kanäle zu informieren - das ist ein eigenes Gespräch, wie wir in Kontakt blieben … Und im Allgemeinen kann ich Ihnen jetzt sagen: Ich hoffe, dass ich sie nicht mehr nutzen muss. Ich habe diese Methode angewandt. Die Erklärungen an den Staatsanwalt mussten immer innerhalb von 24 Stunden übermittelt werden. Ich schickte die Erklärungen an den Staatsanwalt mit einer Nachricht. Ich klebte die Nachricht mit der Absenderadresse unten auf den Umschlag – die KGB-Zensoren sahen nie auf die Absenderadresse, die ich auf den Umschlag schrieb. Auf der Nachricht steht, von wem der Brief ist, sie können sehen, dass er von mir ist, aber sie haben nie auf den Rücksende-Adresse geschaut. Wenn ich etwas in die Zone 17 schicken wollte, schrieb ich die Adresse der Person, die sich dort befand, auf die Nachricht. Ich habe Briefe über den KGB verschickt (ich habe bis jetzt niemandem davon erzählt,
„Sie spekulieren auf unsere Anständigkeit“ 229 weil ich dachte, dass es vielleicht noch einmal nützlich sein könnte). Der Brief geht an die Staatsanwaltschaft, und die Staatsanwaltschaft reißt die Nachricht ab, unterschreibt sie und schickt sie zurück. Die Nachricht geht jedoch nicht an mich, sondern an Vasyl’, an Razmik oder an jemand anderen. Wenn sie die Nachricht erhalten, wissen sie, dass sie ein wenig erwärmt werden muss, weil ich mit einer Schmerztablette darauf geschrieben habe, was wir tun sollten. Sie wussten also in allen Zonen, dass wir einen starken Hungerstreik vorbereiteten. Ich war beim KGB – ich wurde nach Armenien gebracht. Oberst Grigorjan kam und sagte: „Wer ist dieser Vasyl’ Stus?“ Ich antwortete: „Er ist unser Freund.“ „Ich weiß es nicht, es interessiert mich nicht, aber Moskau hat mich gebeten, Ihnen zu sagen, dass die Manuskripte an ihn zurückgegeben wurden.“ Mit anderen Worten, sie waren so erschrocken, als sie erfuhren, dass wir so viel vorbereiteten, dass sie hundert Manuskripte zurückgaben. Zu dieser Zeit befanden sich mehr als hundert politische Gefangene im Hungerstreik. Ich war zufrieden: Ich wusste, dass ich wenigstens etwas für meinen Freund getan hatte. Es gab auch andere Wege, um in Kontakt zu bleiben, aber das war originell. Ich erhielt auch Briefe mit Nachrichten von meinen Freunden. Ich änderte die Nachricht im Stillen – wenn der Zensor mir eine Unterschrift gab, behielt ich die neue und gab ihm die alte. Und wegen der Nachlässigkeit des Zensors schmorte ich in Zone 17. Sie, diese nicht koschere Frau, die in jeder Hinsicht nicht koscher war, trank Tee, wie sie mir selbst später sagte. Sie trank Tee, sie hatte nichts, womit sie die Tasse abdecken konnte, und sie legte meine Nachricht auf die Tasse und sah plötzlich Buchstaben dort erscheinen. Können Sie sich das vorstellen? Aber sie öffneten nur einen Teil, nämlich die Nachricht an mich, und die, die ich schickte (ich gab ihnen einen Umschlag mit einer Nachricht), waren nicht die, die ich zurückschickte, sie gingen durch die Spezialeinheit. Die Frauen in der Spezialeinheit waren offensichtlich ordentlicher: Sie haben ihren Tee nicht mit Erklärungen an den Staatsanwalt abgedeckt. Es gab auch eine Episode, die Vasyl’ charakterisierte. Sergej Soldatov und Vasyl’ Stus gingen nicht in den Arbeitsbereich, aber wir schon. Als ich aus dem Arbeitsbereich zurückkam, sah ich,
230 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht dass sie darüber diskutierten, was sie als Nächstes in dem endlosen Lagerleben tun sollten. Vasyl’ antwortet Sergej, dass er damit einverstanden ist (mit Sergej Soldatovs Gedanken, dass doch unsere Gesundheit nicht gut ist). Und Sergej hatte wahrscheinlich Recht. Einmal im Jahr, am Tag der politischen Gefangenen, treten wir in den Hungerstreik, aber an anderen Tagen dürfen wir das nicht. Ich sagte: „Vasyl’, wenn du der Mensch bist, den ich kenne, wirst du dich nicht auf einen Tag beschränken, denn du bist ein Dichter.“ Ich weiß noch, was er sagte. Vasyl’ sagte: „Ein Dichter ist nicht gleichbedeutend mit einem unvernünftigen Menschen. Ich werde einmal im Jahr in den Hungerstreik treten, am Tag der politischen Gefangenen, und an anderen Tagen werden wir mit Erklärungen protestieren.“ Daraufhin habe ich ihn gefragt: „Und wenn jemand geschlagen wird, was soll man dann machen: einen Streik oder einen Hungerstreik?“ Diese Frage schwebte in der Luft. Es verging einige Zeit. Ich weiß nicht mehr genau, was passiert ist, woher wir das Signal bekamen und welche Art von Signal wir erhielten, aber Vasyl’ kam zu mir und sagte: „Wir können das nicht auf sich beruhen lassen, wir müssen etwas tun.“ Und ich antwortete ihm: „Erinnerst du dich, als ich sagte, dass du ein Dichter bist und nicht anders kannst? Du bist ein geborener Kämpfer. Wenn ich durch mein Bewusstsein und meine politische Überzeugung
Parujr Hajrikjan am Grab von Vasyl’ Stus auf dem Bajkove-Friedhof, 11. September 1999
„Sie spekulieren auf unsere Anständigkeit“ 231 ein Kämpfer bin, bist du von Natur aus ein Kämpfer, du bist ein Kämpfer auf Schritt und Tritt.“ Es gab dort einen Provokateur, Volodymyr Kuzjukin ... Aus Bila Cerkva, ein Offizier, ein Hauptmann, glaube ich. Er diente in der Tschechoslowakei, verteilte Flugblätter gegen die Besatzung ..., präzisiert Vasyl’ Ovsijenko. Ja. Er rechnete nicht damit, enttarnt zu werden, aber er wurde enttarnt. Ich glaube, Chejfec beschreibt das. Dieser Provokateur war gerade aus dem Krankenhausbereich zurückgekehrt. Ich kochte Tee. Vasyl’ sagte: „Ich will nicht kommen.“ Chejfec bat ihn, mitzukommen, denn sie mussten sich sehen und reden. Wir setzten uns an den Tisch. Kuzjukin sollte um zwölf Uhr kommen, aber er kam erst um drei Uhr nachmittags und sagte, dass das Auto liegen geblieben sei. Es regnete nicht, es war trocken – irgendetwas stimmte nicht, irgendetwas hatte er unterwegs getan, irgendetwas war ihm aufgetragen worden, oder sie haben ihn einfach nur gefüttert. Auch das kann passieren. Wenn du nach Hause kommst und deinen Freunden erzählst, dass der KGB versucht hat, dich zu überreden, dass du angehalten und eingeladen wurdest, dann ist das normal. Aber wenn er bei trockenem Wetter sagt, dass das Auto liegen geblieben ist ... Ich organisierte den Tee und sagte, während ich ihn trank: „Wir haben alle gegessen, aber wir haben etwas schwarzen Kaviar für dich übrig gelassen.“ Wissen Sie, einmal alle fünf Jahre gab es in der Zone schwarzen Kaviar – schwarzen Kaviar mit Butter und Brot. Ich strich eine besonders dünne Schicht Butter und schwarzen Kaviar auf ein dickes Brot. Wenn wir in der Zone hungrig waren, aßen wir trockenes Brot. Aber Kuzjakin fing an, nur die oberste Schicht zu essen, das heißt, er war so satt – er war satt in der Zone –, dass er kein Brot wollte und nur die oberste Schicht aß. Ich habe es den Jungs gezeigt: Schaut, wie er isst. Und dann, während des Gesprächs, brachte ich es darauf, dass er den KGB auf der Straße getroffen habe. Kuzjukin hatte keine Zeit zu reagieren, weil er nicht verstand, woher ich das wusste. Dann fügte ich das Folgende hinzu: „Du sagst, du hast dich mit Stepan getroffen, aber Stepan war nicht da – er hat mir gesagt, er war nicht da.“ Kuzjukin war verwirrt. Ich sagte: „Weißt du, du hättest in der Zone die
232 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Wahrheit sagen sollen. Vasyl’ war da, er hat das alles mitbekommen, aber er hat nichts gesagt.“ Doch am nächsten Tag, als wir im Speisesaal saßen, kam Kuzjukin an seinen Platz. Vasyl’ stand schweigend auf, ohne etwas zu sagen, denn er konnte nicht mit einer bestechlichen Person an einem Tisch sitzen. Ich erinnere mich jetzt nicht mehr an die Einzelheiten, aber der Kern der Sache war folgender: Entweder du gehst oder wir tun es. Wenn ich mich recht erinnere, blieb Kuzjukin allein am Tisch sitzen, und alle anderen gingen. Vasyl’ duldete keine Schwächen, die zu Lasten seiner Freunde und zu Gunsten seines eigenen Ichs gingen. Er liebte es zu denken, nach Gründen für alles zu suchen, aber einmal, als er anscheinend von allem genug hatte, sagte er mir: „Ein Schurke ist ein Schurke. Warum über das Warum und Wie nachdenken? Wir sollten uns so weit wie möglich von ihnen fernhalten.“ Er hatte einige klassische Worte, die ich immer wieder verwende; ich weiß nicht, ob sie von ihm stammen oder ob Vasyl’ sie sich von jemandem geliehen hat. Als wir über den KGB und dieses System sprachen, sagte Vasyl’ einmal: „Sie spekulieren auf unsere Anständigkeit.“ Das wurde für mich zu einem Schlagwort, und ich erinnere mich oft an diese Worte, wenn ich mit Abschaum spreche. Abschaum ist überall Abschaum, sie spekulieren auf unsere Anständigkeit. Ich könnte noch viel mehr über Stus erzählen. Vasyl’ Stus begleitet mich immer durch das Leben, ebenso Čornovil. Mit Čornovil musste ich später schwere Tage teilen. Ich erfuhr von Stus’ Tod durch Aršakjan. Seine Frau kam zu ihm. 1987, nachdem ich die Einzelheiten erfahren hatte, schrieb ich einen kurzen Artikel für „Glasnost’“. Ich habe nur einmal mit Stus getrunken – an Čornovils vierzigstem Geburtstag. In der Zone bekam ich Cognac von den Soldaten. Im Allgemeinen habe ich nicht getrunken. Aber es war der Geburtstag von Čornovil, sein vierzigster Geburtstag, 1975, richtig? Er wurde im Dezember 1936 geboren, am 1. Januar 1937 registriert. Er hat zwei Geburtstage, stellt Vakhtang Kipiani klar. Ich sage es Ihnen jetzt. Es war am 24. Dezember ...
„Sie spekulieren auf unsere Anständigkeit“ 233 Ja, der 24. Dezember 1936 oder der 1. Januar 1937 – so heißt es, stimmt Vasyl’ Ovsijenko zu. Wir feierten am 24. Dezember ... Ja, das ist das richtige Geburtsdatum, bestätigt Vasyl’ Ovsijenko. In welchem Jahr wurde er geboren, Čornovil? Sechsunddreißig, antwortet Vasyl’ Ovsijenko. Sechsunddreißig? Also war es 1976. Anfang sechsundsiebzig war ich in der Zone 17. Und wohin wurde ich versetzt? Ach ja, richtig: Die Zone 17 wurde im Sommer geschlossen. Ich erinnere mich, dass wir seinen vierzigsten feierten ... Wie viele armenische politische Gefangene gab es in den letzten Jahren?, fragt Vakhtang Kipiani. Siebzig sind es geworden, aber das ist seit 1967. Wurden sie alle verurteilt oder wurde nur gegen sie ermittelt?, fragt Vakhtang Kipiani weiter. Das sind diejenigen, die in die Lager geschickt wurden. Viele von ihnen – ein Viertel – wurden in Straflager gebracht. Dazu kommen vierzig Personen, die mit anderen Fällen in Verbindung stehen. Etwas mehr als hundert Personen in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren, richtig?, fragt Vakhtang Kipiani. Ja, in den letzten 25 Jahren. Von 1967 bis 1988. Und wie sind ihre Schicksale verlaufen? Wir wissen hier sehr wenig darüber, es wird nicht darüber geschrieben, sagt Vakhtang Kipiani. Natürlich würde ich das keinem Journalisten erzählen, aber meinen Freunden schon: Die meisten von ihnen sind literarisch gesehen geschrumpft. Aber Edik Kuznecov hat einmal zu mir gesagt: „Sei
234 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht ihnen nicht böse – es ist das Leben, das sie verkrümmt.“ Ich habe mit Edik gesprochen; Sie wissen, dass Edik ein sehr feinfühliger Mensch ist, also sagte er: „Es ist das Leben, das sie verkrümmt.“ Selbst gute Menschen, wie meine Brüder in jenen Jahren, verhielten sich so, dass ... Ich will es Ihnen sagen, dass wir auch viele Leute haben, die uns verlassen haben, sagt Mychajlo Horyn’ verbittert. Nein, es ist eine Sache, zu gehen … Aber gegen mich zu kämpfen – nicht wegen politischer Differenzen, sondern um direkt zu kämpfen, um sich mit denen zu verbünden, die nicht gegen mich, sondern gegen unsere Partei kämpfen ... Ich meine etwas anderes, bemerkt Mychajlo Horyn’. Er hat seine Meinung über unsere Gegner nicht geändert, aber er sagte: „Ich will nicht mehr.“ Wie viele meiner Freunde wollten nicht zum zweiten Mal ins Gefängnis gehen, sogar sehr enge Freunde. „Ich gehe nicht, ich habe nichts damit zu tun.“ Und er ist nicht gegangen. Als ich sagte: „Leute, wir müssen ins Gefängnis“, was bedeutet es, ins Gefängnis zu gehen – nur freiwillig? Es bedeutet, dass man etwas tun muss. Ich hatte dabei keine Unterstützung, also musste ich 1981 alleine gehen, ich hatte kein Team mehr. Das heißt nicht, dass es keine Leute gab, die geholfen haben, aber es gab keine Leute, die ihr Herz öffnen und sagen wollten: „Ich komme auf Sie zu.“ Ich verstehe das. Aber Gleichgesinnte, die … Damals hatten wir einen Schwur. Jetzt ist es verboten, auf unsere Partei zu schwören. Der Eid wurde 1991 abgeschafft, was auch ein Übergang zum Christentum ist. Denn wenn man etwas unter Eid sagt, kann man dann nicht unter Eid lügen? Und Gott hat gesagt: Lüge nie. Also haben wir den Schwur ganz abgeschafft. Und die Bibel sagt, im Evangelium ... Schwört nicht. Es sei euer Ja ein Ja, euer Nein ein Nein, zitiert Vasyl’ Ovsijenko. Aber diese Leute waren Eidbrecher, wie beispielsweise der verstorbene Ašot Navasardjan. In den Jahren 1987–1989 tat er nichts. Er sagte: „Ach, willst du, dass wir wieder ins Gefängnis gehen?“ – „Hört zu“, sagte ich, „ich war länger im Gefängnis als du, ich war
„Sie spekulieren auf unsere Anständigkeit“ 235 dir immer voraus, ich war euch voraus, ich habe immer mehr auf mich genommen. Und jetzt bietet man dir an, in der Öffentlichkeit zu agieren – wir haben bereits begonnen, zusammenzuarbeiten.“ Azat Aršakjan begann, nach persönlichen Beleidigungen zu suchen und sagte, dass ich ihm im Gefängnis nicht geholfen habe. Ich sagte: „Hör mal, als ich im Gefängnis war und du frei warst, hast du meiner Familie in keiner Weise geholfen. Ich habe deiner Frau geholfen.“ – „Ja, das hast du, aber die, mit denen du zusammenarbeitet hast, haben meiner Familie nicht geholfen.“ Und ich sagte zu ihm: „Was hat das damit zu tun? Ich sage dir: Lassen Sie uns unseren Kampf fortsetzen.“ Später stellte sich heraus, dass sie beim zweiten Mal eine Bestätigung geschrieben hatten, dass sie sich nicht an Aktivitäten beteiligen würden. Das sind die wichtigsten Personen. Andranik Markarjan, der heute Vorsitzender der Republikanischen Partei ist, schloss sich einer Gruppe an, die der KGB gegen uns organisierte, und er arbeitete dort zwei Jahre lang in einer Gruppe, die gegen die Unabhängigkeit kämpfte. Er hatte Angst, zum zweiten Mal ins Gefängnis zu kommen ... Aber ich sagte, die meisten von ihnen. Aber es gibt Razmik Markosjan, der bis vorletztes Jahr durchgehalten hat, und jetzt habe ich keine Beschwerden gegen ihn. Er sagte: „Ich war ein Vertreter des nationalen Befreiungskampfes, ich bin kein Politiker, ich kämpfe für die Unabhängigkeit. Es tut mir leid ...“ Und was macht er jetzt?, fragt Vakhtang Kipiani. Momentan nichts. Manchmal tritt er in Erscheinung, nominiert einen Kandidaten für das Parlament und zieht sich dann zurück. Er ist einer der Gründer der Partei, er hat besondere Rechte. Die vier Überlebenden sind die Begründer des legalen Teils unserer Partei. Razmik Zograbjan hat bis zum Schluss durchgehalten und sich nach außen hin gut verhalten, aber jetzt ist er zusammen mit Demirčjan in der so genannten Republikanischen Partei gegen uns. Demirčjan ist so schlau, dass er nie ein Wort gegen mich gesagt hat, aber seine verschiedenen Schakale … Stellen Sie sich zum Beispiel vor: Unsere Flagge hat drei Farben, richtig? Rot, blau und orange. Er sagt also, dass Hajrikjan schon so lange von den drei Farben der
236 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Flagge träumt, dass er seine Haut nach den Farben der Flagge verändert. Das ist eine Blasphemie für die Flagge und für mich, denn ich habe nie etwas verändert. Und sie arbeiten mit ihm zusammen, wohl wissend, dass es sich um Materialisten handelt, um bolschewistische Konformisten, die ihre Haut verändert haben, und dass ihr Hauptfeind die nationale Selbstbestimmung ist. Kann ich also sagen, dass er auch ein verkrümmter Mann war? Er war mein Soldat. Mein Wort war für ihn Gesetz. Denn ich trug die Idee, die andere vor uns entwickelt hatten. Ich war der Führer der Nationalen Einheitspartei. Du hast vor mir einen Eid abgelegt. Du hast zumindest mit mir darüber gesprochen … Aber er war trotzdem ein guter Mann. Und diejenigen, die ein „Fehlergeständnis“ geschrieben haben, gingen und gingen. Einige recht anständige Leute sind ins Ausland gegangen – auch diese Leute sind verkrümmt, das darf ich sagen. Klar, nicht unter Eid gesagt … Aber du hast für die Befreiung einer Heimat gekämpft – wohin gehst du? Wem überlässt du dein Heimatland? Dem Abschaum? Ich habe kürzlich einen von ihnen getroffen, er sagte: „Schau, wer an die Macht gekommen ist: Levon Ter-Petrosjan, ein KGB-Agent. Jetzt ist Demirčjan an die Macht gekommen, ebenfalls ein KGB-Agent. Robert Kočarjan ist ein ehemaliger Parteisekretär. Wie kann ich dort leben?“ Darauf sagte ich: „Nun hör mal, du überlässt Armenien diesem Abschaum?“ Es war nicht leicht, aber es ist mir gelungen, genügend neue Mitarbeiter heranzuziehen. Es ist nur so, dass wir im Moment ziemlich hart getroffen werden. Wir waren die ganze Zeit auf dem Vormarsch. Bei den Präsidentschaftswahlen haben wir bestimmt, wer Präsident werden würde: Robert Kočarjan oder Demirčjan. Alles hing davon ab, was ich sagte, denn das Ergebnis der zweiten Runde wurde durch unsere Stimmen bestimmt. Das wusste jeder. Natürlich konnte Demirčjan nichts gegen mich sagen, und von Robert bekamen wir die Verfassungsreformkommission. Ich leitete diese Kommission ein Jahr lang – das war eine strategische Kommission. Vor einem Monat tat er so, als wolle er die Arbeit beschleunigen und übergab den gesamten Fall an Spezialisten. Ich sagte: Ich bin der beste Spezialist. Er aber antwortete: Wir haben Doktoren. Diejenigen, die daran gearbeitet haben, die kommunistische Herrschaft durch die Verfassung zu etablieren. Was für
„Sie spekulieren auf unsere Anständigkeit“ 237 Verfassungsrechtler sind das? Welche Art von Verfassungsexperten sind das? Er wollte, dass sie unter seinen Anweisungen arbeiten. Aber ich habe nicht nach seinen Anweisungen gearbeitet, sondern ich habe alle Verfassungsexperten zusammengetrommelt und ihnen ein bestimmtes Prinzip verordnet. Mit anderen Worten: Wir haben ihm geholfen, Präsident zu werden – er hat uns diese Aufgabe übertragen. Und die Menschenrechte. Ich habe meine Arbeit zu den Menschenrechten damit abgeschlossen, dass ich gesagt habe, wir werden jetzt einen Ombudsmann haben, und ich habe das Projekt an den Verfassungsausschuss weitergegeben. Wir werden sehen, wenn die Nationalversammlung diesen Monat nicht zustimmt, werde ich in Opposition zum Präsidenten gehen müssen. Wenn wir uns auf die Informationen stützen, die wir vor allem aus der Moskauer Presse erhalten, war Levon Ter-Petrosjan in den späten achtziger Jahren unter den politischen Gefangenen im Fall des Karabach-Komitees, stellt Vakhtang Kipiani klar. Sie waren keine politischen Gefangenen, sie wurden in Moskau festgehalten ... Ich entnehme Ihren Worten, fährt Vakhtang Kipiani fort, dass Sie ihm gegenüber kritisch und sogar negativ eingestellt sind? Was ist passiert? Ich wurde ins Ausland geschickt, während Levon Ter-Petrosjan aus einem Moskauer Gefängnis direkt auf den Platz gebracht und eine Woche später zur medizinischen Behandlung nach Paris geschickt wurde. Zu Sowjetzeiten war es nicht üblich, dass ein vorbestrafter Mensch zur Behandlung nach Frankreich ging. Er ist auch aus dem Karabach-Komitee ausgetreten, nicht wahr?, stellt Vakhtang Kipiani klar. Vier von ihnen waren KGB-Agenten. Offiziell stritten sie miteinander und erklärten offiziell, du warst beim KGB, du warst unser Kontakt. Das Karabach-Komitee ist ein Missverständnis. Wenn ein Land, eine Nation, eine Organisation hat, die sich „Selbstbestimmung“
238 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht nennt, und diese nationale Befreiungsbewegung ist bereits anerkannt, und jemand will ein nationales Problem lösen, indem er ein Komitee von elf Leuten gründet. Elf Idioten kamen zusammen, das Volk versammelte sich, und sie waren nicht da – sie sprachen, das Volk war nicht da. Und dann hat der KGB die Regierung ausgewechselt: Ich wurde rausgeschmissen, und sie halfen diesen KGBAgenten, als zweite Schicht hereinzukommen, als ob sie neue Leute wären, aber in Wirklichkeit waren sie ihre Agenten. Wann war das?, fasst Vasyl’ Ovsijenko nach. Achtundachtzig. Auf Beschluss des Präsidiums des Obersten Sowjets, richtig?, fragt Vakhtang Kipiani nach. Ja. Es war also so. Sie steckten mich in den KGB, behielten mich vier Monate lang, intensive Verhöre unter direkter Aufsicht von Moskau. Das war das erste Mal, dass ich eine neue Taktik angewandt habe. Wenn man älter wird, wird man dieser Fragen überdrüssig. Der Vernehmer schreibt die Frage auf, und ich sage, dass ich die Antwort selbst schreiben will. Er schreibt die Frage auf und gibt sie mir. Ich notiere: „Ich habe nicht gelesen, was hier geschrieben steht.“ Der Vernehmer nimmt das Papier und schreibt: „Die Frage wurde Hajrikjan vorgelesen.“ Das heißt, ich will nicht lesen, aber sie wurde mir vorgelesen. Ich schreibe: „Der Ermittler las etwas laut vor, aber da erinnerte ich mich an die Melodie und die Worte ‚Es lebe das unabhängige Armenien‘, so dass ich nicht hörte, was vorgelesen wurde.“ Er schreibt: „Hajrikjan wurde ein zweites Mal vorgelesen.“ Ich schrieb: „Und jetzt erinnerte ich mich an ein anderes Lied – ‚Unbesiegt, unbesiegt, mein Vaterland, du wirst frei sein!‘ Und so schreibt er eine ganze Seite, und ich höre nicht zu. Er stellt mir Fragen, und ich sage nicht „nein“, sondern schreibe, dass ich es nicht gehört habe. Es geht mich nichts an – ich habe es nicht gehört. Sie kamen aus Moskau und fragten: „Nun, um Gottes willen, schreiben Sie etwas ...“ Sie wollten auch raus aus der Sache. Und dann, nachdem ich vier Monate lang festgehalten wurde – ich erinnere mich gut an das Datum, denn es war der Tag, an dem
„Sie spekulieren auf unsere Anständigkeit“ 239 die UdSSR Deutschland den Krieg erklärte –, saß ich am 22. Juni 1988 in meiner Zelle und hörte: „Haj-ri-kjan! Haj-ri-kjan!“ Ich dachte, ich werde verrückt, beginne zu halluzinieren und höre meinen Nachnamen. Es stellte sich heraus, dass es keine Halluzination war – fünfzigtausend Menschen, hauptsächlich Studenten, kamen, umzingelten den KGB und forderten meine Freilassung. Was hat der KGB getan? Sobald ich deutlich hörte, wie die Menschen meinen Namen riefen und Hajrikjans Freiheit forderten, trug der KGB einen Kompressor herbei, stellte ihn unter mein Fenster, schaltete den Motor ein und der Kompressor begann zu dröhnen. Er dröhnte die ganze Nacht. Ich war mir sicher, dass die Demonstranten da sein würden, solange der Kompressor Lärm machte. Dies war wahrscheinlich die erste Demonstration in der Geschichte der Sowjetunion gegenüber dem KGB. Sie waren in Panik. Sie boten mir an, ins Ausland zu gehen, aber ich lehnte ab. Sie sagten, sie wollten den Fall abschließen, sie brauchten einen Vorwand. Also sagte ich, okay, ich bin einverstanden – sie werden mich freilassen, damit ich gehen kann. Dann wurde mir klar, dass sie mich direkt zum Flughafen bringen wollten, und ich schrieb, dass ich im Flugzeug Selbstmord begehen würde, wenn sie mich mit Gewalt zum Flughafen bringen, d.h. mich aus dem Land werfen würden. Als sie mich abführten, das las ich später in den Dokumenten und fand heraus, dass es in Bezug auf mich ein Abkommen mit der armenischen Diaspora gab. Sie konnten mich hier mit dem „Karabach“-Komitee nicht brechen. Wie und warum wurden Sie verhaftet? Weil ... Erinnern Sie sich daran, wie wir in meinem Zimmer festgehalten wurden, als Sie in L’viv ankamen, bevor Sie uns zum Staatsanwalt vorgeladen haben? Erinnern Sie sich an diese Geschichte? Ja, natürlich erinnere ich mich. Als die Anschuldigung erhoben wurde, Sie hätten Drogen ... Ja, ja, und mein Vater hatte einen Herzinfarkt wegen dieser „Drogen“, Sie wissen.
240 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Ja, das wurde mir gesagt, ich habe meiner Familie davon erzählt. Sie erinnern sich nicht? Slavko und ich haben gesagt, dass wir eine Erklärung an die UNO geschrieben haben, dass wir, wenn wir ins Ausland abgeschoben werden, von keinem Land akzeptiert werden würden. Und Sie haben gesagt: „Das werde ich auch tun!“ Erinnern Sie sich? Wir sollten damals nach Moskau fahren, aber wir wurden festgehalten und sind nicht gefahren. Aber Sie sagten: „Ich schreibe es auch. Und ich habe geantwortet: „Hajrikjan, schreiben Sie sofort!“ Aber Sie hatten offensichtlich keine Zeit, schließt Mychajlo Horyn’ seine Erzählung ab. Hajrikjan war im Dezember 1987 in L’viv. Am 8. Dezember sollten er, M. Horyn’, V. Čornovil und I. Hel’ nach Moskau reisen, um an einem internationalen Seminar über Menschenrechtsfragen teilzunehmen. Alle wurden „wegen des Verdachts auf Drogenhandel“ festgenommen und nahmen nicht an dem Seminar teil.
Ich habe viele Male an den KGB geschrieben, aber es hat nichts geholfen. Warum haben sie mich nach Äthiopien gebracht? Weil, wenn ich nach Amerika, Frankreich, Deutschland oder in die Schweiz gebracht worden wäre, es dort Regeln gibt: Wenn jemand ausgewiesen wird, muss er oder sie ein Land wählen. Für mich war das eine Ausweichmöglichkeit. Ich dachte, wenn ich ausgewiesen würde, würde ich den Zollbeamten sagen, dass ich nicht in ihr Land gehen wollte. Dann müssten die Kommunisten mich zurückbringen und nach einer anderen Möglichkeit suchen. Aber sie fanden einen Weg, mich nach Äthiopien zu bringen. Acht Leute, ein riesiges Flugzeug und sonst niemand. Sie haben eine halbe Million für mich ausgegeben. Von Armenien aus brachten sie mich mit einem speziellen Regierungsflugzeug nach Moskau, von Moskau aus mit einem riesigen Spezialflugzeug … ich glaube, es war ein Frachtflugzeug mit Passagiersitzen wie eine Boeing mit einer zweiten Etage. So etwas muss es gewesen sein, denn ein riesiges Flugzeug fliegt nach Äthiopien. Und warum? Niemand hat mich etwas gefragt, nur eine Gruppe von KGB-Spezialisten kam und füllte einige Papiere aus. Wissen Sie, es war eine großartige Idee, denn ein Oberst, jetzt Generalmajor, Mykola Ivanovyč Poluden’, ein KGB-Generalmajor aus L’viv, rief mich an und sagte, dass sie uns bei der Auswanderung helfen
„Sie spekulieren auf unsere Anständigkeit“ 241 würden: „Emigrieren Sie“, sagte er, „denn wir werden Sie verhaften müssen, und auf diese Weise haben wir unsere Ruhe, und Sie.“ Ich erwiderte, dass ich bereits im Ausland gewesen sei. Der Oberst fragte: „Wo?“ Und ich sagte: „In Mordwinien.“ Es war eine Zeit, in der sie einige Leute sofort ausweisen wollten, … erinnert sich Mychajlo Horyn’. Wenn ich, sagen wir, sechs Monate früher in die Heimat hätte zurückkehren dürfen, wäre vieles in Armenien anders gelaufen. Ich wurde als Abgeordneter gewählt: Neunzig Prozent der Bevölkerung stimmten für mich, für unsere Ideen. Ich wurde gewählt, aber ich habe sechs Monate in Amerika verbracht. Der Abgeordnete kann nicht in sein Land zurückkehren! Ich hatte wenig Erfahrung – ich musste unverfroren durch die Türkei reisen. Aber sie sagten mir immer wieder, ich solle warten und warten. Warum haben sie mich nicht reingelassen? Es wurde eine neue Regierung ernannt – ich bin nicht in der Regierung, keiner von meinen Leuten ist in der Regierung. Sie wählten die Führung des Obersten Sowjet – ich war nirgends zu finden. Und als ich zurückkam und aktiv wurde, da sagten sie, ich wolle einen Sitz [ … ]. Wie stark waren Bewegungen wie die Ihre in der armenischen Diaspora, fragt Vakhtang Kipiani mit Interesse. Nicht besonders, ich habe keine Leute gefunden. Dort waren hauptsächlich Sozialisten. Wenn ein Mensch Materialist oder Sozialist ist, fängt er oder sie normalerweise an, die Bedingungen zu berücksichtigen. Und die realen Bedingungen lassen es nicht zu, dass man über Unabhängigkeit nachdenkt. Man muss ein Idealist sein wie wir, ein geborener Idealist. Wir sind Besessene, Besessene unserer Partei und nicht einmal unserer Idee. Ich hatte die Gelegenheit, mich mit der obersten Führung Armeniens zu treffen, und sie sagen, dass jetzt nicht die Zeit für die Unabhängigkeit ist: „Wovon reden Sie?“ Jetzt gibt es Dokumente, Levon Ter-Petrosjan hat enthüllt, dass sie mit dem KGB zusammengearbeitet haben, angeblich für armenische Zwecke, gegen die Türken. Ich sagte: „Auf eurer Flagge steht: ‚Tod oder Freiheit‘, aber Ihr habt vergessen, ein Komma zu setzen und hinzuzufügen: ‚Wenn es nützt.‘“ Denn er sagte mir, es sei eine ungünstige Zeit für die Unabhängigkeit. Und
242 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht auf der Flagge steht: „Tod oder Freiheit!“. Und daran habe ich ihn erinnert. Solange bei uns jedoch schlecht organisiert ist, werden unsere Bürger diese klugen Worte vergessen. In erster Linie sind sie diejenigen, die leiden, also sollen sie denken. Ich habe es nicht ins Parlament geschafft. Wissen Sie, in den ersten Tagen nach den Wahlen gab es in ganz Armenien nur Gerede dieser Art: „Wie konnte Hovhannes nicht ins Parlament kommen? Wieso ist Hajrikjan nicht im Parlament?“ Das war das Hauptthema: Wie kommt das? Ich sagte den Leuten: Wir wissen, dass viele Leute nicht für uns gestimmt haben, weil wir nicht auf den Listen standen. Einige Leute fragten jedoch: „Für wen habt ihr denn gestimmt?“ – „Ich war mir sicher, dass die anderen für uns stimmen würden ...“ (Horyn’ lacht.) Sie entscheiden dein Schicksal, und du denkst ... Oder wisst ihr, was das Paradoxe ist? Die Leute fragen mich, wer der beste Politiker ist. Ich bekomme nicht mehr als fünfzig Prozent, aber ich habe einen hohen Prozentsatz unter allen – im schlimmsten Fall bin ich auf dem dritten Platz. Wen werden Sie zum Präsidenten wählen? Ich stehe nie an erster Stelle. Das bedeutet, dass Leute, die mich für den besten Politiker halten, in demselben Fragebogen (der am Computer verglichen werden kann) schreiben, dass sie mit halb so hoher Wahrscheinlichkeit für mich stimmen würden, um Präsident zu werden, obwohl doppelt so viele Leute mich als den besten Politiker anerkennen. Wer sollte Präsident werden, wenn nicht der beste Politiker? Ein Kolchosbauer wie Luk’janenko? Sie sagen, der Präsident soll mafiös sein, cool, seine eigene Macht haben, zu allem fähig sein, und du bist zu nichts fähig, du wirst sauber arbeiten. Das ist für mich schwer zu verstehen. Vielleicht gibt es hier die gleichen Probleme. Es sollte ein Durchschnittspolitiker sein. Ein durchschnittlicher, niemand will eine strahlende Persönlichkeit, seufzt Mychajlo Horyn’. Wir sind jetzt auf ihrem Niveau, wir sind alle durchschnittlich geworden. Früher haben wir uns durch etwas hervorgetan, wir waren bereit, vorwärts zu gehen. Jetzt arbeiten wir einfach – wir
„Sie spekulieren auf unsere Anständigkeit“ 243 haben eine Biografie, die ihnen beweist, dass man selbstlos dienen kann. vInterview von Parujr Hajrikjan mit Vasyl’ Ovsijenko, Mychajlo Horyn’ und Vakhtang Kipiani, 1999.
11. September 1999 auf dem Bajkove-Friedhof an den Gräbern von Vasyl’ Stus, Jurij Lytvyn und Oleksij Tychyj
Valentyn Moroz
„… Die Geschichte der Ukraine mit ukrainischen Augen gesehen“ Valentyn Moroz (15. April 1936, Dorf Choloniv, heute Rajon Horochiv, Oblast’ Volyn’, damals Woiwodschaft Wołyń in Polen – 16. April 2019, L’viv). Am 1. September 1965 wurde Valentyn Moroz vom KGB in Ivano-Frankivs’k verhaftet. Der Lehrer wurde der „antisowjetischen Agitation und Propaganda“ beschuldigt. Er wurde zusammen mit seinem Mitstreiter Dmytro Ivaščenko in Luc’k vor Gericht gestellt. Das Gericht schickte Moroz für vier Jahre in eine Kolonie strengen Regimes. Der Dissident verbüßte seine Strafe in Mordwinien. Dort schrieb er ein Werk mit dem Titel „Bericht aus dem Berija-Reservat“, in dem er die Bedingungen seiner Inhaftierung beschreibt. Der Text gelangt in Freie, wird im Samizdat veröffentlicht und in verschiedenen Teilen der UdSSR verbreitet.1 Sie sind ein Mann, der die Lager durchlaufen hat, ein Mann, der mehrere Bücher über die Geschichte geschrieben hat. Welche Zeit Ihres Lebens ist für Sie die interessanteste, die lebendigste? Vielleicht die Gegenwart. Ich war früher Hochspringer – ich konnte hoch springen. Einmal habe ich sogar den ersten Platz bei der Schulbezirksolympiade gewonnen. Ich konnte Fußball spielen und Gewichte stemmen. Jetzt weiß ich nicht mehr, wie man das macht. Das Einzige, was ich noch kann, ist Bücher schreiben. Hier ist der zweite Band von „Ukraine im zwanzigsten Jahrhundert“, und der erste. Jetzt ist der dritte Band zu 70 Prozent fertig. Ich schreibe 1
Walentyn Moros, Bericht aus dem Berija-Reservat, in: Politische Gefangene in der Sowjetunion. Dokumente. Herausgegeben von Winfried Baßmann und AnnaHalja Horbatsch im Auftrag von amnesty international. R. Piper & Co Verlag. München 1976, S. 28–79 (ursprünglich separat Frankfurt am Main 1974). Die ukrainische Ausgabe erschien bereits 1968 als Separatum in München bei Sučasnist’. Zum Gerichtsverfahren vgl. Bohdan Paska, Sudovyj proces Valentyna Moroza: rosekrečni materialy. Discursus, Ivano-Frankivs’k 2021. 704 S.
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246 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Bücher und habe, wie man im modernen Sprachgebrauch sagt, sehr viel „Spaß“ – sehr viel Freude.2 Wenn Sie an die Zeit zurückdenken, als Sie jung waren. Sie sagen, dass „Sie haben Gewicht gehoben und alles war gut“, so wie Sverstjuk einmal sagte: „Und das Fahrrad fuhr sehr schnell.“ Wenn Sie sich an diese Zeit erinnern, dann waren es die frühen 1960er Jahre, als in Kyïv, L’viv, Frankivs’k und anderen Städten das Tauwetter einsetzte und das Leben in Schwung kam. In Kyïv war es der Klub der kreativen Jugend. Wie konnten Sie als junger patriotischer Mensch einem Kreis von Menschen beitreten, die sich nicht in gleicher Weise wie die sowjetische Jugend in Richtung Sozialismus oder Kommunismus bewegten? Das war ganz logisch und realistisch. Leute wie ich suchten einfach ein solches Umfeld, solche Leute – wir wollten einfach so leben. Aber das gab es einfach nicht. Denn die ältere Generation, die in der Ukrainischen Aufständischen Armee kämpfte, war bereits entweder in Lagern oder in einem sehr tiefen Untergrund. Und es gab noch nichts Neues. Und es waren die ersten Leute, die schon einen Namen hatten, die etwas geschrieben haben, und wir sind sofort auf sie aufmerksam geworden. Und so entstand das Umfeld der sogenannten „Dissidenten“, der sogenannten „SechzigerjahreBewegung“. So fing es an. Und wenn Sie sich daran erinnern, wer Ihnen als junger Mensch in den frühen 1960er Jahren am ausdrucksstärksten, am klarsten, am ukrainischsten erschien. Jeder hatte seine eigenen Erfahrungen, seinen eigenen Weg zur Dissidentengruppe. Und zu dieser Zeit war ich Lehrer, zunächst am Pädagogischen Institut in Luc’k, dann an dem in Ivano-Frankivs’k. Ich erinnere mich, dass die erste Person, die ich von dieser Art Kyïver traf, Sverstjuk war. Er stammte aus meiner Nachbarschaft. Wenn man also von dem Dorf, in dem ich geboren wurde, zu dem
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Valentyn Moroz, Ukraina u dvadcjatomu stolitti. [1] 1900–1920. Astroljabija, L’viv 2010; kn. 2. 1920 – 1936 rr. Astroljabija, L’viv 2012. kn. 3. 1953–2000.Astroljabija, L’viv 2016.
„Die Geschichte der Ukraine“ 247
Dorf geht, in dem er geboren wurde, dann sind es, wenn man durch das Feld geht, nicht auf der Straße, zehn Kilometer. Ist das der Rajon Horochiv? Ja, das ist Horochiv. Und dann wurde Dzjuba für uns alle ein Gott. Schließlich schrieb er „Internationalismus oder Russifizierung?“ Das ist eigentlich das Credo der 1960er Jahre, und nicht nur der
248 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Ukrainer! Es war eigentlich ein Memorandum aus den 1960er Jahren. Das heißt, für uns wurde es das für viele Jahre. Aber das war eine ferne Bekanntschaft? Sie hatten keine persönlichen Erfahrungen mit Dzjuba zu der Zeit, als er schon in Ihrem Kopf herumschwirrte? Doch, hatte ich. Ich begann, nach Kyïv zu reisen und traf dort Hors’ka und ihren Mann [ … ] Und dann, nachdem ich vier Jahre im Gefängnis abgesessen hatte – die erste Strafe – kehrte ich nach Kyïv zurück. Ich war auf der Durchreise durch Kyïv, blieb sogar fünf Tage, weil ich dachte, wenn ich in Ivano-Frankivs’k ankomme, ob ich mich dann nach Kyïv lassen? Das war nicht klar. Wie habe ich also so schnell Bekanntschaften gemacht? Aber da hatte ich selbst etwas geschrieben, sagen wir: „Bericht aus dem Berija-Reservat“, und dann erschienen andere Dinge. Und sie hatten das große Glück, in der Diaspora veröffentlicht zu werden. Sie wurden hier im Samizdat gelesen und in der Diaspora veröffentlicht, und dann ging es immer weiter und weiter, und so kam ich ins Spiel. Jedes Mal, wenn am ukrainischen Horizont etwas Lebendiges auftauchte, warfen Sie einen Stein darauf. Und jedes Mal stellte sich heraus, dass es kein Stein war, sondern ein Bumerang. Er würde auf jeden Fall zurückkommen und … Sie treffen! Was war geschehen? Warum hatte die Unterdrückung nicht die übliche Wirkung? Warum ist aus der erprobten Waffe ein Bumerang geworden? Die Zeit hat sich geändert – das ist die Antwort. Stalin hatte genug Wasser, um das Feuer zu löschen. Sie befinden sich in einer völlig anderen Situation. Sie mussten in einer Zeit leben, in der die Reserven erschöpft waren. Und wenn es nicht genug Wasser gibt, ist es besser, das Feuer nicht damit zu schüren. Denn dann brennt es noch besser – das weiß jedes Kind.3
Sie wurden 1970 inhaftiert ... Es war im Jahr 1965. Ich verbrachte vier Jahre im Gefängnis. Neun Monate später wurde ich zum zweiten Mal verhaftet. Und am 1. Juni 1975 war ich bereits im Gefängnis in Ivano-Frankivs’k. Und dann 3
Valentyn Moroz, „Statt eines Schlusswortes“, zitiert aus: Šyroke more Ukraïny. Dokumenty samvydavu z Ukraïny. Dokumenty VII (Das weite Meer der Ukraine. Samizdat-Dokumente aus der Ukraine. Dokumente VII). Smoloskyp. Paris 1972. V.K. Vgl. Boomerang. The works of Valentyn [Jakovyč] Moroz. Introd. by Paul L. Gersper. Ed. by Yaroslav Bihun. Smoloskyp. Balitimore u. a. 1974.
„Die Geschichte der Ukraine“ 249 wurde das Gericht sehr schnell organisiert und ich wurde zu 14 Jahren verurteilt: 9 Jahre im Gefängnis und 5 Jahre in der Verbannung. Aber ich hatte Glück! Narren haben Glück! Es stellte sich heraus, dass es zu dieser Zeit große Spannungen zwischen Moskau und Washington gab. Und zwei sowjetische Spione waren sehr an amerikanischen U-Booten interessiert. Ich war in der Gegend, wo sie gefasst wurden. Sie wurden verhaftet und bekamen jeweils 50 Jahre Gefängnis. Denn das amerikanische Gesetzbuch erlaubt es, einen Paragrafen mit einem anderen Paragrafen zu verbinden – also 50 Jahre. Nun, die Situation war so: Welcher Mistkerl würde ein Spion sein wollen, wenn man dafür 50 Jahre bekommt? Jeder würde die Hände heben und alle seine Geheimnisse verraten! So sollte das sowjetische Spionagenetz zusammenbrechen. Nun, sie begannen damit, was, wie der CIA-Verantwortliche für ukrainische Angelegenheiten zu sagen pflegte, „ein bisschen von uns, ein bisschen von euch“, wie es im Geheimdienst heißt. Sie sagten: „Nun, gebt uns diese beiden Typen.“ „Und was gebt ihr uns?“ Und so begannen die Verhandlungen zwischen Moskau und Washington, und es wurde beschlossen, dass fünf Dissidenten für die beiden Spione hergegeben werden sollten. Interessant ist jedoch, dass, wie mir Brzeziński sagte, kein Ukrainer in diese Gruppe aufgenommen werden sollte, auf keinen Fall. Im Jahr 1979 tauschten die UdSSR und die USA Dissidenten gegen zwei sowjetische Spione aus. Auf diese Weise gelangte Valentyn Moroz in die Vereinigten Staaten, und 1981 zog er nach Kanada. Nach seiner Inhaftierung und seinem Leben im Exil Ende der 1980er Jahre kehrte er zum ersten Mal in sein Heimatland zurück und zog schließlich 1991 in die Ukraine.
Deshalb weil die Ukrainer 50 Prozent der Bevölkerung in den Lagern in Mordwinien ausmachten. Mehr noch. Sie sind einer der wenigen, die lange Zeit im Gefängnis von Vladimir verbracht haben. Nun, sechs Jahre. Als ich das erste Mal aus dem Lager geholt wurde, habe ich zwei Jahre dort verbracht, so wars. Ich wurde in
250 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht das Gefängnis von Vladimir gebracht und dann nach Kyïv – und erneut eine gerichtliche Untersuchung wegen des „Berichts aus dem Berija-Reservat“. Man dachte, ich sei im Gefängnis von Vladimir, aber in Wirklichkeit gab es eine gerichtliche Untersuchung. Und das zweite Mal sechs Jahre! Sechs Jahre im Gefängnis von Vladimir zu verbringen – das ist nicht leicht. Sagen Sie uns, viele Leute fragen sich, was Sie tun mussten, um ins Gefängnis zu kommen, anstatt in ein Lager, was schon eine große Strafe ist? Es gibt so eine Regel: Niemand ist an guten Absichten interessiert, jeder ist an guter Produktion interessiert. Sie müssen sehr besorgt über meine Produktion gewesen sein. Denn die Leute, mit denen ich jetzt zusammenarbeite, sind nicht mehr jung, und ich bin überhaupt nicht jung … Es sind gute Leute, ich bin 78, fast 78 Jahre alt! Sie sagen also, dass der KGB sehr wütend war, als sie meine Sachen im Samizdat fanden, irgendwo bei ihnen dort, bei irgendwem fanden sie sie. Sie waren sehr wütend über meine Sachen. Ich schätze, weil sie so bissig waren, ich weiß es nicht … Also wurde ich für diese Produkte dort eingesackt. So ist das passiert. Aber ich habe sie überrascht. Sie sagten: „Dummköpfe haben Glück.“ Ich sagte, dass ich die Zelle nicht ohne meine Unterlagen verlassen würde. Zwei KGB-Offiziere nahmen mich unter die Arme, ich war wie ein Skelett, und sie brachten mich einfach zum Auto. Aber ich wollte nicht ohne meine Unterlagen gehen. Der war jemand anderes … man schiebt ihn bereits in den Westen ab, also was für Unterlagen! Aber ich wollte meine Papiere. Und Sie haben alles verloren? Ich habe alles verloren. Es ist alles dageblieben. Aber ich war damals sehr besorgt darüber! Nun, ich hatte einige Dinge bei mir, aber ich habe sie so geschickt versteckt. Ich habe nirgendwo in meinen Büchern, in meinen Erinnerungen, darüber geschrieben, um es nicht für andere aufzudecken. Also habe ich einige Dinge herausgenommen. Aber es war nicht viel. Damals war das für mich sehr belastend. Aber ich schrieb Neues, und Neues, und Neues … Ich schrieb mehr.
„Die Geschichte der Ukraine“ 251 Und Sie schreiben eher allgemeine Grundzüge der ukrainischen Geschichte. Aber Sie haben keine vollständigen Memoiren über Ihre Jahre geschrieben. Ich habe keine Zeit für Erinnerungen. Ich möchte die Geschichte der Ukraine aus ukrainischer Sicht schreiben, die ein normaler Ukrainer, insbesondere ein junger, lesen sollte. Bislang wurde die ukrainische Geschichte von „Čapajev-Gelehrten“ geschrieben. Sie kennen zwei Konzepte: Das erste Konzept ist Čapajev, das zweite ist Anka, das Maschinengewehrmädchen.4 Und es ist nicht ihre Schuld, es ist ihr Pech, denn so wurden sie gelehrt. Und sie wissen nichts über Bandera. Wir brauchen also Bücher wie dieses, die die Geschichte der Ukraine mit ukrainischen Augen sehen. Und wenn Sie sich an die Zeit der 1970er Jahre erinnern, an die Mordwinien-Periode in Ihrem Leben. Soweit ich aus den Memoiren politischer Gefangener, aus der Literatur weiß, war die Situation in den Lagern sehr schwierig. Auf der einen Seite waren sie allesamt glänzende Vertreter ihrer nationalen Bewegungen: Litauer, Ukrainer, Juden, Russen, Georgier, usw. Andererseits widersprachen sich die nationalen Projekte in den Köpfen dieser Menschen oft. Einige waren zum Beispiel für ein starkes Russland, während Sie für eine normale, starke Ukraine waren. Wie sind Sie mit diesen Menschen zurechtgekommen? Ich habe gesehen, dass selbst während der UPA-Periode und danach die Ukrainer die einfachsten Beziehungen zu zwei Gruppen hatten: zu Litauern und zu Georgiern. Warum? Ich weiß es nicht, ich bin kein Psychologe oder Biologe. Und die Russen … Nehmen wir den bedeutendsten Russen, Puškin, er schrieb: „Werden die slawischen Ströme im russischen Meer verschmelzen?“ Er hatte also die Idee, dass all die verschiedenen Polen, Slowaken und all die anderen Wasserköpfe, und all die Mazedonier, all die Hungerleider,
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Moroz bezieht sich hier auf den nach einem Roman von Dmitrij Furmanov gedrehten Film 1934. Der Roman von 1923, Dmitrij Furmanow, Tschapajew, dt. von Eduard Schiemann. Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR, Moskau und Leningrad 1934 und Nachdruck 1957, stellt kämpfender Charaktere der Arbeiterklasse ins Licht.
252 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Moskalen werden sollten. Und die Ukrainer und Russen, so glaubte er, waren bereits bei Moskau. Gab es unter Ihren Mitgefangenen aus Russland Menschen, die die nationalen Bestrebungen der Völker teilten, die in der „Unterwelt“ Russlands lebten, wie Solženicyn sagte? Nun, Solženicyn ist auf die gleiche Weise typisch. Für ihn ist die Ukraine wie Russland. Dieser Helfershelfer hat nichts Neues erfunden. Das war die offizielle Theorie im neunzehnten Jahrhundert: dass es keine Ukraine gibt, dass die Deutschen die Ukraine erfunden haben, um dieses sehr reiche Land von Russland zu trennen. Jetzt stellen sie das alles wieder her. Das heißt, es gab keine Russen in den Lagern, mit denen man über ukrainische Fragen hätte reden können ... Die Russen waren für Russland – das ist klar. In der Zeit von Jaroslav dem Weisen waren wir die gleichen Imperialisten und übten auf dieselbe Weise Druck auf Novgorod aus. Novgorod wollte keinen Tribut an Kyïv zahlen, musste es aber. Und Polock wollte sich abspalten, aber Volodymyr der Große eroberte es und tötete Rogvolod, ihren Fürsten. Und Polock war das Zentrum von Belarus. Russland, Weißrussland, war schon im Entstehen. Und wir waren damals ein Imperium, wir waren Imperialisten. Jedes Imperium drängt und fordert seinen eigenen Weg und zermalmt versklavte Völker – das ist eine übliche Geschichte. Ich weiß das als Historiker. Vakhtang Kipiani, Leonid Pljušč. Ein Ausschnitt aus dem Programm „Istoryčna Pravda mit Vakhtang Kipiani“.
Michail Chejfec
„Die Stärke eines Dissidenten liegt nicht so sehr im Geist als vielmehr im Charakter“ Michail Chejfec (Heifetz, 18. Januar 1934, Leningrad, Russland – 25. November 2019, Jerusalem, Israel) war ein Schriftsteller und Historiker. Er war ein im Selbstverlag veröffentlichter Autor und politischer Gefangener.1 Michail Chejfec wurde am 22. April 1974 wegen seines „verleumderischen“ Vorworts „Josif Brodskij und unsere Generation“ zu Josif Brodskijs Werkausgabe verhaftet, in dem er den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei scharf verurteilt hatte. Die Anklage wurde durch die Tatsache ergänzt, dass er im Besitz von literarischem und menschenrechtlichem Samizdat („Chroniken der aktuellen Ereignisse“), Artikeln und Briefen von Petro Hryhorenko, Aleksej Kosterin und Andrej Amalrik war. Damit wurde sein Fall zu einem Beispiel für einen „rein literarischen KGB-Fall“, bei dem eine Person für das Verfassen eines Artikels über Literatur bestraft wurde: Am 13. September 1974 wurde Michail Chejfec gemäß Teil 1 von Artikel 70 des Strafgesetzbuches der RSFSR („antisowjetische Agitation und Propaganda“) zu vier Jahren in einer Kolonie strengen Regimes und zwei Jahren Verbannung verurteilt. Er musste seine Strafe in den politischen Lagern in Mordwinien (DubravLag) – ŽCh-385/17A (Siedlung Ozernoe) und 19 (Siedlung Lisnoe) – verbüßen. Dort schloss er Freundschaft mit armenischen und ukrainischen politischen Gefangenen,
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Auf Deutsch erschienen Michail Heifetz, Wassyl Stuss: Ein Dichter hinter Stacheldraht. Kuratorium Geistige Freiheit, Bern 1983; Sorokas Rosenstrauch: authentische Berichte aus Mordwinien. Gerold und Appel, Hamburg 1984 sowie Das siebte Attentat. Spionageroman. Übers. von Liselotte Remané. Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin 1970.
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254 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht darunter Parujr Hajrikjan, Zorjan Popadjuk, Vasyl’ Stus, Vjačeslav Čornovil und Mykola Rudenko. Wie haben sich ehemalige sowjetische Juden, ehemalige sowjetische politische Gefangene und Teilnehmer am „Flugzeugprozess“ in Israel niedergelassen? Was ist aus ihnen geworden, was haben sie gemacht und was machen sie heute? Ich weiß nicht, wie es allen geht. Mark Dymšic ging als Ingenieur in eine Flugzeugfabrik, er ist auch Pilot. Er hat gearbeitet und ist jetzt im Ruhestand. Meiner Meinung nach ist es nicht seine wahre Berufung, Ingenieur zu sein. Ich mag seine Bilder sehr. Es ist kein Zufall, dass ich sie in mein dreibändiges Buch aufgenommen habe, denn er hat die Zone in einem volkstümlichen Geist dargestellt, erstaunlich genau und wahrhaftig. Ich glaube, dass er von Natur aus ein Künstler war, der sich selbst nicht erkannte.2 Es war also der KGB, der ihn zum Künstler machte? Ja, das kommt vor. Ich habe ihn gesehen und einige Bilder von ihm für ein Buch übergenommen. Er lebt sehr zurückgezogen. Kuznecov ist die hellste Figur, aber auch ihm geht es nicht gut. Er war mein Chef, der Schöpfer der Zeitung, für die ich gearbeitet habe. Wir haben acht Jahre lang zusammengearbeitet. Vor etwa anderthalb Jahren oder einem Jahr war er Redakteur der Zeitung „Vesti“, und der Eigentümer hat ihn gefeuert. Er gründete eine neue Zeitung, ein wöchentliches Magazin namens „Mega News“, aber anscheinend ist er auch dort nicht geblieben. Jetzt hat er eine lange Beurlaubung genommen. Am 15. Juni 1970 wurde eine Gruppe sowjetisch-jüdischer Refuseniks, die plante, ein Passagierflugzeug zu entführen, um aus der UdSSR zu fliehen, auf dem Flugplatz „Smolnyj“ – der heute von den örtlichen Fluggesellschaften in St. Petersburg Rževka genannt wird und keine Flugzeuge mehr empfängt – festgenommen. Die Vorbereitungen für die Flucht dauerten etwa ein Jahr. Der Plan sah vor, das Flugzeug auf einem kleinen Flugplatz in der Nähe der westlichen Grenze zu entführen, in einem für das Radar unsichtbaren Gebiet
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Mark Dymshits, Hijack for Freedom: The Memoirs of Mark Dymshits: Soviet Pilot, Jew, Breacher oft he Iron Curtain. Gefen Books, Jerusalem-New York 2021.
„Die Stärke eines Dissidenten liegt im Charakter“ 255 zu fliegen (einer der Organisatoren der Flucht, Mark Dymšyc, war Pilot) und in Schweden zu landen. Nach ihrer Ankunft wollten sie sich den Behörden stellen und eine Pressekonferenz zum Thema staatlicher Antisemitismus in der UdSSR einberufen, um die Aufmerksamkeit der Welt auf die Probleme der sowjetischen Juden im Allgemeinen und der Refuseniks, denen die Auswanderung nach Israel verboten war, im Besonderen zu lenken.
Kuznecov ist eine Kultfigur für die russische Straße in Israel. Wie denken die Menschen heute über ihn? Ist er immer noch ein Nationalheld? Eine Kultfigur, aber nicht in diesem Ausmaß. Jetzt gibt es neue Kultfiguren. In erster Linie ist es Ščaranskij, so dass Kuznecov in den Hintergrund getreten ist. Das Komische ist, dass er in der jüdischen Bevölkerung fast unbekannt war. Seltsamerweise sind sie alle in Russland und der Ukraine vielleicht besser bekannt als in der jüdischen Bevölkerung in Israel selbst. Wir müssen es repetieren, es den Menschen sagen. Das sowjetische Problem ist eine völlige Amnesie des historischen Gedächtnisses. Sie wissen nichts, haben nichts gehört und interessieren sich für nichts anderes als für den täglichen Kampf – für ein Stück Brot, und jetzt für ein Stück Vergnügen, das ist alles. Natan Ščaranskij (Anatolij Ščaranskij, 20. Januar 1948, Stalino (Donec’k), Ukrainische SSR) ist ein israelischer Staatsmann und Politiker ukrainischer Abstammung. Er wurde 1977 unter dem Vorwurf verhaftet, geheime Informationen an den amerikanischen Journalisten der „Los Angeles Times“ weitergegeben zu haben – eine Liste von Personen, die von den sowjetischen Behörden mit einem Ausreiseverbot belegt waren. Am 11. Februar 1986 wurde er auf der „Spionagebrücke“ zwischen Deutschland und der DDR gegen im Ausland verhaftete Spione aus den sozialistischen Blockstaaten ausgetauscht. Stellvertretender Ministerpräsident (2001–2003), Minister in mehreren israelischen Regierungen, Mitglied der Knesset, Vorsitzender des Vorstands der Jewish Agency for Israel (Sochnut), Mitglied des Aufsichtsrats der Holocaust-Gedenkstätte Babyn Jar.
Und andere, wie Chnoch? In Wirklichkeit versuchten sie, sich in einer Art öffentlicher Sphäre zu verwirklichen. Chnoch war ein Parteiaktivist, ich erinnere mich gut an ihn. Aber es hat nichts geklappt. Der Punkt ist, dass sie öffentliche Persönlichkeiten nach sowjetischem Vorbild sind, Menschen, die fähig sind zu handeln, mit Charakter. Aber um in
256 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht einer demokratischen Gesellschaft auf der öffentlichen Bühne sichtbar zu sein, reicht Charakter allein nicht aus. Man braucht Wissen, politisches Geschick, Beherrschung der Methodik und Vertrautheit mit den PR-Techniken. All das haben sie nicht. Sie versuchen es, aber mit dem Gepäck, das sie aus der sowjetischen Realität mitgebracht haben, ist das alles vergebens. Die neue Generation, die die Perestroika miterlebt hat, hat etwas gesehen und gelernt und ist natürlich besser an den politischen Kampf angepasst als diese alten Kämpfer, sie ist viel besser darin. Sie leben bescheiden: Penson ist Künstler, Mychajlo ist Zahnarzt. Sie alle tun das, was sie normalerweise in der sowjetischen Gesellschaft getan hätten, wenn sie nicht hinausgelassen worden wären. Ein solches Leben wäre reibungslos verlaufen, aber es gab eine gewisse Verbiegung, einen Bruch. Sie versuchten, die Grenzen, die ihnen das Schicksal gesetzt hatte, zu überschreiten, aber sie scheiterten. Es stellte sich heraus, dass das Schicksal, das sie ursprünglich gehabt hatten, natürlich war. Kürzlich veröffentlichte die Zeitung „Stoličnye Novosti“ ein Interview mit Eduard Kuznecov, in dem er sich recht harsch über Ščaranskij äußerte. Kuznecov sagte, er gehöre zu den Menschen, die ihr ganzes Leben lang Autoritäten manipuliert haben. Dies zeigt vielleicht einmal mehr, dass die russische Straße, die so genannte russische Gasse, sehr zweideutig ist. Ich will Ihnen sagen, dass ich ihnen allen, sowohl Kuznecov als auch Ščaranskij, sehr skeptisch und ironisch gegenüberstehe. Aber da Kuznecov keine politische Figur ist, sondern ein Kollege von mir, der sich in einer schwierigen Situation befindet, habe ich mich sicherlich nie öffentlich gegen ihn ausgesprochen und werde es auch nicht tun. Es ist nicht gut, jemandem Stöße zu versetzen, der am Boden liegt. Was Ščaranskij betrifft, so mag ich ihn als Politiker nicht. Das habe ich in der Presse zum Ausdruck gebracht, und es wurde ein großer Artikel mit dem Titel „Warum die Partei zerstören“ veröffentlicht. Ich habe versucht zu beweisen, dass Ščaranskij sich als ein Mann erwiesen hat, der seltsamerweise nicht stark genug ist. Es scheint, dass die Stärke eines Dissidenten nicht so sehr in seinem Verstand als vielmehr in seinem Charakter liegt. Es hat sich jedoch herausgestellt, dass man, wenn man in der Politik tätig ist, für das Volk, für das Land verantwortlich ist. Ich weiß, dass ich
„Die Stärke eines Dissidenten liegt im Charakter“ 257 große Worte mache, die in unserer Zeit sogar ungehörig sind, aber so ist es. Man muss viel stärker sein, als es sich ein Dissident leisten kann. Wenn man das Gefühl hat, dass die Menschen etwas brauchen, dann muss man, auch wenn es einem nicht gefällt, darauf bestehen und es verteidigen, denn das Volk ist in gewisser Weise wie Kinder. Sie müssen verhätschelt werden, sie brauchen Führung. Sie müssen auch unangenehme Dinge hören. In der Tat können die Menschen es jetzt noch nicht hören, aber später, wenn sie es begreifen, werden sie darauf reagieren und verstehen, dass Sie Recht hatten. Mir scheint, dass Ščaranskij nicht den Willen hatte, für die Menschen er selbst zu sein. Für sich selbst kann er er selbst sein. Das ist auch sehr viel. Ich spreche Ščaranskij nicht seinen Willen und seine Kraft ab, aber es gibt eine Gemeinschaft, für die er verantwortlich ist, für die er etwas tun muss. Er muss sich wie ihr Führer verhalten, wenn er eine politische Zukunft haben will, und dafür muss er in der Regierung bleiben. Er hatte das Recht, seinen Standpunkt zu äußern, wenn er mit dem Premierminister nicht einverstanden war. Ich erkenne sein Recht auf seine politischen Überzeugungen und seine Vorstellung vom Weg des Landes voll an. Du hast deine Wähler, deine Wählerschaft, deine Gemeinschaft. Solange du in der Regierung bist, kannst du tatsächlich etwas für sie tun – das ist nicht so wie bei einem einfachen Abgeordneten. Du kannst etwas bewirken. Es stellte sich heraus, dass es ihm egal war, was mit seiner Wählerschaft geschah. Das ist sein gutes Recht, aber offen gesagt, mag ich ihn in dieser Hinsicht als Politiker nicht. Was wird Ihrer Meinung nach in naher Zukunft im israelischen Wahlkampf passieren? Ich persönlich bin ein großer Gegner all dieser Neuwahlen, denn es ist völlig klar, dass es erstens ungefähr die gleiche Aufteilung der Kräfte geben wird, und das ist kein Zufall. Erst vor anderthalb Jahren gab es Wahlen, und diese Aufteilung spiegelt einen bestimmten Willen des Volkes wider. Wir werden die gleiche Knesset haben. Nehmen wir an, der Premierminister wird wiedergewählt. Das bedeutet meiner Meinung nach, dass Israel in einer schlechteren Situation sein wird, als es ist. Denn jetzt haben wir den
258 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Führer des sogenannten Friedenslagers an der Spitze der Regierung. Wenn er auf der internationalen Bühne und vor unseren Gegnern, seien wir ehrlich, unseren Feinden, irgendwelche Forderungen an Israel stellt, drückt er die Meinung der ganzen Nation aus – sowohl des friedlicheren Teils der israelischen Gesellschaft als auch des unnachgiebigeren Teils [ … ] Im Falle einer Wiederwahl wird sich das Volk spalten, und die alte Spaltung zwischen dem Friedenslager und dem nationalen Lager wird wieder stattfinden. Jede Position des neuen Ministerpräsidenten wird von den Verlierern der Wahl scharf kritisiert werden, aber auch von unseren Verbündeten, vor allem von den USA und Russland, d.h. von denen, die uns jetzt wirklich und objektiv unterstützen. Israel ist ein kleiner Staat, kein großer Staat. Es kann noch keine völlig unabhängige Politik betreiben, und das müssen sie verstehen. Ich weiß nicht, ob es heute überhaupt noch große Länder gibt, die eine völlig unabhängige Politik betreiben können. Ich weiß, dass die Ukraine im Vergleich zu uns ein riesiges Land ist, und dennoch muss ihr Präsident dem internationalen Druck Rechnung tragen. Gerade ein Land, das 20-mal kleiner ist als die Ukraine und 8-mal weniger Einwohner hat als sie, sollte dies berücksichtigen. Natürlich ist es auf seine Verbündeten angewiesen, auf den internationalen Druck, und so wird jeder Vertreter des Kriegslagers denselben Weg einschlagen. Das ist eigentlich eine Lüge: Es gibt kein Kriegslager in Israel, absolut jeder will Frieden. Ich spreche verantwortungsbewusst, weil ich zum Friedenslager gehöre. Man sollte meinen, dass ich meine Gegner beschimpfen sollte, aber das tue ich nicht. Ich weiß, dass sie den Frieden ebenso sehr wollen wie ich. Der Unterschied zwischen mir und meinen Gegnern innerhalb Israels aus dem nationalen Lager liegt in der Art und Weise, wie wir unsere Partner einschätzen [ … ]. Unsere Gegner aus dem nationalen Lager wollen auch Frieden, sie würden auch gerne eine Einigung erreichen, aber sie sind überzeugt, dass unsere Gegner gar keinen Frieden wollen, sondern den Krieg fortsetzen wollen. Sie denken, dass solche Methoden wie Friedensverhandlungen, wie die Unterzeichnung einiger Interimsdokumente, eine profitable Methode zur Fortsetzung
„Die Stärke eines Dissidenten liegt im Charakter“ 259 des Krieges sind. Das heißt, sie glauben rein subjektiv nicht an die guten Absichten ihrer Partner. Das ist der Unterschied in der Einschätzung der Menschen. Vielleicht haben die einen recht, und die anderen haben recht. Wer kann schon die menschliche Seele verstehen? Mit anderen Worten, unsere Partner sind der Meinung, dass Arafat und sein Team keine Soldaten sind, sondern Menschen wie Saddam Hussein, der ernsthaft glaubte, er könne die Vereinigten Staaten und die gesamte westliche Welt besiegen. Er hat deinem Volk Unheil gebracht, Elend und Unglück verursacht, aber das Volk liebt ihn, respektiert ihn, schätzt ihn. Er ist ein Mann, der sein Volk führt. Das ist der Weg, nicht ein anderer. [...]Tatsächlich wurden den Palästinensern 90% des von Israel besetzten Territoriums angeboten, sogar 90% und mehr, aber das wurde nicht unterzeichnet, nur diskutiert. Plus ein voll lebensfähiger Staat. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte erhielten die Palästinenser einen voll funktionsfähigen Staat mit großen Perspektiven. Sie haben vor ihren Küsten Gas entdeckt. Israel ist der einzige Abnehmer dieses Gases. Man könnte es in die Pipeline leiten und so viel Wasser gewinnen, wie zur Belebung der Wüste benötigt wird. Sie könnten wirklich wie ein Fürstentum am Persischen Golf leben, sie könnten vom Öl reich werden. Das heißt, sie sind ein wohlhabendes, fleißiges Volk mit eigenem Territorium, ein integraler Staat, keineswegs ein Enklavenstaat. Und in der Tat wollte ihnen niemand irgendwelche Rechte vorenthalten. Die Juden wollten ihnen unter keinen Umständen Jerusalem in seinen historischen Grenzen überlassen. Aber das ist es, was man Treue zum Heiligtum nennt. Jedes Volk hat seine eigenen Heiligtümer, die es nicht aufgeben will. Wenn wir Jerusalem aufgeben, dann sehen wir uns als Besatzer. Als Menschen, die hierher gekommen sind, sich ein Stück Land angeeignet haben und nun dort leben und glücklich sind. Wir sind hierher gekommen, weil wir dieses Land als unser Heimatland betrachten. Jerusalem ist unser Heiligtum. Keine israelische Regierung könnte es verschenken. Aber niemand strebte nach Macht über sie. Alle Araber, die auf dem Gebiet des historischen Jerusalem leben, hätten die Rechte palästinensischer Bürger erhalten, die volle Selbstverwaltung in Jerusalem,
260 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht absolut alle kommunalen und politischen Rechte. Alles außer der Anerkennung ihres eigenen Gesetzesrechts ist in Wirklichkeit rein formal. Wir bräuchten eine formale Anerkennung, dass wir im Recht sind. Und lebt, wie ihr wollt. Wir werden uns überhaupt nicht in eure Angelegenheiten einmischen. Es gab eine große Chance, eine Einigung zu erzielen. Es gab keine unlösbaren Probleme, der Frieden war zum Greifen nahe. Aber es gibt extremistische Elemente, einen Unterschied zwischen den Zivilisationen. Ich möchte damit niemanden demütigen oder beleidigen. Die Juden selbst gehörten einst der gleichen Zivilisation an wie die Araber heute. Es handelt sich um eine ländliche Zivilisation, die auf der Idee beruht, dass wir alle vom Land ernährt werden. Und der Besitz von Land ist der einzige wirkliche Reichtum. Der Feind ist immer ein Nachbar, der dein Land beanspruchen kann. Deshalb waren bei den Juden früher die Nachbarn – die Ammoniter oder Moabiter – Feinde (ich verwende absichtlich ein jüdisches Beispiel, um klarzustellen, dass es hier keine rassistischen Vorurteile gibt). Ihre Freunde waren Sparta und die römische Republik, weil sie weit weg waren. Es ist bekannt, wie dies für die Juden endete. Es stellt sich heraus, dass ein Nachbar keine Freundschaft garantiert, d.h. ein Nachbar ist immer ein Feind, und derjenige, der Land verschenkt, ist entweder ein Feigling oder ein Narr. In ihren Augen? In ihren Augen. Da dies der wichtigste Wert ist, opfert ein Mensch dies nicht, es ist das, was ihn und seine ganze Familie, seinen ganzen Clan ernährt. Als die Araber also sahen, dass Israel sich zurückzog [ … ], bedeutete das für sie, dass die Juden geschwächt waren, ihren militärischen Geist verloren hatten und ihre Menschen zu sehr schätzten. Der Verlust eines Menschen ist eine Katastrophe, Schreie, Lärm, „Wie konnte die Regierung das zulassen?“ und so weiter. Das ist die übliche Demagogie in einer demokratischen Gesellschaft, wenn über den Verlust von Werten, nationalem Geist und Idealen gesprochen wird. „Wo sind unsere jungen Leute?“, „Wie waren wir, als wir jung waren!“, „Und wie sind die jungen Leute heute!“ – all diese vertrauten Gespräche werden als Wahrheit wahrgenommen.
„Die Stärke eines Dissidenten liegt im Charakter“ 261 Die Menschen sind nicht mehr dieselben, sie sind nicht bereit zu kämpfen. Wenn man sie richtig bekämpft, geben sie auf. Obwohl sie körperlich stark sind, sind sie moralisch schwach. Das ist nicht nur ein Phänomen in unserem Land, das Gleiche ist im Irak passiert. Saddam Hussein glaubte aufrichtig, er könne die NATO und die Vereinigten Staaten besiegen. Das ging auf Kosten des militärischen Geistes, der Soldaten, die unter Beschuss stehen. Sie sind anspruchslos, sie brauchen nichts, sie sind bereit, ihr Leben für ihr Vaterland zu geben. Was ist denn mit diesen verwöhnten Amerikanern? Sie können nicht außerhalb des Bettes schlafen! Wo sollen sie denn sonst hin, wenn sie um jeden Menschen trauern, der getötet wurde? Ich meine, es ist absolut aufrichtig, solche Menschen für schwach zu halten. Die Leute verstehen es nicht. Wir, Juden und Amerikaner, sind Vertreter einer städtischen Zivilisation, die genau weiß, dass die wichtigsten Werte nicht im Besitz von Land liegen, sondern in der Fähigkeit, die natürlichen Kräfte eines jeden Menschen zu nutzen. Der Mensch, mit seiner Fruchtbarkeit ... ... seiner intellektuellen. ... intellektuellen und physischen, was wertvoller ist als jedes Land. Dies ist ein großer biologischer Wert, der existiert und der Gesellschaft Reichtum bringt. Wir glauben, dass die derzeitige Lage der Araber merkwürdigerweise mit unserem Rückzug aus dem Libanon zusammenhängt. Wir haben den Libanon verlassen, und die Israelis haben gewonnen. Wir haben ihnen das Land überlassen. Es ist ihr Land. Wozu brauchen wir es? Im Gegenzug schießen sie nicht mehr auf uns. Warum sind wir dorthin gegangen? Damit sie nicht auf uns schießen. Wurde das Ziel erreicht? Das Ziel ist erreicht. Das heißt, wir haben gewonnen. Der große Sieg ist der Vorteil, den der jetzige Premierminister bei den Wahlen haben wird: Er hat im Libanon gewonnen, dort wurde so viele Jahre lang geschossen, und jetzt ist es ruhig. Wir haben gewonnen, wir haben das Land aufgegeben und bekommen, was wir wollten, wir haben das strategische Ziel des Krieges erreicht. Aber in den Augen der Araber haben wir verloren. Wir hätten das Land nicht aufgeben müssen, aber wir haben es getan, also sind
262 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht wir schwach, weil wir Angst vor dem Schießen hatten. Vielleicht braucht Arafat nur zu schießen, und wir ziehen uns aus den Gebieten Jerusalems zurück, die er beansprucht, oder geben ihm in bestimmten Flüchtlingsfragen nach, die er aufwerfen will. Dies ist ein völliges zivilisatorisches Missverständnis unseres Partners. Wir verstehen seine Logik nicht, er versteht unsere Logik nicht. Wir denken, wir haben gewonnen, und er denkt, wir haben verloren. Wir halten uns für stark, und er sieht das als unsere Schwäche an. Denn wir wollen nicht kämpfen, wir mögen es nicht, zu kämpfen. Für uns ist der Krieg etwas Abscheuliches, was von denen, für die der Krieg ein Ritterschlag ist, als Schwäche und Feigheit empfunden wird. Und deshalb sind sie jedes Mal so verzweifelt, wenn sie besiegt werden. Wie haben die Amerikaner Saddam Hussein getötet? In Wirklichkeit lassen sich nämlich auch die Niederlagen der Großmächte nicht durch ihre Schwäche erklären, sondern durch dasselbe Kalkül. Die Amerikaner in Vietnam haben den Krieg nicht verloren, weil sie ihn nicht gewinnen konnten. Sie wollten nicht den Preis für Vietnam zahlen, den es sie gekostet hat, ihn zu gewinnen. Es ist viel einfacher, eine Atombombe abzuwerfen, und schon gibt es kein Vietnam mehr. Jeder würde sich daran erinnern, dass es im Norden Vietnams ein Volk gab, das heldenhaft gekämpft hat, aber verschwunden ist. Der Sieg war es nicht wert, und die Amerikaner haben abgewogen und beschlossen, dass die Südvietnamesen sich nicht verteidigen wollten, also würde Amerika ohne sie auskommen. Das mag ein zynisches Kalkül sein, aber es ist typisch für die städtische Zivilisation. Sie entscheiden, ob sich etwas lohnt oder nicht. So wie Südvietnam schwächer war als Amerika, so ist es geblieben, aber es versteht das nicht. Afghanistan war schwächer als Russland, und so ist es geblieben. Als Leser habe ich keine Ahnung, wie sehr die arabischen Palästinenser in das israelische Staatsleben eingedrungen sind. Ich meine, ich weiß, dass es Abgeordnete gibt, dass es eine Fraktion gibt. Vielleicht leben Sie in zwei Gemeinschaften, die sich nicht überschneiden. Absolut zutreffend formuliert. Wenn wir hier in Israel leben, leben wir in etwa unter den gleichen Bedingungen, genießen die gleichen Rechte, aber es gibt eine Kluft in der Mentalität. Kürzlich trafen
„Die Stärke eines Dissidenten liegt im Charakter“ 263 sich russische Journalisten mit arabischen Journalisten, nachdem sich die arabische Gemeinschaft auf die Seite der Palästinenser gestellt hatte. Die Polizei schoss, weil, wie sie sagten, auf sie geschossen worden war, was verständlich ist. Wir wissen, dass es dort Waffen gibt. Die arabischen Abgeordneten selbst leugnen nicht, dass sie Waffen haben. 13 Menschen wurden getötet. Die Untersuchungskommission arbeitet daran, die Rechtmäßigkeit des Vorgehens der Polizei zu überprüfen. Bei dieser Gelegenheit haben wir uns mit arabischen Journalisten getroffen. Ich habe von ihnen eine sehr scharfe Beschwerde über ethnische Diskriminierung gehört. Dies ist eine absolut ernsthafte und ehrliche Beschwerde. Sie nannten viele Beispiele dafür, wie Araber diskriminiert werden. Ich habe absolut keinen Zweifel an diesen Tatsachen. Mir wurde die folgende Frage gestellt: „Warum braucht ihr Juden die nationale Gleichstellung der Araber?“ Ich antwortete: „Sehen Sie, ich habe meine eigene Vorstellung von meinem Staat, mein eigenes Ideal. Die Ungleichheit der Bürger in diesem Staat beleidigt mich als Jude, also brauche ich Araber, die alle Rechte in diesem Staat genießen. Sie müssen mir eine andere Frage stellen: ‚Warum brauchen Juden einen palästinensischen Nationalstaat?‘ Ich bin für die Koexistenz von zwei unabhängigen Staaten, Israel und Palästina, nebeneinander. Warum brauche ich also einen palästinensischen Staat? Sie versichern mir, dass Ihnen unser Wappen und unsere Hymne gleichgültig sind, dass Ihnen all diese Dinge fremd sind. Die Juden kamen aus der Ukraine. Es ist unwahrscheinlich, dass ein jüdisches Herz in der Ukraine sich für die Hymne ‚Die Ukraine ist noch nicht gestorben‘ interessiert. Ebenso ist unwahrscheinlich, dass der Tryzub, der Dreizack, der zum Wahrzeichen der Ukraine geworden ist, für ein jüdisches Herz wichtig ist. Wir verstehen, dass es eine Titularnation gibt, ihr Recht, ihre Verantwortung für das Land. Nationale Minderheiten müssen das Recht der Nation in dem Land anerkennen, in dem die Titularnation existiert. Wenn Ihnen unsere Symbole, unsere Musik, unsere Lebensweise fremd sind, haben Sie das Recht, 20 Kilometer entfernt ein eigenes Land mit eigenem Wappen, eigener Hymne und eigenen Gewohnheiten aufzubauen und dort als vollwertige Bürger zu leben. Ihr müsst euch entscheiden: Wollt ihr Israelis sein, mit allen Einschränkungen,
264 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht aber als nationale Minderheit, die es natürlich in jedem Land gibt, oder, wenn euch das nicht passt, müsst ihr gehen und euer eigenes Land, eure eigene Heimat aufbauen. Aber diejenigen, die in diesem Land leben, müssen es als ihre Heimat akzeptieren. Seine Armee ist ihr Verteidiger. Die Polizei und alle Strafverfolgungsbehörden sind sowohl unsere als auch Ihre. So müssen Sie das verstehen. Es gibt einen anhaltenden militärischen Konflikt. Ich verstehe, dass Ihre Brüder auf der anderen Seite sind, aber Sie müssen verstehen, dass es einen militärischen Konflikt gibt. Unsere Armee schützt sowohl uns als auch euch. Wenn sie von dort kommen, kann man nicht sagen, wer darunter leiden wird, denn es wird keine besondere Rücksichtnahme geben. Wenn Sie sich im Krieg gegen Ihre Armee stellen, müssen Sie verstehen, dass sie auf Sie schießen können. Wenn Sie sich gegen Ihr Zuhause stellen, fangen Sie an, es zu zerstören, denn ein Land ist ein Zuhause. Jeder, der darin lebt, hat die gleichen Rechte. Sie sollten auch das gleiche Gefühl der Zugehörigkeit zu diesem Haus haben. Juden, die mit Russland und der Ukraine nicht zufrieden sind, sollten diese Länder verlassen, zu uns kommen und hier ihr Land aufbauen. Aber diejenigen, die in Russland oder der Ukraine bleiben, sollten Patrioten dieser Länder sein. Sie sollten dieses Haus bauen und ihm Segen wünschen. Wenn Sie das nicht können, dann wählen Sie bitte!“ Sie wollen auf zwei Stühlen sitzen. Wir verstehen sehr gut, dass sie ihrem Volk gegenüber loyal sein wollen, aber gleichzeitig alle Rechte und Vorteile genießen wollen, die mit der Zugehörigkeit zu unserem Land verbunden sind, das durch die gemeinsamen Anstrengungen der Bürger dieses Landes, einschließlich ihrer Arbeit, geschaffen wurde. Aber sie müssen verstehen, dass dies ein Haus ist, das nicht zerstört werden kann. Ich persönlich glaube, dass aufgrund der zivilisatorischen Prozesse in unserem Land die beste Lösung darin besteht, die beiden Völker in zwei Staaten aufzuteilen. Der positive Aspekt der jüngsten Ereignisse ist, dass trotz der Verluste an Menschenleben vielleicht ein Stereotyp in den Köpfen der Israelis durchbrochen wurde, wonach die Grenzen ihres Landes unantastbar seien. Die Grenzen dieses Landes sind keine echte Grenze, sie sind die ehemalige Frontlinie; wo die Truppen aufhörten, da war die Grenze. Warum überlässt man dem
„Die Stärke eines Dissidenten liegt im Charakter“ 265 palästinensischen Staat nicht große Gebiete, die von israelischen Arabern bewohnt werden können, behält aber die strategischen, von Juden bewohnten Gebiete, deren Räumung Barak zugestimmt hat? [ … ] Wir haben die Nachbarn, die Gott uns gegeben hat, andere Nachbarn haben wir nicht. Sie wissen, dass ein Sowjetmensch nicht daran gewöhnt ist, auf seine Umgebung Rücksicht zu nehmen, auch nicht auf deren Interessen. In diesem Sinne erinnern mich die Sowjetmenschen an unsere arabischen Nachbarn. „Zwei Schafe sind heute früh ertrunken.“3 Deshalb ist es vor allem eine Gemeinschaft der Rechten. Ich bin nur deshalb links, weil ich seit 20 Jahren in diesem Land lebe, weil ich mich als Israeli fühle, und weil die russische Gemeinschaft eine sowjetische Vorstellung vom Staat hat. Das heißt, der Staat ist eine Art Maschine, die eine demokratische Gesellschaft schaffen und für mich tun soll, was ich will. Das heißt, nicht ich tue es, sondern er tut es für mich. Für einige Israelis ist alles anders, wenn man zum Beispiel die Frage nach der Vertreibung der Araber stellt. Sie glauben nicht, dass irgendein Staat es tun wird, für sie bedeutet es, dass sie es selbst tun müssen. In ein fremdes Haus zu gehen, die Leute von dort zu vertreiben, Frauen und Kinder weinen zu hören. Das wollen sie nicht, also bestehen sie darauf, dass wir verhandeln sollten. Ein Russe sieht sich eine Landkarte an und hat nicht das Gefühl, dass es sein eigenes Werk ist. Der Staat ist eine externe Maschine, die entweder Gutes tut oder Böses tut. Das ist ein schweres Erbe des Sowjetregimes, seltsamerweise. Der Staat wurde dort vergöttert, so dass er dem Individuum fremd wurde. Er nimmt ihn nicht als eine Erweiterung seiner selbst wahr. Daher hat die russische Gemeinschaft natürlich meistens Recht, und noch mehr ist sie misstrauisch. Das ist etwas, was sie aus ihrer früheren Lebenserfahrung gelernt hat: Von den beiden Möglichkeiten sieht sie lieber das Schlimmste, das Pessimistische, und zieht es immer vor, einen Partner als Schurken zu sehen, der betrügt. Im Osten hat sie sehr oft recht. Obwohl ich ein anderer 3
Chajfec zitiert hier an die Schlussverse des Gedichtes „Schafe“ des sowjetischen Kinderbuch-Dichters Sergej Michalkov, der ein Günstling Stalins und Verfasser der Hymne der Russischen Föderation war.
266 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Mensch bin, gebe ich zu, dass sie mit ihren Vermutungen Recht hat. Wenn das nicht der Fall wäre, wie viel einfacher wäre unser Leben dann! Leider haben sie oft recht. Sie verstehen ihren Partner besser, sie verstehen seine Dummheit, seine Blindheit, weil sie selbst so sind, sie verstehen ihn besser als ich, der ich glaube, dass mein Partner in der Lage ist, die Vorteile zu erkennen. Das Schlimmste ist, dass man, wenn eine Person, ein Staat oder eine Gesellschaft ihren eigenen Nutzen verfolgt, ihre Interessen kennt, weiß, was man für dieses Interesse tun kann, was man aufgeben oder unterstützen kann, womit man nicht einverstanden ist, wenn man feststellt, dass es einen anderen Weg zum Ziel gibt. Aber wenn Menschen vor einer Katastrophe stehen, vor offensichtlichen Verlusten, die zu ihrem eigenen Tod führen, wie kannst du das wissen? Woher willst du das wissen? Wenn man Stalin dafür verurteilt, weil er den bewaffneten Angriff der Hitler-Armee unterschätzt hat, bin ich anderer Meinung. Stalin hat nicht verstanden, warum Hitler Russland angreifen wollte, denn das würde große Verluste bedeuten, offensichtlich große Schwierigkeiten, einen Zweifrontenkrieg, eine unvorbereitete Armee, ein unvorbereitetes Land, Hitler besitzt ganz Europa. Er sah in Hitler einen europäischen Führer, den er, ein Mensch aus dem Osten, im richtigen Moment täuschen würde. Solange er das Wohl seiner Deutschen und seines Landes im Auge hatte, würde er ihm in den Rücken fallen. Hitler war die Art von Mann, die sein großes Volk und sein großes Land in den Abgrund eines völlig aussichtslosen Abenteuers stürzte. Wie hätte man das wissen können? Wie konnte jemand wissen, dass Saddam Hussein Kuwait angreifen würde, wo er doch wusste, dass die ganze Welt gegen ihn sein würde, dass er keine Verbündeten haben würde, weil er Moskau nicht um Sanktionen gebeten hatte. Wie hätte man das sich ausrechnen können? Sehen Sie, so ist es auch hier. Kann man vermuten, dass einer der Leiter eines israelischen Ministeriums ein russischsprachiger Mensch sein wird? Man kann alles vermuten, aber ich sehe eine solche Person nicht. Es gibt noch keinen einzigen wirklich ernsthaften und
„Die Stärke eines Dissidenten liegt im Charakter“ 267 verantwortungsvollen Politiker unter uns. Ich sehe keinen einzigen Politiker, der auch in der Gemeinschaft selbst ernsthaft respektiert wird. Die Russen wählen all diese Politiker nur, weil sie ihre eigenen sind, aber nicht, weil sie sie respektieren. Bei Ševčenko gibt es die Formulierung: „Kommt auch zu uns ein Washington, / Um uns Gesetz und Recht zu geben? / Und doch: wir werdens’s einst erleben!“4 Ich habe eigentlich davon gesprochen, dass alle Juden die Ukraine oder Russland verlassen sollten, nicht weil sie dort nutzlose Menschen sind, nicht weil es ihnen hier besser gehen würde. Ich bin sicher, dass es vielen dort viel besser gehen würde als hier. Sie sind in jenem Umfeld aufgewachsen, haben sich daran gewöhnt, und das ist es, was die Menschen brauchen. Die Ukrainer haben zum Beispiel gekämpft. Wenn sie das getan haben, bedeutet das, dass sie es mit ihren eigenen Händen getan haben, nicht mit jüdischen Händen, und sie haben den ganzen Unsinn mit ihren eigenen Köpfen gedacht, nicht mit jüdischen Köpfen. Und das wird gut sein. Deshalb wollte ich auf keinen Fall, dass irgendwelche Juden in der Ukraine bleiben, und ich denke immer noch so. Wie wird die Ukraine heute in den israelischen Medien dargestellt? Wissen Sie, die Ukraine ist eines der Länder, die von den israelischen Medien mit der größten Sympathie behandelt werden. So sehr sie Russland nicht mögen, so sehr sympathisieren sie mit der Ukraine. Vielleicht lässt sich das dadurch erklären, dass Russland immer noch eine sehr starke orthodoxe Kirche mit ihrem internen Antisemitismus hat, während man seitens der ukrainischen Kirche diesen Antisemitismus hier nicht spürt. Ich will damit nicht sagen, dass es ihn nicht gibt, aber seitens der orthodoxen Hierarchen spürt man ihn nicht.
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Taras Schewtschenko, Der Kobsar. Hrsg. von Alfred Kurella. Zweiter Band. Verlag für fremdsprachige Literatur. Moskau 1951, 315 (Der Gottesnarr – Übers. A. Kurella).
268 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht In Russland hat man dieses Gefühl, vielleicht weil es das Gefühl gibt, dass alle antisemitischen Angriffe in den ukrainischen Medien und der Politiker die Ansichten dieser einflusslosen Randgruppen sind, die überall sein könnten. In Russland hat man ständig das Gefühl, dass diese Linie von sehr einflussreichen Leuten verfolgt wird, die heute oder morgen an die Macht kommen könnten, so dass das Bild der Ukraine in den lokalen Medien viel sympathischer ist als das Bild Russlands. Jetzt hat sich die Situation geändert, denn Putin ist wegen seines entschlossenen Kampfes gegen den arabischen Terrorismus sympathisch. Es ist nicht Tschetschenien, das hier von Interesse ist, sondern die arabische Verwicklung in tschetschenische Angelegenheiten, so dass das Gefühl besteht, dass es einen gemeinsamen Feind gibt. Der israelische Ministerpräsident sprach sich eindeutig für die radikalsten und brutalsten Maßnahmen zur Eindämmung Tschetscheniens aus. Sie haben Ihre eigenen Erfahrungen im Kampf gegen den inländischen Terrorismus. In welchem Zusammenhang steht dies mit dem ewigen Wunsch des jüdischen Volkes nach nationaler Unabhängigkeit und der tatsächlichen Verweigerung dieses Rechts? Lassen Sie es mich ganz deutlich sagen. Israel ist davon überzeugt, dass die Tschetschenen keine Unabhängigkeit haben, weil die Tschetschenen selbst absolut schuld daran sind. Neben Tschetschenien gibt es so ein gleiches Volk der Inguschen, mit der gleichen Sprache, dem gleichen Dialekt und dem gleichen muslimischen Glauben. Dort gibt es keine Probleme, weil Aušev sich für sein Volk einsetzt. Es gibt Kabardino-Balkarien, ebenfalls ein muslimisches Land. Es gibt Adygeja, und es gibt viele Republiken in der Nähe, die tatsächlich Unabhängigkeit genießen. Tschetschenien war unabhängig. Schließlich haben wir alle die Einführung der Scharia in Tschetschenien auf unseren Fernsehbildschirmen gesehen. Es war nicht sehr schön, auch nicht die Bestrafung auf den Straßen, aber es bedeutete, dass in Tschetschenien lokale Gesetze galten und nicht russische Gesetze. Tschetschenien zahlte keine Steuern an Russland, erhielt aber von Russland Geld für den Aufbau seines Landes. Stattdessen begann eine absolut idiotische Politik.
„Die Stärke eines Dissidenten liegt im Charakter“ 269 Eine mittelalterliche. Eine mittelalterliche. In Russland ist man überzeugt, dass die Probleme des tschetschenischen Volkes die Probleme seiner kriminellen Führung sind. In Israel hat man sich die Meinung gebildet, dass das tschetschenische Volk von Menschen ohne Verstand geführt wird. Deshalb wird es in Israel auch so behandelt, denn dieser Vergleich ist in der Tat absolut zutreffend. In Israel gibt es keinen einzigen Menschen, der über die Palästinenser herrschen will. Ich versichere Ihnen: Keiner will das. Alle wollen eine Trennung vornehmen und die israelischen Araber der Palästinensischen Autonomiebehörde überlassen, damit diese über sie regiert. Die einzige Bedingung ist: Steckt Eure Nase nicht in unsere Angelegenheiten. Aber dann ist da noch die Frage des Landes. Eine Frage stellt sich immer. Setzen Sie sich also hin, denken Sie nach und lösen Sie sie. Versuchen Sie nicht, Ihren Gegner einzuschüchtern. Verstehen Sie, dass er keine Angst hat. Der Feind ist genau wie wir, nicht schwach, nicht ängstlich. Wenn du anfängst, ihn in die Luft zu jagen, fängt er an, dich zu töten. Wenn Arafat sagt, ich habe eine Million Šahīds (Märtyrer), die bereit sind, ihr Leben zu geben, dann hofft er natürlich, die Israelis einzuschüchtern. Aber ich kann Ihnen genau sagen, was die Israelis denken. Sie denken daran, dass sie diese Million töten müssen. Es ist dasselbe wie mit Russland in Tschetschenien – man kann die Menschen nicht einschüchtern, weil sie keine Angst haben, und Amerika hat auch keine. Stellen Sie sich vor, dass morgen einige russische Terroristen, Nazis und Skinheads Terroranschläge auf den Straßen der Ukraine verüben und die Abtrennung der Krim oder zumindest von Sewastopol von der Ukraine fordern. Wird die ukrainische Regierung aufgeben und Zugeständnisse machen? Ganz sicher nicht. Es gibt Dinge, die Menschen nicht tun, wenn sie klug sind. Die tschetschenischen Führer haben sich als Menschen erwiesen, die keinen Verstand haben. Die anderen muslimischen Führer des Nordkaukasus sind wirklich unabhängig, nur haben sie keine eigenen Diplomaten. Letztendlich kann man immer irgendeine
270 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Position finden. Sie haben ihre eigenen Streitkräfte, die nicht Armee, sondern Innenministerium heißen. In Russland hat das Innenministerium derzeit mehr Soldaten im Bestand als die Armee. Gibt es in der israelischen Gesellschaft eine Diskussion über die zukünftige Koexistenz mit den Palästinensern? Ist folgende Option möglich: Wir sind von euch getrennt, nehmt die Araber weg, lebt in einem arabischpalästinensischen Staat auf den euch gegebenen Gebieten? Oder ist das eine Frage des Verhandelns? Die Menschen wollen mehr, als man ihnen gibt. Das Problem ist, dass die Palästinenser mehrmals einen Krieg begonnen haben – 1948, 1967, 1973, 1978 – aber jedes Mal haben sie ihn verloren. Man kann nicht, nachdem man einen Krieg verloren hat, verlangen, was man in diesem Krieg erhalten hätte, wenn man gewonnen hätte. So funktioniert das Leben nicht! Das ist es, was ich den Arabern selbst sage: „Leute, ihr hättet besser kämpfen müssen. Ihr habt den Krieg begonnen. Wenn ihr eine schicksalhafte Entscheidung trefft, einen Krieg zu beginnen, müsst ihr verstehen, dass ihr, wenn ihr ihn verliert, auch alles verliert, was ihr habt. Deshalb müsst ihr, wenn ihr euch dazu entschließt, alles sehr ernsthaft abwägen. Sie haben also diese al-Aqsa-Intifada begonnen. War euch überhaupt klar, dass ihr gewinnen müsst? Wenn du verlierst, wirst du nicht einmal mehr das haben, was du hast?“ [ … ] Wenn wir über unser Land sprechen, dann muss ich feststellen, dass zwei große Illusionen zusammengebrochen sind. Der Zusammenbruch der linken Illusion, dass wir so stark und mächtig sind, dass, wenn wir den Arabern in ihren Bestrebungen nachgeben, der Frieden auf jeden Fall siegen wird, dass es von uns abhängt. Wenn wir nachgeben, werden wir Frieden bekommen. Es hat sich herausgestellt, dass wir durch Nachgeben keinen Frieden bekommen haben. Der Zusammenbruch der Illusion der Rechten, dass wir so stark und mächtig sind, dass sie, wenn wir zuschlagen, sofort verstehen werden, wer sie sind und wer wir sind, und zum vorherigen Status quo zurückkehren werden. Nun, da sowohl die rechte als auch die linke Illusion zusammengebrochen ist, müssen wir nach einem anderen Weg suchen.
„Die Stärke eines Dissidenten liegt im Charakter“ 271 Vor kurzem hat man begonnen, die Mauer zu bauen. In welchem Stadium befindet sie sich jetzt? Woher kommt sie und wohin geht sie? Sie soll einige Bereiche der israelisch-palästinensischen Grenze abriegeln. Ich war gegen diese Mauer, weil ich sie für unsinnig hielt. Nun, sie haben die Mauer errichtet, und es ist durchaus möglich, durch sie hindurchzuschießen, denn die Absperrung ist drei Meter hoch. Eine Granate, eine Rakete, eine Kugel würde nicht durchkommen? Mir schien das alles, wie man in Israel sagt, Geldverschwendung zu sein, aber Bronfman überredete mich, mir das anzusehen, denn er war ein Befürworter dieser Idee. Ich schaute es mir an und erkannte, dass es einen gewissen Sinn ergab. Es ist unrealistisch, Jerusalem durch eine Mauer mitten in der Stadt komplett zu zerschneiden, so wie es auch an anderen Orten unrealistisch ist, aber es gibt riesige Abschnitte an der Grenze, wo eine Mauer steht. Die Menschen sehen einander nicht, sie sehen den Zaun. Die Juden haben keine Angst mehr vor den Arabern, die Araber hänseln die Juden nicht mehr. Sie sehen die Mauer und die Grenzsoldaten darauf, Punktum. Wer weiß schon, was hinter der Mauer ist? Meiner Meinung nach ist das psychologisch sehr beruhigend. Ich denke, es ist eine gute Idee. Wird sie um die Enklaven herum verlaufen? Nein, sie wird entlang der grünen Linie verlaufen, nicht um sie herum. Was ist mit der grünen Linie gemeint? Das ist die alte Grenze von 1967. Von dieser alten Grenze geht sie mit einigen Abweichungen in eine bestimmte Richtung. Aber es ist eine Art Modellgrenze, d.h. wo die Juden einer Teilung zustimmen, setzen sie diese Grenze; wenn sie nicht zustimmen, müssen sie dort verhandeln. Das mildert meiner Meinung nach die psychologische Konfrontation ab. Vielleicht liege ich falsch. Vakhtang Kipiani, Michail Chejfec, 7. Oktober 2002.
Jevhen Koncevyč
„Ich kann es mit Euch aufnehmen, Ihr Parasiten“ Jevhen Koncevyč (5. Juni 1935, Dorf Mlynyšče, Rajon Žytomyr, Oblast’ Žytomyr – 21. Juli 2010, Žytomyr), Schriftsteller, Dissident, „Symbol und Legende der SechzigerjahreBewegung“. Jevhen Koncevyč wurde vom KGB wegen des „Besitzes und der Lektüre antisowjetischer Literatur“ verfolgt, insbesondere wegen seiner engen Beziehungen zu der Sechzigerjahre-Bewegung und den Menschenrechtsaktivisten. Am 18. April 1972 wurden bei einer Durchsuchung 17 Exemplare von Samizdat, zahlreiche Manuskripte und Briefe, eine Schreibmaschine und vieles mehr beschlagnahmt. Das Gespräch mit Jevhen Koncevyč dauerte lange, er erzählte von seinen Erinnerungen an die SechzigerjahreBewegung. Eine seiner lebhaftesten Erinnerungen war die an Durchsuchungen und ein Geschenk mit einem „geheimen“
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Abhörgerät. Wie Vasyl’ Ovsijenko es beschreibt, „kamen die Leute, die man später die Sechzigerjahre-Bewegung nannte, nach Žytomyr, in die Druhyj-Ševčenkivs’kyj-Gasse 12. An seinem 30. Geburtstag, dem 5. Juni 1965, kamen Alla Hors’ka, Ivan, Leonida und Nadija Svitlyčyna, Vjačeslav Čornovil, Jevhen Sverstjuk, Mykola Plachotnjuk, Iryna Žylenko, Mychajlo Huc’, Halyna Vozna-Kušnir, Viktorija Cymbal und Borys Mamajsur in das Haus. Sie redeten, sangen und scherzten. Jevhen war glücklich. Ein ehemaliger Nachbar, Oksentij Melnyčuk, der in der Nomenklatur aufstieg, brachte ihm ein Album, in dem Koncevyč nach dem Weggang seiner Freunde eine Wanze entdeckte und unschädlich machte – der KGB bereitete sich bereits auf die Verhaftungen der Sechzigerjahre-Bewegung im August vor. Der Leiter des regionalen KGB, Oberst I. I. Judin, verlangte mit einer Gruppe von Untergebenen, dass die Wanze übergeben und geheim gehalten wird, und überredete Koncevyč, für ihre Institution zu arbeiten. Er weigerte sich entschlossen, und die beschämende Geschichte wurde unter allen Dissidenten der Ukraine bekannt. Ausländische Radiosender berichteten darüber. Derselbe Judin bot Koncevyč an, sich in der Presse gegen ausländische Veröffentlichungen über das ‚Geburtstagsgeschenk‘ auszusprechen. Er lehnte das Angebot erneut ab … Sieben Jahre später belehrte ihn KGB-Major Medvec’ky zynisch während eines Verhörs: ‚Sie, Jevhen Vasyl’ovyč, haben sich das Rückgrat Ihres Lebens nicht gebrochen, als Sie von einer Klippe in einen Fluss sprangen, sondern damals, als sie nicht auf die guten Ratschläge von Ivan Ivanovyč hörten und uns nicht halfen.‘ Am 18. April 1972 wurde das Haus von Koncevyč im Zusammenhang mit einer neuen Verhaftungswelle der Sechzigerjahre-Bewegung erneut durchsucht: 17 Dokumente des Selbstverlags, viele Manuskripte, Briefe, eine Schreibmaschine und mehr wurden beschlagnahmt. ‚Wenn dieser liegende Leichnam aufgestanden wäre, wäre sie immer noch nicht gelaufen. Er hätte in unserem Gewahrsam gesessen … ‘ – sagte ein KGB-Offizier aus Žytomyr freimütig.
„Ich kann es mit Euch aufnehmen, Ihr Parasiten“ 275 Der Schriftstellerverband von Žytomyr unter der Leitung von Volodymyr Kanivec’ versuchte zweimal, Jevhen Koncevyč aus dem Schriftstellerverband auszuschließen, aber die Parteibosse von oben hielten ihn zurück: ‚Macht keinen Märtyrer aus ihm.‘ Sie stoppten die Veröffentlichung von Koncevyč. Er war eng von Spitzeln umgeben.“ Ein Teil der Tonaufnahme ist verschwunden, daher veröffentlichen wir das, was erhalten geblieben ist. ... Es stand vom Winter auch ein halber Eimer Kohle und eine Schaufel. Wie ihn herausnehmen? Er war noch in die „Literaturna Ukraïna“ eingewickelt. Und als ich ihn auspacken wollte, vor Judin, weil sie dort standen, hat er ihn sofort eingepackt, offensichtlich, damit sie ihn nicht sehen. Was war drin? Das war offenbar ein Sender in einem Album. Offensichtlich konnten es nur wenige Leute sehen. Und wer waren die Leute, die Ihnen das Paket übergeben haben? Und von wem wollten sie etwas hören? Sie wollten nicht reden ... Vor allem Nadijka, sie hat alles mitgebracht. Dzjuba war auch da. Es gab eine Zeit, als Dzjuba hier auftrat. Er brachte mich mit einer Gruppe mit, als mein Buch herauskam (er arbeitete zu der Zeit bei „Molod’ Ukraïny“, und Petro Zasenko und einige andere Kyïver kamen mit ihm). Sie traten im Pädagogischen Institut auf, basierend auf meinem Buch. Und sie brachten mir eine Aufnahme – sie nahmen sie auf einem großen Tonbandgerät auf – von Dzjuba und anderen, die dort auftraten. Und diese Aufnahme wurde mir ohne Protokoll abgenommen. Und ich weiß nicht, ob es absichtlich so gemacht wurde, aber am nächsten Tag, um zwölf Uhr nachmittags (meine Mutter hatte mich bereits auf die andere Seite gedreht), kam er [Medvec’kyj] und sagte: „Wir haben die Bänder hier nicht mitgenommen.“ Weil sie sie ohne Protokoll weggenommen haben. Das war meine absolute Dummheit! Ich bereue es: Es gab Aufnahmen von
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Iryna Žylenkos Gesang und Dzjubas Auftritt im Institut an diesem Abend. Und dann kamen sie herein, saßen eine Weile und gingen dann, und er ging mit ihnen – und kam dann plötzlich zurück und löschte die Aufnahmen. Es gab Aufnahmen von Lina Kostenko, Vinhranovs’kyj, Mamajsur … Sie wurden später weggenommen, diese Dinge. Aber … Als Dzjuba weg war, hatte ich noch all dieses Zeug, und unser Dichter kam herein. Der mit dem dicken Bauch und der dünnen Stimme. Ich will seinen Namen nicht erwähnen, weil ich es versprochen habe. Und er sah mich: „Was hast du denn da?“ Ich habe es ihm nicht gezeigt, aber er hat gesehen, dass ich Spulen habe. Und das ist Achmatova. Borys Ten hat sie mir gebracht. Aber hauptsächlich kam es durch Nadija Svitlyčyna. Wer kam noch? Die Docenkos. Nina Virčenko und Docenko brachten sie damals. Ivan Svitlyčnyj und Lilija, Čornovil. Wer auch immer kam, er brachte immer etwas mit. Das ist noch nicht alles, denn es wurde auch viel weggenommen. Für mich war es nicht nötig, jemanden zu fragen. Ich konnte nichts auf menschliche Weise verstecken, wirklich. Sverstjuk hat auch etwas mitgebracht. Es gibt Fotos von Plachotnjuk (einige
f. 16, op. 01, spr. 0981-0032
„Ich kann es mit Euch aufnehmen, Ihr Parasiten“ 277 davon haben sie nicht mitgenommen), Fotos von Alla Hors’kas Werken und Fotos aus Donec’k. Ich verstehe, dass sie das wirklich wollten … Das machte die Situation für mich einfacher. Ich fühlte mich sehr schlecht, ich dachte: „Ach, was solls, ich nehme alles auf mich, ich werde nichts verraten. Als ich ein Junge im Dorf war, hat mein Onkel immer gesagt: „Wer nichts mit ins Grab nimmt, hat sein Leben nicht gelebt, als ob nichts geschehen wäre.“ Und jetzt ist das alles in mir aufgeblüht. Wenn sie mich schleppen, ist es schmerzhaft und unangenehm. Aber wenn sie einmal kommen: „Mach aus, mach aus“, dann kommen sie wieder: „Machen Sie aus.“ Dann denken Sie: „Machen Sie einfach aus, fahren Sie zur Hölle und stören Sie mich nicht, denn es ist nicht nur mein Kopf, es ist wie eine Sichel durch meine … Nun, ich weiß. Ich sage Ihnen so: Es gab diesen Moment, ja, ich erinnere mich, ich stand im Rollstuhl, er fuhr irgendwohin weiter, wir hatten dort einen Weg. Reden Sie von einer Durchsuchung? Nein, nein, es war keine Durchsuchung, es war nur psychologischer Druck. Es waren neun Leute in dem Raum, und er saß da, klein, so ein vertrockneter. Er war der erste, der hereinkam, Judin, und die anderen kamen nach ihm. Und in diesem Moment, als ich schaute, bekam ich Angst. Ich weiß nicht, warum, aber ich hatte Angst. Etwas so furchtbar Unangenehmes. Aber ich stand da, und sie standen vor mir. Und es war wahrscheinlich so etwas wie Hysterie, aber ich fühlte mich sehr komisch. Ich sah sie an und begann zu lachen. Und sie standen einfach so da ... Ivan Svitlyčnyj sagte, als er zuerst verhaftet und dann freigelassen wurde, dass er festgestellt habe, dass KGB-Offiziere meist fehlerhafte Menschen seien. Dass man sie idealisiert … Und ich stimme mit Ivan überein. Es gab keine Leute, die ohne Vorbehalt waren … Natürlich haben sie keine dummen Leute genommen. Aber sie sahen das System von der anderen Seite. Und sie hatten alle dieses Gefühl der Minderwertigkeit. Zumindest die, die ich getroffen habe.
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Ich weiß, dass es einen Hauptmann Rudenko aus Kyïv gab. Was hat er gespielt? Er sagte mir, dass sein Sohn lügt wie ich. Und er hat gespielt. Und es ist so eine Atmosphäre, dass wir sie immer noch spüren: Sowohl sie als auch ich spüren, dass es ein Spiel ist. Und so kommen sie am Morgen. Zwei von ihnen saßen so, dann ging einer weg, der andere kam rein, dann ging der dritte weg und kam rein. Und so machten sie es. Und womit sie spielten: Sie spürten, dass ich nicht aufgeben würde. Und sie beschlossen, mich damit zu unter Druck zu setzen. Und ich habe mich einen Tag lang mit diesem Gedanken beschäftigt: „Ich kann es mit euch aufnehmen, ihr Parasiten.“ Und dann habe ich mich bis zum Morgen wie ein Stein hingelegt. Und wieder. Auch wenn man das Gefühl hat, dass es ein Spiel ist, ist es doch ein deprimierendes Gefühl … Und eines davon war, dass er kam und mich immer „Jevhenij Vasyl’ovyč“ nannte, und spielte einen so Freundlichen. Ich hatte wirklich das Gefühl, dass er es mir ein bisschen leichter machen wollte, etwas abmildern wollte. Hauptmann Dovgopolov, ich glaube, Anatolij. Er war der Ehemann der Čornobryvceva. Oh, es war leicht für ihn, nett zu sein, greift die Gesellschaft auf und weist darauf hin, dass Ol’ha Čornobryvceva von Dezember 1964 bis Dezember 1973 Sekretärin des Oblast’komitees Žytomyr der Kommunistischen Partei der Ukraine für Fragen der Ideologie war, und von 1973 bis Mitte der 1980er Jahre stellvertretende Kulturministerin der Ukrainischen SSR. Oh ja. Sie war es, die mich einlud, der Partei beizutreten, aber ich lehnte ab: „Hören Sie, ich bin nicht bereit für die Partei.“ Nach einiger Zeit schmorte diese Čornobryvceva, sie handelte mit Bildern (kennen Sie diese Geschichte?), und sie wurde aus dem stellvertretenden Kulturministerium entfernt. Ich habe gehört, dass sich dieser Hauptmann Dolgopolov nach einiger Zeit erschossen hat. Das sind die Geschichten, die ich mit dem KGB habe. Ich bringe das nicht mit mir selbst in Verbindung, weil er zu dieser Zeit nach Kyïv gezogen war. Aber sie waren dort anders. Zum Beispiel kam irgendein Vorgesetzter herein. Kam, schnurrte etwas zur Begrüßung. Und einer von ihnen hatte ein Grübchen im Kopf, ich erinnere mich
„Ich kann es mit Euch aufnehmen, Ihr Parasiten“ 279 daran; er kam herein, stand da und ging wieder. Und da war noch einer, Šulh’a, ich erinnere mich. Er war ein Hauptmann, aus Ivano-Frankivs’k. Und der letzte KGB-Offizier, den ich hatte, … Ich fluchte überhaupt nicht, aber ihn habe ich beschimpft. Das war wahrscheinlich 1982. Da gab es noch keine Perestroika. Dieser kleine Mann kam, ein Hauptmann, und sprach über Gesundheit und dies und das. Und immer wieder machte er mir ein schlechtes Gewissen. Ich konnte es nicht mehr ertragen: „Sind Sie gekommen, um herauszufinden, wie es um meine Gesundheit steht? Meine Ärzte fragen mich nicht einmal mehr nach meiner Gesundheit.“ Dann sagte er: „Ich bin wegen dieses Falles hier. Sie haben vielleicht gehört, dass ein Lehrer des Landwirtschaftlichen Instituts, Muljava, verhaftet worden ist. Kennen Sie ihn?“ – „Nein, ich kenne ihn nicht.“ – „Dann erklären Sie mir, warum er Ihre Adresse und Ihren Namen in seinem Notizbuch stehen hat?“ – Und da explodierte ich: „Warum fragen Sie mich dann? Fragen Sie diesen Muljava, den ich nicht kenne! Hauen Sie ab, damit ich Sie nicht sehen muss.“ – Er: „Ach, wir meinten es gut, vielleicht könnten Sie uns helfen.“ Und er ging, und ich habe sie nie wieder gesehen. Vakhtang Kipiani, Jevhen Koncevyč. Žytomyr
Aleksandr Daniėl’
„Es ist wichtig, dass eine Person das Recht hat, etwas auf legale Weise zu verteidigen, und dass sie dafür nicht inhaftiert werden sollte“ Aleksandr Daniėl’ (geb. am 11. März 1951 in Moskau) ist Historiker der Dissidentenbewegung in der UdSSR, Forscher über die Dissidentenbewegung in der UdSSR in den 1950er bis 1980er Jahren, Mitglied von Redaktionen selbstverlegter Zeitschriften und seit 1989 Mitglied des Arbeitsausschusses der Organisation „Memorial“. Von 1990 bis 2009 leitete er das Forschungsprogramm des Forschungs- und Bildungszentrums „Memorial“ (NDPC) zum Thema „Geschichte des Dissidentenbewegung in der UdSSR 1950er–1980er Jahre“ und arbeitet an dem Projekt „Virtuelles Museum des Gulags“.1 Können Sie uns kurz die wichtigsten Fakten Ihrer Biografie erzählen? Ich glaube, Sie wurden 1952 geboren? 1951. Wenn Sie können, sagen Sie uns, wo Sie studiert haben, wo Sie gearbeitet haben, wenn man das zu Sowjetzeiten Arbeit nennen kann? Ich werde es Ihnen jetzt sagen. Ich wurde 1951 in Moskau geboren, habe die Schule in Moskau abgeschlossen und bin dann nach 1
Am 28. Dezember 2021 verfügte das Oberste Gericht der Russischen Föderation die Auflösung aller Memorial-Organisationen in Russland, der Hauptsitz in Moskau wurde am 7. Oktober 2022 kurz nach Verkündigung der Nachricht, dass „Memorial“ den Friedensnobelpreis erhalten werde, enteignet. Die Memorial-Büros außerhalb Russlands sind weiter tätig. Die Webseite http:// www.gulagmuseum.org ging am 26. Mai 2006 online, die Inhalte sind inzwischen offenbar zerstreut, aber teilweise weiter zugänglich. – Daniėl’ hat genauso wie Ovsijenko ein Wörterbuch der Dissidenten erstellt, vgl. die Bibliografie am Ende des Bandes.
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einigen Schwierigkeiten 1970 an die Universität gegangen, habe zunächst einen Abschluss an einer technischen Schule gemacht und dann zwei Jahre lang studiert, von 1970 bis 1972. Was war Ihr Fachgebiet? Mathematiker und Programmierer. Und dann habe ich es geschafft, in das Institut zu kommen. Es gab einige Schwierigkeiten. Welches Institut? In ein pädagogisches Institut, Abendfakultät. Schwierigkeiten wegen der Nationalität? Nein, mit meinen Eltern. Mit dem Richter. Wollten Sie nicht auf eine Tagesschule gehen? Ich wollte schon, aber ich konnte nicht. Trotzdem kam ich 1973 auf die Abendschule und machte dort meinen Abschluss. Ich habe hauptsächlich als Computerprogrammierer und Lehrer gearbeitet. Mein Leben besteht aus diesen Abschnitten. Am Anfang, als ich
„Eine Person hat das Recht sich zu verteidigen” 283 noch keine Ausbildung hatte, habe ich eine Zeit lang in einer Fabrik gearbeitet, und dann, nach meinem Abschluss, habe ich hauptsächlich in diesen beiden Spezialisierungen gearbeitet. Wurden Sie jemals von den Behörden festgehalten, abgesehen von präventiven Gesprächen? Sie meinen, ob sie mich ins Gefängnis gesteckt haben? Ja. Nein, ich wurde nie inhaftiert. Und es wurde nie gegen Sie ermittelt? Nein. Und Ihre Werke, Veröffentlichungen? Veröffentlichungen … Sehen Sie, wenn wir von Anfang an beginnen, sind sie alle in anonymen Ausgaben der „Chronik“. Ich habe für die „Chronik“ gearbeitet, seit sie erneut erschien. Sie sind der Leiter des Programms Geschichte der Dissidentenbewegung im Zentrum „Memorial“. War es ein seelischer Impuls oder irgendein Bedürfnis, zu dieser Organisation zu kommen? Zu Memorial? Ja, zu Memorial. Wissen Sie, „Memorial“ wurde 1987 von einer Gruppe junger Leute gegründet, die damals im Kielwasser ihrer Klubs waren. Es gab den Klub „Perestroika“, dann den Klub „Demokratische Perestroika“, dann gab es eine Geschichtssektion, und aus der Geschichtssektion entstand dann die „Memorial“-Gruppe. Das geschah im Frühherbst 1987, und im November 1987 organisierten sie verschiedene Straßenaktionen, die „Memorial“ bekannt
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machten, und das Archiv, die Bibliothek und die MemorialKomplexe wurden eröffnet. Ich kam später, 1988. Glauben Sie, dass sich die Einstellung zum Thema Gedächtnis, zum Thema Vergangenheit, heute in irgendeiner Weise ändert? Ich erinnere mich an eine fast scherzhafte, aber ätzende Nachricht darüber, dass man Geld für zwei Denkmäler sammelte: für Stalin und die Opfer des Heiligen Soloveckij-Steins, und es stellte sich heraus, dass sie fast jeweils gleich viel Geld gesammelt hatten. Es ändert sich, so meine ich. In den späten achtziger Jahren gab es einen historischen Boom, als der Wert der modernen russischen Geschichte in den Mittelpunkt der öffentlichen Meinung rückte. Dieser Aufschwung des Interesses an der Geschichte war in gewisser Weise ein Ausdruck des Interesses an der Politik. Jetzt ist es einerseits viel schwieriger zu leben, weil man nicht mehr das Gefühl hat, dass jeder die Politik unterstützt oder zumindest daran interessiert ist. Andererseits kann man in Ruhe arbeiten und wirklich gute Bücher schreiben, gute Forschung betreiben, unaufgeregte Bildungsarbeit leisten usw. Einerseits ohne massive öffentliche Unterstützung, andererseits aber auch ohne die unvermeidlichen Opfer, die damit verbunden sind. Hatten Sie nicht das Gefühl, verzweifelt zu sein, weil sich die Menschen von Ihnen abwenden? Nein, wissen Sie, das ist ein rein russisches Phänomen, und es ist auch ein kurzanhaltendes Phänomen. Plötzlich hat sich die ganze Nation, haben sich alle 270 Millionen Menschen wie wild mit historischen Fragen beschäftigt. Es ist sehr seltsam, aber es ist passiert, aber es kann nicht ewig dauern, oder? Auf jeden Fall scheint mir …, dass die moderne nationale Geschichte, insbesondere die Probleme der repressiven Politik, eine passive Seite unserer Geschichte ist. Sie ist zu einer Wahrheit im öffentlichen Bewusstsein geworden. Diese Tatsache erregt nicht mehr die Gemüter, sondern ist ein Teil davon geworden. Natürlich gibt es jetzt viele verschiedene Historiker, die schreien werden: „Es gab keine Repressionen, das ist alles eine
„Eine Person hat das Recht sich zu verteidigen” 285 Lüge. Wen auch immer Stalin inhaftiert hat, er hat richtig gehandelt, und das sollten wir jetzt auch tun.“ Aber im Westen gibt es Leute, die schreien, dass Auschwitz nie stattgefunden hat, die aus heimtückischen politischen Gründen so verrückt sind. Natürlich ist es hier ein bisschen anders, wir haben einen Doktor phil. auf einer Konferenz, der sagt, dass es keine sowjetischen Repressionen gab, dass die Gerüchte über sowjetische Repressionen stark übertrieben sind. Das heißt, für ein Minütchen sagt er das dem ganzen Land. Im Westen hingegen schreit man in marginalen Kreisen, dass es Auschwitz nicht gegeben habe, aber bei uns … Bei uns gibt sogar mehr als andere, die sagen, dass alles passiert ist. Aber sie wurden mit Informationen „überfüttert“, man hätte sie dosieren sollen. Nein, es ist nicht nötig, irgendetwas zu dosieren. Was passiert ist, ist passiert. Es gibt keinen Grund, zu dosieren. Und dass es keine Aufregung gibt, ist wahrscheinlich ein normales Phänomen, und ich hoffe, dass auch der Doktor phil. allmählich an den Rand gedrängt wird. … Die Themen des Widerstands lassen uns die Geschichte auf eine ganz andere Weise betrachten. Sehen Sie, das ist es, was Sie „überfüttert“ nennen … Natürlich, „überfüttert“. In gewissem Sinne „überfüttert“, denn dieser ganze historische Aufschwung hatte eine schreckliche Eigenschaft: Der sowjetische Mythos wurde fast durch einen anderen Mythos ersetzt, einen sehr schlechten. Der Mythos einer Herde, die von blutigen Henkern geschlachtet wird, und die Herde muht und gibt sich dem Messer hin. Das war Gott sei Dank nicht der Fall, und wenn man sich die sowjetische Geschichte anschaut, dann, verzeihen Sie den hohen Stil, denke ich, dass ein großer Teil dieser sowjetischen Geschichte in die Schatzkammer der spirituellen Erfahrung der Menschen eingehen wird; es gab spirituelle Höhenflüge in diesem Widerstand, von denen andere jahrhundertelang nicht geträumt hatten. Wir haben gerade von einigen Ukrainern gesprochen, die wir kennen: Sie haben ein so fantastisches Schicksal, solche Menschen! Ich weiß nicht, mit wem und mit was ich sie vergleichen soll.
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Wenn ich darf, ein Punkt. Ich habe Texte, die Gennadij [Kuznecov] geliefert hat, und darin gibt es einen sehr interessanten Aspekt: Die Führer, die in der Ukraine inhaftiert waren, sind alle Sozialdemokraten oder Nationalisten, und das lässt sich meiner Meinung nach durch unterschiedliche Grade des politischen und menschlichen Temperaments erklären. Ja, übrigens, das wollte ich Sie auch fragen. Ist er Journalist? Er ist Journalist bei „Radio Liberty“. Er lebt in der Diaspora in den Vereinigten Staaten. Er wanderte aus nach Deutschland und dann nach Amerika. Ich habe ihn in München und dann in Kyïv gesehen. Er ging zunächst nach Amerika, und von dort kehrte er nach Kyïv zurück. Er war der Ideologe von Kučmas Wahlkampagne, arbeitete für „Radio Liberty“, und tut es immer noch, und arbeitete in der Präsidialverwaltung, aber er war unter den ersten, die gingen. Warum? Er schrieb ganz vorsichtig: „wegen des zu pro-ukrainischen Präsidenten Kučma“. Ja, verstehe: Volodja Malynkovyč ist ein reiner Demokrat. Ja, ein raffinierter. Wie wir sagen, ein anti-ukrainischer Demokrat, oder ein allgemeiner Demokrat. Und er, der ewige Oppositionelle, ist weg. Kučma verurteilt ihn nicht gerade dafür, dass er sich während des Wahlkampfes viel erlaubt hat. Im Allgemeinen veröffentlichte Malynkovyč analytische Artikel über den Weg der Ukraine: wohin soll es gehen, in welche Richtung. Und es gab Artikel, in denen Horbal und Čornovil ihn ziemlich scharf kritisierten. Immerhin ist er das einzige der 41 Mitglieder der Helsinki Union, das nicht inhaftiert wurde. Niemand wirft ihm das vor, aber er hätte diejenigen verstehen müssen, die für den ukrainischen Weg, nicht für den allgemeinen demokratischen Weg, gesessen und mit ihrem Leben gelitten haben. Deshalb ist er wie ein abgesägter Ast dieses ukrainischen Baumes. Und auch Berdnyk ist merkwürdig. Volodymyr Malynkovyč (28. August 1940, Sumy) ist ein ukrainischer Politiker, Berater von Präsident Leonid Kučma (1994-1995) und später Mitglied der Partei der Regionen. Zu Sowjetzeiten war er Mitglied der ukrainischen Helsinki-Gruppe. Im Jahr 1980 emigrierte er aufgrund politischer Verfolgung
„Eine Person hat das Recht sich zu verteidigen” 287 nach Deutschland und arbeitete in München als Redakteur des russischen Dienstes von „Radio Liberty“. Im Jahr 1992 kehrte er in die Ukraine zurück, wo er 15 Jahre lang politisch aktiv war. Seit 2008 lebt er wieder in München.
Nun, Berdnvk war schon immer merkwürdig. Er trifft sich alle zwei Tage mit Christus und schreibt darüber in den Zeitungen. Das ist verständlich. Ich erinnere mich an seine selbstveröffentlichten Texte. Sehen Sie, die Sache ist die: Wenn wir die ukrainische und die russische Situation vergleichen, ergeben sich in der Tat einige allgemeine Überlegungen. Die ukrainischen Dissidenten sind in Scharen in die Politik gegangen, im Rahmen ihrer Kräfte und Fähigkeiten, aber meist als Vertreter eines Teils der politischen Elite des Landes. Nichts dergleichen geschah bei den russischen Dissidenten. … Dennoch war die ukrainische Nationalbewegung, die nationale und kulturelle Bewegung, eine bestimmte soziale Bewegung mit einem bestimmten Ziel; die Menschenrechte, die Idee der Menschenrechte, war wichtig für diese Bewegung. Und das Instrumentarium … Die Menschenrechte sind sehr gut, die Menschenrechte helfen uns, für das Recht des Volkes auf Kultur zu kämpfen, für die Möglichkeit, die Sprache zu bewahren, und letztlich für eine unabhängige Ukraine. Hier gibt es keine Lüge, es ist so, wie es ist. Was die ähnliche Situation in Litauen angeht, die ähnliche Situation in Russland mit einer bestimmten Strömung – mit dem Nationalismus … Viele russische nationalistische Dissidenten wurden politisch aktiv. Malevič, Dobrovolskij und viele andere können genannt werden. Auch viele Dissidenten mit linkssozialistischer Ausrichtung wurden aktiv. Zum Beispiel Boris Kagarlickij, Kudjukin und viele andere. Auch das war die Kompetenz der Dissidentenbewegung, die, wie alle anderen Komponenten, bezeugte, wofür sie kämpfte. Und sie taten es ganz aufrichtig, denn ihre Werte waren nicht die Menschenrechte, sondern ihre eigenen Werte. Was die Menschenrechtsbewegung angeht, so würde ich sagen, dass der Wert dieser Bewegung in den Menschenrechten
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lag. Eines jeden Mensch und eines jeden Recht: das Recht der Ukrainer, das Recht der Nation auf Selbstbestimmung zu verteidigen, oder das Recht der Kommunisten, auf den leninistischen Weg zurückzukehren, oder das Recht der Monarchisten, die Romanov-Dynastie zurückzubringen. Im Großen und Ganzen war es den Menschenrechtsaktivisten egal. Wichtig ist, dass eine Person das Recht hat, etwas auf legale Weise zu verteidigen, und dass man sie dafür nicht inhaftierten kann. Genau darum ging es bei der Menschenrechtsbewegung. Ein Schriftsteller kann schreiben, was er will, und niemand wird ihn dafür ins Gefängnis stecken, und ein Baptist kann beten, wie er es für richtig hält, und sogar seine Kinder in diesem Sinne erziehen – niemand kann ihn dafür ins Gefängnis stecken. Genau deshalb glaube ich, dass die russischen Dissidenten, insbesondere die Menschenrechtsaktivisten, in der Regierung keine Wurzeln geschlagen haben; sie hatten von Anfang an keine anderen Werte als die Menschenrechte. Sergej Adamovič Kovalёv hat eine so hohe Position erreicht, und in der Ukraine war Volodja Malynkovyč die einzige Person, die in dem System wirklich existiert hat. Nun, das würde ich so nicht sagen. Er kam und ging. Er kam unter einer Idee, die ihn befriedigte, der Idee einer russischsprachigen Ukraine. Ukraine, aber eine russischsprachige Ukraine. Allerdings fand er mit dieser Idee nicht viele Verbündete, und selbst Kučma, als er sich als ein russischsprachiges Monster entpuppte, erwies sich als das, was er war. Er war für eine russischsprachige Ukraine? Ja. Nun, ich bin weiß Gott kein Experte. Luk’janenko, der zwei Jahre lang in Kanada lebte, und Vjačeslav Čornovil, der Leiter des L’viver Oblast’rats, gehörten ebenfalls zu dieser Struktur. Das ist verständlich. In der demokratischen Welle in Russland gab es eine ganze Reihe von Leuten, die in verschiedene Positionen in der Regierung kamen. Wo sind sie jetzt?
„Eine Person hat das Recht sich zu verteidigen” 289 Was die russischen Politgefangenen betrifft, so ist die Spaltung nicht ganz klar, vielleicht sogar eine persönliche Grundlage für Meinungsverschiedenheiten und öffentliche Skandale. Mir scheint, dass alles sehr einfach ist. Es gibt einige Tiefseefische, die irgendwo auf dem Grund unter dem Druck der Atmosphäre leben und vollkommen gesund sind, und wenn sie an den normalen Druck, die normale Atmosphäre, herangeführt werden, werden sie in Stücke gerissen, und diese Stücke fliegen in verschiedene Richtungen, weil der innere Druck sehr hoch ist. Wir haben also unter schrecklichem Druck gelebt. Man kann sich nur vorstellen, unter welchem Druck wir damals lebten. Unter dem Druck dieses totalitären Systems, auch wenn es schwach war, auch wenn es alt war, auch wenn es auseinanderfiel. Und es gab kein Entrinnen: Dieser Druck war zu spüren. Hier, unter Druck, werden viele verschiedene Menschen zusammen sein, weil der äußere Druck so stark ist, dass er sie zusammenzieht. Jetzt ist es aus dem Tritt gekommen, das Regime bei uns mag abscheulich sein, aber es ist zumindest nicht mehr das, was es einmal war. Und es ist klar, dass völlig unterschiedliche Menschen, die wegen dieses äußeren Drucks an einem Ort zusammengebracht wurden, dass also diese Menschen in verschiedene Richtungen fliegen. Aber was wollen Sie? Damals war diese Sache, der Druck, da, und die Menschenrechte waren ein gemeinsames Interesse. Vladimir Nikolaevič Osipov brauchte die Menschenrechte nicht weniger als, entschuldigen Sie, Sergej Adamovič Kovalёv. Und er wandte diese Menschenrechtsmethoden an, als er zum zweiten Mal für zehn Jahre inhaftiert wurde, genau wie Sergej Adamovič. Die Tatsache, dass er gleichzeitig über Mütterchen Russland und die Orthodoxie nachdachte, ist ein weiteres Thema, das niemanden wirklich interessiert hat. Menschen werden inhaftiert, weil sie etwas denken und sagen. Das war die Hauptsache für Menschenrechtsaktivisten. Leonid Ivanovič Borodin, der zusammen mit meinem Vater inhaftiert war, hier ist eine kleine Zone, Mordwinien, Kontrollpunkt 18. Wer sitzt dort? Mein Vater, Aleksandr Il’ič Ginzburg, Jurij Timofeevič Galanskov, Mart Niklus, ein estnischer Nationalist, obwohl ich, um ehrlich zu sein, nicht weiß, welche politischen Ansichten Mart jetzt
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hat. Balys Gajauskas, ein litauischer Nationalist, Leonid Borodin, Mitglied eines Zuges der inneren Sicherheit einer Organisation namens VSChSON2, ein russischer Nationalist, Boris Zdorovec, ich weiß seinen Vatersnamen nicht mehr, ein Baptist. Ich zähle nur diese Namen auf. Nun, Vjačeslav Platonov vom „VSChSON“. Und selbst als Knuts Skujenieks bei einer Tasse Čifir-Starktee über ein unabhängiges Lettland zu reden begann, und Borodin über das baltische Russland, und dann begann Ronkin über Internationalismus zu reden … Es ist nichts passiert, wir haben es irgendwie überstanden, wir haben zusammen gehungert, zusammen gekämpft, waren eng befreundet, und mein Vater hat bis zu seinen letzten Tagen sehr gern von Lёnja Borodin, dem heutigen Chefredakteur der Zeitschrift „Moskva“, gesprochen, damit die Leute verstehen, dass er ein Sprachrohr des kühlen russischen Nationalismus war. Der ein Marxist war und ein Egoist. Es waren schwierige Zeiten, aber irgendwie auch wunderbare. Was lesen Sie? Welche literarischen Vorlieben haben Sie jetzt? Das werde ich Ihnen nicht sagen, denn wenn ich sage, dass ich Krimis lese, werden Sie mich verachten. Um ehrlich zu sein, lese ich gar nichts, ich stecke gerade in der Arbeit fest, ich habe wirklich keine Zeit zum Lesen. Ich lese Zeitschriften und Periodika. Haben Sie das literarische Vermächtnis von Ihrem Vater geerbt? Wissen Sie, im Moment besteht meine Hauptarbeit darin, dass ich die Briefe meines Vaters aus dem Lager aufarbeite, vier Jahre, riesige Briefe. Insgesamt wird das Buch, zusammen mit den Kommentaren, etwa 45 Bögen umfassen sein.3 Wenn jemand zweimal im Monat schreiben darf, schreibt er oder sie zweimal im Monat. Es ist wie eine Art Tagebuch. Außerdem 2 3
Allrussische Sozial-Christliche Union für die Befreiung des Volkes, 1964– 1967 existierend. V. K. Julij Daniėl’ war Schriftsteller. Einiges wurde ins Deutsche übersetzt, unter anderem von Wolf Biermann. Erschienen ist im Jahr 2000: Julij Daniėl’, „Ja vse sbivajus’ na literaturu ...“: pis’ma iz zaključenija, stichi. Sost., avtor vstupit. stat’i i kommentarija A. Ju. Daniėl’. Memorial, Moskva 2000. 895, [32] S.
„Eine Person hat das Recht sich zu verteidigen” 291 darf eine Person nicht an jeden Korrespondenten schreiben, also schreibt sie an alle. In einem Brief schreibt sie jedem zurück, der ihr schreibt, und sie hat viele, viele Dutzende von Briefpartnern. Viele Leute haben ihr geschrieben, so dass sie eine Art Tagebuch führt. Das heißt, es handelt sich nicht um eine Gattung von persönlichen Briefen, sondern um einen völlig öffentlichen Text. In gewisser Weise ist dies ein sehr interessanter Ausschnitt der sechziger Jahre Mein Vater war keineswegs durch politisch harte Ansichten über die zeitgenössische Gesellschaft geprägt. Wahrscheinlich hat er nicht ein bisschen so gedacht. Er war kein politischer Aktivist, und er schrieb nicht direkt über verschiedene heikle Themen, die in seinen Briefen auftauchten, sondern griff auf die Sprache von Äsop zurück, damit die das SlZO, die Strafanstalt, den Brief durchließ. Könnten Sie mir bitte sagen, ob es ethisch vertretbar ist, heute die Briefe zu lesen und die Beziehungen zwischen Menschen zu verstehen? Sie sagen, dass Menschen mit völlig unterschiedlichen politischen Überzeugungen miteinander auskamen, und sie kamen mit Ukrainern aus. Obwohl ich weiß, dass sich in Mordwinien zwei Gruppen stritten, auf der einen Seite Hel’ und auf der anderen Šumuk; das ging bis in die Diaspora und dann in die jüdische Welt, weil Kuznecov dort war. Wie ethisch ist es heutzutage, in egal welcher Publikation, in egal welchem Memoirenband eine aktuelle Bewertung abzugeben? Vielleicht ist es unethisch. Vielleicht ist es sinnvoll, es zu niederschreiben und zu lassen. Aber glücklicherweise habe ich keine Probleme mit den Briefen meines Vaters, weil es in seinen Briefen keine komplizierten Beziehungen gibt. Nicht, weil mein Vater nicht über diese Schwierigkeiten schreiben wollte, sondern weil er sich für andere Dinge interessierte. Ich kann das verstehen. In der Tat habe ich auch darüber nachgedacht, ob es ethisch vertretbar oder unethisch ist, Texte zu schreiben und zu veröffentlichen, die von Menschen handeln, die noch am Leben sind.
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Ich bin sehr daran interessiert, solche Dinge zu lesen. Kürzlich habe ich gelesen, wie Hel’ sehr detailliert und sehr offen beschreibt, was in Mordwinien passiert ist. Ich erinnere mich, dass der „Marathon in Mordwinien“4 dies widerspiegelt [ … ] Er war beleidigt, weil sie wahrscheinlich das Buch von Kuznecov und Šumuk benutzt haben. Und dort wird ziemlich einseitig dargestellt, dass er Romanjuk geschlagen hat und ein Antisemit war usw. Geht es hier um Hel’? Er wird dort nicht namentlich erwähnt. Ja, es geht um Hel’. Und es hat ihn furchtbar verletzt, und es schmerzt ihn noch 20 Jahre später. Also sprach ich mit Hel’, und er schrieb uns dieses achtseitige Fax. Er ist ein leidenschaftlicher Mensch, ein Mensch mit klaren Vorlieben und Abneigungen. Ich verstehe ihn: Um ehrlich zu sein, wenn ich einen Text mit dem Titel „Marathon in Mordwinien“ in die Hände bekäme und es mir, nicht dem Autor, überlassen wäre, ihn zu veröffentlichen oder nicht, wenn ich den die Einwilligung des Autors hätte, würde ich darüber nachdenken, wirklich darüber nachdenken, denn ich sehe, dass es da harte Beurteilungen von Menschen gibt. Und das ist ein Problem. Ich weiß nicht, wie man es auflösen kann, um ehrlich zu sein, denn die Menschen sind lebendig. Zum Glück. Sie sind also in den Briefen Ihres Vaters fast nie auf solche Dinge gestoßen? Nein, fast nie. Es gibt ein paar Leute, über die er unfreundlich spricht, aber das betrifft gerade nicht … Die Verwaltung? Nein, er konnte nicht über die Verwaltung schreiben. Sie existiert für ihn nicht. Es gibt ein Thema des Verrats, und das hat mich in seinen Briefen ein wenig gestört. Aber es ist so, dass zwei der drei Personen nicht mehr am Leben sind, und das befreit mich von Problemen. 4
Eduard Kuznecov, Marathon in Mordwinien. Lagerskizzen Übersetzt von M. G. von Ballestrem und Bernd Nielsen Stokkeby. Frankfurt am Main-Berlin-Wien, 1983.
„Eine Person hat das Recht sich zu verteidigen” 293 Können Sie sie benennen? Die Beziehung zu diesen drei besserte sich schließlich, und die Briefe spiegeln das wider. Sie sehen aber, wenn jemand bereit ist, eine öffentliche und offene Einschätzung abzugeben, denn diese Briefe waren ein öffentlicher Text, sie wurden von Hunderten von Menschen gelesen, von ihren Adressaten und nicht nur von ihnen, dann ändert die Veröffentlichung nichts. Ich spreche nicht über diese drei, sondern über die vierte Person. Es gab einen Mann, der als geheimer MGB-Offizier enttarnt wurde und zwei Freunde für zehn Jahre ins Gefängnis brachte. Aber Vater schrieb ihm und machte keinen Hehl daraus, was er von ihm und seinen Lauschangriffen hielt. Mir scheint, dass es in diesem Fall keine Notwendigkeit gibt, diese lebende Person zu verschleiern und mit Initialen zu kennzeichnen. Der Verfasser des Briefes hat mehrfach eine öffentliche Einschätzung abgegeben. Warum muss diese öffentliche Einschätzung jetzt geändert werden? Das ist mehr oder weniger klar. Die Erzählung, in der Ihre Jugend erwähnt wird, heißt „Sühne“? Diese Erzählung ist übrigens weitgehend über diese Geschichte geschrieben. Sie ist keine Kopie dieser Geschichte, denn im Gegensatz zum Helden von „Sühne“ war der Mann nicht koscher. Dieser Mann war wirklich ein Verräter, er hat wirklich zwei Freunde getötet. Einmal habe ich meinen Vater einfach gefragt, wie sich die Geschichte mit diesem Mann in dem Buch widerspiegelt. Und er antwortete: „Weißt du, ich wusste, dass er so war, ich wusste es. Als ich also die Erzählung schrieb, stellte ich mir vor: Was wäre, wenn er unschuldig wäre?“ Wie früh haben Sie erkannt, dass Ihre Familie gegen das System angeht? Was das „gegen das System“ angeht: Mein Vater zum Beispiel hat nie in diesen Kategorien gedacht, er war ein Schriftsteller. Ein guter oder schlechter Schriftsteller, aber ein Schriftsteller, für den es wichtig war, frei zu sein. Die Tatsache, dass er dafür im Lager einsaß, ist … Er hat das System nicht bekämpft.
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Welche Schriftsteller schätzte er in seiner Generation? Was die Prosaschriftsteller betrifft, so schätzte er immer seinen engsten Freund Andrej Sinjavskij sehr. Und unter den Dichtern vielleicht Lida Samojlova. Er lebte in der Literatur. Ich könnte die Liste der Zeitgenossen, die mein Vater schätzte, ewig fortsetzen. Unter den Ukrainern schätzte er zum Beispiel Drač. In jenen Jahren war es nicht schlecht; Korotyč, Symonenko, Lina Kostenko und Stus hatten gute Gedichte. Sind Sie Stus begegnet? Nein, ich habe ihn nie getroffen. Mein Vater kannte ihn aus seiner Zeit vor der Verhaftung. Haben Sie einige von Stus’ Übersetzungen? Wahrscheinlich habe ich welche. In Ihrem Hausarchiv? Sie haben sie nicht gedruckt, oder? Nein, ich weiß es nicht. Das ist der frühe Stus, nicht der Stus, den wir kannten. Obwohl es meiner Meinung nach immer noch gute Gedichte sind. Das gesamte Werk von Stus wird jetzt veröffentlicht, 10 Bände. Und dies ist das Buch von Stus. Wir haben es nicht mitgebracht, die Moskauer haben es weggenommen. Seien Sie sicher, dass wir es haben, sie sind erhalten geblieben. Sie sind im Archiv meiner Stiefmutter, der zweiten Frau meines Vaters. Wie alt waren Sie, als … Als er inhaftiert wurde? Ich war 15.
„Eine Person hat das Recht sich zu verteidigen” 295 Wie haben Sie das aufgenommen? Sehen Sie, das war so. Ich wusste, dass mein Vater schrieb, dass er im Ausland veröffentlicht wurde. Er hat es mir kurz vor seiner Verhaftung erzählt, also war diese Geschichte keine völlige Überraschung für mich. Ich habe trotzdem verstanden, dass mein Vater inhaftiert werden könnte. Entschuldigen Sie, wie ist das passiert? Er gab mir diese Bücher zu lesen, ich murmelte etwas Positives, das heißt, als ich etwas Anerkennendes murmelte, da offenbarte er sich. Hatten Sie ein Vertrauensverhältnis? Ja. Hat die strafende Hand des sowjetischen Pioniersystems Sie nicht im Komsomol usw. eingeholt? Ich war nicht im Komsomol. Ich habe die Pionierbewegung wegen meines Alters verlassen, aber ich bin nicht in den Komsomol eingetreten. Das jugendliche Umfeld in der Schule hat Sie verurteilt als Sohn … Ganz im Gegenteil. Ich kann sogar sagen, dass ich auf absolut jedem Schritt Unterstützung gespürt habe – von Gleichaltrigen und von Erwachsenen. Diese Unterstützung dauerte sehr lange an. Obwohl sie natürlich nicht an mich gerichtet war, denn ich bin der Sohn meiner Eltern. Haben Sie das Gefühl, dass Sie jetzt der Sohn Ihrer Eltern sind? Das habe ich schon immer so empfunden. Gefällt das Ihnen? Ja.
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Können Sie sich an Ihre Besuche hier [in Perm’ – Anm. d. Red.] in den 1980er Jahren, Anfang der 1980er Jahre, erinnern? Sie haben das erwähnt. Wissen Sie, ich war einmal dort. Ich werde Ihnen sagen, wann es passiert ist. Es war wahrscheinlich im Winter 1982–1983. Ich war sogar zweimal dort. Einmal habe ich meine Mutter und meinen Bruder begleitet bei einem Besuch, aber ich durfte nicht mit. Und einmal durfte ich zu einem Treffen gehen. Es war ein allgemeiner Besuch. Ich wurde zwar nicht in die Gefängnisakte aufgenommen, das ist die Personalakte des Gefangenen, aber ich durfte gehen, ich weiß nicht einmal, warum. Deshalb weiß ich ungefähr, wann es war: es war im Winter 1982–1983. Und einmal ging meine Mutter mit Paša zu einem persönlichen Besuch, und ich durfte nicht mitkommen. Ich bin also zweimal hier gewesen. Ich weiß nicht mehr, was davor oder danach passiert ist. Woran erinnern Sie sich? Ich bin nicht zu meinem Vater gegangen, sondern zu meinem Stiefvater. Das war 1982–1983, das ist noch gar nicht so lange her. Wenn ich nach Mordwinien fuhr, um meinen Vater zu besuchen, wusste ich, wo ich hingehen würde, und im Lager Perm’ war es nicht anders. Es ist viel intimer als ein Gefängnis. Mordwinien ist ganz anders, es ist der Baraševo-Zweig – BaraševLag – es geht nur um Lager, Stacheldraht an jeder Ecke: Zonen, Zonen, Zonen. Hier ist das nicht so, hier sind diese drei Perm’er Zonen, und drum herum gibt es ein normales Leben. In gewisser Weise hatte ich also einen glücklicheren Eindruck von dieser Fahrt als von meinen Fahrten nach Mordwinien in den späten Sechzigern. Warum durften Sie überhaupt reisen? Ich kann Ihnen sagen, warum ich durfte. Damals hat der KGB großen Druck auf mich ausgeübt, dass ich gehe, und ich habe mich herausgeredet. Ich wollte nirgendwo hingehen, ich sagte: Nein, ich gehe nicht, wie kann ich gehen – mein Stiefvater sitzt hier, wie kann ich ihn verlassen? Es hat lange gedauert, Ausreden zu finden,
„Eine Person hat das Recht sich zu verteidigen” 297 sie wollten mich nicht wirklich ins Gefängnis stecken, aber sie sagten: Du sollst dort oder dort hingehen. Was haben sie vorgeschlagen? Welche Länder? Entweder in den Westen oder nach Peru; zwei Möglichkeiten – zwei Länder. Da wurde mir klar, dass sie mich nicht einsperren wollten. Sie wollten mir nur Angst einjagen. Sie hatten bereits erkannt, dass ich nirgendwo hingehen würde, aber sie verstanden es nicht wirklich, also gewährten sie mir einen Besuch, um zu hören, was ich bei diesem Zusammentreffen mit Tolja besprechen würde. Sie waren daran interessiert zu hören, was ich sagen würde, was Tolja sagen würde, weil es ihnen wichtig war, denn schließlich wollten sie mich vielleicht nicht persönlich für meine Sünden aus dem Land werfen, sondern hofften, dass die ganze Familie mir folgen würde. Tolja könnte man dann aus dem Lager entlassen. Sie waren also daran interessiert, zu verstehen. Warum wollten Sie nicht gehen? Ich hatte Angst vor der Auswanderung. Schließlich ist es heutzutage ja leicht, mutig zu sein. Warum hat man Sie damals verknackt? Sie waren in den Samizdat involviert. Es gab viel Lärm: Daniėl’, der Sohn von Daniėl’, der Sohn von Bohoraz. Gut, aber jetzt ist eine neue Generation von Dissidenten aufgetaucht. Ich glaube, das ist der Grund, warum man nicht einsperren wollte: viel Lärm, aber wenig Nutzen. Viele Ukrainer haben Ihr Haus besucht. Wen möchten Sie besonders erwähnen? Diejenigen, denen Sie geholfen haben? Diejenigen, denen Sie geschrieben haben? Verstehen Sie, meine Bekanntschaft mit Ukrainern begann in Mordwinien. Mein Vater war vor der Verhaftung mit Svitlyčnyj … also Ivan Oleksijovyč bzw. Nadija, immerhin mit Stus befreundet
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… Ich habe sie in Kyïv besucht. Nina Antonivna Strokata besuchte uns recht oft. Ihren Mann sah ich einmal nach seiner Entlassung, und mit Nina Antonivna habe ich viel gesprochen. Haben Sie ihre Wünsche verstanden? Haben Sie verstanden, was sie wollten, die Wünsche des Kreises der Menschenrechtsverteidiger? Wir haben ausführlich über Rechte gesprochen, über das Recht darauf, das Recht zu haben … Das ist eine schwierige Frage. Wissen Sie, Ivan Oleksijovyč und ich haben viel über Unterschiede gesprochen, über Wissenschaft, über Kultur, über die ukrainische Sprache. Die Muttersprache meiner Mutter ist Ukrainisch. Richtig, ich bin auf Interviews gestoßen, ja. Es wurde viel Interessantes über den ukrainischen Widerstand, über die UPA erzählt. Ich habe viel darüber gelernt, ich habe viel über all die Sachen mit Mel’nyk und Bandera gelernt. Ich weiß nicht einmal mehr, ob wir mit ihm über eine unabhängige Ukraine oder die Besetzung der Ukraine durch Moskau gesprochen haben. Svitlyčnyj war nicht so. Ich glaube, er konnte nicht einmal über die Besatzung sprechen. Ja, es scheint, dass er wirklich mehr mit den Problemen der Kultur und der Sprache beschäftigt war als mit den Problemen einer politischen Lösung dieser Frage. Ich glaube schon, aber vielleicht irre ich mich. Und ich kann nicht sagen, was Ivan Oleksijovyč jetzt sagen würde, welche Position er nun einnehmen würde … Was denken Sie über Nationalismus als nationales Gefühl? War das, was ich bei Ivan Oleksijovyč gesehen habe, Nationalismus? Wenn es Nationalismus war, dann gefällt mir diese Art von Nationalismus sehr gut. Ich werde einfach einen Auszug aus den Briefen zitieren, über die ich gesprochen habe: „Von Zeit zu Zeit werde ich in ein Gespräch hineingezogen und mir wird die gleiche
„Eine Person hat das Recht sich zu verteidigen” 299 Frage gestellt: ‚Was haben Sie mit diesen Nationalisten gemeinsam?‘ Eigentlich weiß ich, was ich antworten muss: ‚Internationalismus‘, aber ich habe Angst, dass sie es nicht verstehen werden.“ Es hat wahrscheinlich nichts mehr mit Nationalismus zu tun, nennen Sie es, wie Sie wollen. Die Bedeutung des Wortes ist dieselbe. Die Art von Nationalismus, mit der ich einen gemeinsamen Internationalismus haben würde, die Art von Nationalismus, mit der ich sympathisiere. Aber die Art von Nationalismus, mit der ich nichts gemein habe … Das ist das Problem mit Vladimir Nikolaevič Osipov, einem Nationalisten. Bei ihm gibt es das nicht, obwohl er in seinen Artikeln manchmal schreibt, dass er alle Nationen respektiert. Ich erinnere mich, dass er für die Ukrainer in den Hungerstreik getreten ist. Er hat auch für die Ukrainer gehungert, es ist alles Mögliche passiert. Ich habe einfach nicht das Gefühl, dass diese Absichten aufrichtig sind. Und Ivan Oleksijovyč hätte nicht sagen müssen, dass er die Russen respektiert, das wäre unnötig gewesen. Genauso wie ich nicht zu sagen brauchte, dass ich die Ukrainer respektiere. Es ist lächerlich, so zu sprechen, denn man kann gar nicht anders als respektieren. Das hängt meiner Meinung nach jedoch nicht vom Radikalismus, vom politischen Radikalismus ab. Es gibt einen sehr radikalen Menschen, Stepan Chmara, und ich habe auch einmal mit ihm gesprochen, als er freigelassen wurde, und ich habe keine Feindseligkeit gegenüber anderen Nationalitäten gespürt. Vielleicht ist da noch etwas anderes, wissen Sie. Derselbe Lёnja Borodin übrigens; wir saßen beim Trinken, und er sagte zu mir: „Weißt du, ich weiß ganz sicher, dass Juden schlechte Menschen sind. Aus irgendeinem Grund.“ Lёnja trank ein wenig, und es war ein alkoholisiertes Gespräch. „Aber aus irgendeinem Grund, wenn ich einen Juden treffe“, sagte er, „ist er ein guter Mensch, und meine Frau ist Jüdin. Ich habe noch nie einen schlechten Juden getroffen, solches Glück hatte ich nicht“, sagte Borodin sehr aufrichtig.
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„Alle Juden …, aber Rabinovyč ist ein guter Mensch?“ Nein, „Alle Rabinovyč sind gut, aber da weit weg, da gibt es böse, schlechte Juden [ … ] Aber ich behandle Borodin mit Respekt, schließlich war er der Kamerad meines Vaters im Lager. Ich kann nicht sagen: „Bist du dumm, weil du keine offensichtlichen Schlüsse aus deiner Lebenserfahrung ziehst?“ Das kann ich nicht zu ihm sagen. Sagen Sie mir, welche Haltung hatte Ihr Vater zur Judenfrage? Damals, Mitte der sechziger Jahre, trafen sie sich, feierten die Feiertage. Da musste es doch eine gewisse Einstellung gegeben haben. Ich werde das Buch fertigstellen und es wird veröffentlicht werden. Er machte darin sogar einige Notizen zu diesem Thema, wie ihm seine Freunde aus Moskau schrieben: „Wie geht es dort mit der Judenfrage weiter?“ Mein Vater war allgemein überrascht, denn so etwas gab es nicht. Es war Ende der sechziger Jahre, und das Thema Judentum kam auf, und für ihn war es ein exotisches Thema. Neben ihm saß Rafalovyč, ein Zionist, und es gibt andere Zionisten, Egoisten und andere. Aber für meinen Vater war das Thema Judentum, der Ruf des Blutes, exotisch. Und dann, für einige seiner Moskauer Bekannten, hörte es auf, exotisch zu sein, und begann, eine Art Element zu werden. Mein Vater hat diese Entwicklung nicht mitbekommen. Er hat sich 1980 geoutet, als viele Leute schon auf ihre Koffer schauten. Hat sich mein Vater als Jude gefühlt, fragen Sie mich? Ob ich mich jüdisch fühle? Wenn ich ja sage, würde ich lügen; wenn ich nein sage, würde ich auch lügen. Vielleicht fühle ich es ja doch. Eine Art Jude der russischen Kultur? Ja, ich empfinde ungefähr so, ich fühle mich natürlich wie ein Jude. Vielleicht ist es eine Charaktereigenschaft, eine Schwermut.
„Eine Person hat das Recht sich zu verteidigen” 301 Oder ein Sinn für Humor. Eine Angewohnheit, Fragen ausführlich zu beantworten, wenn es um Ja oder Nein geht. Aber auf der anderen Seite bin ich zweifellos Russe. Wer sollte ich denn sonst sein? Wenn man diese beiden Dinge kombiniert, ist alles in Ordnung. Wenn jemand sagt, dass diese beiden Dinge unvereinbar sind, wenn ich ihm das glaube, dann befinde ich mich in einer Sackgasse, weil ich nicht sagen kann, wer ich bin. Ich denke also eher, dass sich diese beiden Dinge ganz einfach kombinieren lassen: Russisch sein und Jude sein, und dann ist für mich alles in Ordnung. Vakhtang Kipiani, Alexandr Daniėl’.
Fred Anadenko
„Die Menschen haben erkannt, dass sie die Macher der Zeit, die Macher der Geschichte sind“ Friedrich (Fred) Anadenko (29.06.1937, De-Kastri-Bucht, Rajon Ulčskij, Gebiet Chabarovsk, Russland). Ingenieur für strategische Raketentests; Autor eines kritischen Buches über den Sozialismus, „Der normale Lauf“, in dem er zu erklären versuchte, warum die UdSSR kein Sozialismus, sondern ein Pseudo-Sozialismus war und wie sie schließlich auf einen normalen Weg zurückkehren und sich in eine normale Gesellschaft verwandeln könnte. Im Oktober 1982 fällte das Kyïver Stadtgericht trotz der Tatsache, dass Adanenkos Werke [Manuskript] nicht verbreitet worden waren, was bedeutet, dass kein Tatbestand der „Agitation und Propaganda“ vorlag, ein Urteil gemäß Paragraf 1 von Artikel 62 des Strafgesetzbuches der Ukrainischen SSR, Artikel 70 des Strafgesetzbuches der RSFSR und Artikel 56 des Strafgesetzbuches der Kasachischen SSR: Er wurde zu 7 Jahren strenger Lagerhaft und 5 Jahren Verbannung verurteilt. Wer waren Sie während der Perestroika und wie sind Sie der demokratischen Bewegung und insbesondere dem DemSojuz beigetreten? Die Sache ist die, dass ich Anfang 1987 (Sacharov war gerade entlassen worden, und, als er nach Moskau zurückkehrte, sprach er mit Gorbačёv und brachte die Frage der Abschaffung der Institution der politischen Gefangenen zur Sprache) in einem politischen Gefangenenlager in Moldawien war und im März entlassen wurde. Dieser Artikel wurde abgeschafft, die Institution der politischen Gefangenen wurde abgeschafft, und wir wurden freigelassen. Zuvor hatte ich bereits darüber nachgedacht, grob gesagt, habe ich mir die Frage gestellt: „In was für einem Land lebe ich?“ Das war vielleicht in den frühen 1970er Jahren. Ich habe Geschichte 303
304 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht und Philosophie studiert. Schließlich kam ich zu dem Schluss, dass wir einen falschen Sozialismus haben, um es ganz genau zu sagen. Bei all den Ereignissen von 1905, 1917 usw. handelt es sich nur um eine standardisierte, sehr standardisierte und sehr algorithmisierte Periode einer bürgerlichen Revolution. Hier gibt es eine besondere Geschichte: Wenn man nicht rausgehen will, muss man nicht. Jede bürgerliche Revolution dauert etwa hundert Jahre und hat drei Phasen. Die erste Stufe ist sozusagen vorbereitend, die erste Welle, die erste Explosion, der Angriff auf die alte herrschende Klasse. Die zweite Stufe ist die Vernichtung derjenigen, die die Revolution gemacht haben, die die erste Stufe gemacht haben. Die dritte Stufe ist das Ende, das Ende der Diktatur und der Übergang zu einer normalen bürgerlichen Gesellschaft. Sie entwickelte sich in den verschiedenen Ländern unterschiedlich. In England dauerte sie nur zweihundert Jahre, aber sie hängt mit dem Tempo der Geschichte im Allgemeinen zu dieser Zeit zusammen. Deshalb war mir also alles klar. Nach meinen Berechnungen hätte die Sowjetunion, ihr Regime, höchstens bis etwa 2005 dauern dürfen, hundert Jahre, vielleicht etwas weniger, weil das Tempo der allgemeinen Entwicklung, der historischen Entwicklung im Allgemeinen, zugenommen hatte. Ich hatte einen Freund in Moskau, mit dem ich korrespondierte. Wir schrieben faktisch gemeinsam, was bedeutete, dass unsere Schlussfolgerungen zum einen öffentlich bekannt werden mussten und dass wir zum anderen überzeugende Fakten, Beweise für das, worüber wir sprachen, liefern mussten, um zu bestätigen, dass es wirklich wahr war. Er war in Moskau und ich war in Kyïv und wir arbeiteten in dieser Richtung; er schrieb seinen Teil und ich meinen, und wir tauschten unsere Ansichten aus. Vladimir Savel’evič Volkov (1927, Dorf Domorackoe, Oblast’ Smolensk, Russland); Russe; Hochschulbildung; Mitglied der KPdSU; militärischer Radaringenieur, Oberstleutnant der Reserve, leitender Ingenieur der Hauptabteilung für Telegrafie im Kommunikationsministerium der UdSSR. Lebte in Moskau. Verhaftet am 15.06.1982. Vom Kyïver Stadtgericht am 29.10.1982 gemäß Artikel 62, Paragraf 1 des Strafgesetzbuchs der Ukrainischen SSR zu 5 Jahren Haft, 2 Jahren Verbannung und Aberkennung des Offiziersrangs verurteilt. Er verbüßte seine Strafe in einem Lager in Perm’. Mit Beschluss des Plenums des Obersten Gerichts der Ukrainischen SSR vom 23.09.1983 wurde die Strafe auf 2 Jahre und 6 Monate herabgesetzt
„Menschen, Macher der Zeit und der Geschichte” 305 und die Verbannung von der Strafe ausgesetzt. Freigelassen am 14.12.1984. Er wurde durch den Beschluss des Plenums des Obersten Gerichts der UdSSR Nr. 187-88 vom 27. September 1988 rehabilitiert.
Der KGB verfolgte uns und unsere Korrespondenz. Und 1982 wurden wir verhaftet. Damals war ich mir jedoch absolut im Klaren darüber, dass die KPdSU einem Mehrparteiensystem weichen musste, dass das diktatorische Regime auf natürliche Weise fallen müsse und dass Redefreiheit und andere Dinge kommen würden. Als ich aus dem Gefängnis entlassen wurde, hatte ich daher keinen Zweifel daran, dass die einzige Aufgabe darin bestand, eine neue Partei zu gründen. Die Moskauer kamen: Als ich in Kyïv auf der Suche nach Gleichgesinnten war, stellte sich heraus, dass der erste Kongress des DS bereits in Moskau stattgefunden hatte. Wenn ich mich nicht täusche, fand er im Mai 1988 statt. Die Moskauer hatten ihn bereits abgehalten, also musste ich mich ihnen anschließen. Sie waren bereits nach Kyïv gekommen, auf der Suche nach demokratischen Organisationen, und stießen auf Naboka, und Naboka hatte hier ein sehr starkes Kulturzentrum organisiert. Den UKK? Ja, den UKK. Ein Ukrainisches Kulturzentrum. Und von da an begann das „Aufkeimen“. Es war Teil des Demokratischen Sojuz, der Demokratische Sojuz, und dann der Demokratische Sojuz der Ukraine, der von Černyšov geleitet wurde. Zu der Zeit, als der DS seine ersten Schritte in der Ukraine unternahm, war ich bereits in der ersten Reihe und musste dem DemSojuz beitreten. Seine Aufgaben befriedigten mich, denn es ging nicht um die Verbesserung des Systems, sondern um seine radikale Veränderung, eine grundlegende Umstrukturierung, die Beseitigung des totalitären Regimes und den Übergang zu demokratischen Prinzipien. Der DemSojuz definierte sich als „Bug des Eisbrechers“ und nahm sich nicht viel vor. Er trat – Sie erinnern sich vielleicht nicht – auf dem Puškin-Platz auf. Und mit seinem Auftreten vertrat er den Grundsatz, nicht um Erlaubnis zu bitten, sondern den Behörden mitzuteilen, was wir taten. „Ihr könnt machen, was ihr wollt, aber wir veranstalten, wir
306 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht brauchen eure Erlaubnis nicht, wir kommen ohne euch aus.“ So bin ich zum Demokratischen Sojuz gekommen. Verzeihen Sie, aber welche Ausbildung haben Sie und in welchem Jahr sind Sie geboren? Ich wurde 1937 geboren und habe folgende Ausbildung: Ich habe die Höhere Marineschule in Sevastopol’ als Ingenieur für Raketenwaffen abgeschlossen. Zehn Jahre lang habe ich als Prüfingenieur im Kosmodrom Bajkonur gearbeitet, und dort herrschten sehr günstige Bedingungen für sozusagen freies Denken. Erstens waren die Menschen dort unkonventionell. Wie alle anderen in Selenograd und Novosibirsk? Ja, ja. Und zweitens trugen wir, die Prüfer, Militäruniformen, und uns wurde ein Prinzip eingeimpft. Ein für das System sehr heimtückisches Prinzip wurde uns ständig eingebläut: keine Autorität. Das heißt, Korol’ov kam … Ich arbeitete als Prüfingenieur für ihn, arbeitete für Jangel’, arbeitete für Čelomej. Und egal, wer mit uns zusammenarbeitete, die Hauptkonstrukteure direkt, bekannte Leute, wir mussten ständig eine Bewertung abgeben, unabhängig von ihrer Persönlichkeit und Autorität. Egal, ob er ein Mitglied der Akademie der Wissenschaften war oder nicht, egal, welche Sterne er auf seiner Jacke hatte, wir mussten sagen: „Nein, das ist nicht gut, Sergej Pavlovič, das ist nicht gut.“ Das heißt, wir mussten unseren eigenen begründeten Standpunkt haben. Deshalb habe ich bis zu einem gewissen Grad einen vernünftigen Standpunkt zur Politik entwickelt, einen unabhängigen Blick auf das, was im Lande geschah und was für ein Regime es war. Erzählen Sie mir, gab es im Umfeld der Armee, in einer so geschlossenen Einrichtung, eine kritische Haltung gegenüber der Partei? Oder haben sich nicht die Offiziere vorgewagt, sondern die Forscher? Sehen Sie, die Situation war so: Es gab einige kleine Zentren (wir waren zu dritt), in denen wir absolut frei über alle Fragen diskutierten: die Einstellung zur Partei, die Einstellung zu den Führern,
„Menschen, Macher der Zeit und der Geschichte” 307 die Einstellung zu allem. Wir konnten für uns selbst entscheiden, denn es war ein geschlossener Kreis. Und irgendwie setzten sich unsere Meinungen auf den Parteiversammlungen durch. Ich habe zehn Jahre Parteierfahrung. Unterbrochen durch die Verhaftung, richtig? Nein, ich bin ausgetreten. Ich bin sozusagen 1969 ausgetreten. Ich bin da aus der Partei ausgetreten, weil es ganz offensichtlich wurde, dass es keine kommunistische Partei war, sondern eine absolut schmutzige Organisation, in der ich nicht sein konnte, weil es gegen mein Gewissen war. Ich habe einen kleinen Vorwand genutzt und bin gegangen. 1968, nach der sowjetischen Besetzung der Tschechoslowakei, beschloss Anadenko, die Armee zu verlassen, weil er die Demokratie nicht abwürgen konnte. Er hatte einen Konflikt mit dem Parteikommissar wegen der unedlen Methoden bei der Durchsicht von Personalakten. Er verließ demonstrativ die Parteiversammlung und das Parteikomitee. Im Oktober 1968 wurde er aus der KPdSU ausgeschlossen, weil er „gegen die Satzung verstoßen und sich geweigert hatte, den Parteiauftrag zu erfüllen.“
Danach wurde ich sofort aus der Armee entlassen und mir wurde gesagt: „Du wirst hier nicht mehr arbeiten, wir werden dich nicht behalten können.“ Die Gelegenheit bot sich, und ich ging gerne, denn dort ging viel Zeit für die Arbeit drauf, so wie bei euch jetzt in der Sendung „von und bis“. Wir sind morgens losgefahren und abends heimgekommen; ich konnte mir nur etwas nach dem Abendessen erlauben, und ich hatte ein riesiges Programm. Ich musste die ganze Geschichte, die Weltgeschichte, noch einmal durchgehen. Die Schule hat mir ein absolut unbefriedigendes Geschichtswissen vermittelt, teilweise bruchstückhaft, aus einem bestimmten Blickwinkel. Sie meinen, Sie wollten sich selbständig weiterbilden? Ja, natürlich. Ich musste Feuerbach, Hegel und dann Marx durcharbeiten. Ich kann mich jetzt nicht mehr an alles aus „Das Kapital“ erinnern, aber ich habe mir dreimal Notizen zum ersten Band gemacht, ihn dreimal durchgearbeitet, nicht nur gelesen, sondern
308 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht durchgearbeitet. Ich habe lange Zeit einen Lenin-Kult betrieben, und nach meiner Demobilisierung kam ich zu dem Schluss, dass diese Partei nicht kommunistisch war, sie war der absolut falsche Kommunismus. Und das war der Hinweis von Marx. Marx sagte, dass sich der Sozialismus leicht in einen Staatskapitalismus verwandeln kann. Wir haben eine Vergesellschaftung, und in diesem Fall erscheint der Staat als Gesamtkapitalist, der einzige Gesamtkapitalist. Das ist eine sehr interessante Aussage. Also habe ich mir das angeschaut: So ist es tatsächlich. Es war nicht leicht, zu dieser Schlussfolgerung zu kommen; mit Lenin war es schwieriger; nach meiner Demobilisierung, als ich in Kyïv arbeitete, die gesamten Werke Lenins studierte, einen Band nach dem anderen durchging, kam ich zu einem Werk, das damals als genial bezeichnet wurde, mit dem Titel „Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“, und ich sah mir das Vorwort des Instituts für Marxismus an, denn es sei doch ein „geniales Werk“.1 Als ich es zu lesen begann, dachte ich: „Das ist ein Horror, das ist ein Werk mit schrecklichen Fehlern, selbst auf dem Niveau eines Jura- oder Wirtschaftsstudenten im fünften Studienjahr.“ Übertreibungen, absolute Unlogik … Ich sah es an und dachte: „Gott, was für ein Horror, wie unwissend muss man sein, um so etwas zu schreiben!“ Danach war ich vielleicht fast einen Monat lang buchstäblich krank, d.h. es kam zu einem Bruch, d.h. an einem Tag (ich bin nicht einen, sondern buchstäblich vierzig Tage gelaufen) zerbrach mein Kult, und aus einem klugen, sozusagen aufopferungsvollen Menschen wurde Lenin zu einem sehr ungebildeten, sehr bösen, sehr vulgären Menschen. Aber kommen wir zurück zu unseren Schafen ... „Ich habe immer wieder gesagt und bewiesen, dass die kommunistische Bewegung eine Vergangenheit und eine Zukunft hat. Es gibt keine Gegenwart. Stattdessen gibt es einen Abgrund. [ … ] Die Errungenschaften der Menschheit wurden mit dem Etikett kommunistischer Fanatiker und mit dem Namen Marxismus versehen … Demagogen und politische Abenteurer spekulieren auf die schöpferischen Leistungen der Vergangenheit. [ … ] Seit mehr als einem halben Jahrhundert treiben die Führer der unzivilisierten und
1
V. I. Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, in: Lenin, Werke, Band 22. Berlin 1960, S. 189–309.
„Menschen, Macher der Zeit und der Geschichte” 309 unterwürfigen Nationen mit dem Kommunismus ihre Narretei und knebeln ihre Untertanen.“2
Dies ist eine große Hilfe, um zu verstehen, was dann geschah. Wenn Sie gestatten, möchte ich auf die Zeit der Selbstveröffentlichung zurückkommen. Im Jahr 1982 wurden Sie aufgrund von Artikel 70 entlassen? Ja, nach Artikel 70. Und Sie kamen mit einem Gefährten aus Moskau. Wie war sein Name? Volkov [Vladimir Savel’evič]. Und wo haben Sie in der Zeit nach der Armee, vor Ihrer Verhaftung und nach Ihrer Entlassung gearbeitet? Ich kam hierher nach Kyïv und arbeitete ein Jahr lang als Reserveoffizier. Im Verlauf dieses Jahres erhielt ich eine Entlassungszulage. Sie war recht anständig, etwa so viel wie für einen Rang. Ich arbeitete als freier Mitarbeiter des Exekutivkomitees des Rajons Darnycja, in der Wohnungsabteilung, so war die Praxis. Wir wurden eingeladen, kostenlos als Assistenten zu arbeiten, um die Wohnungen zu besichtigen und Dinge zu überprüfen. Gleichzeitig konnten wir uns eine eigene Wohnung aussuchen, denn laut Gesetz waren wir verpflichtet, dies innerhalb von drei Monaten tun. Das Gesetz wurde nicht befolgt, und so bekam ich nach etwa neun Monaten eine Wohnung. Dann arbeitete ich sechs Jahre lang in der Kyïver Metro als Mechaniker, der Druckmaschinen reparierte. Von dort wechselte ich in die Kyïver Technische Papierfabrik. Ich kam also 1970 an, und diese zwölf Jahre nach der Armee und vor meiner Verhaftung lassen sich in zwei Sechser teilen: sechs bei der Kyïver Metro, sechs in der Kyïver Technischen Papierfabrik; dort arbeitete ich als Mechaniker sechsten Grades, an einer Art Kontrollmessapparatur. Das sind die beiden Sechser. Damals arbeitete ich, um meine Familie zu ernähren,
2
Das Werk von Fred Anadenko wird aus einer Vortragsmitschrift von V. V. Fedorčuk (f. 16, op. 01, spr. 1195-0176) zitiert. V.K.
310 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht und ich verbrachte meine gesamte Freizeit mit dem Schreiben. Ich fing an, Essays zu schreiben, meine Monografie. Wie lautete der Titel? Der Arbeitstitel lautete „Der normale Verlauf“. Es geht um Geschichte, den normalen Verlauf der Geschichte, nicht um Revolution, nicht um Abweichung, sondern um normale Entwicklung, den Übergang von einer Phase zur anderen, von einer Formation zur anderen. Mit Abbildungen und Diagrammen. Die Geschichte Deutschlands, die Geschichte der bürgerlichen Revolution in Deutschland, Frankreich und England. In den Vereinigten Staaten und Russland, dann in Italien das gleiche. Wie viele Jahre haben Sie bekommen? Ich bekam die Höchststrafe – sieben Jahre Lager strengen Regimes und fünf Jahre Verbannung. Tatsächlich habe ich nur fünf Jahre abgesessen. Fünf von zwölf Jahren. Lassen Sie uns nun ins Jahr 1988 zurückgehen. Wie sah das demokratische Umfeld im Allgemeinen aus, abgesehen vom Naboka-Kreis (Sie erwähnten den UKK), aus dem Parteien, Klubs und Zeitungen hervorgingen? Wie haben Sie es damals eingeschätzt? Hatten Sie einen Kreis von Gleichgesinnten im engeren oder vielleicht weiteren Sinne? Natürlich, aber meiner Meinung nach war der UKK das einzige aktive Zentrum in Kyïv, das vor allem die Registrierung erreicht hat. Wir haben ihn registriert, Ergänzungen vorgenommen, einige Änderungen. Wir diskutierten über das Statut und verlangten, dass er nicht kommunistisch sein sollte, aber wir einigten uns darauf, die Organisation registrieren zu lassen, auch wenn sie von dem Statut abwich, aber die Organisation musste registriert werden, sie musste legal sein. Und so geschah es. Und dann begann sehr schnell die Entwicklung. Der UKK wuchs sofort, vielleicht in sechs oder vier Monaten, in den DS hinein. Es bildeten sich Fraktionen: Christen, Christdemokraten, Sozialdemokraten, Nationalisten. Und sie gingen dann schon ihre eigenen Wege.
„Menschen, Macher der Zeit und der Geschichte” 311 Und wissen Sie, es gab eine allgemeine Welle der Demokratisierung. Zuerst gab es die Wahlen, wenn ich mich nicht irre, im Jahr 1989. Bei ihnen ließen sie Masyk „vorfahren“, wenn ich mich nicht irre, den Sekretär des städtischen Parteikomitees. Dort, wo es nach dem alten System je einen Abgeordneten gab, also alternativlose Vertreter, sind sie in Kyïv überall rausgeflogen und haben weniger als ein Drittel der Stimmen erhalten. Sie haben die Stimmen nicht bekommen, mehr als fünfzig Prozent der Wähler waren gegen sie. Und dieses Mal hätten sie nicht gewonnen, wenn es nicht eine allgemeine Demokratisierung gegeben hätte, eine Welle, in der die Menschen erkannten, dass sie die Macher der Zeit, die Macher der Geschichte sind. Sie gingen abzuwählen und genossen es, nicht mit Genugtuung, sondern mit Freude, die Vertreter des Regimes gestürzt zu haben. Dann gab es Wahlen auf einer alternativen Basis, wo sich Demokraten zusammenfanden. Und all das kam, wie Sie verstehen, aus dem kleinen UKK, aus der Zeit, als wir noch auf die Straße gingen, als jemand vom Holodomor 1933 sprach und wir schauten, ob man uns nicht aufgreifen würde, ob der KGB jetzt nicht hereinplatzen, diese Person greifen und mitnehmen würde. Das hat die Freiheit erweitert und erlaubte, über den nächsten Schritt nachzudenken. Ja, buchstäblich innerhalb von sechs oder sieben Monaten endete alles in siegreichen Wahlen, als die kommunistischen Anführer gestürzt wurden. Und dann kam die Presse, die sehr viel bewirkte. Wann haben Sie zum ersten Mal vom Samizdat erfahren? War es zu dieser Zeit? Sie haben zuerst die „Chronik“ und dann „Svobodnoe Slovo“ herausgegeben. Wie ist das Ihnen zugefallen? Welche Kanäle gab es für die neue Presse? Sobald ich also aus dem Lager entlassen wurde (das war im März 1987), ging ich sofort nach Moskau. Ich bestand das Bewerbungsgespräch für die „Literaturnaja Gazeta“, ich bestand das Bewerbungsgespräch für die „Izvestija“, und ich erhielt das Angebot, über die Geschehnisse im Lager zu berichten, und es gab Ausschreitungen im Lager. Sie nahmen mein Material nicht an, sie lehnten sogar meinen Vorschlag
312 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht ab. Sie sagten: „Schreiben Sie uns, wir werden es uns ansehen.“ Ich war schockiert darüber und dachte: Wie kann das sein? Ich dachte, dass sowohl die Literaturzeitungen als auch die „Izvestija“ demokratischer sind als andere. Vor allem in der „Izvestija“ waren die Artikel demokratischer, was in den literarischen Zeitungen nicht immer der Fall war. In der „Izvestija“ gab es kritische Artikel über einige Ministerien und über Unzulänglichkeiten, über die zuvor in der Presse nicht geschrieben worden war. Ich dachte, sie würden sich durchsetzen, und kehrte nach Kyïv zurück. Asja Laščiver, die auf der Suche nach Korrespondenten für ihre Zeitschrift „Glasnost’“ war, kam nach Kyïv und fand mich. Wir gingen spazieren, und dann nahm ich Kontakt mit Grigor’janc auf. Ihre Mutter lebte in Kyïv, und über sie schickte Grigor’janc mehrere Zeitschriften, und sie gab mir ein Exemplar. Wahrscheinlich hatte sie zwei. Sie gab sie mir immer wieder, und so sammelte ich „Glasnost’“ fast von den ersten Ausgaben an. Durch die Presse erfuhr ich, dass es den DemSojus gab. Aus kritischen Veröffentlichungen: wie schlecht sie sind, wie sie sich verhalten, wie es um die Demokratie hier bestellt ist und was sie sich erlauben. Und dann, ich weiß es nicht mehr, bin ich zu Volkov gegangen und habe mich mit ihnen in Verbindung gesetzt. Sofort wurde der Kyïver Ukrainische DemSojus gegründet, eine kleine Gruppe, ohne mich. Wer hat ihn gegründet? Es gab einen, er kam nach Kyïv. Bohačov oder ein anderer Name mit einem „B“, ich werde es nachschlagen. Und er hat hier alles organisiert. Die Art und Weise, wie es organisiert wurde, war, dass die Jungs Anträge auf Briefköpfe schrieben, auf denen stand: „Bitte nehmen Sie mich als Mitglied des DemSojuz auf.“ Bohačov unterschrieb die Anträge, und das war die Grundlage dafür, dass die Person als Mitglied des Demsojuz angesehen wurde. Nach meiner Entlassung unterstützte ich regelmäßig den UKK, hielt Treffen mit ihnen ab, und so kam es, dass ich im ersten Jahr nach meiner Entlassung auf einem staatlichen Bauernhof in der Nähe von Kyïv arbeitete. Es schien, dass ich zwischen zwei Treffen abwesend war, und ein Monat oder anderthalb Monate vergingen, als dieser Bohačov,
„Menschen, Macher der Zeit und der Geschichte” 313 nennen wir ihn so, kam und dieses Zentrum gründete. Ich fuhr nach Moskau und fand den DemSojuz. Ich rief Novodvorskaja an und sagte, dass ich dies und jenes tun wolle. Ich weiß nicht einmal, woher ich ihre Nummer hatte. Aber sie sagte: „Komm zu Igor Car’kov.“ Kennen Sie ihn? „Svoboda slova“. Ja. Er war in der Tat der Hauptorganisator des DemSojuz. Wenn Novodvorskaja die ideologische Führerin war, es gab da auch andere, so war Car’kov ein perfekter Organisator, ein fantastischer Organisator. Es genügt zu sagen, dass er den Druck der Zeitung organisierte: Es war nicht erlaubt, in Moskau zu drucken, also wurde die Zeitung in Vilnius herausgegeben, die Filme wurden dorthin gebracht, gedruckt und hierher zurückgebracht. Und er gab mir den ersten Stapel Zeitungen für Kyïv. Ich nahm sie mit zum zentralen Stadion, und dann gab es eine Zeit der Kundgebungen – fast jeden Tag, am Samstag und Sonntag gab es große Kundgebungen – und sie rissen mir die Zeitung aus den Händen. Erinnern Sie sich, welche Ausgabe das war? Welche Ausgabe kam zuerst nach Kyïv? Es war die erste, nicht wahr? Ja. Vielleicht sogar die zweite Ausgabe. Muss ich nachsehen. Sie meinen eine der ersten Nummern. Eine der ersten Nummern, ja. Sie müsste in der Mappe sein, ich muss sie mir ansehen. Danach begannen wir, regelmäßig Publikationen zu erhalten, und „Svobodnoe Slovo“ wurde einmal pro Woche hierher geliefert, anfangs mit fünfzig Exemplaren, aber die Zahl wuchs, und dann verkauften wir bis zu fünftausend pro Tag in Kyïv. Verzeihung, pro Woche. In Kyïv? Fünftausend Exemplare wurden in einer Woche in Kyïv verkauft. Und dann ging irgendwie alles auf einmal bergab, man muss sich die Zahlen ansehen. 1991, Anfang 1992. Es gab einen rapiden
314 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Rückgang, und dann stellte die Zeitung ihr Erscheinen ein. Zu diesem Zeitpunkt hatten die offiziellen Zeitungen bereits begonnen, sehr viel Kritik zu üben. Erzählen Sie uns zum Beispiel von der Gründung des Ukrainischen DemSojuz und Ihrer direkten Beteiligung an ihr. Nennen Sie die Personen, die ihr angehörten, und wie sie zu dem Schluss kamen, dass sie zunächst ihr eigenes Flugblatt und dann Zeitungen herausgeben sollten. Wie viele Personen gehörten dem Kyïver DemSojuz an? Wir waren nicht viele, höchstens zwölf, wenn ich mich nicht irre. Zu den Aktiven, die immer aktiv waren, gehörte Marčuk, der jetzt als Bauunternehmer arbeitet. Wie hieß er? Oleksandr. Oleksandr Marčuk. Ein konstanter, stabiler Mensch. Er behauptete nicht, ein Führer zu sein, aber er verstand die Linie sehr gut. Er war ein großartiger Macher, der immer an den Sitzungen teilnahm. Eine Zeit lang hatten wir Oleksandr Bondar, den derzeitigen Leiter des Komitees für Staatseigentum (DeržKomMajna) der Ukraine. Er war das? Er. Das ist für mich eine Sensation. Der jetzige Oleksandr Bondar, der Hauptprivatisierer, und der DemSojuz! Für mich ist das etwas auf der Ebene der Fantasie. Es ist einfach eine Sensation. Wie es dazu gekommen ist? Ja, wie ist es passiert? Er hat danach gesucht. Bondar ist von Natur aus ein aktiver Mensch. Er arbeitete im Institut für Kybernetik, in einem der Blöcke. Ich weiß nicht mehr, welches Institut das in Teremky-1 war. Er kam zu uns, um eine kleine Notiz zu drucken – Soluchins Artikel „Mein
„Menschen, Macher der Zeit und der Geschichte” 315 Leninismus“.3 Er druckte ihn auf einem Computer, und wir verkauften ihn; er verkaufte ihn, er nahm aktiv an DemSojuz teil und entschied dann, dass wir eher passiv waren. Wir vertraten damals eine sehr originelle Position, eine Position, die nicht Teil des Systems war; es war das Prinzip der nicht-systemischen Opposition, nicht Teil des Systems zu sein. Das war ein theoretischer Slogan, aber der praktische Slogan lautete: Wir hätten nicht für Abgeordnete kandidieren sollen, weil wir sie als Komplizen betrachteten. Wenn man den Standpunkt vertrat, dass man für ein Amt kandidiert, um die Idee des DemSojuz und der Demokratie zu fördern, konnte man dies auf andere Weise demonstrieren, und nicht indem man zum Komplizen wurde. Oleksandr Bondar ritt jedoch auf dieser demokratischen Welle, da er bereits mit demokratischen Ideen, Demokratie, Mehrparteiensystem, unabhängigen Gewerkschaften und einer freien Presse vertraut war. Er wurde Abgeordneter im Leningrader Rajon, wenn ich mich nicht irre, und wurde in den Bezirksrat gewählt. Im Bezirksrat war er später an der Privatisierung beteiligt, als diese begann, und von dort wechselte er in die Stadt. Offensichtlich lief es gut mit der Privatisierung. Dann wurde er in den Stadtrat versetzt, in die Stadtverwaltung unter dem Minister für Privatisierung, und von dort aus wurde er dann gewählt. Sie haben sich sicher viele Jahre nicht gesehen. Ja, wir haben uns seitdem nicht mehr gesehen. In der Tat hat er sich in nur zehn, acht oder neun Jahren vom Ingenieur zum Minister entwickelt. Heute war ich in einer Maršrutka unterwegs und habe den Artikel „Einstellungen zur ukrainischen Unabhängigkeit“ gelesen. Ein ausgezeichneter Text. Ich sage Ihnen: DemSojuz hat auch mich beeinflusst, und ich habe sogar darüber nachgedacht, eine Bewerbung bei DemSojuz zu schreiben. Ich bin aus Mykolaïv, wo ich studierte, weggelaufen, aber dann bin ich eingetreten … Und ich dachte im Allgemeinen, dass der DemSojuz die gleiche Arbeit macht wie die eher pro-ukrainische Bewegung. Ich habe herausgefunden, vielleicht wissen Sie es sogar, dass es in Kremenčuk eine 3
Vladimir Soluchin. Čytaja Lenina. Posev, Frankfurt 1989.
316 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Zeitung gab, obwohl man sie kaum als Zeitung bezeichnen kann, ein A4-Blatt, das „Ličnoe mnenie“ (Persönliche Meinung) hieß. Ja, ich habe sie gesehen. Sie wurde auf einem Computer erstellt. Das machte ein Mädchen namens Ol’ha Solomka. Sie hielt sich für ein Mitglied des DemSojuz, aber niemand hat sie dort aufgenommen. Sie arbeitet jetzt in der PR-Abteilung des Senders STB, ich kenne sie seit langem. Ol’ha hat sich selbst als Mitglied des DemSojuz positioniert, aber niemand hat sie aufgenommen. Vielleicht stand in einer der Ausgaben sogar, dass die Zeitung nach den Grundsätzen des DemSojuz herausgegeben wurde. Die Situation war einfach so: Die Person hatte keine Möglichkeit, mit Ihnen in Kontakt zu treten, sie war damals erst neunzehn Jahre alt, und jetzt ist sie um die dreißig. Wir diskutierten: Hier habe ich zwei meiner Lieblingsbulletins des DemSojuz, und wir hatten eine unabhängige historische Bibliothek, also habe ich sie zum Lesen gegeben. Alle schlossen sich der Ruch an, und ich trat Anfang der 1990er Jahre in die Republikanische Partei ein. Ich war von Anfang an Mitglied der URP. Und wer noch? Ich nenne ihn jetzt, Sie kennen ihn vielleicht, wenn Sie das journalistische Korps in Kyïv gut genug kennen. Serhij Hovitkov, Fotojournalist. Ich kenne ihn nicht persönlich, aber sein Name ist mir wohl bekannt. Seine Fotos wurden in letzter Zeit ständig in „Večirni Visti“ und einer anderen Zeitung veröffentlicht. Er war bei uns, dann verließ er uns und widmete sich der Fotografie, und jetzt arbeitet er als Journalist, als Fotojournalist. War Jevhen Černyšov Mitglied des DemSojuz, oder haben sie sofort angefangen, getrennt zu arbeiten? Ja, Černyšov ...
„Menschen, Macher der Zeit und der Geschichte” 317 Außerdem Kyrejev. Arkadij Kyrejev. Die Sache ist die, dass ich eine Liste von allen habe. Wir hatten zufällige Leute, die ein- und ausgegangen sind, vielleicht haben sie sogar etwas vertuscht, ich weiß es nicht ... Wie ist die Idee für die Zeitung entstanden und wie wurde sie umgesetzt? Wie war das? Sie und Bondar sind hier aufgeführt. Ja, Bondar hat es gemacht. Er hatte einen Computer, und er hat diese Zeitung gemacht. Technisch gesehen, hat er die Arbeit gemacht. Ich weiß nicht, vielleicht wird er jetzt … Für ihn ist das wie ein dunkler Fleck in seiner Biographie. Während dieser halben Stunde oder zwanzig Minuten ist er in meinen Augen nur gewachsen, ganz ehrlich. Es ist etwas völlig Neues. Und das hier [Fred Anadenko zeigt Archivpublikationen – V.K.] wurde in Moskau gedruckt. Wir gaben diese Version ab, brachten das Material dorthin, und sie tippten es ab. War das die Idee der Kyïver oder der Moskauer? Wissen Sie, es ist sehr schwer zu sagen, wer die Idee dazu hatte, denn wir waren in ständigem Kontakt mit Car’kov. Vielleicht war es sein Vorschlag, ich kann mich jetzt nicht mehr erinnern. Mit welchen anderen informellen Publikationen oder Selbstverlagen haben Sie zusammengearbeitet und in welchen haben Sie veröffentlicht? Nach „Svobodnoe Slovo“ wurde ich ständig in „Dobroe Slovo“ veröffentlicht. Wie immer habe ich ein oder zwei Artikel pro Monat veröffentlicht. Dann habe ich mit Kryvenko zusammengearbeitet. Post-Postup? Ja, mit Post-Postup. Dort gab es mehrere Artikel von mir. Eine Anthologie von Post-Postup ist in Vorbereitung und wird ein Verzeichnis aller Personen enthalten, die an der Zeitung mitgewirkt haben, egal unter welchem Pseudonym. Andrij Kvjatkovs’kyj, der
318 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht stellvertretende Redakteur, arbeitet jetzt bei TSN, und er war es, der diesen Index überprüft hat. Ich habe ihm ein wenig geholfen, denn es gibt Pseudonyme, und ich habe ein gutes visuelles Gedächtnis.4 Der DemSojuz war sehr aktiv. Was war der Schlusspunkt? Warum hat sich der DemSojuz aufgelöst und ist nicht wie viele andere Organisationen in eine Partei übergegangen? Sehen Sie, die Idee einer solchen Auflösung war von Anfang an angelegt, d.h. dieser DemSojuz hatte vier Fraktionen: eine kommunistische, eine sozialdemokratische, eine bäuerliche und ich weiß nicht mehr, welche die vierte war. Und sie sollten die Grundlage für die künftige Partei bilden. Es wurde jedoch eine mächtige sozialdemokratische Partei organisiert, an der in der UdSSR bekannte und angesehene Persönlichkeiten beteiligt waren, und ich weiß nicht einmal mehr, wer sie organisiert hat. Die kommunistische Fraktion war offensichtlich eine Sackgasse, und die christliche Fraktion hat sich irgendwie auch verabschiedet. Der DemSojuz hat seine Aufgabe erfüllt. Er musste die Menschen ein wenig aufrütteln, sie mit Kundgebungen und Programmen aufrütteln, und diese Aufgabe wurde erfüllt. Die Menschen verhielten sich folgendermaßen: Sobald sie in der Lage waren, Geschäfte zu machen, ging Car’kov ins Business. Was macht er jetzt? Er ist jetzt ein sehr respektabler Mann, mit einem guten Kopf, einem guten Kopf. Wohnt er in Moskau? Ja, in Moskau. Er ist dort Chef einer Firma, Buchhalter, eine mächtige Firma, die mit Parfüms und Computern handelt, ein erfolgreiches Unternehmen. Novodvorskaja aber ist in keine Partei 4
O. Kryvenko (Red.), Antolohija publikacij u hazeti „Post-Postup“. ZUKC, Lviv 2005. 624 S. – Der Sammelband enthält die besten und interessantesten Veröffentlichungen, die vier Jahre lang in der legendären Post-Postup erschienen sind. Das Buch enthält auch eine Liste der Autoren und Mitwirkenden der Zeitschrift. V.K.
„Menschen, Macher der Zeit und der Geschichte” 319 eingetreten, sie kommt mit niemandem aus. Sie ist eine geborene Solo-Führerin, und ihr innerer Charakterzug, ihre innere Ausrichtung ist schockierend. Egal wann und mit wem sie lebt, sie muss ständig schockieren, verblüffen, überraschen oder etwas aussprechen. Sie griff Solženicyn zum letzten Mal an. Selbst wenn er sich etwas zuschulden kommen ließ, würde ich aus Respekt vor dem alten Mann, vor seiner Vergangenheit, vor seinem Archipel so tun, als würde ich nichts hören oder sehen. Aber sie muss für Aufsehen sorgen, cooler sein als Solženicyn selbst, sie kann ihn wahrscheinlich an die Wand klatschen. Das ist Novodvorskaja. Sie hat jetzt eine Organisation, sie unterschreibt überall, dass sie die Vorsitzende der DemSojuz-Partei ist, was auch … Wie kommt es zu einer Metamorphose, wie kommt es zu einem Wandel? Als es den DemSojuz noch gab, hatten wir einen Parteirat. Es gab auch einen Koordinierungsrat. Im Allgemeinen gab es keine Vorsitzenden: der Koordinierungsrat war alles, was es gab, fünf oder sechs Leute, und das wars, niemand sonst. Wir sind dabei stehen geblieben, dass Sie Publikationen geschrieben haben ... Ja … Wir vom DemSojuz hofften, offen gesagt, dass es reichen würde, auf den Platz zu gehen und zu sagen: „Leute, die KPdSU ist nutzlos, sie ist eine totalitäre Partei. Seid frei! Macht Geschäfte, gründet eure eigenen Zeitungen.“ Und die Leute waren wie: „Hurra! Vorwärts!“ Aber nichts geschah, weil wir die Kategorie der historischen Trägheit völlig außer Acht ließen. Mich „erfreuen“ zum Beispiel immer noch Omas und Opas mit Porträts von Stalin und Lenin. Lenin ist immer noch gut. Ich habe ihn durchgemacht, durchgearbeitet, mich mit ihm auseinandergesetzt und ihn verstanden. Aber mit Stalin herumzulaufen … Das ist Trägheit, eine wirklich starke Triebkraft der historischen Trägheit. Solche Wendungen macht man nicht so schnell. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum es so gekommen ist. Vakhtang Kipiani, Fred Anadenko. 20. Februar 2004.
Serhij Naboka
„Ich bin Journalist, Redakteur und Verleger von Beruf …“ Das Interview mit Serhij Naboka wurde am 1. November 2002 in einem Café auf Chreščatyk, nicht weit vom Büro von „Radio Svoboda“, aufgenommen. Wir haben uns lange unterhalten, und es sind zwei volle Kassetten mit seiner Stimme geblieben. Serhij erklärte sich bereit, mir „alles, woran ich alter Mann mich erinnere,“ für ein zukünftiges Buch über den ukrainischen Samizdat in den späten 1980er Jahren zu erzählen. Während der Jahre der Samtenen Nationalen Demokratischen Revolution musste er öffentliche Person (Leiter des Ukrainischen Kulturklubs – UKK), Politiker (Mitglied des Allukrainischen Koordinationsrates der Ukrainischen Helsinki Union) und natürlich Journalist sein. Serhij glaubte, dass der im Selbstverlag herausgegebene „Holos vidrodžennja“ (Stimme der Wiedergeburt), den er 1989–1991 redigierte, die erste unabhängige antikommunistische Zeitung in der Ukraine war. Das ist nicht ganz richtig; er war tatsächlich eine der ersten unzensierten Zeitungen, aber nicht die erste. Es war jedoch sein „Holos“, der zu einem Eisbrecher wurde, der mit einer für damalige Verhältnisse riesigen Auflage von zehn- oder sogar zwanzigtausend Exemplaren Stereotypen brach und offen verkündete, dass unser Ziel eine unabhängige Ukraine ist. Und vor allem lieferte er eine Menge interessanter, aussagekräftiger und objektiver Informationen. Serhij war ein Superjournalist, ungehemmt und frei. Er dachte schwungvoll, sprach gut: interessant, ironisch, offen. Nachdem ich etwa zwei Stunden dieses letzten Interviews niedergeschrieben hatte, bemerkte ich, dass zu viele Russismen auf dem Papier standen (sie sind unten kursiv gedruckt). Ich hatte keine Zeit, diesen Text meinem Co-Autor zu zeigen, also 321
322 Ukrainische
Dissidenten unter
der
Sowjetmach
muss ich nicht … die Sprache korrigieren. Und schauen Sie sich die Schattierungen des Gesprächs genauer an, die Serhij für nötig hielt, hervorzuheben – „Tavaršči“, „Gebucha“, „im Leben“ ...1 Das ist das, was er furchtbar verabscheute, das, was wir vom Zarenreich geerbt haben, dessen Knecht Serhij Naboka nie war. Wir schreiben das Jahr 1987. Der UKK. ... Damals gingen meine Frau und ich in die KreuzerhöhungsKirche im Podil, die von einigen ukrainischen Intellektuellen und einigen Rentnern besucht wurde. Unter den Gemeindemitgliedern dieser Kirche befanden sich damals wie heute mehrere bekannte Persönlichkeiten, darunter der hoch angesehene Jevhen Sverstjuk, der damals ein Freund von mir war. Ich erinnere mich sehr gut an den Moment, als wir vier – wir unterhielten uns damals noch – Leonid Miljavs’kyj, Larysa Lochvyc’ka, Inna Černjavs’ka und ich [alle verurteilt im Strafverfahren des sogenannten Kyïver Demokratischen Klubs 1981 – V.K.] uns an ihn wandten, einfach als einen älteren Tovariš, der schon lange im Gefängnis war, viel länger als ich, dass etwas getan werden müsse, dass etwas organisiert werden müsse. Ich sagte: „Die Ukraine ist tot, hier sind die baltischen Staaten, Moskau, lasst uns etwas tun.“ Mir wurde gesagt: „Die Leute werden dir nicht folgen! Es ist zu früh, und du solltest solche Gedanken aufgeben! Es wird nichts passieren!“ Ich spuckte die älteren Tavarišči an, und wir gründeten diesen UKK. Aus dem Interview mit Iryna Rapp und Vasyl’ Ovsijenko für das Virtuelle Museum der Dissidentenbewegung: Der Kyïver Demokratische Klub (KDK) wurde 1978 von Serhij Naboka, einem Journalistikstudenten der Kyïver Universität, Lesja Lochvyc’ka, einer Mathematikerin, Inna Černjavs’ka, einer Endokrinologin, Leonid Miljavs’kyj, einem Übersetzer, und Natalka Parchomenko, einer Studentin, gegründet. Sie hielten philosophische und religiöse Seminare ab und tauschten Literatur aus. Insgesamt organisierten sich in dem Klub etwa 40–50 Personen.
1
„Tavarišči“ wird vom Gesprächspartner ironisierend mit typischem Moskauer Akzent ausgesprochen. „Gebucha“ sind die „GBler“ – „KGBler“. „Im Leben“ meint „im richtigen (komplizierten) Leben“ bzw. „das ganze Leben lang“. Hinzu kommen noch ein Kraftausdruck wie „blin“, „panimaeš“ – „weißt du, was ich meine“ und „Mens’k“ als älterer Name für die Stadt Minsk.
„Ich bin Journalist, Redakteur und Verleger von Beruf …“ 323 Im Juli 1980 erstellten die Aktivisten des Klubs ein Flugblatt, in dem sie zur Unterstützung des Boykotts der Olympischen Spiele 1980 in der UdSSR im Zusammenhang mit der Besetzung Afghanistans aufriefen. Naboka schrieb einen Artikel mit dem Titel „Perspektiven für die Füllung des geistigen Vakuums der sowjetischen Gesellschaft“, in dem er argumentierte, dass es in der Sowjetunion keine demokratischen Freiheiten gebe, und das sowjetische Staatssystem als „Sowjetimperialismus“ bezeichnete. 1980 verfasste der KDK ein „Manifest“, in dem er behauptete, dass in der UdSSR eine „Usurpation der Macht“ stattgefunden habe und dass „alle Macht der Sowjets in die Hände der Kommunistischen Partei übergegangen“ sei. Sie versuchten, das Manifest mit einem Hektographen zu vervielfältigen. Am Abend des 11.01.1981, am Vorabend des Tages der ukrainischen politischen Gefangenen, versuchten fünf Mitglieder des KDK, mehrere Kopien des Flugblattes zu verteilen: „Landsleute! Der 12. Januar ist der Tag der ukrainischen politischen Gefangenen. Lasst uns sie unterstützen!“ Alle wurden in der Nähe der Metro-Station „Bil’šovyk“ [jetzt Žuljavs’ka] festgenommen. Am 29.06.1981 verurteilte das Kyïver Stadtgericht S. Naboka, L. Lochvyc’ka, I. Černjavs’ka und L. Miljavs’kyj gemäß Artikel 187-I des Strafgesetzbuches der Ukrainischen SSR zu drei Jahren Haft in einer allgemeinen Strafkolonie. Alle Angeklagten räumten den Tatbestand der Anklage ein, aber keiner von ihnen erkannte seine Handlungen als kriminell an, bereute sie oder legte eine Kassationsbeschwerde ein.
Dies geschah hauptsächlich durch diese vier Personen. Zu uns gesellten sich auch zwei interessante Juden: Mar’jan Bjeljen’kyj, der jetzt eine sehr populäre Website in Israel und Russland betreibt, und Oleksandr Karabčijevs’kyj, der auch ein sehr literaturaffiner Kerl ist. Auch Ol’ha Hejko-Matusevyč, ein Mitglied der ukrainischen Helsinki-Gruppe, nahm daran teil. In den letzten Vorbereitungsphasen kamen Oles’ Ševčenko und ein paar andere Personen hinzu, die ich jetzt nicht nennen kann. Die meisten von ihnen waren entweder Entlassene oder standen ihnen nahe. Karabčijevs’kyj und Bjeljen’kyj bewegten sich in verschiedenen Kreisen, hatten gute Kontakte auf der Ebene der KomsomolBezirkskomitees, vielleicht auch auf der Ebene des Stadtkomitees oder sogar des Zentralkomitees, ich weiß es nicht genau. Wir beschlossen, dies zu nutzen, und auf der Grundlage dieser Kontakte entstand die Möglichkeit, ein Café zu mieten und eine Diskussion zu veranstalten. Ich tippte kleine Einladungen auf meiner Schreibmaschine: An diesem und jenem Datum würde etwas über die ukrainische Kultur stattfinden. Es kamen so viele Leute, dass alle überrascht waren, wir hatten nicht mit einem solchen
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Ansturm gerechnet. Es war, glaube ich, im Café „Ljubava“, in einer Art Außenbezirk wie Obolon’. Wann ist das passiert? Ich weiß es nicht mehr! 1988 ... In der Literatur wird das Gründungsjahr des Ukrainischen Kulturklubs mit 1987 angegeben. 1987 also. Natürlich waren die älteren Tavarišči da und nahmen an der Diskussion teil. Es lief glänzend – vielleicht nicht von der Form her, aber was den Mut betrifft. Dann natürlich setzte Unverständliches ein. Wir kamen zum verabredeten Treffen in einem Café, aber es war geschlossen – die Klempner hatten die Leitungen abgedreht … Und all das geht übrigens immer noch weiter – besonders vor den Wahlen. Diese Technik wurde damals ausgearbeitet und ist leider immer noch in Kraft. Wir versammelten uns immer im Freien. Es waren interessante Leute dabei: einige von ihnen wurden Dichter, andere schrieben Romane, einige wurden Priester, einige gingen ins Ausland. Die meisten von ihnen waren aktive und intelligente Menschen. Ich würde gerne etwas wissen über den Namen Ukrainischer Kulturklub. Wer war sein Autor? Offenbar ich. Das Wort „Kultur“ im Namen der Organisation, die von ehemaligen politischen Gefangenen gegründet wurde, ist nur eine Tarnung. Zweifellos war es ein Deckmantel. Wir waren uns alle bewusst, dass dies eine antisowjetische, antikommunistische und nationalistische Organisation war. Aber wir wollten die ideologischen Autoritäten – sowohl den Komsomol als auch die Kommunistische Partei – ein wenig täuschen, was uns in der Anfangsphase auch gelang. Ich werde nie vergessen, dass einmal, als wir uns im Privathaus von Dmytro Fedoriv im Podil versammelten, der damalige erste Sekretär
„Ich bin Journalist, Redakteur und Verleger von Beruf …“ 325 des Podiler Bezirkskomitees der Partei, Ivan Salij, zu uns kam und wir eine sehr ernste, ja wütende Diskussion führten. Aber wir mochten ihn damals sehr – zumindest war er bereit, einen Dialog zu führen. Wir griffen ihn alle an, schrien ihn an, und dann dachte ich, wir könnten ein ruhiges Gespräch führen. Aber er hatte keine Angst, er war einer der wenigen, die keine Angst hatten, sich auf einen Dialog einzulassen und versuchten, etwas wirklich zu verstehen. ... Ich wurde schließlich zum Vorsitzenden dieses Klubs gewählt. Und ich war sein Vorsitzender bis zum Ende, bis wir de jure ein Kollektivmitglied der Ukrainischen Helsinki Union wurden und in der UHU aufgingen. Obwohl die Leute [gemeint sind die Mitglieder des UKK – V. K.] die Organisation erhalten wollten, um sich auf die kulturelle Funktion zu konzentrieren, war ich nicht interessiert. Einmal wurde ich von einem KGB-Oberst, ich weiß es nicht mehr den Nachnamen, zu einem Gespräch in einen Park gerufen – irgendein russischer Name wie Smirnov, Ivanov. Ich habe mich immer gefragt, was sie von mir wollten. Er sagte: „Sie“ – und ich war bereits Mitglied des gesamtukrainischen
Aus der Strafakte von Serhij Naboka
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Koordinationsrates der UHU – „Sie sind die Nummer vier oder drei für das „‚Einbuchten‘“. Ich befand mich in einer sympathischen Gesellschaft – mit Chmara, Čornovil und anderen. Das gefiel mir sehr gut, aber er sagte auch: Ihr seid keine Extremisten im Kulturklub, ihr stellt nicht die Frage nach einer „unabhängigen Ukraine“. Am nächsten Tag berief ich ein Treffen bei Fedoriv ein und sagte: Lasst uns nicht vergessen, was unser Ziel ist. Jeder weiß es, jeder versteht, dass wir für eine unabhängige Ukraine sind, für die Loslösung von der Sowjetunion, warum sagt es dann keiner laut? Sozusagen als Default. Dieser Tag war weniger ein Treffen als eine „Erinnerung“ – wir sollten nicht vergessen, wessen Kinder wir sind und was unser Ziel ist. Unser Ziel ist eine unabhängige Ukraine. Punktum! Mich persönlich trieb der Wunsch an, etwas zu tun. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, aber ich wusste, dass etwas getan werden musste, trotz der Überzeugung von Leuten, die vielleicht müde, vielleicht zu schwach, vielleicht zu alt waren – einige von ihnen hatten gesessen – oder die vielleicht zu klug, sagen wir, überzeugt waren, dass nichts getan werden sollte, weil sowieso nichts funktionieren würde. Als Vjačeslav Čornovil seine Zeitschrift „Ukraïns’kyj Visnyk“ erneuerte, oder vielleicht, panimaeš, hatte er schon die erste Ausgabe veröffentlicht – ich weiß es nicht mehr –, lud er uns ein, in die Redaktion einzutreten. Wir haben darüber nachgedacht – und wir waren ziemlich hin- und hergerissen – und sagten: Nein, wir werden nicht in die Redaktion des „Ukraïns’kyj Visnyk“ eintreten, denn ihr sagt, ihr seid nicht gegen den Marxismus, wir sind, blin, erstens gläubige Christen, zweitens Nationalisten und drittens Antikommunisten. Marxismus, ach was! Für Čornovil war das natürlich auch ein rotes Tuch, genau wie für unseren „Kulturklub“. Serhij, die Ereignisse, die Sie gerade beschrieben haben, beziehen sich auf die Jahre 1987–1988. Sie waren aber schon einige Jahre zuvor aus dem Gefängnis entlassen worden? Nach unserer Entlassung blieben wir weiterhin als „Vierer“ zusammen, wir waren Freunde, und schließlich verliebten wir uns und heirateten – zwei Paare. Wir standen die ganze Zeit unter Beobachtung.
„Ich bin Journalist, Redakteur und Verleger von Beruf …“ 327 Miljavs’kyj und ich wurden 1984 entlassen. Ich glaube, es war 1985, wenn ich mich nicht irre, als ich und Inna Černjavs’ka heirateten und unsere Flitterwochen im Baltikum verbrachten. Es gab keine einzige Sekunde, in der wir nicht von Beschattern verfolgt wurden. Überall in den baltischen Staaten: Tallinn, Riga, Vilnius, einigen Dörfer, Kirchen, Trakai. Alles war absolut unter Kontrolle. In Kyïv ging es genauso weiter. Darüber hinaus wurde uns eine Person aus L’viv zugeteilt, die für den KGB arbeitete und bei der wir leider einen schweren Fehler gemacht haben. Durch sie versuchten wir, etwas an bestimmte Kreise in L’viv, an den Westen, weiterzugeben. Aber später stellte sich heraus, dass das alles Werk der Gebuch, der GBler [von „GB“, d. h. der Staatssicherheitsbehörde – V. K.] war. Sie werden ihren Namen natürlich nicht nennen? Ich will es mal so ausdrücken. Diese Person wurde inhaftiert, hat fast alles abgesessen und wurde vor die Wahl gestellt: entweder für den KGB arbeiten oder die Familie wird einfach sterben. Die Person wurde gezwungen, der Arbeit zuzustimmen, und ich denke, dass vielleicht auch ihre Kinder zugestimmt haben, für den KGB zu arbeiten. Dies ist eine schreckliche Tragödie. Meine Freunde aus L’viv sagten mir: Sprich nicht mit ihr, sie ist schlimmstenfalls eine Provokateurin, bestenfalls ein Spitzel. Nun, ich konnte es nicht glauben – so ein aufrichtiger Mensch, gut, unglücklich und so weiter. Erst als ich einen Teil des GB-Archivs mit einer kleinen Bestechung holte und dort einige Ereignisse verglich, den Decknamen der Person herausfand und mich davon überzeugte, glaubte ich definitiv, dass diese Person ein Spitzel war. Ist das nicht das Dokument, das Sie vor ein paar Jahren in der Sendung von Mykola Veresnja gezeigt haben? Dieses Stück Papier? Ja, ja (zieht an der Pfeife). Es gibt nicht nur ein Stück Papier, es gibt viele verschiedene. Nun gut.
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Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Ihre eigene Zeitung herauszugeben? Damals wurden die Verbindungen geknüpft: Kyïv – Mens’k, Kyïv – Vilnius, Kyïv – Tallinn, Kyïv – Riga, und ich erhielt oft Einladungen zu verschiedenen Kongressen und Partys in den baltischen Staaten. Und ich bemerkte, wie gut ihre Untergrundpresse entwickelt war. Ich begann, die UHU-Führung zu bedrängen, indem ich dieses Thema im Koordinationsrat ansprach: „Wir müssen, Leute, wir müssen! Es ist an der Zeit, ein Kampfblatt herauszugeben.“ Alle stimmten zu, aber niemand rührte sich. Ich habe mir die älteren Tavarišči bloß zur Brust genommen – was redet ihr da – die Weißrussen haben schon mehrere Zeitungen herausgegeben … „Ja, ja, Herr Serhij, es ist Zeit, es ist Zeit“ [C. Naboka imitiert jemanden mit veränderter Stimme – V.K.]. Und nichts. Eine oder zwei Wochen vergingen, niemand schmiedete oder mahlte. Und dann setzten meine Frau und ich uns hin: Ich schreibe die Texte, meine Frau schneidet, klebt und macht die Druckvorlage. Ich bringe es leise, heimlich, mit dem Zug mit Umsteigen über Mens’k nach Vilnius. Ich gebe ihnen – ich weiß es nicht mehr, ich glaube, es waren hundert Rubel oder hundert „bucks“ … Was waren denn die „bucks“? Nein, hundert Rubel. Die Probeauflage betrug tausend Exemplare. So haben wir den „Holos vidrodžennja“ gemacht. Wir haben mehrere Ausgaben zusammen mit meiner Frau zu Hause veröffentlicht. Ich habe niemanden um Erlaubnis gefragt: Es war mein eigenes Geld. Ich wollte es tun, ich bin po žizni – im Leben – sozusagen Journalist, Redakteur und Verleger. Ich wollte es tun, ich war daran interessiert. Wie ich mich jetzt erinnere, gab es einen Diplomaten, die Druckvorlage war bei ihm verstaut, so einem großen Diplomaten, und ich reiste mit ihm. Womit wurde die Zeitung vervielfältigt? Irgendetwas ist mir entfallen. Es war kein Fotokopierer. Ich weiß nicht mehr, wie man dieses Verfahren nennt. Vielleicht eine Linotype? Nein! Ich habe auf einer Linotype gearbeitet! Das ist so eine Schreibmaschine. Keine Rotaprint. Vielleicht ein Hektograph? Nein! Hektograf – das war eine handgemachte, verrückte Arbeit. Aber dies wurde in der Staatsdruckerei gemacht, aber im Untergrund, sozusagen auf Gangsterart.
„Ich bin Journalist, Redakteur und Verleger von Beruf …“ 329 Die erste Ausgabe von „Holos vidrodžennja“ wurde im März 1989 veröffentlicht. Neulich habe ich in L’viv ein Interview mit Roman Turij aufgezeichnet, dem Mann, der „Postup“ nach Litauen gebracht hat, und er hat mir erzählt, und gerade gestern hat Saško Kryvenko bestätigt, dass ihre Zeitung, die später sehr populär wurde, ein paar Wochen früher als die „Stimme der Wiedergeburt“ erschienen ist. Aber die älteren Tavarišči in L’viv bestanden, wie Sie sagten, auch darauf, dass nichts verteilt werden sollte, da dies nur die Repressionen gegen Informelle verstärken würde. Und die Zeitung, die bereits gedruckt war, lag mehrere Wochen in L’viv, und erst als Turij die „Stimme der Wiedergeburt“ aus Kyïv brachte, begannen sie mit der Verteilung. Sie sagten: Worauf warten wir noch, wir können nicht länger warten! In Kyïv wird sie bereits veröffentlicht! Unsere Zeitung war also auf jeden Fall die erste. Vakhtang Kipiani, Serhij Naboka
Jevhen Sverstjuk
„Und die Stimmung des Volkes war so, dass es diese Legende brauchte“ Jevhen Sverstjuk (13. Dezember 1927, Dorf Sil’ce, Rajon Horochiv, Oblast’ Volyn’ – 1. Dezember 2014, Kyïv). Ukrainischer Schriftsteller der sechziger Jahre, Literaturkritiker, Publizist und prominenter Vertreter der Dissidentenbewegung. Jevhen Sverstjuk wurde unter den Bedingungen der Tauwetterperiode geboren und schloss sich Ende der 1950er Jahre der Dissidentenbewegung an. In den späten 1950er Jahren und während der gesamten 1960er Jahre (bis zu seiner Verhaftung 1972) protestierte Jevhen Sverstjuk wiederholt gegen die Diskriminierung der ukrainischen Kultur in der UdSSR. Am 14. Januar 1972 wurde er zusammen mit vielen anderen der ukrainischen SechzigerjahreBewegung verhaftet. Die Ermittlungen in seinem Fall zogen sich ein Jahr lang hin, obwohl die Anschuldigungen nur die „Selbstverlagsaktivitäten“ des Angeklagten betrafen. Infolgedessen wurde Sverstjuk im April 1973 wegen „antisowjetischer Agitation und Propaganda“ zu sieben Jahren strenger Haft und fünf Jahren Verbannung verurteilt.1 Was waren die wichtigsten Diskussionen in Kyïv in den späten 1980er Jahren? Können Sie sich daran erinnern, wer welche Ideen verteidigte und wer sie befürwortete? Zum Beispiel glaubte Naboka dies, ich glaubte das, und noch andere glaubten etwas anderes ... Nein, das kann ich nicht. Und ich glaube auch nicht, dass es irgendwelche speziellen Diskussionen gegeben hat. Alles war so 1
Aus dem umfangreichen Werk Sverstjuks hat Anna-Halja Horbatsch zweierlei veröffentlicht: Angst, ich bin dich losgeworden: Gedichte aus der Verbannung. Gerold und Appel, Hamburg 1983 [kleine Gedichtauswahl]; Lehrjahre des ewigen Gottes. Gerold und Appel, Hamburg 1990. Sverstjuks für die SechzigerjahreBewegung ergiebiger Briefwechsel erschien vor wenigen Jahren: Jevhen Sverstjuk / Valerija Andrijevs’ka, Lystuvannja. 3 Bände. Duch i litera, Kyïv 2019.
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synkretistisch, so allgemein, dass wir nicht an den Punkt kamen, persönliche Positionen zu definieren. Es gab im Grunde zwei Positionen: eine gegen die Regierung und den Zustand, in den die Regierung die ukrainische Kultur gebracht hatte, und die andere. Dies wurde im Haus der Kultur auf dem Frunze-Platz sehr gut demonstriert. Dort versammelten sich die „Behörden“ und schickten ihre Leute von den Bezirkskomitees und natürlich vom KGB, denn der KGB hatte damals die Kontrolle. Auf der anderen Seite sprachen Leute vom UKK (Ukrainischen Kulturklub) spontan über verschiedene Themen, wie Sprache und Kultur. Und sie hatten nichts zu verbergen: Zu dieser Zeit gab es einen großen Boom nach Informationen aus Moskau. Es war schwer, „Novyj Mir“ und andere russische Zeitschriften zu bekommen. Dabei gab es einige sehr interessante Publikationen. Bei uns wurden Zeitschriften an Kiosken verkauft: „Vitčyzna“, „Dnipro“, „Kyïv“, der Preis betrug 11 bis 14 Kopeken, doch niemand kaufte sie. Das ist eure Kultur, das ist eure Zensur, das ist eure Intelligenz. Der Slogan „Ščerbyc’kyj weg!“ wurde damals geboren und war auf Schritt und Tritt zu hören. Der KGB hatte immer noch
Jevhen Sverstjuk, Ende der 1990er Jahre. Foto: Christian Weise
„Die Stimmung des Volkes brauchte diese Legende” 333 die Kontrolle, obwohl es ganz offensichtlich war, dass er keine Anweisungen für eine solche Veranstaltung hatte. Sie verhafteten niemanden, nahmen niemanden fest, und wenn sie es taten, dann während der Feierlichkeiten zum Jahrestag von Čornobyl’. Es war der erste Versuch einer Demonstration, man wollte sich ruhig verhalten. Da waren Nabokas Frau, Oles’ Ševčenko und andere sehr aktiv. Ich weiß noch, wie ich das erste Mal auf den Majdan ging. Wie viele Leute kamen zum UKK, die nicht von den Behörden kamen? Es war so unklar, war locker ... Es gab keine Mitgliedschaft als solches? Fast immer waren es mehrere hundert. Und die Informationen verbreiteten sich sehr schnell, und die Leute waren sehr angetan davon. Ich erinnere mich an einen meiner Vorträge über Ševčenko, schon 1987. Das ist ein Indikator dafür, dass es bereits möglich war, einen Raum zu haben. Man gab mir einen Saal im Haus der Wissenschaft. Sie wussten nicht genau, für wen er bestimmt war, aber sie fragten mich nicht mehr allzu sehr aus. Wenn sie vorher Fragen gestellt hatten, dann jetzt nicht mehr so sehr. Und ich war ein wenig ratlos, als ich sah, wie wenig Leute da waren. Und dann sehe ich: Sie kommen! Viele Leute, interessante Leute, mit solchen Gesichtern, die so interessiert zuhören, dass ich es nicht erwartet habe. Es kam sogar ein ukrainischer Chor aus Polen, der auf der Suche nach einem Ort war, an den er am Abend gehen konnte, und sie wurden an diesen Ort verwiesen. Aber ich glaube nicht, dass es der UKK war. War es bei der Organisation „Spadščyna“ (Erbe)? Ich glaube, es gab dort mehrere Organisationen. Ich kann mich also an keinen einzigen Fall erinnern, bei dem Versammlungen des UKK aufgelöst wurden. Manchmal haben sie uns einfach keinen Raum gegeben. Ich erinnere mich an die Zeit, als eine Diskussion in einem großen Saal am Frunze-Platz stattfand. Wir waren nicht sehr
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gut auf diese Diskussion vorbereitet. Und als ich auf den Zeitplan schaute, wurde mir klar, dass ich ein Wort sagen musste. In der Tat war alles sehr spontan, alles lag in der Luft. Und sie fühlten die Niederlage, sie begannen, die Räumlichkeiten zu kontrollieren, um nicht nachzugeben. Das war das Einzige, was sie fest in der Hand hatten. Es stellte sich die Frage nach der Wahl eines neuen Vorsitzenden. Ich erinnere mich, dass man mir den Posten anbot, und ich lehnte ab. Ich hatte folgende Beweggründe: Nein, ich bin für sie wie ein roter Stier. Wenn ich sprechen werde, ist das noch kein Spektakel für sie, sie können sich nicht darauf vorbereiten, denn ich kann auftreten oder auch nicht, wenn ich aber der Vorsitzende bin, ist es ganz klar, dass alles getan werden muss, um mich zu unterdrücken und das zu verhindern. Ich habe mich mit Oles’ Ševčenko beraten, und wir haben beschlossen, dass sie irgendjemanden auswählen sollten, und in der Zwischenzeit würde ich einen Vortrag über Stus erstellen. Die Idee war, zum 50. Jahrestag seiner Geburt einen Vortrag zu verfassen. Ich sammelte Beiträge, während Serhij Naboka die Räumlichkeiten besorgte. Und er sagte ihnen, dass wir einen Tagesordnungspunkt auf dem Arbeitsplan für das nächste Jahr haben würden. Sie waren sehr interessiert und stellten uns einen Raum in der „Vzuttjevyk“-Fabrik im Podil zur Verfügung. Aber es war sehr weit vom Zentrum entfernt. Und ich hatte den Verdacht, dass es sich um einen so unbekannten Ort handelte, dass sich dort keine Leute versammeln würden. Inzwischen war der Raum voll, und sie standen da und versammelten sich. Wir ließen unsere Leute wissen, dass es mehr als nur eine Diskussion geben würde, dass es einen Vortrag über Stus geben würde. Stus war bereits ein Name. Es war noch unklar, aber irgendwo auf der Straße rief ein Junge: „Stus! Das ist ein genialer Dichter!“ Das ist eine sehr gute Werbung, wenn ein Mann auf der Straße schreit. Es gab einige Versuche, sie über den Schriftstellerverband anzuleiern. Der Schriftstellerverband war damals sehr verängstigt und konnte nur das tun, was ihm telefonisch aufgetragen wurde. Er wurde absolut kontrolliert.
„Die Stimmung des Volkes brauchte diese Legende” 335 War es Zahrebel’nyj, der damals das Sagen hatte? Ich weiß nicht einmal, wer ihn damals leitete. Er war damals ein Nichts. Ich kann nur sagen, dass, als ich 1984, im Herbst 1983, aus der Verbannung zurückkehrte, Kyïv so totenstill war, dass ich nur von einer Veranstaltung wusste. Ich hatte keinen Kontakt zu meinen ehemaligen Kollegen, Dichtern, Literaturkritikern. Ich war völlig allein. Ich fand eine Arbeit als Zimmermann, genau wie in der Verbannung. Natürlich hatte ich ein Treffen mit einigen KGB-Beamten, die mir eine Stelle in einem Institut anboten. Und ich lehnte ab. Ich sagte, ich sei kein Kandidat oder Doktor der Wissenschaften2, ich wisse nicht, welche Art von Arbeit sie mir anbieten könnten. Ich sei Zimmermann von Beruf und hätte fünf Jahre lang als solcher gearbeitet. War das in den späten 1980er Jahren, als Sie als Tischler arbeiteten? Ja. Damit waren sie sehr unglücklich. Sie wollten eine Stelle finden, die sehr kontrolliert ist und bei der sie Druck ausüben können, bei der sie vom Arbeitnehmer Aussagen verlangen können, Beschwerden, die berücksichtigt werden können. Damals stand sogar die Frage im Raum, ob ich mich wegen der Arbeit an sie wenden oder mir selbst eine Stelle suchen sollte. Und es gab zwei Standpunkte. Gluzman war liberaler und meinte, man solle sich selbst um eine Stelle bemühen. Und Antonjuk war ziemlich pessimistisch und meinte, egal wie viele Stellen man findet, man wird sie nicht bekommen. Aber ich hatte Glück, ich konnte so tun, als ob ich sie über sie suchte, aber ich suchte sie selbst, und nach all den Experimenten hatte ich sie bereits studiert und was sie boten. Ich war bereits ein vorbereiteter Mann. Ich ging zufällig in die mechanische Werkstatt der Fabrik Nummer zwei der IndPošyvNäherei3, wo man sich am Morgen zu einer Sitzung traf, und sie sagten: „Schau mal, wir brauchen gerade einen Tischler, und da kommt er. Wir stellen ihn sofort ein.“ Und sie stellten mich sofort 2 3
Also ein promovierter oder habilitierter Mann. Hier wurde etwas individuellere Kleidung, aber von nur wenig höherer Qualität und Auswahl hergestellt, um die allgemeine, unzureichende Produktion der Bekleidungsindustrie zu unterstützen und zu ergänzen.
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ein. Und meine Spione, die mich begleiteten, hatten keine Ahnung, warum ich dorthin ging, in diesen Raum. Offensichtlich vermuteten sie, dass ich nach einer Toilette suchte. Zwischenzeitlich kehrte ich zurück, bereits schon faktisch eingestellt. Ich habe eine gute Arbeit gefunden, die nicht sehr kontrolliert war. Ich werde Ihnen nicht erzählen, welche Abenteuer ich erlebte, als ich mit meiner Thermoskanne nach draußen ging und ein Buch las, es war irgendwo außerhalb der Stadt. Das Buch war „Der Archipel Gulag“ von Solženicyn. Ein Polizist kam auf mich zu und fragte mich, was das sei. Sie kontrollierten verschiedene Personen, die sie an diesen Orten bespitzelten. Ich sprach ihn sehr höflich an, damit er nicht nach dem Buch fragte. Und er hat auch nicht nach dem Buch gefragt. Ich weiß nicht, was dann mit mir passiert wäre, ich hätte sehr große Schwierigkeiten bekommen. Natürlich hätten sie mir damals keine neue Strafe für den „Archipel Gulag“ gegeben, aber ich habe die Situation gespürt, und das wäre ein Grund gewesen, mit mich zu bearbeiten. 1987 war bereits klar, dass es keine neue Strafe geben würde, und wir hatten keine Angst mehr davor. Es war sehr wichtig, dass sich die Menschen, die bereits verdrängt worden waren, die verfolgt worden waren, die der Angst ins Auge sahen, um den UKK versammelten. Der Rest schlief noch in lethargischem Schreck, in lethargischem Schlaf. In Kyïv gab zwei Dutzend Dissidenten. Der Rest waren ukrainische Intellektuelle, Lehrer und Arbeiter. Und unter den Dissidenten gab es eine Art inneren Zirkel, auch wenn sie alle unterschiedlich waren, verurteilt nach verschiedenen, wenn auch ähnlichen Artikeln, aber mit unterschiedlichen Lebenserfahrungen. In der Tat waren wir unterschiedlich, wir haben uns erst später kennen gelernt. Die aufgrund ähnlicher Artikel Verurteilten waren noch nicht zurückgekehrt. Ovsijenko war noch im Gefängnis. Oles’ Ševčenko war schon da, und wir gingen sofort auf ihn zu, es war eine sehr nahe Position. Über den Kreis von Naboka wusste ich weniger. Aber es war ganz klar, dass das aufgeschlossene Menschen waren, mit denen man reden konnte, die einen nicht verraten und vor denen man keine Angst haben musste. Und das ist sehr wichtig, nicht weil man Angst hat, sondern weil man sich nicht auf dieses leere Spiel einlassen will, wenn man die Möglichkeit hat, etwas zu tun.
„Die Stimmung des Volkes brauchte diese Legende” 337 Und die Rolle des Staatssicherheitskomitees bei diesen Ereignissen … Offensichtlich sahen Sie eine sichtbare Gestalt eines KGB-Offiziers oder eines Mitarbeiters des Bezirkskomitees, der kam und Einfluss nahm, Lärm machte, unnötige Gespräche begann. Aber der KGB wollte eine Person in Ihrer Mitte haben oder hatte sie sogar in Ihrer Mitte. Wurden Sie jemals mit solchen Verdächtigungen konfrontiert? Ich erinnere mich an die frühen 1990er, die späten 1980er Jahre in Mykolaïv. Es war äußerst unanständig, nach etwas zu fragen, wenn man dir davon nicht erzählt hatte. Wir hatten eine Zeitung mit dem Namen „Čornomorija“ (Schwarzes Meer), ähnlich wie Ihre „Naša Vira“ (Unser Glaube).4 Ich wollte Artikel für sie schreiben, aber niemand bot mir eine solche Gelegenheit. Und mir wurde klar, dass ich meine Dienste dort nicht anbieten konnte, bevor ich nicht eingeladen wurde. Und so kam es, dass ich Herausgeber dieser Zeitung wurde, ohne einen einzigen Artikel geschrieben zu haben. Es waren parallele Welten: Ich kaufte diese Zeitung, ich wurde gesehen, aber ich konnte mich nicht als Teilnehmer am Geschehen aufdrängen [ … ] Und wir hatten große Angst, dass es in unserem Umfeld Leute gab, die von den Sonderdiensten geschickt wurden. Diesen Verdacht gab es hier, in Kyïv, denn bei uns war der ukrainische Kreis war sehr eng, ich lebte von 1989 bis 1994 in Mykolaïv. Ich werde Ihnen sagen, dass der Vorteil der Menschen, die vor Gericht standen, darin bestand, dass sie bereits wussten, wovor sie Angst haben mussten und wovor sie keine Angst haben mussten. Sie sind verängstigt, aber sie sind abgehärtet. Und ein Gefangener kann mit den Schultern spüren, ob er bespitzelt wird oder nicht, wovor er Angst haben muss oder nicht. Wenn ich sprach, wusste ich immer, dass es dort Spione gab, aber sollten sie zuhören. Das war eine gewisse Herausforderung, eine gewisse Kühnheit. Insbesondere 1987, möchte ich als erstes sagen, dass Oksana Jakivna Meško ins Ausland ging und mich irgendwie wissen ließ, dass der ukrainische Kongress auf mich wartete, um zu sprechen. Er fand in New York statt. Außerdem war dies die Zeit meiner Teilnahme am UKK. Und ich bereitete diese Rede vor, aber wie sollte ich sie halten? Ich reiste nach Moskau und übermittelte sie 4
Die Ausgaben der Jahre 2001–2019 finden sich im Internet auf der Seite http:// nashavira.ukrlife.org/arhiv.html.
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per Telefon an Halja Horbasch5 in Westdeutschland. Das Moskauer Telefon war neutraler als das Kyïver. Wenn man dafür bezahlte, konnte es eine halbe bis eine Stunde Gesprächszeit aushalten. Auf diese Weise konnte ich den Text frech übermitteln, und er wurde dort vorgelesen. In der „Vzuttjevyk“-Fabrik las ich einen Vortrag über Vasyl’ Stus, auf den ich mich vorbereitet hatte und dem ich große Bedeutung beimaß, obwohl ich nur zwei Tage Zeit hatte, um alles auszuarbeiten, alles wurde so unerwartet, improvisiert vorbereitet. Aber es gibt einen Raum für diesen und jenen Tag, also muss alles an diesem und jenem Tag geschehen. Ich las den Vortrag und erwartete, dass sie kommen würden. Außerdem hatte ich die Kühnheit zu sagen, dass dieser Vortrag zum 50. Jahrestag der Geburt von Stus an die UNESCO geschickt würde, um den 50. Geburtstag des in den Lagern ermordeten Poeten zu feiern. Das war natürlich eine Improvisation. Es dauerte mehrere Jahre, bis er bei der UNESCO eingereicht und genehmigt wurde usw. Aber die Sache war die geheimste, die am besten bewertete. Und hier wurde kühn verkündet, dass es übertragen werden würde. Das ist der erste Punkt. Und das Zweite, was mir an diesem Abend auffiel, war, dass das ganze Publikum aufstand. Und es war ein riesiges Publikum. Das zeigt, dass die öffentliche Meinung uns voraus ist, dass sie bereit ist, es zu hören. Der Korrektheit halber muss ich sagen, dass der Vortrag tatsächlich ins Ausland geschickt wurde [ … ] Er wurde an einen ukrainischen Intellektuellen geschickt, der gut Englisch spricht. Er hat sich nicht getraut, ihn zu übersetzen, aber der Bericht wurde trotzdem übersetzt, an den PEN weitergeleitet, und der PEN hat ihn an Gorbačёv weitergeleitet. Ich habe keinen Zweifel daran, dass Gorbačёv ihn an das Kyïver Zentralkomitee weitergegeben hat. Ich nehme an, dass das Buch, das sie beim Zentralkomitee über Vasyl’ Stus in Auftrag gegeben haben, mit diesem Brief zusammenhängt. Denn von sich aus wären
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Anna-Halja Horbatsch, war eine wichtige ukrainisch-deutsche Brückenbauerin und Übersetzerin, die nicht nur Werke von Sverstjuk, sondern auch von zahlreichen anderen ukrainischen Schriftstellern und Dissidenten, vor allem aus der Sechzigerjahre-Bewegung ins Deutsche übersetzte.
„Die Stimmung des Volkes brauchte diese Legende” 339 sie nie auf die Idee gekommen, dass es einen solchen Stus gibt und dass es sich lohnt, ein Buch über ihn zu veröffentlichen. Sie sprechen jetzt über welches Buch? „Der Weg des Schmerzes“.6 Mychajlyna Kocjubyns’ka wurde beauftragt für ein Vorwort und die Zusammenstellung. Und natürlich hat sie sich über diesen Auftrag gefreut und ihn auch ausgeführt. Aber ich habe keinen Zweifel daran, dass es im Zentralkomitee keine Köpfe gab, die der Meinung waren, es sei an der Zeit, Stus zu veröffentlichen. Im Gegenteil, soweit ich mich erinnern kann, gab es Versuche, Stus auf der Grundlage seines Strafverfahrens auf die Liste zu setzen. Und ich habe eine von mir unterzeichnete Antwort auf diese KGB-Strafsache ... Dann kam die Veröffentlichung. Und im Herbst 1989 wurde die Asche von Vasyl’ Stus überführt, und Žulyns’kyj veröffentlichte einen versöhnlichen Artikel in der „Literaturna Ukraïna“.7 Darin hieß es, der Dichter habe Fehler gemacht, habe nicht gut Kontakt aufnehmen können, habe sich nicht mit seiner Umgebung arrangiert, und die Behörden hätten auch Fehler gemacht. Aber es war ein Versuch, einen dieser erfolglosen Dichter zu zeigen, die einst unter die Räder der Staatsmaschinerie gerieten. Das hat mich zutiefst empört! Ich war damals bei Nadija Svitlyčyna zu Besuch. Sie zeigte mir diese Publikation mit Entsetzen, und ich erinnere mich, dass ich mich sofort hinsetzte und ein Pamphlet mit dem Titel „Genosse Koc’kyj und der große Vogel“ schrieb. Und ich erwähnte seinen Namen in dieser Publikation. Es wurde irgendwo in unserer Zeitung veröffentlicht, und dann in der Zeitung „Slovo“. Es war ein Kampf für Stus. Und es war ein sehr ernster Kampf. Nach der Beerdigung hatten sie das Gefühl, dass er ein Held war, der einer Legende würdig war. Und dann begannen sie, ihn auszulöschen. Sie begannen, diesen Mythos auf verschiedene Weise zu kontrollieren. Ich glaube, sie haben die Flammen sogar noch angefacht. Die Geschichte seines Lebens, sein Charakter und die Art seiner 6 7
V. Stus, Doroha bolju: Poeziï. Radjans’kyj pysmennyk, Kyïv 1990. V. K. Die Literaturna Ukraïna war eine weit verbreitete, von 1962 an erscheinende Wochenzeitung, herausgegeben vom Schriftstellerverband der Ukraine.
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Arbeit – alles wurde der Legende übertragen. Und die Stimmung der Menschen war so, dass sie diese Legende brauchten. Vakhtang Kipiani und Jevhen Sverstjuk. September 2002.
Zeitschriften-Übersicht1 Ameryka / Америка / Amerika. Philadelphia (seit 1914), seit 1886 Batkivščyna / Батьківщина / Vaterland. Toronto, 1955–1984, 1986–1993 Chadašot / Хадашот / Demokraten. Kyïv, ab 1991 Chronika katolyc’koï Cerkvy / Хроніка Української католиць-кої Церкви / Chroniken der Katholischen Kirche. L’viv, ab 1984 Chronik der laufenden Ereignisse / Хроника текущих событий / Chronika tekuščich sobytij. Moskva, April 1963–Oktober 1972, Mai 1974–August 19832 Čornomorija / Чорноморія / Schwarzes Meer, Mykolaïv 1989–1993 Demokrat. Tallin, 1971 Dnipro / Дніпро. Kyïv, ab 1944 Dobroe Slovo / Доброе Слово / Gutes Wort.? Ekspres-Visnyk / Експрес-візник / Express Bote,?, siehe Ukrainskyj Visny – Ekspres-vypusk Glasnost’ / Гласность / Transparenz. Moskva 1987–1991 Kol Zion / קול ציון/ Голос Сиона. Moskva, 1989–1990. Holos Ukraïny / Голос України / Stimme der Ukraine,?, siehe Ukraïns’kyj Holos Holos Vidrodzennja / Голос відродження / Stimme der Wiedergeburt. Brody, seit 1990 Informacionnyj bjulleten’ po problemam repatriacii i jevejskoj kul’tury / Информационный бюллетень по проблемам репатриации и еврейской культуры / Informationsbulletin für Probleme der Repatriierung und der jüdischen Kultur. Moskva, 1987–1990
1
2
Eine gute Zusammenstellung kurzer Artikel über viele wichtige ukrainische Samvydav-Zeitschriften finden sich in dem Nachschlagewerk Osyp Stepanovyč Zinkevyč (Red.), Ruch oporu v Ukraïni 1960–1990. Smoloskyp, 2. erw. Auflage Kyïv 2012 anhand des thematischen Registers. Weiterhin helfen Artikel in der „ESU“, in der auch online zugänglichen Encyklopedija sučasnoï Ukraïny – Enzyklopädie der modernen Ukraine, http://esu.com.ua/letters. Eine Spezialbibliografie zum Samvydav bereitet Jurjj Romanyšyn von der PeriodikaAbteilung Stefanyk-Bibliothek in L’viv für 2024 vor. Eine erste Übersicht über jüdische Samizdat-Zeitschriften findet sich hier: https://eleven.co.il/jews-of -russia/and-soviet-society/13674/ Einige Periodika wurden offenbar verwechselt, einige ließen sich nicht identifizieren. Die Ausgaben finden sich auf Russisch auf der Seite http://old.memo.ru/ history/diss/chr/index.htm, auf Englisch unter der Seite https://chronicle-of -current-events.com/.
341
342 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Izvestija / Известия / Nachrichten. Petrograd bzw. Moskva (ab 1918), ab 1917 Jevrejs’ki visti / Єврейські вісті / Jüdische Nachrichten. Kyïv, ab 1991 K novoj žizni / К новой жизни / Auf ein neues Leben.? Kafedra / Кафедра / Katheder. L’viv, 1988–1990 Kam’janyj Brid / Кам'яний брід / Steinerne Furt. Luhans’k, 1992–2001 Kyïv / Київ. Kyïv, ab 1983 Ličnoe mnenie /Личное мнение / Persönliche Meinung. Kremenčug? Literaturna Ukraïna / Літературна україна / Literarische Ukraine. Kyïv, ab 1962, davor unter anderen Namen ab 1927 Literaturnaja Gazeta / Литературная газета/ Literaturzeitung. Moskva, 1830–1831, 1840–1849, ab 1929 Lietuvos katalikų bažnyčios kronika. 19.3.1972–19.3.1989 Los Angeles Times. Los Angeles, ab 1881 Mega News,?, siehe MIGNews Meta / Мета / Ziel. München, Philadelphia (ab 1986), 1953–2004 MIGNews, ab 2000 Molod’ Ukraïny / Молодь України / Jugend der Ukraine. Charkiv bzw. Kyïv 1943–2019. Moskva / Москва / Moskau. Moskva ab 1957 Narodna Volja / Народна воля / Volkswille. Ivano-Frankivs’k, ab 1991 Naša Meta / Наша мета / Unser Ziel. Toronto, ab 1949 Naša Vira / Наша віра / Unser Glaube. Kyïv 1988–2019 National Tribune. Washington, seit 1877. Novyj Mir / Новый Мир / Neue Welt. Moskva, ab 1925 Novyj šljach / Новий шлях / Neuer Weg. Romny, 1990 Paris Match. Paris, ab 1949 Post-Postup / Post-Поступ. L’viv 1991–1995. Postup. L’viv 1989–1990 Radjans’ka Bukovyna / Радянська Буковина / Sowjetische Bukowina. Černivci, 1940–1941, 1944 ff. Samostijna Ukraïna / Самостійна Україна / Selbständige Ukraine. Kyïv, 1948–1999? Slovo / Слово / Wort. Kyïv, 1989–1990 Šofar / Шофар / Schofar. L’viv ab 1990 Soglasie / Согласие / Vereinbarung, Vilnius 1989–1992 Stoličnye Novosti / Столичные новости / Hauptstadt-Nachrichten. Kyïv, 1998–2012
Zeitschriften-Übersicht 343 Svitlyj Ljambus. Černivci, um 1989? Svoboda / Свобода / Freiheit. Jersey City, ab 1893 Svobodnaja Mysl’ / Свободная Мысль / Freier Gedanke. Moskva, seit 1991 Svobodnoe Slovo / Свободное слово / Freies Wort. Moskva, 1988–1991 Terciman. Bağçasaray (Bachčysaraj) 1883–1918 Ṭšernowitzer bleṭer: umophengiker organ far poliṭik, kulṭur un wirṭšafṭ / идиш טשערנאָ וויצער בלעטער. Ṭšernowitz, 1929–1937 Ukrainian weekly. Jersey City, ab 1933 Ukraïns’kyj Holos / Український голос / Ukrainische Stimme. Winnipeg 1910–2018 Ukraïns’kyj Visnyk / Український вісник/ Ukrainischer Bote. Lviv 1970– 1972 (1975?) Ukraïns’kyj Visnyk. Ekspres-vypusk / Український вісник. Експрес-випуск / Ukrainischer Bote, Express-Ausgabe. L’viv-Kyïv 1987–1989 Večirni Visti / Вечірні вісті / Abendnachrichten. Kyïv 2000–2020 Vesti / Вести / Nachrichten. Tel Aviv, 1992–2018 Visnyk represij v Ukraïni / Вісник репресій в Україні / Bote der Unterdrückungen in der Ukraine. New York, 1980–1985 Visti z Ukraïny / Вісті з України / Nachrichten aus der Ukraine. Kyïv, 1960–1998 Vitčyzna / Вітчизна / Charkiv bzw. Kyïv (1934–1941 und ab 1944, 1941– 1943 Ufa, 1943–1944 Moskva), seit 1933 Volja i Batkivščyna / Воля і батківщина /Wille und Vaterland. L’viv, 1964–1966, 1995–2003 Washington Post. Washington, ab 1877
Organisationen und ihre Abkürzungen1 AHRU
Americans for Human Rights in Ukraine. New Jersey, ab 1979 AI Amnesty International, London u.a., ab 1961 APN Agenstvo pečaty „Novosti“ / Агентство печати „Новости“ (АПН)) / Agentur für Drucknachrichten, Moskau, 1961–1990 BATUN Baltic Appeal to the United Nations, New York, 1966 ChPH Charkiver Gruppe zum Schutz der Menschenrechte /Харківська правоза-хисна група (ХПГ) / Charkivs’ka Pravozachyzna hrupa. Charkiv ab 1992 (1988) CJuK Zentrales Jubiläumskomitee Центральний ювілейний комітет (ЦЮК), Kyïv 1974 DeržKomMajna Komitee für Staatseigentum / ДержКомМайна DemSojuz Demokratische Union / Демократичес-кий союз (ДемСоюз), Partei, Moskau u.a., 1988–2014 DS Demokratische Union / Демократиче-ский союз (ДемСоюз), Partei, Moskau u.a., 1988–2014 GBler, KGBler Mitarbeiter des KGB GKČP Staatskomitee für den Ausnahmezustand Государственный комитет по чрезвы-чайному положению (ГКЧП), Moskau, 1991 IFGM Internationale Gesellschaft für Menschenrechte, Frankfurt, ab 1972 IG Initiativgruppe für den Schutz der Menschenrechte in der UdSSR, Moskau, 1969–1979
1
Eine Zusammenstellung vieler wichtiger Organisationen finden sich auch hier wieder in dem Nachschlagewerk Osyp Stepanovyč Zinkevyč (Red.), Ruch oporu v Ukraïni 1960–1990. Smoloskyp, Kyïv 2. erw. Auflage 2012. – Zu den sprachlich-philosophischen Aspekten des Plastikgeldes von Abkürzungen, das vor allem in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion beliebt ist, vgl. beispielsweise Uwe Pörksen, Plastikwörter. Die Sprache einer internationalen Diktatur. Klett-Cotta, Stuttgart, 31989. Ironisiert wird der Usus der Abkürzungen auch von CJuK.
345
346 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht KDK KGB
KPdSU
KPU
KSZE MGB
Memorial NATO NOP
OUN
PEN RadHosp RFE / RL Sil’Rob
Kyïver Demokratischer Klub / Київський демократичний клуб (КДК)/ Kyïv 1978–1981 Комитет государственной безопасности Komitet gosudarstvennoj bezopasnosti (КГБ)/ Komitee für Staatssicherheit. Moskau, ab 1954 Kommunistische Partei der Sowjetunion / Коммунистическая партия Советского Союза (КПСС), 1912–1991 Kommunistische Partei der Ukraine / Комуністична партія України (КПУ), 1918–2015 Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, 1973–1995 Министерство государственной безопасности (МГБ) / Ministervstvo gosudarstvennoj bezopasnotsi / Ministerium für Staatssicherheit, Vorgänger des KGB. Moskau 1946–1953 Memorial. Moskva 1989–2022, seither im Ausland weiter tätig North Atlantic Treaty Organization, London, später Paris, dann Brüssel, ab 1949 Nationale Einheitspartei / Национальная объединённая партия Армении / Ազգային Միացյալ Կուսակցություն, Erevan, 1966–1987 Organisation Ukrainischer Nationalisten / Організація українських націоналістів (ОУН). Wien u.a., ab 1929 Poets, Essayists, Novelists, Autorenverband, London u.a., seit 1921 РадГосп, Sowjetischer Bauernhof Radio Free Europe / Radio Liberty / Radio Svodoba / Радіо Свобода, Prag, ab 1949 Українське Селянсько-Робітниче Соціалістичне Об'єднання (СільРоб) / Ukrainische Sozialistische Bauern- und Arbeiter-Vereinigung, Partei. Lwów 1926 ff.
Organisationen und ihre Abkürzungen 347 SlZO Smoloskyp STB UGA
UHG
UHU
UKK
UNESCO UNO UPA
URP
СІЗО / Слідчий ізолятор / Slidčyj izoljator / Strafanstalt Ukrainischer Verlag namens V. Symonenko, Baltimore, seit 1967, ab 1992 Kyïv privater Fernsehsender in Kyïv, ab 1997 Ukrainische Galizische Armee / UHA / Українська галицка армія (УГА) / Ukraïns’ka Halyc’ka Armija, 1918/19 Ukrainische Helsinki-Gruppe / Українсь-ка гельсінська група (УГГ) / Ukraïns’ka Hel’sins’ka Hrupa, Kyïv, 1976–1988 Ukrainische Helsinki Union (Verband, auch UHS, Українська гельсінська спілка (УГС) / Ukraïns’ka Hel’sins’ka Spilka, aus dem Verband, der 1988–1990 bestand, umgewandelt zur Partei, L’viv 1988–1990 Ukrainischer Kultur-Klub / Український культурологічний клуб (УКК) / Ukraïns’kyj kul’torolohičnyj klub, L’viv 1987–1988 United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization. Paris, ab 1945. Vereinte Nationen / United Nations Organization, ab 1945 Ukrainische Aufständische Armee / Українська повстанська армія (УПА) / Ukraïns’ka povstan’ka armija, 1942–1954 Ukrainische Republikanische Partei / Українська республіканська партія (УРП)/ Ukraïns’ka respublikans’ka partija, am 30.4.1990 hervorgegangen aus der UHU, erste regierende politische Partei der Ukraine, bis 2002, wo sie mit „Sobor“ fusionierte zur „Ukrainischen Republikanischen Partei ‚Sobor‘“ / Українська республіканська партія „собор“ / Ukraïns’ka respublikans’ka partija „Sobor“
348 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht UdSSR
URSS
UVS
VnešPosylTorg
VSChON
WCFU
Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken / SSSR / Союз Советских Социа-листических Республик (СССР), 1922–1991 Ukrainischer Arbeiter- und Bauernverband / Українська робітничо-селянська спілка (УРСС), 1959–1961 Ukrainischer Verlegerverband / Ukraïns’ka vydavnyča spilka / українська видавнича спілка (УВС). London, ab 1949 Внешпосылторг / 1961 geschaffene Ausgabestelle (Kontor) für „Diplomatengeld“ zum Einkauf in den Berjoschka-Läden Всероссийский социал-христианский союз освобождения народа (ВСХОН) / Vserossijskij social-christianskij sojuz-osvoboždenija naroda / Allrussische Sozial-Christliche Union für die Befreiung des Volkes, 1964–1967 World Congress of Free Ukrainian. New York, 1967
• Committee for the Defense of Valentyn Moroz, Toronto, 1973–1974 • Klub der kreativen Jugend / Клуб творчої молоді. Kyïv 1960–1964, L’viv ab 1962 • Ruch, Bürger-Organisation ab 1989, ab 1993 Partei • Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche. Ab 1596, 1989 erneuert • Ukraïns’ke žyttja / Українське життя / Ukrainisches Leben. Auslandsbüro der UHG, ab 1976? • Ukraïns’kyj vyzvolenyj Šljach / Український визвольний шлях / Ukrainische Befreiungsbewegung, Verlag, London, ab 1948
Zeittafel * Die Angaben in der synchronoptischen Zeittafel sind nur stichwortartig Jahr
Politik
1944 01.08. Sept 1945 Febr 02.09.
Ende II. Weltkrieg
16.11. 1947 Dez 1948 April 1949 04.04. 1953 05.03.
† J. Stalin
1956 25.02.
Geheimrede Chruščëvs
1957 Juli
Petition der Krimtataren
1959 1960
349
350 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Jahr
Politik
1961 21.01. Febr 05.10. 28.05. 1962
Dissidenten
Institutionen / Publikationen
S. Karavans’kyj vh V. Romanjuk vh. A. Solženicyn vh UNESCO * Kirche in Not * B. Gajauskas vh Radio Liberty * NATO * URSS * 60er-Jahre-Bewegung I. Svitlyčnyj, I. Dzjuba, Je. Sverstjuk:
Klub der kreativen Jugend K *
Zeittafel 351 Dissidenten
Institutionen / Publikationen
I. Kandyba, L. Lukjanenko vh G. Astra vh A. Ivanov, E. Kuznecov, V. Osipov vh AI * Solženicyn, Tagebuch des Ivan Denissowitsch M. u. B. Horyn’:
Jahr
Klub der kreativen Jugend L *
Politik
1964 01.02. April 24.05.
Brand der Bibliothek der Akademie der Wissenschaften der Ukraine
19.09. Okt
L. Brežnev
1965 24.04. 24.08. 26.08. 28.08. 01.09. 08.09. 11.09. 12.09. 1966 April
Erevan Demonstration 50 J Völkermord
352 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Jahr
Politik
Sommer 1967 17.01. 23.01. 05.09.
Dekret: Freispruch des tatarischen Volks vom kollektiven Verrat
1968 April 30.04. 17.05.
Demonstration Tataren in M
28.08.
Ende Prager Frühling durch 500.000 russ. Soldaten
Herbst
Dissidenten
Institutionen / Publikationen
P. Hryhorenko vh J. Brodskij vh A. Hors’ka / I. Svitlynyj 70
I. Hel’ vh M. Horyn’. J. Kuznecova, V. Moroz vh M. Osadčyj vh rund 20 vh: Svitlyčnyj u.a. A. Sinjavskij (A. Terc) vh
„CJuK“ *
Zeittafel 353 Dissidenten
Institutionen / Publikationen
M. Džemiljev vh. D. Juli vh. Armen. Volkspartei * A. Ginzburg: Weißbuch Refuseniks WCFU * Smoloskyp * J. Galanskoj vh A. Ginzburg vh
Prostestbrief 139 Chronik der laufenden Ereignisse
I. Dzjuba, Internationalismus oder Russifizierung?
Jahr 1969 20.05. April 1970 Jan 01.06. 25.06.
Politik
354 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Jahr
Politik
15.07. Nov 07.11. 24.11. 10.12. 1971 06.12. 1972 Jan Jan 12.01. 14.01. 15.01. 13.02. 19.03. 08.04. 18.05. 05.06.
Dissidenten
Institutionen / Publikationen V. Moroz, Bericht aus dem Berija-Reservat IG *
P. Hajrikjan vh
Zeittafel 355 Dissidenten
Institutionen / Publikationen Ukraïns’kyj Visnyk, 1970-72,
V. Moroz vh (2) Flugzeugentführung + vh L. Chnoch vh Komitee f MR in M * M. Bondar vh M. Horbal vh A. Solženicyn Literaturnobelpreis große Alijah aus der UdSSR beginnt N. Strokata vh V. Stus:
Komitee Verteidigung N. Strokata, L
V. Stus vh V. Romanjuk vh (2) I. Hel’ (2), M. Plachotnjuk, St. Šabatura, I. Stasiv-Kalynec’, D. Šumuk vh Je. Sverstjuk vh L. Pljušč vh Ivan Svitlyčsnyj vh (2) Chronik der kath. Kirche in Litauen Committee for the Defense of Valentyn Moroz, Toronto *
356 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Dissidenten
Institutionen / Publikationen Internationale Gesellschaft für Menschenrechte *
N. Svitlyčyna vh 20 vh J. Brodskij ausgewiesen
Jahr 1972 11.08. 24.10. Dez 13.12. 1973 30.07. Okt Dez 1974 05.02. 12.02. 14.02. 22.04. Okt 13.12. 1975 10.12.
Politik
Zeittafel 357 Jahr
Politik
Dez 1976 Jan 12.05. 09.11. 25.11. Dez 1977 08.01.
Explosion Metro M
14.01. 03.02.
Dissidenten
Institutionen / Publikationen
I. Kalynec’ vh S. Soldatov, A. Juskevitš, K. Mätik, Mati Kiirend, A. Varato:
Estnisches Memorandum
M. Osadčyj vh (2) I. Dzjuba vh KSZE * Komitee f MR d UdSSR beendet Solsenicyn, Archipel Gulag, 1 P. Hajrikjan vh (2)
358 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Dissidenten
Institutionen / Publikationen
A. Solženicyn vh A. Solženicyn ausgewiesen M. Chejfec vh. A. Aršakjan vh K. Mätik vh I. Hel’ u.a., Ehrenkodex des Politgefangenen A. Sacharov: Nobelpreis N. Strokata legt sowjet. Staatsbürgerschaft ab L. Plusc abgeschoben Ju. Orlov:
Helsinki-Gruppe UdSSR *
M. Rudenko:
Ukrainische HelsinkiGruppe *
V. Petkus / T. Venclova u.a.:
Litauische HelsinkiGruppe *
G. Jakunin u.a.:
Christl. Komitee f Verteidigung d Rechte der Gläubigen *
Swiad Gamsachurdia u.a.:
Georgische HelsinkiGruppe * I. Hel’, Hrani kul’tury
A. Ginzburg vh
Zeittafel 359 Jahr
Politik
1977 05.02. 10.02. 15.03. 01.04. 30.11. 10.12. 1978 Nov 08.12. 1979 28.04. Aug 30.11. 1980 22.01. 01.03. Dez 31.08. 1981 12.01. 1982 15.06. Sommer 1984 06.05. 05.09.
Zone Kučino *
360 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Dissidenten
Institutionen / Publikationen
M. Rudenko u O. Tychyj vh Ju. Orlov vh A. Ščaranski vh E. Harutunijan, R. Nazarjan, S. Osjan:
Armenische HelsinkiGruppe *
P. Hryhorenko ausgewandert Amnesty int.: Friedensnobelpreis N. Svitličyna ausgewiesen J. Zisel’s vh S. Naboka u.a.
KDK *
E. Kuznecov, V. Moroz ausgetauscht Baltischer Apell N. Strokata u S. Karavans’kij ausgewandert A. Sacharov vh und n Gorki Verlegung von Gefangenen aus Mordwinien nach Kučino M. Chejfec ausgewandert Solidarność * KDK-Aktivisten vh
Zeittafel 361 Dissidenten
Institutionen / Publikationen
V. Volkov vh F. Anadenko vh Chronik der katholischen Kirche in der Ukraine J. Zisel’s vh (2) † O. Tychyj † Ju. Lytvyn
Jahr
Politik
1985 11.03.
M. Gorbačëv
Frühling 04.09. 1986 26.04.
Čornobyl-Katastrophe
08.12. 19.12. 1987 06.08. 1988 März 1000 Jahre Taufe der Rus’ 08.10. 1989 28.01. 04.06.
Platz des himml. Friedens, Peking
362 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Jahr
Politik
Herbst 22.10 1990 11.03.
Litauen unabh.
04.05.
Lettland unabh.
12.07.
Russische Föderation souverän
16.07.
Ukraine souverän
Okt
Revolution auf Granit
Dissidenten
Institutionen / Publikationen
H. Böll: Literatur-Nobelpreis an Stus! † V. Stus
† A. Marčenko A. Sacharov rehabil. UKK * P. Hajrikjan vh Jüdische Wiedergeburt in Černivci „Ruch“ * ChPG * Ukrainische Helsinki-Union *
Zeittafel 363 Dissidenten
Institutionen / Publikationen Memorial *
Projekt Czernowitz Ukrainische Griech.-Kath. Kirche * Ukrainische Autokephale Orth. Kirche * Holos vidrodžennja Naša vira Postup
Jahr
Politik
1991 09.04.
Georgien unabh.
12.06.
B. Elcin
19.08.
Putschversuch Moskau
24.08.
Ukraine unabh.
21.09.
Armenien unabh.
05.12.
L. Kravčuk
1994 19.07.
L. Kučma
Sept 05.12.
Budapester Memorandum (Atomwaffen)
1999 31.12. 2000 April 17.09. 2002
V. Putin
364 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Jahr
Politik
29.06. 2003 Nov
Rosenrevolution in Georgien
2004 21.11.
Orangene Revolution
2005 23.01.
V. Juščenko
2010 25.02.
V. Janukovyč
Dez
Arabischer Frühling
2011 Jan
Tahir-Platz Kairo
28.05. Dez
Dissidenten
Institutionen / Publikationen Post-Postup Book Forum L’viv * Ukraïns’ka Pravda *
† H. Gongadse Ukrainian Catholic University * Book Arsenal * Initiativgruppe 1. Dezember
Zeittafel 365 Jahr
Politik
2013 21.11.
#Euromaidan
2014 Febr
Annexion der Krim
März
Okkupation Ostukraine
07.06.
V. Porošenko
2015 12.02.
Minsk II
2016 15.07.
Türkischer Militärputsch
2019 20.05.
V. Selenskyj
2022 24.02.
Dissidenten
Überfall Russlands auf Ukraine
Institutionen / Publikationen
Literatur Biografisches Osyp Stepanovyč Zinkevyč (Red.), Ruch oporu v Ukraïni. 1960– 1990. Enyklopedyčnyj dovidnyk. Smoloskyp, Kyïv, 2. erw. Ausgabe 2012.1 Aleksander Daniel, Słownik dysydentów. Czołowe postacie ruchów opozycyjnych w krajach komunistycznych w latach 1956–1989 (tom I–II), wyd. Fundacja Ośrodka KARTA, Warszawa 2007 = Alexander Daniel / Zbigniew Gluza, Slovník disidentů: přední osobnosti opozičních hnutí v komunistických zemích v letech 1956-1989. Praha 2019. [Artikel der Bände bilden die Vorlage für die Biografien der dissidenten.eu-Webseite] Jevhen Zacharov / Vasyl’ Ovsijenko (ukl.), Mižnarodnyj biografičnyj slovnyk dysydentiv kraïn central’noï ta schidnoï Jevropy i kolyšnoho SRSR. Tom 1. Ukraïna. 1–3. Charkivs ’ka Pravozachysna Hrupa, Charkiv 2006–2011.2 S. P. de Boer, E. J. Driessen, H. L. Verhaar (Ed.), Biographical Dictionary of Dissidents in the Soviet Union, 1956–1975. Martinus Nijhoff, Den Haag 1982. Iofe-Archiv https://arch2.iofe.center/persons Biografisches Lexikon Widerstand und Opposition im Kommunismus 1945–1991 https://www.dissidenten.eu/laender/ukraine/ biografien/
Spezialwörterbücher • Lesja Stavyc’ka, Ukraïns’kyj žargon. Slovnyk. Krytyka, Kyïv 2005.3 • Klaus Laubenthal, Lexikon der Knastsprache. Von Affenkotelett bis Zweidrittelgeier. Lexikon Imprint Verlag, Berlin 2001.
1 2
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Die 1. Auflage des Bandes über die Widerstandsbewegung findet sich auch online als PDF: https://chtyvo.org.ua/authors/Zinkevych_Osyp/Rukh_oporu_ v_Ukraini_1960_1990_Entsyklopedychnyi_dovidnyk/ Die drei Bände sind über die Bibliothek der Charkiver Menschenrechtsgruppe leicht als PDF-Dokumente herunterzuladen: https://library.khpg.org/index .php?id=1558206322, https://library.khpg.org/index.php?id=1558205809 und https://library.khpg.org/index.php?id=1558199577 Online lässt sich das Wörterbuch hier konsultieren: http://ukr-zhargon .wikidot.com/peredmova
367
368 Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Anthologien • Oleksij Zinchenko (Red.), Dysydenty. Antolohija tesktiv. Duch i litera, Kyïv 2018. • Oleksii Sinchenko / Dmytro Stus / Leonid Finberg (Eds.), Ukrainian Dissidents: An Anthology oft Texts. Ibidem, Stuttgart 2021 (Ukrainian Voices; 10). [engl. Übersetzung des vorhergehenden Titels] Dokumentationen • Oles’ Ševčenko (Red.), Ukraïns’ka Hel’sins’ka Spilka u spohadach i dokumentach. Jaroslaviv Val, Kyïv 2012. • Vasyl’ Danylenko, Polityčni protesty j inakodumstvo v Ukraïni (1960–1990). Smoloskyp, Kyïv 2013. Helsinki-Bewegung • Osip Zinkevyč (Red.), Ukraïns’ka Hel’sins’ka Hrupa, 1978– 1982: dokumenty i materialy. Smoloskyp, Toronto-Baltimore 1983. • Osip Zinkevyč / Vasyl’ Ovsijenko (Red.), Ukraïns’ka Hel’sins’ka Hrupa. Smoloskyp, Kyïv 2006. • Oleksandr Tkačuk (Red.), Ukraïns’ka Hel’sins’ka Spilka, (1988– 1990 rr.): u svitlynach i dokumentach. Smoloskyp, Kyïv 2009.4 • Viktoras Petkus (Hrsg.), Lietuvos Helsinkio Grupe. Lietuvos Gyventoju Genocido ir Rezistencijos Tyrimo Centras, Vilnius 1999. • Juozas Banionis, Lietuvos laisvinimas Vakaruose po Helsinkio akto 1975–1994. The fight for liberation of Lithuania in the West after the Helsinki Act = Dviženie za osvoboždenie Litvy na Zapade posle Chel’sinkskogo Akta. Lietuvos gyventojų genocido ir rezistencijos tyrimo centras, Vilnius 2017. Zeitschriftenbibliografie • Ann Komaromi / Gennadij V. Kuzovkin, Katalog periodiki Samizdata. 1956–1986. Meždunarodnyj Memorial, Moskva 2018.4
4
Online als PDF: https://imwerden.de/pdf/komaromi_kuzovkin_katalog_pe riodiki_samizdata_1956-1986_2018__izd.pdf
Literatur 369 Webseiten • Virtuelles Museum der Dissidenten-Bewegung in der Ukraine: https://museum.khpg.org/ • Memorial: https://www.memo.ru/en-us/ • Internationale Gesellschaft für Menschenrechte: https:// www.igfm.de/ • Radio Liberty / Radio Svoboda: https://www.rferl.org/ • Dissidenten-Projekt von Vakhtang Kipiani (deutsch u.a. Sprachen): https://www.istpravda.com.ua/ger/dissidents/
Abkürzungen * f. op. spr. vh
gegründet Fonds Findbuch Akte, Angelegenheit verhaftet
Die Städte L’viv, Kyïv und Moskva sind in der Zeittafel jeweils mit einem Großbuchstaben abgekürzt
371
Nachwort des Übersetzers Im Herbst 1995 war ich eine Woche bei Jevhen Sverstjuk in Kyïv zu Gast. Ich besuchte zum zweiten Mal die Ukraine, verbrachte erst zwei Wochen in L’viv bei Familie Kryp’jakevyč und reiste anschließend in der Hauptstadt der Ukraine. Vermittelt hatte mir diese beiden Kontakte zu ehemaligen Oppositionellen zum Sowjetregime Anna-Halja Horbatsch. Damals konzentrierte ich mich hauptsächlich auf das Kennenlernen der Kirchensituation, lernte aber bald auch eine Reihe von Personen kennen, die Vakhtang Kipiani in seiner Sammlung vorstellt – Dissidenten. Von sowjetischen Dissidenten erfuhr ich erstmals Mitte der 70er Jahre. In der Schulzeit hatten wir dank eines kritischen Schuldirektors neben einigen englischsprachigen Dystopien auch die Werke Solženicyns kennenzulernen. So las ich „Das Tagebuch des Ivan Denissowitsch“ und zumindest den ersten Band des „Archipel Gulag“. Namen anderer russischer Dissidenten wurden mir durch ihre deutsche Buchübersetzungen bekannt. In der Frankfurter Goethestraße boten unweit der sozialistischen Kollektivbuchhandlung Antiquariate deren Titel an. Gleichzeitig lasen wir auch die Gefängnis-Aufzeichnungen Albert Speers, auch sie auf Kassibern hinausgeschmuggelt. Durch den vielseitig engagierten, interessierten und verdienstvollen evangelischen Pfarrer und Religionslehrer an einem Offenbacher Gymnasium Albert Kratz – sein Bruder war im 2. Weltkrieg in Russland „verschimmelt“, wie er sich drastisch ausdruckte, einer seiner Söhne wurde Slawist und Bibliothekar, und heiratete gerade eine Russin – wusste ich damals zumindest schon, dass es in Frankfurt die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) gab und in Königstein das katholische Hilfswerk „Kirche in Not“. Beide Institutionen engagierten sich jahrzehntelang besonders auch für Dissidenten in Osteuropa. Ukrainer indes kamen mir noch nicht in den Blick. Die ukrainische Geisteswelt eröffnete sich mir erst, nachdem ich 1992/93 die Bibliografie des Heidelberger Konfessionskundlers Friedrich Heyer für seine Festschrift zusammengetragen hatte und 373
374 Ukrainische
Dissidenten unter
der
Sowjetmach
dann mit dem betagten Professor im Herbst 1994 für 10 Tage in Kyïv und L’viv war, um verschiedene Menschen auf Kirchen und Wissenschaft zu treffen. Mit Jevhen Sverstjuk, einstigem Dissidenten und nun Präsident des ukrainischen PEN-Klubs, lernte ich ab 1995 auch die Literaturwelt Kyïvs kennen. Einige der hier in dem Buch vorgestellten Dissidenten habe ich später noch als betagte Damen und Herren auf den Kyïver und L’viver Buchmessen erlebt, wo sie ihre Bücher vorstellten. Die ukrainischen Dissidenten haben eine neue Aktualität gewonnen, nachdem Russland 2014 die Krim und weitere ostukrainische Gebiete okkupierte. Ihre Stimmen und ihre Erfahrung wurden wieder ins Zentrum gerückt. Nach dem Überfall und Krieg Russlands im Februar 2022 ist das allgemeine Interesse an dem Geschick der Menschen in der Ukraine gewachsen. Die über eine Zeitspanne von mehr als 20 Jahren hinweg entstandenen Interviews Kipianis, von denen die hier präsentierten mit 19 Dissidenten nur einen kleinen Ausschnitt bilden, können ein guter Hintergrund sein für ein vertieftes Verständnis der Ukrainer und ihrer Erfahrungen. Wiederholt taucht ein Name auf: Vasyl’ Stus. Ihm und seiner Strafsache hat Kipiani eine eigene umfangreiche Untersuchung gewidmet. Auffallen mag den Lesern auch das große Interesse des Interviewers an den von den Dissidenten veröffentlichten Periodika. Dies erklärt sich nicht allein aus dem Sammlerinteresse Kipianis, sondern vor allem auch daraus, dass Medien, vor allem jeweils neue Medien, stets eine große Rolle bei den verschiedenen sogenannten Revolutionen der Ukraine ab dem Ende des 20. Jahrhunderts gespielt haben. Und zwar sowohl für diejenigen, die sich kreativ um sie versammelt haben, als auch für diejenigen, die auf diesem Wege informiert wurden. Ohne Samizdat, Mobiltelefone, E-Mail, Twitter, Facebook und zuletzt wohl auch bereits KI – sind die Ukrainer doch bekannt für ihre hervorragenden IT-Leute – wäre vieles nicht nur undenkbar gewesen, sondern einfach nicht geschehen. Was mir an dem hier übersetzten Autor Vakhtang Kipiani besonders gefällt, ist seine große Rezeptionsfähigkeit, sein informiertes, beharrliches Nachfragen und sein nicht nachlassender
Nachwort des Übersetzers 375 Eifer, Zeugnisse der Dissidenten für seine Seite „Historische Wahrheit“ zu sammeln. Zur vorliegenden Übersetzungsausgabe einige Erklärungen: Eine Reihe von Interviews wurden auf Russisch, vielleicht auch in baltischen Sprachen oder gar auf Krimtatarisch vorgenommen und anschließend ins Ukrainische übersetzt, und zwar die mit Balys Gajauskas, Kalju Mätik, Mustafa Džemiljev, Josyf Zisel’s, Michail Chejfec, Alexander Daniel’, Fred Anadenko, Für die Übersetzung hier spielt dies nur insofern eine Rolle, als sich durch die Übersetzungen wenige Male Fehler eingeschlichen hatten, die es zu klären galt. Bei der Transliterierung habe ich mich an die wissenschaftliche Schreibweise gehalten. Einige Orts- und Personennamen werden nach der krimtatarischen Schreibweise geschrieben. Für den deutschen Leser habe ich weiterführende Anmerkungen eingetragen. Die Anmerkungen Kipianis sind mit dem Kürzel V.K. versehen. Um die Orientierung etwas zu unterstützen, habe ich außerdem am Ende eine Übersicht der erwähnten Zeitungen und Zeitschriften hinzugefügt, dies auch, um dem großen Sammler von Dissidenten-Periodika Kipiani eine kleine Ehre zu erweisen: Kipiani hat seine mehrere Jahrzehnte gewachsene, umfangreiche Sammlung bereits 2015 in ein eigenes Museum und Archiv umgewandelt, das sich in Kyïv befindet. Außerdem habe ich ein Verzeichnis der für die Ukraine nicht weniger als für Russland „gebräuchlichen“ Abkürzungen für Organisationen angefertigt, die in dem Buch angeführt sind. Ein von mir erstelltes, kleines weiterführendes Literaturverzeichnis sowie ein Versuch einer Zeittafel beschließen das Studium der ukrainischen Dissidenten. Christian Weise Frankfurt-Höchst 9.9.2023 Zusammenfassung Die Sammlung von Vakhtang Kipianis Interviews mit Dissidenten sind Gespräche mit jenen, die das Fundament des Gefängnisses, das sich Sowjetunion nannte, untergruben; Gespräche mit ehemaligen
376 Ukrainische
Dissidenten unter
der
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politischen Gefangenen, die sich nicht als Helden betrachteten, aber es gleichwohl waren, und die mutig in die Feuerprobe gingen, in der die Anständigsten verbrannt wurden. Die Menschen, die das System herausforderten, waren in Bezug auf Alter, Überzeugungen, Geschlecht und Nationalität sehr unterschiedlich: Balys Gajauskas, der 37 Jahre in Gefangenschaft verbrachte und im unabhängigen Litauen Chef des Sicherheitsdienstes wurde; Kalju Mätik, der einst in den Reihen der Demokratischen Bewegung Estlands im Untergrund antisowjetischer Aktivitäten beschuldigt wurde; Mustafa Džemiljev, der für die Rechte der Krimtataren kämpfte; Levko Luk’janenko, ein Gründungsmitglied der ukrainischen Helsinki-Gruppe; Nadija Svitlyčna, Angehörige der SechzigerjahreBewegung, Menschenrechtsaktivistin und Journalistin. Ein armenischer Politiker, mehrere Menschen aus jüdischen Familien, die die Erlebnisse der „Refuseniks“ und der weiterhin in der Ukraine Lebenden mitteilen. Die Interviews mit neunzehn Dissidenten, in deren Gesprächen eine Vielzahl von Themen beleuchtet werden, haben bis heute ihre Aktualität nicht verloren. Auf eine Fülle weiterer Interviews und Texte – von Kipiani wie auch anderen – wird verwiesen. Gewidmet ist die deutsche Übersetzung dem im Frühjahr 2023 verstorbenen Dissidenten und Mitstreiter Kipianis bei der Erforschung und Dokumentierung der ukrainischen Dissidenten, Vasyl’ Ovsijenko. Vakhtang Kipiani Vakhtang Kipiani, 1971 in Tiflis geboren, ist ein prominenter ukrainischer politischer Publizist sowie Redakteur der populären Kyïver Internet-Zeitschrift „Istoryčna Pravda“ (Historische Wahrheit). Er war 1990 als Student aktiver Teilnehmer der „Revolution auf dem Granit“ – so benannt nach dem Stein auf dem Kyïver Majdan Nezaležnosti – deren Nachwirkungen schließlich zur Unabhängigkeit der Ukraine im August 1991 führten. Nach einem Geschichtsstudium arbeitete er für mehrere ukrainische Zeitungen und Fernsehsender sowie als Dozent für Journalistik an der Ukrainischen Katholischen Universität.
Nachwort des Übersetzers 377 Kipiani erforscht die illegale Presse sowie Dissidentenbewegung der Sowjetzeit und Ausprägungen von Extremismus in den heutigen Medien. Zu seinen früheren Anthologien gehören u.a. „Der Fall Vasyl Stus“ (Vivat 2019) zum sowjetischen Prozess gegen den bedeutenden ostukrainischen Dichter und „Ukraine. Frauenschicksale“ (Vivat 2021) mit Zeugnissen bedeutender ukrainischer Frauen des 20. Jahrhunderts. Christian Weise, 1960 in Berlin geboren, beschäftigt sich nach dem Studium von Philosophie und Theologie lesend, schreibend und übersetzend seit 1993 mit einem breiteren Spektrum theologischer, historischer, biographischer und literarischer Seiten der Ukraine.
Ukrainian Voices Collected by Andreas Umland 1
Mychailo Wynnyckyj Ukraine’s Maidan, Russia’s War
A Chronicle and Analysis of the Revolution of Dignity With a foreword by Serhii Plokhy ISBN 978-3-8382-1327-9
2
Olexander Hryb Understanding Contemporary Ukrainian and Russian Nationalism
The Post-Soviet Cossack Revival and Ukraine’s National Security With a foreword by Vitali Vitaliev ISBN 978-3-8382-1377-4
3
Marko Bojcun Towards a Political Economy of Ukraine Selected Essays 1990–2015 With a foreword by John-Paul Himka ISBN 978-3-8382-1368-2
4
Volodymyr Yermolenko (ed.) Ukraine in Histories and Stories
Essays by Ukrainian Intellectuals With a preface by Peter Pomerantsev ISBN 978-3-8382-1456-6
5
Mykola Riabchuk At the Fence of Metternich’s Garden
Essays on Europe, Ukraine, and Europeanization ISBN 978-3-8382-1484-9
6
Marta Dyczok Ukraine Calling
A Kaleidoscope from Hromadske Radio 2016–2019 With a foreword by Andriy Kulykov ISBN 978-3-8382-1472-6
7
Olexander Scherba Ukraine vs. Darkness
Undiplomatic Thoughts With a foreword by Adrian Karatnycky ISBN 978-3-8382-1501-3
8
Olesya Yaremchuk Our Others
Stories of Ukrainian Diversity With a foreword by Ostap Slyvynsky Translated from the Ukrainian by Zenia Tompkins and Hanna Leliv ISBN 978-3-8382-1475-7
9
Nataliya Gumenyuk Die verlorene Insel
Geschichten von der besetzten Krim Mit einem Vorwort von Alice Bota Aus dem Ukrainischen übersetzt von Johann Zajaczkowski ISBN 978-3-8382-1499-3
10
Olena Stiazhkina Zero Point Ukraine
Four Essays on World War II Translated from the Ukrainian by Svitlana Kulinska ISBN 978-3-8382-1550-1
11
Oleksii Sinchenko, Dmytro Stus, Leonid Finberg (compilers) Ukrainian Dissidents An Anthology of Texts ISBN 978-3-8382-1551-8
12
John-Paul Himka Ukrainian Nationalists and the Holocaust
OUN and UPA’s Participation in the Destruction of Ukrainian Jewry, 1941–1944 ISBN 978-3-8382-1548-8
13
Andrey Demartino False Mirrors
The Weaponization of Social Media in Russia’s Operation to Annex Crimea With a foreword by Oleksiy Danilov ISBN 978-3-8382-1533-4
14
Svitlana Biedarieva (ed.) Contemporary Ukrainian and Baltic Art
Political and Social Perspectives, 1991–2021 ISBN 978-3-8382-1526-6
15
Olesya Khromeychuk A Loss
The Story of a Dead Soldier Told by His Sister With a foreword by Andrey Kurkov ISBN 978-3-8382-1570-9
16
Marieluise Beck (Hg.) Ukraine verstehen
Auf den Spuren von Terror und Gewalt Mit einem Vorwort von Dmytro Kuleba ISBN 978-3-8382-1653-9
17
Stanislav Aseyev Heller Weg
Geschichte eines Konzentrationslagers im Donbass 2017–2019 Aus dem Russischen übersetzt von Martina Steis und Charis Haska ISBN 978-3-8382-1620-1
18
Mykola Davydiuk Wie funktioniert Putins Propaganda?
Anmerkungen zum Informationskrieg des Kremls Aus dem Ukrainischen übersetzt von Christian Weise ISBN 978-3-8382-1628-7
19
Olesya Yaremchuk Unsere Anderen Geschichten ukrainischer Vielfalt
Aus dem Ukrainischen übersetzt von Christian Weise ISBN 978-3-8382-1635-5
20
Oleksandr Mykhed „Dein Blut wird die Kohle tränken“
Über die Ostukraine Aus dem Ukrainischen übersetzt von Simon Muschick und Dario Planert ISBN 978-3-8382-1648-5
21
Vakhtang Kipiani (Hg.) Der Zweite Weltkrieg in der Ukraine
Geschichte und Lebensgeschichten Aus dem Ukrainischen übersetzt von Margarita Grinko ISBN 978-3-8382-1622-5
22
Vakhtang Kipiani (ed.) World War II, Uncontrived and Unredacted
Testimonies from Ukraine Translated from the Ukrainian by Zenia Tompkins and Daisy Gibbons ISBN 978-3-8382-1621-8
23
Dmytro Stus Vasyl Stus
Life in Creativity Translated from the Ukrainian by Ludmila Bachurina ISBN 978-3-8382-1631-7
24
Vitalii Ogiienko (ed.) The Holodomor and the Origins of the Soviet Man
Reading the Testimony of Anastasia Lysyvets With forewords by Natalka Bilotserkivets and Serhy Yekelchyk Translated from the Ukrainian by Alla Parkhomenko and Alexander J. Motyl ISBN 978-3-8382-1616-4
25
Vladislav Davidzon Jewish-Ukrainian Relations and the Birth of a Political Nation Selected Writings 2013-2021 With a foreword by Bernard-Henri Lévy ISBN 978-3-8382-1509-9
26
Serhy Yekelchyk Writing the Nation
The Ukrainian Historical Profession in Independent Ukraine and the Diaspora ISBN 978-3-8382-1695-9
27
Ildi Eperjesi, Oleksandr Kachura Shreds of War
Fates from the Donbas Frontline 2014-2019 With a foreword by Olexiy Haran ISBN 978-3-8382-1680-5
28
Oleksandr Melnyk World War II as an Identity Project
Historicism, Legitimacy Contests, and the (Re-)Construction of Political Communities in Ukraine, 1939–1946 With a foreword by David R. Marples ISBN 978-3-8382-1704-8
29
Olesya Khromeychuk Ein Verlust
Die Geschichte eines gefallenen ukrainischen Soldaten, erzählt von seiner Schwester Mit einem Vorwort von Andrej Kurkow Aus dem Englischen übersetzt von Lily Sophie ISBN 978-3-8382-1770-3
30
Tamara Martsenyuk, Tetiana Kostiuchenko (eds.) Russia’s War in Ukraine 2022 Personal Experiences of Ukrainian Scholars ISBN 978-3-8382-1757-4
31
Ildikó Eperjesi, Oleksandr Kachura Shreds of War. Vol. 2 Fates from Crimea 2015–2022 With an interview of Oleh Sentsov ISBN 978-3-8382-1780-2
32
Yuriy Lukanov, Tetiana Pechonchik (eds.) The Press: How Russia destroyed Media Freedom in Crimea With a foreword by Taras Kuzio ISBN 978-3-8382-1784-0
33
Megan Buskey Ukraine Is Not Dead Yet
A Family Story of Exile and Return ISBN 978-3-8382-1691-1
34
Vira Ageyeva Behind the Scenes of the Empire
Essays on Cultural Relationships between Ukraine and Russia With a foreword by Oksana Zabuzhko ISBN 978-3-8382-1748-2
35
Marieluise Beck (ed.) Understanding Ukraine
Tracing the Roots of Terror and Violence With a foreword by Dmytro Kuleba ISBN 978-3-8382-1773-4
36
Olesya Khromeychuk A Loss
The Story of a Dead Soldier Told by His Sister, 2nd edn. With a foreword by Philippe Sands With a preface by Andrii Kurkov ISBN 978-3-8382-1870-0
37
Taras Kuzio, Stefan Jajecznyk-Kelman Fascism and Genocide Russia’s War Against Ukrainians ISBN 978-3-8382-1791-8
38
Alina Nychyk Ukraine Vis-à-Vis Russia and the EU
Misperceptions of Foreign Challenges in Times of War, 2014–2015 With a foreword by Paul D’Anieri ISBN 978-3-8382-1767-3
39
Sasha Dovzhyk (ed.) Ukraine Lab
Global Security, Environment, Disinformation Through the Prism of Ukraine With a foreword by Rory Finnin ISBN 978-3-8382-1805-2
40
Serhiy Kvit Media, History, and Education
Three Ways to Ukrainian Independence With a preface by Diane Francis ISBN 978-3-8382-1807-6
41
Anna Romandash Women of Ukraine
Reportages from the War and Beyond ISBN 978-3-8382-1819-9
42
Dominika Rank Matzewe in meinem Garten
Abenteuer eines jüdischen Heritage-Touristen in der Ukraine ISBN 978-3-8382-1810-6
43
Myroslaw Marynowytsch Das Universum hinter dem Stacheldraht
Memoiren eines sowjet-ukrainischen Dissidenten Mit einem Vorwort von Timothy Snyder und einem Nachwort von Max Hartmann ISBN 978-3-8382-1806-9
44
Konstantin Sigow Für Deine und meine Freiheit
Europäische Revolutions- und Kriegserfahrungen im heutigen Kyjiw Mit einem Vorwort von Karl Schlögel Herausgegeben von Regula M. Zwahlen ISBN 978-3-8382-1755-0
45
Kateryna Pylypchuk The War that Changed Us
Ukrainian Novellas, Poems, and Essays from 2022 With a foreword by Victor Yushchenko Paperback ISBN 978-3-8382-1859-5 Hardcover ISBN 978-3-8382-1860-1
46
Kyrylo Tkachenko Rechte Tür Links
Radikale Linke in Deutschland, die Revolution und der Krieg in der Ukraine, 2013-2018 ISBN 978-3-8382-1711-6
47
Alexander Strashny The Ukrainian Mentality
An Ethno-Psychological, Historical and Comparative Exploration With a foreword by Antonina Lovochkina ISBN 978-3-8382-1886-1
48
Alona Shestopalova Pandora’s TV Box
How Russian TV Turned Ukraine into an Enemy Which has to be Fought ISBN 978-3-8382-1884-7
49
Iaroslav Petik Politics and Society in the Ukrainian People’s Republic (1917–1921) and Contemporary Ukraine (2013–2022) A Comparative Analysis With a foreword by Oleksiy Tolochko ISBN 978-3-8382-1817-5
50
Serhii Plokhii Der Mann mit der Giftpistole ISBN 978-3-8382-1789-5
51
Vakhtang Kipiani Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Im Kampf um Wahrheit und Freiheit ISBN 978-3-8382-1890-8
52
Dmytro Shestakov When Businesses Test Hypotheses
A Four-Step Approach to Risk Management for Innovative Startups With a foreword by Anthony J. Tether ISBN 978-3-8382-1883-0
53
Larissa Babij A Kind of Refugee
The Story of an American Who Refused to Leave Ukraine With a foreword by Vladislav Davidzon ISBN 978-3-8382-1898-4
54
Julia Davis In Their Own Words
How Russian Propagandists Reveal Putin’s Intentions ISBN 978-3-8382-1909-7
55
Sonya Atlanova, Oleksandr Klymenko Icons on Ammo Boxes
Painting Life on the Remnants of Russia’s War in Donbas, 2014-21 Translated by Anastasya Knyazhytska ISBN 978-3-8382-1892-2
56
Leonid Ushkalov Catching an Elusive Bird
The Life of Hryhorii Skovoroda ISBN 978-3-8382-1894-6
57
Vakhtang Kipiani Ein Land weiblichen Geschlechts
Ukrainische Frauenschicksale im 20. und 21. Jahrhundert ISBN 978-3-8382-1891-5
58
Petro Rychlo „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe ...“ Deutschjüdische Dichter der Bukowina ISBN 978-3-8382-1893-9
Book series “Ukrainian Voices” Collector Andreas Umland, National University of Kyiv-Mohyla Academy Editorial Board Lesia Bidochko, National University of Kyiv-Mohyla Academy Svitlana Biedarieva, George Washington University, DC, USA Ivan Gomza, Kyiv School of Economics, Ukraine Natalie Jaresko, Aspen Institute, Kyiv/Washington Olena Lennon, University of New Haven, West Haven, USA Kateryna Yushchenko, First Lady of Ukraine 2005-2010, Kyiv Oleksandr Zabirko, University of Regensburg, Germany Advisory Board Iuliia Bentia, National Academy of Arts of Ukraine, Kyiv Natalya Belitser, Pylyp Orlyk Institute for Democracy, Kyiv Oleksandra Bienert, Humboldt University of Berlin, Germany Sergiy Bilenky, Canadian Institute of Ukrainian Studies, Toronto Tymofii Brik, Kyiv School of Economics, Ukraine Olga Brusylovska, Mechnikov National University, Odesa Mariana Budjeryn, Harvard University, Cambridge, USA Volodymyr Bugrov, Shevchenko National University, Kyiv Olga Burlyuk, University of Amsterdam, The Netherlands Yevhen Bystrytsky, NAS Institute of Philosophy, Kyiv Andrii Danylenko, Pace University, New York, USA Vladislav Davidzon, Atlantic Council, Washington/Paris Mykola Davydiuk, Think Tank “Polityka,” Kyiv Andrii Demartino, National Security and Defense Council, Kyiv Vadym Denisenko, Ukrainian Institute for the Future, Kyiv Oleksandr Donii, Center for Political Values Studies, Kyiv Volodymyr Dubovyk, Mechnikov National University, Odesa Volodymyr Dubrovskiy, CASE Ukraine, Kyiv Diana Dutsyk, National University of Kyiv-Mohyla Academy Marta Dyczok, Western University, Ontario, Canada Yevhen Fedchenko, National University of Kyiv-Mohyla Academy Sofiya Filonenko, State Pedagogical University of Berdyansk Oleksandr Fisun, Karazin National University, Kharkiv
Oksana Forostyna, Webjournal “Ukraina Moderna,” Kyiv Roman Goncharenko, Broadcaster “Deutsche Welle,” Bonn George Grabowicz, Harvard University, Cambridge, USA Gelinada Grinchenko, Karazin National University, Kharkiv Kateryna Härtel, Federal Union of European Nationalities, Brussels Nataliia Hendel, University of Geneva, Switzerland Anton Herashchenko, Kyiv School of Public Administration John-Paul Himka, University of Alberta, Edmonton Ola Hnatiuk, National University of Kyiv-Mohyla Academy Oleksandr Holubov, Broadcaster “Deutsche Welle,” Bonn Yaroslav Hrytsak, Ukrainian Catholic University, Lviv Oleksandra Humenna, National University of Kyiv-Mohyla Academy Tamara Hundorova, NAS Institute of Literature, Kyiv Oksana Huss, University of Bologna, Italy Oleksandra Iwaniuk, University of Warsaw, Poland Mykola Kapitonenko, Shevchenko National University, Kyiv Georgiy Kasianov, Marie CurieSkłodowska University, Lublin Vakhtang Kebuladze, Shevchenko National University, Kyiv Natalia Khanenko-Friesen, University of Alberta, Edmonton Victoria Khiterer, Millersville University of Pennsylvania, USA Oksana Kis, NAS Institute of Ethnology, Lviv Pavlo Klimkin, Center for National Resilience and Development, Kyiv Oleksandra Kolomiiets, Center for Economic Strategy, Kyiv Sergiy Korsunsky, Kobe Gakuin University, Japan
Nadiia Koval, Kyiv School of Economics, Ukraine Volodymyr Kravchenko, University of Alberta, Edmonton Oleksiy Kresin, NAS Koretskiy Institute of State and Law, Kyiv Anatoliy Kruglashov, Fedkovych National University, Chernivtsi Andrey Kurkov, PEN Ukraine, Kyiv Ostap Kushnir, Lazarski University, Warsaw Taras Kuzio, National University of Kyiv-Mohyla Academy Serhii Kvit, National University of Kyiv-Mohyla Academy Yuliya Ladygina, The Pennsylvania State University, USA Yevhen Mahda, Institute of World Policy, Kyiv Victoria Malko, California State University, Fresno, USA Yulia Marushevska, Security and Defense Center (SAND), Kyiv Myroslav Marynovych, Ukrainian Catholic University, Lviv Oleksandra Matviichuk, Center for Civil Liberties, Kyiv Mykhailo Minakov, Kennan Institute, Washington, USA Anton Moiseienko, The Australian National University, Canberra Alexander Motyl, Rutgers University-Newark, USA Vlad Mykhnenko, University of Oxford, United Kingdom Vitalii Ogiienko, Ukrainian Institute of National Remembrance, Kyiv Olga Onuch, University of Manchester, United Kingdom Olesya Ostrovska, Museum “Mystetskyi Arsenal,” Kyiv Anna Osypchuk, National University of Kyiv-Mohyla Academy Oleksandr Pankieiev, University of Alberta, Edmonton Oleksiy Panych, Publishing House “Dukh i Litera,” Kyiv Valerii Pekar, Kyiv-Mohyla Business School, Ukraine Yohanan Petrovsky-Shtern, Northwestern University, Chicago Serhii Plokhy, Harvard University, Cambridge, USA Andrii Portnov, Viadrina University, Frankfurt-Oder, Germany Maryna Rabinovych, Kyiv School of Economics, Ukraine Valentyna Romanova, Institute of Developing Economies, Tokyo Natalya Ryabinska, Collegium Civitas, Warsaw, Poland Darya Tsymbalyk, University of Oxford, United Kingdom
Vsevolod Samokhvalov, University of Liege, Belgium Orest Semotiuk, Franko National University, Lviv Viktoriya Sereda, NAS Institute of Ethnology, Lviv Anton Shekhovtsov, University of Vienna, Austria Andriy Shevchenko, Media Center Ukraine, Kyiv Oxana Shevel, Tufts University, Medford, USA Pavlo Shopin, National Pedagogical Dragomanov University, Kyiv Karina Shyrokykh, Stockholm University, Sweden Nadja Simon, freelance interpreter, Cologne, Germany Olena Snigova, NAS Institute for Economics and Forecasting, Kyiv Ilona Solohub, Analytical Platform “VoxUkraine,” Kyiv Iryna Solonenko, LibMod - Center for Liberal Modernity, Berlin Galyna Solovei, National University of Kyiv-Mohyla Academy Sergiy Stelmakh, NAS Institute of World History, Kyiv Olena Stiazhkina, NAS Institute of the History of Ukraine, Kyiv Dmitri Stratievski, Osteuropa Zentrum (OEZB), Berlin Dmytro Stus, National Taras Shevchenko Museum, Kyiv Frank Sysyn, University of Toronto, Canada Olha Tokariuk, Center for European Policy Analysis, Washington Olena Tregub, Independent AntiCorruption Commission, Kyiv Hlib Vyshlinsky, Centre for Economic Strategy, Kyiv Mychailo Wynnyckyj, National University of Kyiv-Mohyla Academy Yelyzaveta Yasko, NGO “Yellow Blue Strategy,” Kyiv Serhy Yekelchyk, University of Victoria, Canada Victor Yushchenko, President of Ukraine 2005-2010, Kyiv Oleksandr Zaitsev, Ukrainian Catholic University, Lviv Kateryna Zarembo, National University of Kyiv-Mohyla Academy Yaroslav Zhalilo, National Institute for Strategic Studies, Kyiv Sergei Zhuk, Ball State University at Muncie, USA Alina Zubkovych, Nordic Ukraine Forum, Stockholm Liudmyla Zubrytska, National University of Kyiv-Mohyla Academy
Friends of the Series Ana Maria Abulescu, University of Bucharest, Romania Łukasz Adamski, Centrum Mieroszewskiego, Warsaw Marieluise Beck, LibMod—Center for Liberal Modernity, Berlin Marc Berensen, King’s College London, United Kingdom Johannes Bohnen, BOHNEN Public Affairs, Berlin Karsten Brüggemann, University of Tallinn, Estonia Ulf Brunnbauer, Leibniz Institute (IOS), Regensburg Martin Dietze, German-Ukrainian Culture Society, Hamburg Gergana Dimova, Florida State University, Tallahassee/London Caroline von Gall, Goethe University, Frankfurt-Main Zaur Gasimov, Rhenish Friedrich Wilhelm University, Bonn Armand Gosu, University of Bucharest, Romania Thomas Grant, University of Cambridge, United Kingdom Gustav Gressel, European Council on Foreign Relations, Berlin Rebecca Harms, European Centre for Press & Media Freedom, Leipzig André Härtel, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin/Brussels Marcel Van Herpen, The Cicero Foundation, Maastricht Richard Herzinger, freelance analyst, Berlin Mieste Hotopp-Riecke, ICATAT, Magdeburg Nico Lange, Munich Security Conference, Berlin Martin Malek, freelance analyst, Vienna Ingo Mannteufel, Broadcaster “Deutsche Welle,” Bonn Carlo Masala, Bundeswehr University, Munich Wolfgang Mueller, University of Vienna, Austria Dietmar Neutatz, Albert Ludwigs University, Freiburg Torsten Oppelland, Friedrich Schiller University, Jena Niccolò Pianciola, University of Padua, Italy Gerald Praschl, German-Ukrainian Forum (DUF), Berlin Felix Riefer, Think Tank IdeenagenturOst, Düsseldorf Stefan Rohdewald, University of Leipzig, Germany Sebastian Schäffer, Institute for the Danube Region (IDM), Vienna Felix Schimansky-Geier, Friedrich Schiller University, Jena Ulrich Schneckener, University of Osnabrück, Germany
Winfried Schneider-Deters, freelance analyst, Heidelberg/Kyiv Gerhard Simon, University of Cologne, Germany Kai Struve, Martin Luther University, Halle/Wittenberg David Stulik, European Values Center for Security Policy, Prague Andrzej Szeptycki, University of Warsaw, Poland Philipp Ther, University of Vienna, Austria Stefan Troebst, University of Leipzig, Germany
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