Vakhtang Kipiani
Ein Land weiblichen Geschlechts Ukrainische Frauenschicksale im 20. und 21. Jahrhundert Aus dem Ukrainischen übersetzt von Christian Weise
Ukrainian Voices Collected by Andreas Umland 52
Dmytro Shestakov
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Larissa Babij
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Julia Davis
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Sofia Atlanova, Oleksandr Klymenko
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Leonid Ushkalov
When Businesses Test Hypotheses A Four-Step Approach to Risk Management for Innovative Startups With a foreword by Anthony J. Tether ISBN 978-3-8382-1883-0 A Kind of Refugee The Story of an American Who Refused to Leave Ukraine With a foreword by Vladislav Davidzon ISBN 978-3-8382-1898-4 In Their Own Words How Russian Propagandists Reveal Putin’s Intentions ISBN 978-3-8382-1909-7 Icons on Ammo Boxes Painting Life on the Remnants of Russia’s War in Donbas, 2014–2021 Translated by Anastasya Knyazhytska ISBN 978-3-8382-1892-2 Catching an Elusive Bird The Life of Hryhorii Skovoroda ISBN 978-3-8382-1894-6
The book series “Ukrainian Voices” publishes English- and German-language monographs, edited volumes, document collections, and anthologies of articles authored and composed by Ukrainian politicians, intellectuals, activists, officials, researchers, and diplomats. The series’ aim is to introduce Western and other audiences to Ukrainian explorations, deliberations and interpretations of historic and current, domestic, and international affairs. The purpose of these books is to make non-Ukrainian readers familiar with how some prominent Ukrainians approach, view and assess their country’s development and position in the world. The series was founded, and the volumes are collected by Andreas Umland, Dr. phil. (FU Berlin), Ph. D. (Cambridge), Associate Professor of Politics at the Kyiv-Mohyla Academy and an Analyst in the Stockholm Centre for Eastern European Studies at the Swedish Institute of International Affairs.
Vakhtang Kipiani
Ein Land weiblichen Geschlechts Ukrainische Frauenschicksale im 20. und 21. Jahrhundert Aus dem Ukrainischen übersetzt von Christian Weise
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ISBN-13: 978-3-8382-1891-5 © ibidem-Verlag, Stuttgart 2024 Die ukrainische Erstveröffentlichung unter dem Titel: „Країна жіночого роду / Kraina Zhinochoho rodu“ erschien 2021 im Verlag Vivat, Charkiv, Ukraine. Alle Rechte vorbehalten Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und elektronische Speicherformen sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. All rights reserved. No part of this publication may be reproduced, stored in or introduced into a retrieval system, or transmitted, in any form, or by any means (electronical, mechanical, photocopying, recording or otherwise) without the prior written permission of the publisher. Any person who does any unauthorized act in relation to this publication may be liable to criminal prosecution and civil claims for damages. Printed in the EU
Inhalt Schuld abtragen....................................................................................... 7 Svitlana Pan’kova: Marija – „die behagliche Welt Mychjalo Hruševs’kyjs“.......................................................................................... 9 Olexandr Kučeruk: Dr. med. Rozalija Lifšyc’-Vynnyčenko........... 29 Stanisław Stępień: Ol’ha Bil’s’ka-Petljura im Licht neuerer Archivforschungen............................................................................... 45 Tetjana Taïrova-Jakoleva: Zwei Händedrücke von Hruševs’kyj. Mein Treffen mit Nadija Surovcova........................... 61 Marta Havryško: Galizische Feministinnen der 1930er Jahre: „Kinder, Küche, Kirche“ ist nichts für uns........................................ 71 Ola Hnatjuk: Irena Jarosevyč – Renata Bogdańska. Die schönsten Augen L’vivs zwischen den beiden Feuern der Identität.................................................................................................. 83 Bohdan Červak: Olena Teliha: „Das Leben ist ein Kampf, und der Kampf ist das wahre Leben“................................................ 95 Volodymyr V’jatrovyč : Gutes in schrecklichster Zeit. Die Geschichte der Nonne Olena Viter................................................... 109 Maryna Mirzajeva: „Satan“ im Rock oder eine Frau im Untergrund, die die Kugeln verfehlen............................................. 125 Oleksandr Pančenko: Die Verbindungsoffizierin von General Šuchevyč. Schicksal und Stellung von Halyna Dydyk.................. 135 Ivan Ol’chovs’kyj: Tschechin von Geburt, aus freien Stücken aber Ukrainerin. Über das tragische Schicksal der Frau von Ataman Taras Bul’ba-Borovec’......................................................... 147 Lesja Bondaruk: Das weibliche Gesicht des Norilsker Aufstandes........................................................................................... 157 Olena Bondarenko: Die junge Frau, die den GULag überwand.. 173
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Oksana Kis’: „Urky“, „Blatni“, „Bytovyčki“: Beziehungen zwischen ukrainischen Frauen, politischen Häftlingen und Straffälligen in den GULag-Lagern.................................................. 183 Daryna Rohačuk: Aufgerufen vom eigenen Blut. Familiengeschichte in den KGB-Archiven nachspüren................ 197 Oleksandr Zinčenko: „Die Stunde des Papageis“: Zofia Bartnickas große Liebe....................................................................... 213 Jurij Zajcev: Nina Strokata-Karavans’ka. Tochter des ukrainischen Odesa............................................................................ 219 Gulnara Bekirova: Aişe Seitmuratova. Von der Krim deportiert, verurteilt, unbesiegt.................................................................. 235 Viktorija Sadova: L’vivs leidenschaftliche Frau. Die Lebensgeschichte von Iryna Kalynec’.............................................. 249 Vakhtang Kipiani: Lesja – Ukraïnka, Die Mutter von Heorhij. Die Lebensgeschichte eines verschwundenen Journalisten......... 259 Ihor Hałagida: Die ukrainische Mutter der polnischen „Solidarność“. Die unbekannte Kindheit von Anna Walentynowicz.................................................................................... 271 Maksym Majorov: „Populärster ukrainischer Soldat …“ Leutnant und Freiwillige Anna Khraplyva..................................... 283 Stepan Bandera: Lesja Bandera (1947–2011): „Vater, Du bist ein Symbol für das ganze Land ...“................................................... 293 Kyrylo Stecenko: „Die beste ukrainische Sängerin auf beiden Seiten des Ozeans“.............................................................................. 301 Oksana Levantovyč: Martha Bohachevsky-Chomiak: „Ukrainer, die keine positiven Veränderungen sehen, kennen ihr eigenes Leben nicht“....................................................... 339 Olena Bilozers’ka: Drei Treffer in einer Nacht. Eine Frau im Krieg mit den russischen Besatzern................................................. 351 Literatur................................................................................................ 361 Autorinnen und Autoren................................................................... 363 6
Schuld abtragen Die naheliegendste Frage beantworte ich vorneweg: Warum nach Büchern über den Zweiten Weltkrieg und den Dissidenten Vasyl’ Stus nun der Entschluss, in der Reihe „Bibliothek der ‚Istoryčna Pravda‘“ einen Aufsatzband über ukrainische Frauen zu veröffentlichen? Weil wir auf diese Weise . . . eine Schuld abtragen. Viele Jahrhunderte lang waren die Frauen für Chronisten, Hofhistoriker, Parteiideologen sowie Verfasser von Lehrbüchern und mehrbändigen Buchreihen unsichtbar. Es gab sie, aber es war, als ob sie nicht existierten. Vielleicht deshalb, weil 99% derjenigen, die die Geschichte der Menschheit und der Ukraine schrieben, Männer waren? Fast alle historischen Persönlichkeiten—Führer, Fürsten, Hetmane, natürlich auch die gesamte kirchliche Hierarchie, Künstler und Militärs—gehörten dem so genannten starken Geschlecht an. Selbst wenn man die Tugenden der wenigen Figuren des „schönen Geschlechts“ hervorheben wollte, nannte man sie . . . männlich. Wie im Fall von Lesja Ukraïnka, „dem einzigen Mann in der ukrainischen Literatur“, oder Julija Tymošenko, „der einzigen Politikerin mit . . . “ (Hoden, was die Selbstzensur zu formulieren verbietet). Das ist sehr vertraut. Aber es ist ungerecht. Und antihistorisch. Wir müssen den Frauen selbst so oft wie möglich das Wort erteilen. Das tun wir—sowohl auf der Website „Istoryčna Pravda“ (Historische Wahrheit) als auch in dem gleichnamigen Fernsehprojekt. Lasst die Frauen für sich selbst sprechen! Sie sind keine „Heimchen“ – diese Rolle und dieses Etikett wurden von Männern erfunden. Die ukrainischen Frauen waren vollwertige Subjekte des historischen Geschehens und haben es weiter zu sein. Und um das zu verstehen, müssen wir die Scheuklappen der Frauenwahrnehmung ablegen, denn genau hier liegen die Stereotype. Letztendlich, meine Herren, gibt es einfach mehr Frauen als Männer. Vor allem als Leserinnen. Ich erinnere Sie daran, um alle 7
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Zweifel an den rationalen Motiven für die Veröffentlichung dieses Buchs auszuräumen. Vakhtang Kipiani Chefredakteur des Projekts „Istoryčna Pravda“
Zur vorliegenden Übersetzung: Bei der Transliterierung habe ich mich an die wissenschaftliche Schreibweise gehalten. Einige Orts- und Personennamen werden nach der krimtatarischen Schreibweise, andere nach den jeweiligen Lebensplätzen der Porträtierten bzw. der Perspektive auch nach der englischen, französischen, polnischen oder gar russischen Schreibweise geschrieben. Für den deutschsprachigen Leser habe ich einige weiterführende Anmerkungen eingetragen. Ein von mir erstelltes, kleines weiterführendes Literaturverzeichnis beschließt das Studium der ukrainischen Frauen. Christian Weise
Svitlana Pan’kova: Marija
„die behagliche Welt Mychajlo Hruševs’kyjs“ Wie auch immer die Umstände des Zusammentreffens von Marija Vojakovs’ka und Mychajlo Hruševs’kyj waren, das ukrainische intellektuelle Umfeld von L’viv verband sie. Und die wichtigsten Zeugnisse ihrer Bekanntschaft und Verliebtheit waren die lyrischen Gedichte, mit denen Mychajlo versuchte, seine „unaussprechlichen“ Gefühle zu vermitteln. Und Marija wurde zur Freundin und zum „süßen Trost“. Sie blieb jedoch ein eigenständiger Mensch. Am Vorabend seines Geburtstages, des 28. (16.) September 1894, kommt der 28-jährige, neu ernannte Professor des ersten Lehrstuhls für ukrainische Geschichte, Absolvent der Sv.-VolodymyrUniversität, Mychajlo Hruševs’kyj, in L’viv an, „sehr bescheiden und gewöhnlich im Aussehen, aber in der Fremde weiß er nicht, wohin er sich wenden soll.“ Er vermisst die Kyïver Gesellschaft und lebt sich erst allmählich in die Gesellschaft von L’viv1 ein. In seinen autobiografischen Erzählungen schildert er sich als „hoch angesehenen Patrioten“, als „respektablen Bürger“ „mit einer langen Liste von Verdiensten aller Art“, als „Mann von Rang“, dessen jugendlicher Flaum auf den Wangen sich zu einem steifen Bart verwandelt hat. Und er fragt sich, ob das Meer von Ruhm, Popularität, Dankbarkeit und öffentlichem Nutzen „das persönliche Glück eines Mannes ersetzt“. Ein Jahr vor dem Beginn von Mychajlo Hruševs’kyjs „galizischer Periode“ erfüllte sich der Traum der 26-jährigen Marija Vojakovs’ka von einer Lehrerkarriere in L’viv. Ihr Weg in die Hauptstadt des ukrainischen Piemonts war erheblich schwieriger als der ihres zukünftigen Ehemannes. Ivanna Marija wurde 1868 im Dorf Pidhajci in der Region Ternopil’ als sechstes Kind der Familie 1
Die Stadt trägt eine Reihe von Namen: den lateinischen Leopolis, den deutschen Lemberg, den ukrainischen L’viv, den damaligen polnischen Lwów sowie weitere jiddische, armenische und russische Namen (Anm. d. Übers.).
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geboren und verlor schon früh ihren Vater, den örtlichen griechischkatholischen Priester Pater Sylvester Vojakovs’kyj. Der Weg zur Bildung und zur angesehenen Position einer Lehrerin war damals auch nicht einfach. Zunächst waren da die getrennten Schulen in Ternopil’ und in der Stadt Pidhajci, dann in Stanislav2 und Krakau (1876–1884). Schließlich das Lehrerseminar in L’viv (1884–1887), wo ihr Studium nicht nur durch ein Zeugnis mit Auszeichnung, sondern auch durch das „Armutszeugnis“ bescheinigt wird, demzufolge die junge Seminaristin Marija Vojakovs’ka „äußerst arm ist, denn da sie weder Vater noch Mutter hat, wird sie nur aus Nächstenliebe in der Schule gehalten“. Danach arbeitete sie in der 5. Klasse einer öffentlichen Schule in der Stadt Skala am Zbruč, wo ihre ältere Schwester Olimpija lebte, die Ehefrau des Ortspriesters Oleksandr Levyc’kyj. Nach dem Tod der Mutter hatte Pater Oleksandr das Sorgerecht für das Mädchen übernommen.
Marija Vojakovs’ka, Studentin am Lehrerseminar in L’viv. Stanislav, erste Hälfte der 1880er Jahre 2
Die Stadt Stanislau, ukrainisch Stanislav und polnisch Stanisław, wurde 1962 in Ivano-Frankivs’k umbenannt.
„die behagliche Welt Mychajlo Hruševs’kyjs“
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Marija Vojakovs’ka – Lehrerin an der städtischen Königin-Jadwiga-Frauenschule. Anfang der 1890er Jahre
Im September 1893 wurde Marija als Referendarin an der Ersten Städtischen Mädchenschule, die nach der Königin Jadwiga benannt war, in L’viv eingestellt und tauchte ein in den Strudel des intellektuellen und kreativen Lebens der Stadt. Sie freundete sich mit der Schriftstellerin und öffentlichen Persönlichkeit Natalija Kobryns’ka an, die sie später als „die Anführerin der Frauenbewegung in Galizien“ bezeichnen sollte. Ihre Liebe zum Theater und zur Musik brachte die junge Lehrerin in die Nähe der größten Sängerin der Welt, wie Solomija Krušelnyc’ka zu Lebzeiten genannt wurde. Nachdem sie das L’viver Konservatorium verlassen hatte, um in Italien zu studieren, schrieb Solomija an ihre L’viver Freundin: „Ich habe dich nicht
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vergessen und werde dich nie vergessen, denn mir scheint, dass du es wert bist, für deine Arbeit und für das gütige Herz, das man in deinem Gesicht lesen kann, geliebt zu werden.“ An diese gegenseitigen Sympathien und Marijas Freundschaft mit prominenten ukrainischen Persönlichkeiten wird sich auch Mychajlo Pavlyk erinnern, wenn er Ljudmyla Drahomanova am 18. Mai 1896 über die neuesten Nachrichten aus L’viv informiert: „Hruševs’kyj heiratet hier: Er heiratet ein einfaches Mädchen, eine Lehrerin, eine Waise, eine gute Freundin von mir und eine Radikale, Vojakivs’ka, was sehr gut von ihm ist. Die Leute von der Neuen Ära tratschten lauthals. Vojakivs’ka ist eine gute Freundin von Kobryns’ka und Krušelnyc’ka.“ Den sicheren Tag und Monat, wo sich die Schicksale von Mychajlo und Marija kreuzten und verbanden, haben die Liebenden nicht beschrieben. Die Zeitgenossen berichten unterschiedlich über die Umstände dieser Begegnung, aber zweifellos verband sie das ukrainische intellektuelle Umfeld von L’viv, in dem sie tätig waren. Die Familien Barvins’kyj und Šuchevyč, die ersten „Mentoren“ von Professor Hruševs’kyj, standen auch der Lehrerin Vojakovs’ka nahe. Öffentliche und pädagogische Angelegenheiten brachten Marija mit der Tochter von Oleksandr Barvins’kyj, Ol’ha, einer Anhängerin der Frauenbewegung, zusammen. Zahlreiche Einladungen an Vojakovs’ka, Mitglied des „Klubs rusynischer Frauen“, waren unterzeichnet von ihrer Vorsitzenden Hermina, der Ehefrau des Ethnographen Volodymyr Šuchevyč. Ihrer jüngsten Tochter widmete Mychajlo die poetischen Zeilen „Ich liebe dein reines Lächeln so sehr . . . “, und die Šuchevyčs sahen in dem vielversprechenden Professor eine glänzende Partie für ihre Orysja. Doch sie war erst 13, und Mychajlo träumte nicht mehr von romantischen Geschichten, sie gehörten der Vergangenheit an. Aussagen zu den damaligen Ereignissen, Briefe, lassen vermuten, dass weder Mychajlo noch Marija nach ihrem Treffen ihre Hochzeit auf unbestimmte Zeit verschoben haben. Auch die lyrischen Gedichte von Professor Hruševs’kyj, die auf die zweite Aprilhälfte 1896 datiert sind, zeugen von ihrer Liebe. In ihnen versuchte er, seine „unaussprechlichen“ Gefühle auszudrücken, die durch das leuchtende Bild Marijas in seiner Seele geweckt wurden:
„die behagliche Welt Mychajlo Hruševs’kyjs“
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Meine behagliche Welt, mein süßer Trost, Was für eine Freude hast du mit dir herbeigeführt! Gesegnet sei die Macht, die in der weiten Welt uns zusammengeführt hat. Mutig und freudig, ohne Furcht und ohne Zögern lass uns den Weg in die Welt beschreiten . . .
Dieses Gedicht entstand wahrscheinlich, als Marija auf den brieflichen Heiratsantrag von Mychajlo Hruševs’kyj vom 23. (11.) März 1896 mit „Ja!“ geantwortet hatte: „Ich denke, dass meine Sympathie für Ihre Persönlichkeit kein Geheimnis für Sie ist . . . Aber wir kennen uns erst seit so kurzer Zeit, dass—wie ich vermute—meine übliche skeptische und sarkastische Tarnung meinen wahren Charakter in mehr als einer Hinsicht verschleiern könnte; bitte glauben Sie, dass ich geeignet bin. Ich empfinde tief und dauerhaft, und Menschen, die mich gut kennen, würden sagen, dass ich ein sanftes und verständnisvolles Gemüt habe. Ich suche einen ehrlichen, intelligenten und freundlichen Freund, einen Gefährten bei den gesellschaftlichen Verpflichtungen, um mit ihm von Seele zu Seele zu leben, und wer dasselbe in mir sucht . . . ich hoffe, er wird sich nicht irren.“ Die Antwort war „Ja!“ Mychajlo bekam die Antwort recht früh, denn Mitte April desselben Jahres kümmerte sich seine Mutter, die von einer „guten und ruhigen“ Freundin für ihren ältesten Sohn träumte, um gesegnete Ikonen. Anfang Mai lernte er die Familie seiner zukünftigen Frau kennen: ihre ältere Schwester Olimpija und ihren Mann, den Priester der griechisch-katholischen Sv. Mykola-Kirche in Skala am Zbruč, Oleksandr-Kostjantyn Levyc’kyj. Die Hochzeit wurde ebenfalls zu diesem Zeitpunkt beschlossen, denn bald darauf berichtete ihre Mutter, Hlafira Zachariïvna Hruševs’ka, dass ihr jüngerer Bruder Oleksandr gerne kommen würde, aber sie war sich nicht sicher, ob er Zeit haben würde, einen Pass zu bekommen, und „ob er dieses Skala finden würde“. Aus der Korrespondenz von Professor Hruševs’kyj mit seinen Eltern ist bekannt, dass sie versuchten, ihren Sohn zu überreden, in der orthodoxen Kirche zu heiraten, entweder in Kyïv oder in einer der Kirchen in der Provinz Kyïv, wo sowohl seine Verwandten väterlicherseits als auch mütterlicherseits als Priester tätig waren.
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Mychajlo entschied sich jedoch, seiner Geliebten zu folgen, und einer der ausschlaggebenden Faktoren für diesen Entschluss war die Figur des einflussreichen Gemeindepfarrers und „Prosvita“-Manns Oleksandr Levyc’kyj, den er kennenlernte und mit dem er sich anfreundete. Und tatsächlich liegen die Wurzeln der Familie von Mychajlo Hruševs’kyjs Mutter bei dem griechisch-unierten Priester Petro Opuckevyč. Daran erinnerte man sich in der Familie, und Schwester Hanna schrieb damals zum Trost ihres Bruders: „ . . . der unierte Glaube und unser orthodoxer Glaube unterscheiden sich voneinander nur wenig.“ Aber die Formalitäten mussten geregelt werden. Einer der ersten Briefe, die von Pater Levyc’kyj an Mychajlo Hruševs’kyj gefunden wurden, ist ihnen gewidmet: „Ich warte ungeduldig darauf, von Ihnen über Ihre Hochzeit zu hören, wie entschieden wurde, wo sie stattfinden soll, und wie der zuständige Priester entschieden hat: Kann er mir ein Dimissoriale geben oder nicht? Hat er sich gut über die Angelegenheit informiert, ob es legal ist oder nicht?“ Um die Vollmacht zu erhalten, ging Hruševs’kyj in die einzige orthodoxe Kirche in L’viv, Sv. Heorhij, wo er Gemeindemitglied war, und las am 14. (2.), 17. (5.) und 24. (12.) Mai 1896 die Bibel lesungen, um sich auf seine bevorstehende Hochzeit vorzubereiten. Zur gleichen Zeit, am 7. Mai (neuen Kalenderstils), erklärte Vater O. Tomovyč, dass er keinen Einwand dagegen hat, dass Priester Levyc’kyj die Trauung vornimmt, und reichte die von ihm vorbereitete „Erklärung“ beim Konsistorium zur Genehmigung ein. Die Angelegenheit verzögerte sich, und erst nach einem Telegramm aus Skala schickte derselbe Vater Tomovyč Hruševs’kyj eine Nachricht über seine Absicht, beim Konsistorium einen schriftlichen „Dispens“ zu beantragen—die Erlaubnis, dass ein griechischkatholischer Priester die Trauung vornahm. Am 26. Mai vollzog Pater Oleksandr Levyc’kyj die Trauung unter der Kuppel der griechisch-katholischen Sv. Mykola-Kirche in Skala am Zbruč. An diesem Tag wurde Marija Hruševs’ka, Frau Professor, zur Grande Dame der ukrainischen Gemeinde in L’viv. Kurz nach der Hochzeit schickte Pater Oleksandr den frisch Vermählten einen
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Marija und Mychajlo Hruševs’kyj: Das erste bekannte gemeinsame Foto des Paares. L’viv, 1896
Brief mit väterlichen Ratschlägen: „Meine Lieben! Wie geht es Euch? Wie geht es Maryna, ist sie eine gute oder schlechte Frau?“ Mychajlo Hruševs’kyj hatte sich nicht geirrt: Marija war genau die Art von Gefährtin, die er suchte, ein „süßer Trost“, für den er Gott dankte. Viele Jahre später würde Natalja Polons’ka-Vasylenko feststellen, dass Marija Hruševs’ka, die Ehefrau, stets Marija Hruševs’ka, die Gelehrte und Schriftstellerin, überflügelte. Als moderne, gebildete, ehrgeizige und aktive Frau blieb sie jedoch eine eigenständige Persönlichkeit, auch wenn ihr Name nach der Heirat immer im Licht oder Schatten des Namens ihres berühmten Ehemannes stehen sollte. Hat die feministische Bewegung ihre aufrichtige Anhängerin verloren? Natürlich nicht! Ihr Leben war ein Teil dieser Bewegung, denn die Ideen der Frauenemanzipation standen im Mittelpunkt der Entwicklung aller Organisationen, mit denen sie viele Jahre lang zusammenarbeitete. Und das Universum des gegenseitigen Respekts und des familiären Verständnisses entkräftete die damaligen Diskussionen und Befürchtungen, dass die Emanzipation der Frau die traditionellen Familienwerte zerstören würde. Stolz auf die Errungenschaften der ukrainischen Frauen, schrieb Marija 1920: „Die Schweiz, das am besten organisierte und, man könnte sagen, das kultivierteste Land Europas, hat seinen
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Frauen noch keine politischen Rechte zugestanden, und unser unglückliches und gebrochenes Land hat in der ersten Welle seines freien Lebens alle Unterschiede in den Rechten seiner Bürger beseitigt.“ Gleichzeitig intensivierte Marija zusammen mit Nadija Surovcova die Arbeit des Nationalen Rates der ukrainischen Frauen, der auf einem Frauenkongress in Kam’janec’-Podil’s’kyj gewählt wurde, um in internationalen Frauenorganisationen mitzuarbeiten. Nach ihrer Heirat unterstützte Marija weiterhin die „Herdfeuer des intellektuellen Lebens“ – den „Klub der rusynischen Frauen“ und den Kreis der ukrainischen Mädchen – und arbeitete mit der Ukrainisch-Rus’schen Pädagogischen Gesellschaft, der Wissenschaftlichen Ševčenko-Gesellschaft, der Ukrainisch-Rus’schen Verlagsunion, der Ukrainisch-Rus’schen Ivan-Kotljarevs’kyj-Schauspielgesellschaft und der FrauenIndustriegewerkschaft „Trud“ zusammen. Im Jahr 1900 wurde auf einem Frauenkongress in L’viv auf Initiative von Natalija Kobryns’ka und Marija Hruševs’ka die „Rus’ka-Zahoronka“-Gesellschaft (nach 1912 „Ukraïns’ka Zahoronka“) gegründet, die sich sowohl um Kinder kümmerte, indem sie Kindergärten organisierte, als auch um ihre Mütter, indem sie ihnen neue Perspektiven eröffnete. Das glücklichste Ereignis im Leben von Marija und Mychajlo Hruševs’kyj war die Geburt ihrer Tochter Kateryna (Kuljuna) am 21. Juni 1900. Das Kind wurde so lange erwartet, dass sie nicht über die Schwangerschaft sprachen. Marija zog es vor, nicht einmal ihren engsten Verwandten davon zu erzählen. Die Levyc’kyjs waren überwältigt von der guten Nachricht und gratulierten dem Paar. Pater Oleksandr reagierte auf diese Überraschung mit einem Sinn für aufrichtigen Humor: „Ich hätte eher geglaubt, dass das Rathaus in L’viv eingestürzt ist und mit ihm alle Badeni, Sanguszkos, Pinińskis usw . . . , aber es ist klar, dass dies die wirkliche und heutige Wahrheit ist, wie die intensive Suche nach der Amme beweist! Möge Gott Ihr Kind segnen, möge Ihr Mädchen gesund und groß werden, zu Ihrer Freude und zum Ruhme der Rus’ . . . “.
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Ausweis Marija Hruševs’kas, Mitglied der ukrainisch-rus’schen Ivan-Kotlarevs’kyj-Schauspielgesellschaft, August 1900
Hunderte von Briefen mit einem besonderen Monogramm sind seit dem glücklichen Tag, an dem ihr „Schatz“, ihre „liebste Kuljunečka“, der Marija all ihre besten Talente schenkte, geboren wurde, erhalten geblieben: „MMK“ – Mychajlo, Marija, Katerina. „ein eines Ganzes“ – so waren alle ihre Nachrichten bis zu der Stunde, in der sie zusammenblieben, unterzeichnet. Das Porträt von Marija als Mutter hätte selbst der begabteste Kunstmaler nicht malen können, denn niemand hat je eine solche Bandbreite an Schattierungen von Liebe, Fürsorge, Zärtlichkeit und Stolz geschaffen. Sie war nie in der Lage, ihre Liebe zwischen den beiden Menschen, die ihr am nächsten standen, aufzuteilen—sie vervielfältigte sie einfach um das Hundertfache. Musik, Theater, Kunst, Reisen, Sammeln – diese ganze Welt der künstlerischen Dinge war eine gemeinsame Leidenschaft und ein fester Bestandteil des Lebens der Familie Hruševs’kyj. Einmal, im Biljašivs’kyj-Museum in Kyïv, war Marija von den Werken Taras Ševčenkos beeindruckt, die ihr das Personal zeigte: „Es war seltsam, das zu hören, als hätte ich einen lebenden Menschen gesehen, T[aras] Hryhorovyč!“ Diese Begegnung mit dem künstlerischen Erbe des Kobzar hat sie sehr beeindruckt, und
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Mychajlo (sechster von links in der zweiten Reihe) und Marija (achte von links in der zweiten Reihe) Hruševs’kyj inmitten von Lehrern und Studenten der wissenschaftlichen Kurse für ukrainische Studien. L’viv, 18. Juli 1904
Mychajlo und Marija Hruševs’kyj im Kreise von Familienangehörigen und Freunden, die sich anlässlich des ersten Geburtstages ihrer Tochter Kateryna versammelt haben. L’viv, Juni 1901
als sie erfuhr, dass drei Werke von Ševčenko in Moskau verkauft wurden, bat sie Mychajlo: „Ich möchte wirklich, dass du sie kaufst.“ Marija und Mychajlo entdeckten ihre Liebe zur hohen Kunst und zu Antiquitäten in ihren privaten Sammlungen, die den
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Reichtum ihres Mikrokosmos widerspiegeln. Sie spürten und respektierten den ästhetischen Geschmack des anderen, und in ihren Häusern kombinierten sie erfolgreich und kühn verschiedene Sammlungen. Mychajlo richtete das Arbeitszimmer in der Villa in L’viv im huzulischen Stil ein, während Marija für die Inneneinrichtung der großen und kleinen Salons verantwortlich war, die von den Skizzen des „Dichters der Sonne“ Ivan Truš beleuchtet wurden. Die Kyïver Wohnung des Paares hatte einen anderen Charakter. Hier dominierten Teppiche und ihre Lieblingsfayencen aus Mežyhir’ja, und Hruševs’kyjs Arbeitszimmer mit den Porträts von Mazepa und Razumovs’kyj, und die Kyïver Freunde von Frau Professor bewunderten die einzigartige Büchersammlung. Für Mychajlo Hruševs’kyj und seine Marynka war Kyïv „ihre“ Stadt, und sie liebte sie nicht weniger als L’viv. Nach dem Bau des Hauses der Familie Hruševs’kyj im Jahr 1909 besuchte sie dieses Haus immer öfter, wie sie in ihrem Tagebuch schrieb: „Es war sehr angenehm bei Lysenko, irgendwie wie unter Freunden, und überhaupt war die ganze Zeit unseres Lebens in Kyïv irgendwie ‚nicht fremd‘ – als ob es unser Ort wäre, und es ist seltsam, dass wir nicht nach Hause wollen.“ 1905 debütierte die L’viver Sammlung auf einer Ausstellung für ukrainische Kunst und Kunsthandwerk, die von Mychajlo Hruševs’kyj und Ivan Truš konzipiert und durchgeführt wurde. Marija beteiligte sich mit besonderer Begeisterung an der Gestaltung der Ausstellung, worüber sie der Familie ihres Mannes in Kyïv mitteilte: „Wir haben jetzt eine Neuigkeit, wir richten eine Ausstellung von Gemälden, Holzschnitzereien und alten ukrainischen Tafeln her, und morgen wird die Ausstellung eröffnet; dafür haben wir ein bisschen Arbeit . . . Die Ausstellung ist sehr interessant, vor allem die reiche Sammlung von huzulischen Holzschnitzereien, es gibt ungewöhnlich schöne Dinge (meist aus unserem Besitz), und zwischen den Gemälden gibt es wunderbare Ansichten von Truš’s Krim. Es gibt auch viele Bilder von Künstlern aus der Ukraine, vor allem aus Kyïv.“ Marija Hruševs’kas Welt der künstlerischen Kommunikation spiegelt sich auch in ihren gemalten Porträts wider. Anfang 1901 rühmte sie sich in einem ihrer Briefe: „In diesen Tagen
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Ivan Truš. Porträt von Marija Hruševs’ka. 1903
posieren wir für ein Porträts, ich zweimal und Mychajlo einmal, und wir werden noch mehrere Male sitzen müssen. Nach dem, was wir angefangen haben, zu urteilen, werden die Porträts sehr gut sein.“ Ein weiteres „sehr schönes“ Bild von Marija wurde 1903 von Ivan Truš, der ein Freund der Familie war, angefertigt. Später wurde die Villa mit einem weiteren Porträt der Mätresse von Fotij Krasyc’kyj geschmückt. Marija Hruševs’kas besonderes Interesse galt stets dem Theater, für das sie ein ausgeprägtes Gespür und Verständnis besaß. Anhand ihrer Briefe und des Tagebuchs ihres Mannes können wir das Repertoire des Kyïver Stadttheaters, des Sommergartens der Kaufmannsvereinigung und der L’viver Theater studieren. Sie
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nutzte jede Gelegenheit, um sich zu amüsieren, und gab Mychajlo gute Ratschläge. Während seines Aufenthalts in Wien im Jahr 1900 schrieb sie: „Geh ins Ballett und vielleicht in eine Oper, vielleicht Tristan oder etwas Ähnliches, unglaubliche Dinge, die in L’viv nicht gezeigt werden.“ Sie konnte ihre Eindrücke von den Leistungen der Schauspieler und der Handlung anschaulich schildern. Ihre enge Bekanntschaft mit Solomija Krušelnyc’ka, Marija Zan’kovec’ka und den Staryc’ka-Schwestern verlieh dieser Leidenschaft eine besondere Note. Während ihrer Reise durch Galizien waren Marija Zan’kovevc’ka und Mykola Sadovs’kyj gern gesehene Gäste in der Villa Hruševs’kyj. Zahlreiche Begegnungen fanden auch in Kyïv, Nižyn und dem Dorf Zelenyj Klyn statt. Von der Sympathie der beiden Marijas zeugt Henrik Ibsens Drama „Nora oder Ein Puppenheim“, das in ukrainischer Sprache mit folgender Widmung veröffentlicht wurde: „Der lieben und hochgeschätzten Marija Konstantynovna Zan’kovec’ka widmet die Übersetzerin diese Übersetzung, die auf ihren Wunsch hin angefertigt wurde (Padolyst, 1907).“ Sie interessierte sich für die Inszenierung von Theaterstücken im „Ukrainischen Klub“ in Kyïv und übernahm die Rolle einer
Henrik Ibsen. „Nora oder Ein Puppenheim“ (übersetzt von Marija Hruševs’ka). Kyïv, 1908
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Beraterin von historischen Themen. In einem ihrer Briefe an Mychajlo erzählte sie ihm von den Vorbereitungen für eine Inszenierung des Stücks „Mitten im Sturm“ von Borys Hrinčenko, in dem ein Militärgericht und ein Geschworener mit Insignien auftreten sollten. Da sie wusste, dass niemand sonst ihre Fragen wahrheitsgemäß beantworten konnte, wandte sie sich dringend an ihren Mann: „1) Was für Insignien haben sie, und vor allem, hat der Richter einen Stab oder so etwas? Zeichne einen kleinen Richter mit seinem Hoheitszeichen, und vor allem, seiner Insignie. 2) Haben die Soldaten ihre Fahnen zu einem solchen Gericht mitgebracht und wo standen sie damit, vielleicht getrennt von den Geschworenen?“ Sie nutzte ihre Erfahrungen als Theaterkünstlerin während der Revolution von 1917–1921: Sie wurde Mitglied des Präsidiums der Ukrainischen Nationaltheatergesellschaft, gehörte zu den Gründern der Freien Theatergesellschaft im Troïc’kyj-Volkshaus und war Mitglied der Theaterräte des „Jungen Theaters“ und von „Ukraïnfilm“. Marija kümmerte sich stets um alle Probleme, die auf den Schultern ihres geliebten „Mi“ lasteten, half ihm rund um die Uhr, seinen Horizont zu erweitern, was ihm seit seiner Studienzeit gefehlt hatte, fand Worte der Unterstützung bei Konflikten an der
Mychajlo und Marija Hruševs’kyj während einer Reise nach Berlin. Berlin, 25. Dezember 1899
„die behagliche Welt Mychajlo Hruševs’kyjs“
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NTŠ (Ševčenko-Gesellschaft), Missverständnissen mit galizischen Politikern und so weiter. Manchmal konnte sie nicht anders, als sich über die Gleichgültigkeit seines „Mitarbeitsstabes“ zu empören: „Es ist nur schlimm, dass mein kleiner Mychajlo zu viel Arbeit und Herumlauferei hat, und niemand hilft, als ob es nicht ihre Sache wäre, aber alles wird Hruševs’kyj anvertraut, und er soll allein herumlaufen.“ Der große Wunsch, ihrem Mann und Vater zu helfen und ihn zu verteidigen, „trieb“ Marija und ihre Tochter Kateryna dazu, ihm in die Verbannung zu folgen. „Wir sind mit Freude gegangen“, schrieb das 14-jährige Mädchen für sich und ihre Mutter. In der Ära der Zentralna Rada (Central’na Rada) war sie nicht nur als Mitglied dieser parlamentarischen Institution, sondern auch als Freiwillige und Helferin in vielen dringenden Angelegenheiten des Alltags, für die es einfach nicht genug Hände gab, immer zur Stelle. Mychajlo Hruševs’kyj nahm die Unterstützung seiner Frau mit aufrichtiger Dankbarkeit an. Seine erste Reise nach Italien mit Ivan Franko im Frühjahr 1904 wurde dank ihr möglich. „Ich fühlte mich fröhlich und glücklich, und ich war Mar[ynka] sehr dankbar, dass sie mich überredete, dass sie mich einfach auf diesen Weg schickte“, notierte Professor Hruševs’kyj in den letzten Tagen seiner Italienreise. Alle folgenden Reisen nach Italien (1904, 1908, 1911) fanden ausschließlich zu dritt statt: Mychajlo, Marija und Kateryna. „Wenn ich für immer in Rom leben würde und meine eigenen Pferde und Zeit hätte, würde ich jeden Tag auf der Via Appia reiten“, sagte Marija Hruševs’ka, die zum ersten Mal die Schönheit der glorreichen Römerstraße wahrnahm, die ihr eine unvergessliche, magische Erinnerung hinterließ, eine der schönsten Erfahrungen, die Rom zu bieten hatte. Marija erinnerte sich an die melancholische Schönheit der Straße, aber auch an Venedig, Neapel, Florenz, Rom und daran, dass sie die erste Leserin der berühmten fiktionalen
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Erzählungen ihres Mannes „Rund um die Welt“3 war: „Ich las mit großer künstlerischer Befriedigung und war furchtbar stolz!“ Sie erinnerten an das Neujahr 1900 in Berlin und an Paris und London im Jahr 1903. Ihr Talent als Übersetzerin, Rezensentin und Kolumnistin entfaltete sie in Werken, die in von ihrem Mann herausgegebenen Publikationen veröffentlicht wurden, und unterstützte so seine schwierige redaktionelle Arbeit. Mehr als 40 Rezensionen und bibliografische Notizen von Marija wurden allein auf den Seiten der „Notizen der Wissenschaftlichen Ševčenko-Gesellschaft“ veröffentlicht. Schon in den ersten Bänden des neuen Verlagsprojekts, des „Literarischen und Wissenschaftlichen Bulletins“, erschienen zahlreiche Übersetzungen ins Ukrainische von Werken von Goethe, Daudet, Zola, Ibsen, Coppée, de Maupassant, Turgenjev, Čechov und Schnitzler. In ihnen erkannte sie ihr besonderes schöpferisches Talent, das von ihrer Freundin Solomija bemerkt wurde: „[ . . . ] Ich erhoffe mir etwas von dir, dass du schreiben musst und dass du unbedingt schreiben wirst, und ich will nicht glauben, dass du nicht schon etwas zu veröffentlichen hast. Du musst etwas tun, um allen Frauen der Rus’, vor allem denen vom Land, die Augen für den eigenen Lebensweg zu öffnen, das heißt, herauszufinden, wie man trotz solcher Tätigkeiten wie Hühner zu füttern und mit Knechten zu speisen usw. an höhere, lebenswichtige Dinge denken kann.“ Eine Grande Dame musste ihrem Status entsprechend aussehen: Maria folgte der Mode und ihren unerwarteten Veränderungen. Die zahlreichen Einladungen zu verschiedenen kulturellen und gesellschaftlichen Veranstaltungen, großen und kleinen Festlichkeiten mit Tanz schrieben eine Kleiderordnung vor, und so umfasste die Garderobe „Abend-“, „Besuchs-“, „Spazier-“ und „Volkskleider“. Sie bestellte bei ihrem Mann „Krim-Lämmer“ und riet ihm, sie nicht mit nutzlosen aus „Astrachan“ oder von „Hunden“ zu verwechseln.
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Die Erzählung findet sich nun in Band 11 der auf 50 Bände geplanten Werkausgabe, L’viv 2008, 333–466, die Kommentare 663–692 (Anm. d. Übers.).
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Die Näharbeiten wurden bei dem berühmten L’viver Pelzhändler Jurij Solik in Auftrag gegeben. Manchmal auf eigene Faust, manchmal mit Hilfe seiner Freunde in St. Petersburg, suchte Mychajlo Hruševs’kyj „Zobelkolliers“, Kuhfelle und andere Pelze für seine Frau. Auch Diamantschmuck gehörte zu den besonderen Geschenken. Einen solchen außergewöhnlichen Ring entdeckte sie in der Sammlung von Vasyl’ Krychevs’kyj: „Es gibt einen sehr schönen Ring mit einem antiken Diamanten in Form einer Vase mit zwei Henkeln und Diamantblumen darauf.“ Einige Erinnerungen von Mychajlo Hruševs’kyjs Kollegen und Mitarbeitern beschreiben auch ihre Art der Kommunikation. Einmal besuchte der zukünftige Leiter aller Verlagshäuser die L’viver Villa, Jurij Tyščenko (Siryj), der zukünftige Leiter aller Verlage in Kyïv. Er wurde von Marija „mit einem süßen Lächeln“ begrüßt, aber sie weigerte sich entschlossen, die Hand küssen zu lassen. „Es sei angemerkt, dass sie damals eine der wenigen Frauen war, die es nicht mochten, dass man sich vor ihr verbeugte“, schrieb Jurij Pylypovyč später. Zusammen mit Mychajlo trauerte Marija um die gemütliche Villa in L’viv, in die sie nach 1914 nicht mehr zurückkehrten, um ihr geliebtes „Dorf“ in Kryvorivnja, das von der russischen Armee niedergebrannt und dem Erdboden gleichgemacht wurde, um das zerstörte Familienhaus in der Pankivs’ka-Straße 9 in Kyïv. Sie hörte
Ausweis für die französische Nationalbibliothek, ausgestellt auf Marija Hruševs’ka. Paris; April 1903
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auf die tief empfundene philosophische Bedeutung der Worte ihres Mannes und lebte nach ihnen: „Man muss leben, so gut man kann!“. Nur einmal trübte sich das Verhältnis zwischen den Hruševs’kyjs. Im Frühjahr 1913 wurde es von Marijas Tränen überschüttet, da sie die Verbindungen ihres Mannes zur Freimaurerloge in Moskau nicht akzeptieren konnte. Sie war empört darüber, dass er nicht so offen sein konnte, wie er es immer war, sondern nur „so weit, wie es erlaubt ist“, dass er sie nicht in alle seine Angelegenheiten einweihen konnte. Sie flehte ihn an, sich von diesen „Freunden“ zu trennen, die ihn in Rituale verwickelt hatten, bat ihn, „sich nicht zu verwirren“ und keine „komischen Praktiken“ auszuüben. Schließlich fand Mychajlo einen Weg, seine geliebte Frau zu beruhigen und ihr den Charakter der Organisation zu erklären, denn später kommen solche Briefe in ihrem rührenden brieflichen Dialog nicht mehr vor. Das letzte Jahrzehnt von Marijas Leben war geprägt von der Verhaftung ihrer Tochter im Jahr 1938 und erfüllt von dem einzigen Wunsch, ihre geliebte Kuljuna zu erwarten. Es sollte nicht sein . . . Nach den Erinnerungen der Nichte von Mychajlo Hruševs’kyj war Marijas Lieblingsplatz der Balkon des Nebengebäudes, von dem aus man den damals einzigen Weg zum Haus sehen konnte. Auf
Mychajlo und Marija Hruševs’kyj: das letzte bekannte gemeinsame Foto des Paares. Fotografiert von V. Pavlovs’kyj. Kytaïv, Sommer 1928
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die Frage „Was schaust du da, Marija Syl’vestrivna?“, antwortete sie immer: „Ich schaue aus nach Katrusja, die nach Hause kommt.“ In ihren Briefen an ihre Freunde drückte sie ihren Schmerz aus: „Wie kann ich so viele Jahre ohne sie leben . . . Ich habe mich nur ein einziges Mal in ihrem ganzen Leben von ihr getrennt.“ Sie bat ihre Freunde, ihr Kaffee zu schicken, den sie als Erinnerung an das Leben brauchte, als sie unzertrennlich waren, wie jene Unterschrift auf allen ihren Briefen: „MMK“. „Wir bewahren das Arbeitszimmer von Michail Sergejevič als Heiligtum auf, ohne etwas daran zu verändern, für alle Zeiten. Dies ist unsere liebste Erinnerung“, appellierte Marija an die gleichgültigen Kiever Behörden, die nach der Verhaftung ihrer Tochter begannen, „Fremde“ einzuschleusen. Jetzt steht in den Regalen dieses wiederbelebten Denkmals unter Hunderten von anderen Büchern der erste Band des „Lebenswerks“ ihres geliebten Mannes, seine Geschichte der Ukraine-Rus’, mit einer knappen und rührenden Widmung: „Für meine Frau . . . “ Für seine Marija, der er jeden Tag in Worten und Gedanken seine Liebe gestand: „Meine behagliche Welt, mein süßer Trost, Was für eine Freude hast du mit dir herbeigeführt!“
Olexandr Kučeruk: Dr. med. Rozalija Lifšyc’
Vynnyčenko Volodymyr und Rozalija. Er ein bekannter Schriftsteller, sie Studentin an der medizinischen Fakultät der Universität Paris. Sie lernten sich in Italien im Urlaub kennen. Er wurde später ukrainischer Premierminister. Sie lebten ihr Leben in finanziellen Schwierigkeiten in einem fremden Land. Während und nach der ukrainischen Revolution von 1917 bis 1921 wurden viele ukrainische Politiker, Staatsmänner, Militärs und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und ihre Familien ins Exil gezwungen. Einige blieben im Exil. Ohne sich mit den Umständen abzufinden, lebten sie mit dem Traum von der Wiederbelebung des ukrainischen Staates. Andere wuchsen allmählich in das neue Land hinein, erwarben Eigentum und bekamen Kinder. Die Ehefrauen blieben meist treue Helferinnen, die so viel wie möglich zum täglichen Leben beitrugen. Die (zunächst standesamtliche, später formalisierte) Ehe des Leiters des Direktoriums der Ukrainischen Volksrepublik (UNR) Volodymyr Vynnyčenko und der Ärztin Rozalija Lifšyc’ hatte ihre Eigenheiten. Die Zeit der Auswanderung des Paares, insbesondere in den letzten beiden Jahrzehnten, war finanziell schwierig, ja sogar arm. Erfolglose Unternehmensführung und Fehlkalkulationen in Geldangelegenheiten sowie die unerfüllten Hoffnungen auf ein stabiles literarisches Einkommen führten gelegentlich zu kritischen Situationen. Volodymyr Vynnyčenko hatte vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg praktisch keine literarischen Einkünfte. Er machte jedoch aus Prinzip keine Zugeständnisse an das Leben und baute auf dem steinigen französischen Boden hartnäckig Gemüse an, um sich und seine Frau zu versorgen. Warum arbeitete seine Frau Rozalija, die von Beruf Ärztin war und eine in Frankreich erworbene Ausbildung hatte, nicht in 29
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ihrem Beruf? War es, weil sie sich als Ehefrau eines ehemaligen Premierministers nicht „dazu herablassen“ konnte, oder ließen es die Umstände nicht zu? Laut ihrer 1947 verfassten Autobiografie, die in den Archiven des UVAN (Ukrainische Freie Akademie der Wissenschaften, USA) aufbewahrt wird, wurde Rozalija in Moskau geboren. In den von ihr ausgefüllten Dokumenten oder in ihren eigenen Worten während ihres Studiums in Paris war ihr Geburtsort jedoch eine andere russische Stadt, Orel: Rozalija (Rejsel) Lifšyc’ wurde am 26. Juli 1886 dort als Tochter einer wohlhabenden jüdischen Unternehmerfamilie geboren, die später in Moskau lebte. Ihr Vater war Jakov (Jaša) Lifšyc’, und ihre Mutter war Faina (Fanja) Vydrina. In Moskau besuchte sie ein Frauengymnasium und studierte anschließend noch 2 Jahre lang „Naturwissenschaften“, wie sie sagt, „auf höchstem Niveau“. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts konnten Frauen in Moskau eine höhere Ausbildung an den nichtstaatlichen, bezahlten Höheren Frauenkursen (VŽK, betrieben von 1872 bis 1918) erhalten, die über eine Abteilung für Geschichte und Philologie, eine Abteilung für Physik und Mathematik und ab 1906 über eine Abteilung für Naturmedizin verfügten. Das Studium dauerte 3, später 4 Jahre. Die Zulassungs- und Studienordnung für diese Studiengänge sah vor, dass „Personen jüdischen Glaubens in Höhe von 3% der Gesamtzahl der Studentinnen angenommen werden können“. Es scheint, dass Roza Lifšyc’ 2 Jahre lang „Naturwissenschaften“ bei den VŽK studierte, aber ihr Studium nicht abschloss. In den Listen der Absolventen taucht ihr Name nicht auf. Zu jener Zeit war es für eine Frau (insbesondere eine Jüdin) schwierig, in Russland eine höhere medizinische Ausbildung zu erhalten. Deshalb ging Rozalija mit finanzieller Unterstützung ihrer wohlhabenden Eltern nach Frankreich, wo sie an der medizinischen Fakultät der Universität von Paris studierte. Ihre Schwester Vera und ihr Mann lebten zu dieser Zeit in Italien und wurden ebenfalls von ihren Eltern finanziell unterstützt. Rozalija studierte von 1907 bis 1914 an der Universität, wo sie schließlich ihr Examen ablegte und promovierte.
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Rozalija Lifšyc’. Anfang des 20. Jahrhunderts
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahm die Zahl der Studentinnen an der Universität Paris allmählich zu. Interessant ist, dass die meisten von ihnen Ausländerinnen waren. Das liegt zum einen daran, dass es damals in Frankreich für Mädchen keine Möglichkeit gab, einen Sekundarschulabschluss (Gymnasium) zu erwerben, und sie dementsprechend auch keinen Zugang zu den Universitäten hatten. Zum anderen wurden in vielen europäischen Ländern Frauen mit gymnasialer Ausbildung nicht zu Universitäten
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Volodymyr Vynnyčenko. Anfang des 20. Jahrhunderts
oder Instituten zugelassen; auch das Hochschulstudium von Frauen, auch im Bereich der Medizin, war weitgehend verboten. Die Mehrheit der ausländischen Frauen kam aus Mittel- und Osteuropa. Von der Gesamtzahl der Ausländer an der Universität Paris zu Beginn des 20. Jahrhunderts machten Frauen die Hälfte aus. Obwohl der Gesamtanteil der Frauen an der Studentenschaft nur etwa 10% betrug, stieg die Zahl der Studentinnen mit dem
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Ausbruch des Ersten Weltkrieges deutlich an und erreichte fast ein Viertel der gesamten Studentenschaft. Die Universitätsakte von Roza Lifšyc’ ist ein Standarddokument. Auf dem Einband stehen der Nachname und die Aktennummer „UA 6949“, was darauf hinweist, dass es sich um die Akte einer Doktorandin handelt. Es gibt eine querlaufende Bleistiftbeschriftung: „Dissertation 2. April 1914“. Die erste Seite mit der Überschrift „Medizinische Fakultät Paris“ enthält die folgenden Informationen: Rozalija Lifšyc’ wurde am 19. Juni 1884 in der Stadt Orel, Russland, geboren. Weiter heißt es, dass ihre Eltern in Moskau leben und ihren Lebensunterhalt mit Geschäften oder, wie es damals hieß, mit Handel verdienen. Adresse des Wohnsitzes der Studentin: 7, Rue des Feuillantines, Paris. Die nächste Seite betrifft die „Ausbildung“. Hier wird angegeben, dass die Studentin keinen Bachelor-Abschluss hat, aber am 17. Februar 1906 zusätzliche Prüfungen in Physik, Chemie und Biologie bestanden hat und zum Studium an der Universität zugelassen wurde. Die Adressen und Daten sind gesondert vermerkt, vermutlich um den Wechsel der Wohnadressen festzuhalten, an denen Rozalija Lifšyc’ während ihres Studiums an der Universität wohnte: 48, Rue de Liancourt; Avenue du Maine; 51, Boulevard Montparnasse;
Das Gebäude der medizinischen Fakultät der Universität von Paris. Heutige Ansicht
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Titelblatt der Personalakte der Studentin an der Universität Paris Rozalie Lifschitz. 1906
11 bis, Rue de Retier; dann Rue Faubourg, Rue Saint Jacques, Rue Marie Rose. Die nächste Seite enthält Angaben zu den akademischen Disziplinen. Die letzte Seite der Akte von R. Lifschitz trägt den Titel „Dissertation“. „Am 2. April 1914 haben wir, die Professoren und anderen Lehrer der medizinischen Fakultät der Universität Paris, die Dissertation von Fräulein Rosalie Lifschitz über ‚Die Tetanie1 bei Erwachsenen und ihr paratyphoider Ursprung‘ angehört.“ Die Kommission unter dem Vorsitz des Mikrobiologen, Professors der Medizin und Vorstandsmitglieds des Pasteur-Instituts André Chantemesse bewertete die Arbeit mit der Note „gut“ und beantragte, Rozalija Lifšyc’ den Grad eines Doktors der Medizin zu verleihen.
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Eine Krankheit, die infolge von Kalkmangel im Organismus durch unzureichende Funktion der Nebenschilddrüsen auftaucht.
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Formal wird der Grad vom Fakultätsrat verliehen und vom Professorenrat der Universität genehmigt. Dies ist jedoch nur eine Formalität. Tatsächlich war es der Prüfungsausschuss, der feststellte, ob die Dissertation und der Wissensstand des Doktoranden den Anforderungen und Kriterien entsprachen. Während ihres Studiums absolvierte Roza Lifšyc’ Praktika in mehreren Pariser medizinischen Einrichtungen: im Hôpital Necker, die auf Kinderkrankheiten spezialisiert war, in Hôpital Beaujon, im Hôpital Cochin, im psychiatrischen Hôpital Sainte Anne und im Hôpital Pitié. So absolvierte Roza Lifšyc’ ein komplettes Studium an der medizinischen Fakultät der Universität Paris und erhielt im April 1914 ihren Doktortitel. Sie war nicht die beste Studentin an der Fakultät. Ihre Noten waren eher mittelmäßig. Es ist möglich, dass ihre Affäre mit Volodymyr Vynnyčenko dies alles beeinflusst hat. Sie lernten sich im Sommer 1909 in Italien kennen, in der Küstenstadt Cavia in der Nähe von Genua (wo die Familie ihrer Schwester Vera lebte), und heirateten, oder besser gesagt begannen im März 1911 eine zivile Ehe zu führen. Volodymyr Vynnyčenko gibt in seinem Tagebuch das genaue Datum an, den 28. März. Die Zivilehe dauerte 15 Jahre und wurde am 29. April 1926 im Rathaus des 15. Pariser Bezirks offiziell eingetragen. Nachdem er sich für die Verbindung mit Rosalie entschieden hatte, schrieb Vynnyčenko auf: „Meine Frau erfüllt die Anforderungen, die ich immer an meine Frau gestellt habe. Sie ist Absolventin der medizinischen Fakultät in Paris, eine Jüdin, aber sie lernt Ukrainisch und ist bereit, dass unsere Familie ukrainisch wird.“
Persönliche Unterschrift von Rosalie Lifschitz aus ihrer Personalakte
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Später, in Briefen an seine Frau und in seinem Tagebuch, nannte Volodymyr Vynnyčenko sie liebevoll „Kocha“ und ersetzte ihren Namen manchmal durch das Zeichen ◊. Nach Beendigung ihres Studiums an der Universität kehrte Roza Lifšyc’ nach Russland zurück. Bald darauf brach der Erste Weltkrieg aus, und die junge Ärztin arbeitete laut ihrer Autobiografie in Militärkrankenhäusern in Moskau und dann in Kyïv. Mychajlo Hruševs’kyj gab ihr eine interessante Beschreibung. Als seine Tochter Kateryna erkrankte, schrieb er in seinen Memoiren (die Hruševs’kyjs lebten damals in Moskau), da „riefen wir Frau Vynnyčenko an, und sie reagierte sehr menschlich, kam und besuchte Kuljuna oft während ihrer Krankheit . . . Rozalija Jakivna machte einen sehr guten Eindruck auf uns mit ihrer medizinischen Effizienz und ihrer seriösen Einstellung gegenüber Ukrainern.“ Ende März 1917 zog Volodymyr Vynnyčenko (vermutlich zusammen mit Rozalija Lifšyc’) nach Kyïv. Von Juni 1917 bis Ende Januar 1918 leitete er die Regierung der Ukrainischen Volksrepublik (UNR) und anschließend das Direktorium der Ukrainischen Volksrepublik (Dezember 1918 – Februar 1919). Ende Februar 1918 reisten sie gemeinsam ins Ausland—zunächst nach Österreich, dann nach Deutschland und von dort aus nach Frankreich. Nach der Ausreise aus der Ukraine war ihre finanzielle Situation eine Zeit lang recht gut (was möglicherweise durch den Zugriff auf einen Teil der Parteikasse erleichtert wurde, die Volodymyr Vynnyčenko auf Anweisung des Zentralkomitees der USDRP2 „retten“ sollte). Ein Teil des Budgets setzte sich aus den Einnahmen von Theateraufführungen in europäischen Theatern (vor allem in Deutschland) und einigen Veröffentlichungen seiner Werke zusammen. Im Juli 1923 kaufte Volodymyr Vynnyčenko eine Villa im Dorf Rauen, südlich von Berlin, in der Nähe der Stadt Fürstenwalde, die er „Hof“ nannte. Um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, vermietete er diese Villa. Vynnyčenko erwies sich jedoch als ein eher schlechter Geschäftsmann. So sah er sich nach etwa einem Jahr gezwungen, den „Hof“ zu verkaufen, und zog in der Hoffnung 2
Ukrainische Sozial-Demokratische Arbeiter-Partei (Anm. d. Übers.).
Vynnyčenko
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Medizinisches Doktordiplom von Rosalie Lifschitz
auf bessere Möglichkeiten im Frühjahr 1925 mit seiner Frau nach Frankreich. Während ihres Auslandsaufenthalts mit Volodymyr Vynnyčenko arbeitete Lifšyc’ nicht in der Medizin (eigentlich hat sie nirgendwo gearbeitet). In den „Krisenzeiten“ versuchte sie es jedoch weiterhin: Sie belegte immer wieder zusätzliche medizinische Kurse und entwickelte zusammen mit ihrem Mann Projekte zur Gründung privater medizinischer Einrichtungen.
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Im Oktober 1925 belegte sie einen zweiwöchigen Fortbildungskurs in Gynäkologie an der medizinischen Fakultät der Universität Paris im Hôpital Broca. Volodymyr Vynnyčenko schrieb in seinem Tagebuch, dass Rozalija im Mai 1926 aktiv nach einer „medizinischen Arbeit entweder in einem Labor oder in einer Klinik“ suchte; er glaubte, dass es dringend notwendig war, „den Grundstein für Kochas Arbeit zu legen“. Der genossenschaftliche Verlag „Ruch“ in Charkiv begann 1926 die Veröffentlichung einer 23-bändigen Auswahl von Volodymyr Vynnyčenkos Werken. Einige davon wurden ins Russische übersetzt und in Moskau veröffentlicht. Die finanzielle
Volodymyr Vynnyčenko bei der Arbeit im Garten seines Anwesens„ Einöde“. Mougins, 1950er Jahre
Vynnyčenko
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Lage verbesserte sich, und Rozalijas Beschäftigung wurde für eine Weile unwichtig. Zu dieser Zeit kauften die Vynnyčenkos ein Grundstück in einem Vorort von Paris (20. Arrondissement) in der Rue Emile Deveau (nordöstlicher Stadtrand) und begannen mit dem Bau eines eigenen Hauses. Wie sich jedoch herausstellte, war dies eine Fehlinvestition. Das Haus musste zunächst vermietet und dann verkauft werden. 1928 versuchte Rozalija Vynnyčenko (nach der Eintragung der Ehe benutzte sie oft den Nachnamen Vynnyčenko, manchmal auch Lifschitz-Vynnytchenko), eine private Einrichtung, das Hypnoanalytische Institut, zu gründen, dies scheiterte aber ebenfalls. Volodymyr Vynnyčenko schrieb in sein Tagebuch: „Wir müssen unabhängig werden, wir müssen eine Arbeit, eine Dienstleistung oder ein Geschäft finden, das uns ein sicheres und stabiles Einkommen verschafft. Eine Klinik zu organisieren? Ich habe keine Kraft.“ Um als Privatärztin praktizieren zu können, musste Rozalija Vynnyčenko zusätzliche Prüfungen ablegen. Aber die Vynnyčenkos hatten die französische Staatsbürgerschaft nicht.
Das Ehepaar Vynnyčenko. 1940er Jahre
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Laut Volodymyr Vynnyčenko war es „eine absolut unmögliche Sache, sie anzunehmen“. Die Vynnyčenkos kauften ein neues Grundstück im Südwesten von Paris, an der Square Vergennes (zwischen dem Bois de Boulogne und dem Jardin du Luxembourg, nahe der Seine). Sie begannen erneut mit dem Bau einer Villa, aber die Arbeiten verzögerten sich, so dass sie erst im Juni 1930 einziehen konnten. Das Geld für den Bau und das Grundstück stammte hauptsächlich aus den regelmäßigen Tantiemen vom Verlag „Knyhospilka“ aus Charkiv, der 1930 mit der Herausgabe der 28-bändigen Ausgabe der Werke des Schriftstellers begann. Die Vynnyčenkos wohnten mehrere Jahre lang an der Square Vergennes. Der Ort erwies sich als sehr unglücklich. In der Nähe befand sich ein privates Geschäft, und die Autos verursachten einen lästigen Lärm. Auch dieses Haus mussten sie verkaufen. Im Jahr 1929 versuchte Rozalija Vynnyčenko erneut, in ihrem Fachgebiet zu arbeiten. Sie belegte zusätzlich einen Kurs an der privaten, kostenpflichtigen französischen Schule für Orthopädie und Massage in Paris und erhielt am 28. Dezember desselben Jahres ihr Diplom. In den letzten Jahren reisten die Vynnyčenkos für längere Sommer nach Südfrankreich ans Meer und suchten aktiv nach
Heutige Ansicht der „Einöde“
Vynnyčenko
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einer Möglichkeit, an einen ruhigen und billigeren Ort zum Leben zu ziehen. Im Oktober 1934 kauften sie mehrere Grundstücke und ein altes Haus in der Nähe von Cannes, im Dorf Mougins, das Volodymyr Vynnyčenko „Zakutok“ – Einöde – nannte. Hier lebten sie für den Rest ihres Lebens. Ein weiteres Hindernis für Rozalija Vynnyčenkos offizielle ärztliche Tätigkeit bestand darin, dass sie eine Bescheinigung über die Ausübung der ärztlichen Tätigkeit erhalten musste, indem sie die entsprechenden Steuern zahlte. Nach Erhalt des Zertifikats konnte sie ihre eigene private Arztpraxis einrichten und ausstatten. All das erforderte Geld, aber sie hatte nicht einmal genug zum Leben. Das letzte Mal, dass Rozalija Vynnyčenko versuchte, eine Arbeit zu finden, war im Mai 1940, als sie eine Bescheinigung von der Universität Paris erhielt, in der stand, dass Rozalija Vynnyčenko (damals noch Lifschitz) 1914 ihren Doktortitel in Medizin erhalten hatte. Dieses Datum fiel mit dem Beginn der militärischen Feldzugs Nazideutschlands gegen Frankreich am 10. Mai 1940 und der Gründung des französischen Staates (Vichy) in einem Teil Frankreichs unter der Führung von Marschall Philippe Petain zusammen. Es scheint, dass der Krieg einen zusätzlichen Bedarf an Ärzten verursachte. Aus uns unbekannten Gründen war Rozalija Vynnyčenko jedoch nie in der Lage, eine formale Genehmigung zur Ausübung des Arztberufs zu erhalten. Auch in medizinischen Einrichtungen fand sie keine Arbeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab Rozalija Vynnyčenko den Versuch auf, in ihrem Fachgebiet zu arbeiten. In den ersten Nachkriegsjahren erhielten die Vynnyčenkos etwas finanzielle Unterstützung von der „International Refugee Organisation“ (IRO), einer internationalen Hilfsorganisation für Flüchtlinge, und später aus der ukrainischen Diaspora in Nordamerika. Das Paar ernährte sich lange Zeit vegetarisch und sogar rohköstlich. Es scheint jedoch, dass der Vegetarismus nur ein Vorwand war, um die schwierige finanzielle Situation oder, einfacher ausgedrückt, die Armut zu verbergen.
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Rozalija Vynnyčenko im Alter
Volodymyr Vynnyčenko. Eines der letzten Fotos
In seinen Tagebüchern schrieb Volodymyr Vynnyčenko immer wieder Folgendes: „Ich kann mir nicht die Bücher kaufen, die ich für die Arbeit brauche, ich kann nicht ins Theater gehen,
Vynnyčenko
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um ein Konzert zu besuchen . . . unsere Kleidung ist schäbig, unsere Unterwäsche ist zerrissen, unsere Schuhe sind undicht.“ Bis an ihr Lebensende waren die Vynnyčenkos nicht in der Lage, die Bankkredite für den Kauf ihres Hauses und Grundstücks in Mougins zurückzuzahlen. Nach dem Tod ihres Mannes wurde es noch schwieriger. 1952 nahm Rozalija Vynnyčenko die Künstlerin Ivanna Nyzhnyk-Vynnykiv bei sich auf, diese zahlte bald ihre Bankschulden ab und kümmerte sich nach dem Tod der Witwe am 6. Februar 1959 weiter um die „Einöde“. Schließlich ging das Vynnyčenko-Anwesen in die Hände eines französischen Besitzers über. Ein Teil des Besitzes, der Manuskripte usw. wurde gerettet. Sie werden in der Ukraine, in den USA und teilweise in Frankreich aufbewahrt. Die Gräber von Volodymyr und Rozalija Vynnyčenko befinden sich in Frankreich, in Mougins. Von Zeit zu Zeit legt jemand Blumen auf diese Gräber . . .
Stanisław Stępień
Ol’ha Bil’s’ka-Petljura im Licht neuerer Archivforschungen Biografische Studien in der Ukraine—und weitgehend auch in Polen—ignorieren in der Regel die persönlichen Informationen der beschriebenen Figuren des nationalen Pantheons. Die Historiker versuchen, sie als Menschen darzustellen, die ungebrochen sind, die sich für nationale oder öffentliche Belange einsetzen und die in jedem Fall nationale Interessen über persönliche stellen. In Biografien prominenter Männer, selbst in akademischen, werden Ehefrau und Kinder oft nur am Rande erwähnt. Über die Eltern wird viel mehr geschrieben, denn in der Vergangenheit gehörte der soziale Hintergrund in einer kanonischen Biografie unbedingt erwähnt. In der Sowjetzeit wurde betont, dass ein Mensch aus einer ausgebeuteten Klasse stammt und seine eigenen Klassenvorstellungen in der Kindheit formt. Wenn eine Person aus einer sozial privilegierten Klasse stammte, sollte ihre Biografie aussagen, dass sie den Mut hatte, die aristokratische oder bürgerliche Umgebung abzulehnen. Bis zu einem gewissen Grad wird dieses Schema seit 1990 beibehalten, mit dem Unterschied, dass nicht mehr die proletarische Herkunft hervorgehoben wird, sondern die patriotische Erziehung durch die Eltern oder den weiteren Familienkreis. Das Gleiche gilt für Ol’ha Bil’s’ka, die Ehefrau des Obersten Atamans der Truppen und Leiters des UPR-Direktoriums Symon Petljura. Forscher, die sich mit seiner Biografie befassen, konnten bisher nicht einmal das Geburtsdatum und den Geburtsort seiner Frau endgültig bestimmen, geschweige denn ihre Ausbildung und Informationen über ihre Eltern, mit Ausnahme des Namens ihres Vaters. In der Literatur findet man am häufigsten die Information, dass Ol’ha Bil’s’ka, die Frau des Obersten Atamans der UNR-Truppen, Symon Petljura, am 23. Dezember 1885 im Dorf Mala Divycja, Ujezd Pryluky, Gouvernement Poltava, geboren 45
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Ein
Land
weiblichen
Geschlecht
wurde. In einigen Quellen findet man jedoch die Information, dass sie im Dorf Pohreby, nicht weit von Mala Divycja entfernt, oder sogar in Pryluky geboren wurde und nicht 1885, sondern 1884 oder sogar 1886.1 Der Grund für diese Diskrepanzen liegt nicht nur in der bereits erwähnten Vernachlässigung von Nebenfiguren durch die Historiker im Verhältnis zur Hauptperson der Studie und in der Unterschätzung der Notwendigkeit von Archivrecherchen, sondern auch in objektiven Gründen. Die zaristische Verwaltung, sowohl die weltliche als auch die kirchliche, gab in schriftlichen Bescheinigungen über verschiedene zivile Ereignisse wie Schulbildung und kirchliche Riten (Hochzeiten oder Beerdigungen) nur das Alter, nicht aber das Geburtsdatum an. Erschwerend kam hinzu, dass in Russland bis 1918 offiziell der julianische Kalender verwendet wurde. Dies zwang die im 19. oder frühen 20. Jahrhundert dort Geborenen, ihre Geburtsdaten in der Zwischenkriegszeit auf den gregorianischen Kalender umzustellen (oder andere darum zu bitten). Menschen, die die Regeln für die Umrechnung von Daten zwischen dem julianischen und dem gregorianischen Kalender nicht kannten, machten oft Fehler, wenn sie einem Datum aus dem 19. Jahrhundert 13 statt 12 Tage hinzufügten. Bis heute wurde weder die Taufurkunde von Ol’ha Bil’s’ka noch ein zuverlässiges Dokument gefunden, in dem das Datum und der Ort ihrer Geburt verzeichnet sind. Das Staatsarchiv des Gebiets Černihiv bewahrt die Kirchenbücher von Pryluky aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf, einschließlich der Aufzeichnungen über Taufen in der Dreifaltigkeitskirche, der einzigen Kirche im Dorf Mala Divycja. In den Aufzeichnungen von 1885 (dem zumeist genannten Geburtsjahr von Ol’ha Bil’s’ka) wird ihre Geburt oder Taufe jedoch nicht erwähnt. Auch weder im Vorjahr, 1884, noch im darauffolgenden Jahr, 1886, gibt es darüber Informationen. In der Gemeinde des Dorfes Pohreby ist die Situation ähnlich. Vielleicht wurde Ol’ha in einem anderen Dorf geboren oder sie wurde dort getauft. Wie können wir sonst das Datum und den Ort ihrer Geburt feststellen? Vielleicht helfen uns die Schulunterlagen 1
So in V. Kubijovyčs „Encyclopedija Ukraïnoznavstva“ vermerkt, St. S.
Ol’ha Bil’s’ka-Petljura im Licht neuerer Archivforschungen
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Das Gebäude des Mädchengymnasiums von Pryluky. Heutige Ansicht
des Frauengymnasiums von Pryluky weiter, die vollständig im Archiv der Oblast Černihiv aufbewahrt sind. Nach Abschluss der Grundschule in einer Gemeinde trat Ol’ha am 1. September 1894 in dieses Gymnasium ein. Es handelte sich um eine staatliche Bildungseinrichtung, die in den späten 1870er Jahren gegründet wurde und dem Kyïver Bildungsbezirk unterstellt war. In den 1890er Jahren war es eine siebenklassige Schule; aber wer Lehrer und Erzieher an öffentlichen Schulen werden wollte, musste die 8. Klasse absolvieren. Der Lehrplan dieser zusätzlichen Klasse umfasste sowohl theoretische Fächer (das Göttliche Recht2, Pädagogik, Methoden des Unterrichts der russischen 2
Das „Gesetz Gottes“ ist ein eigenes orthodoxes Unterweisungswerk der orthodoxen Gläubigen, entfernt vergleichbar mit Katechismen (Anm. d. Übers.).
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Sprache und der Arithmetik sowie ein weiteres Fach nach Wahl) als auch praktische Fächer: das Führen eines Schultagebuchs und Dokumentation. Während des Schuljahres absolvierten die Schüler auch Praktika in den örtlichen Volksschulen. Im Jahr 1901 schloss Ol’ha Bil’s’ka die 7. Klasse ab und erhielt am 28. Mai 1901 ihr Abiturzeugnis mit einer Goldmedaille. Auf dem am 31. Mai 1901 ausgestellten Zeugnis steht, dass sie zu diesem Zeitpunkt 16 Jahre alt war. Dies macht es schwierig, das Geburtsdatum von Ol’ha Bil’s’ka zu bestimmen, da in offiziellen Dokumenten das volle Alter einer Person angegeben wird. Wäre Ol’ha also im Dezember 1885 geboren worden, hätte sie das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet, da sie noch 6 Monate vor sich gehabt hätte. Das heißt, entweder war es ein Fehler der Person, die das Zeugnis der Sekundarschule ausstellte, weil das Mädchen die 7 Klassen der Sekundarschule im Alter von 16 Jahren beendete, oder Ol’ha könnte die Sekundarschule früher begonnen haben, d.h. im Alter von 9 und nicht 10 Jahren, oder sie wurde ein Jahr früher geboren, also 1884, wie einige ukrainische Forscher, darunter O. Luhovyj, T. Kivšar und andere, vorschlagen. Leider ist es unmöglich, dies anhand der erhaltenen Kopien der Schulunterlagen sowie einiger anderer Dokumente aus diesem Archiv festzustellen. Nach Abschluss der 7. Klasse kam Ol’ha Bil’s’ka, wie die meisten Schüler des Gymnasiums, in die 8. Klasse. Nach Abschluss ihres Studiums (laut Anhang zu ihrem Abiturzeugnis, ausgestellt vom Pädagogischen Rat am 7. Juni 1902) und auf der Grundlage der §§ 43 und 44 des Gesetzes über Mädchengymnasien und Progymnasien des Ministeriums für Volksbildung wurde die oben erwähnte Ol’ha Bil’s’ka vom Pädagogischen Rat des Pryluky-Mädchengymnasiums als würdig anerkannt, den Titel einer Hauslehrerin in folgenden Fächern zu führen: Russisch und Mathematik. Ol’ha erhielt ein Abiturzeugnis und ein zusätzliches Zeugnis über den Abschluss der 8. Klasse, und aus ihrer Personalakte geht hervor, dass sie ihr Taufzeugnis, also einen Kirchenbuch-Auszug, zusammen mit ihren Unterlagen aus dem Gymnasium mitnahm, die ich jedoch weder im Kyïver Archiv noch im Archiv der Polizeidirektion in Paris noch in der Bibliothéque Simon Petlura,
Ol’ha Bil’s’ka-Petljura im Licht neuerer Archivforschungen
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in der sich viele persönliche Dokumente von Ol’ha und Symon Petljura befinden, finden konnte. Welche weiteren neuen Informationen lassen sich aus den Schulakten des Pryluky-Gymnasiums gewinnen? Bisher war nur der Name von Ol’has Vater, Panas (russisch Afanasij), bekannt. Andere Informationen gab es nicht. Aus den Aufzeichnungen des Gymnasiums geht hervor, dass er von Beruf Volksschullehrer war. Vermutlich war er anfangs in dem Dorf Mala Divycja und dann in Pryluky, da er in den Dokumenten als Ehrenbürger adliger Herkunft dieser Stadt aufgeführt ist. Er ließ seine Familie 1895, als Ol’ha die 2. Klasse besuchte, zu Waisen werden. Ihre Mutter, Oleksandra Ivanovna, deren Namen wir lange Zeit nicht kannten, stellte sich als „Witwe eines Ehrenbürgers von Pryluky“ vor. Aus den Unterlagen des Gymnasiums erfahren wir auch, dass die Familie Bil’s’ki zwei Töchter hatte: Ol’ha und die 2 Jahre jüngere Ljudmyla, die ebenfalls das Mädchengymnasium in Pryluky besuchte. Nach dem Tod von Panas Bil’s’kyj verschlechterte sich die finanzielle Lage der Familie erheblich. Um sicherzustellen, dass ihre Töchter die Sekundarschule abschließen konnten, beantragte die Mutter jedes Jahr finanzielle Unterstützung bei der Verwaltung der Zemstvo von Pryluky.
Zeugnis von Ol’ha Bil’s’ka über den Abschluss der Prüfungenund den Abschluss der vollständigen Sekundarausbildung
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Ergänzung zum Zeugnis über den Abschluss der 8., zusätzlichen Klasse des Gymnasiums
Außerdem verdiente sie zusätzliches Geld, indem sie ihr Haus an Schüler der erwähnten Mittelschule vermietete. Ol’ha und Ljudmyla waren hervorragende Schülerinnen, wofür sie am Ende des Schuljahres wiederholt mit Zeugnissen der Schulverwaltung belohnt wurden. Aus den Schulakten wissen wir viel mehr über Ljudmyla als über Ol’ha, denn nach dem Abschluss des Gymnasiums 1904 verbrachte Ljudmyla einige Zeit mit der Arbeitssuche, doch im folgenden Jahr erfuhr sie, dass an dem Gymnasium, an dem sie ihren Abschluss gemacht hatte, die Stelle einer „Klassenaufseherin“, also einer Hilfslehrerin, frei war. Sie bewarb sich und wurde angenommen. Ljudmyla arbeitete dort bis 1910. Dann, vermutlich nach ihrer Heirat, ging sie nach Katerynoslav (heute Dnipro). Ljudmyla fand eine Stelle in der Stadt Jusivka im Gouvernement Katerynoslav. Dann bat sie die Leitung des Gymnasiums in Pryluky, ihr die Unterlagen zu schicken, die sie für eine neue Stelle benötigte. Sie wurden dorthin geschickt. In diesen Unterlagen war sie zunächst als ledig aufgeführt, aber am Ende ihrer Arbeit am Gymnasium war sie bereits verheiratet und trug den Nachnamen Škuratova. Die Frage nach der Nationalität von Ol’ha Bil’s’ka ist ebenfalls interessant und noch immer unklar. Wir haben nur wenige
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Informationen darüber. In einem der Briefe, die sie Ende Juni 1924 aus Warschau an ihre Cousine Nina Siropolk schickte, schrieb Ol’ha: „Ich bin . . . leider keine Ukrainerin von der Nationalität her.“ Sie gibt jedoch weder in diesem Brief noch in einem anderen persönlichen Dokument ihre Nationalität an. Bei einer Recherche im Juni 1997 in der Bibliothèque Simon Petlura in Paris sagte mir ein Bibliothekar, ein ehemaliger Offizier und Petljura-Anhänger, dass Ol’ha Bil’s’ka polnischer Abstammung sei. Dies kann jedoch durch die Analyse der genannten Archivalien nicht bestätigt werden. Ihre Eltern waren orthodoxe Christen, ebenso wie Ol’ha und ihre Schwester Ljudmyla. Es ist möglich, dass die weniger nahen Verwandten von Ol’ha Bil’s’ka polnischer Abstammung waren, zum Beispiel mütterlicherseits. Nach dem Abitur ging Ol’ha Bil’s’ka nach Kyïv, wo sie ihre Ausbildung an der Pädagogischen Hochschule fortsetzen wollte, aber aus Geldmangel eine Stelle an einem privaten Gymnasium annahm. Im Jahr 1908 lernte sie bei einem Besuch bei ihren Verwandten Symon Petljura kennen. Die Bekanntschaft wurde fortgesetzt, und 1910 beschloss Ol’ha, ihn in Moskau zu besuchen, wo Symon zusammen mit Oleksandr Salikovs’kyj die russischsprachige Zeitschrift „Ukrainskaja Žizn“ (Ukrainisches Leben) herausgab, und Ol’ha bekam in dieser Stadt eine Stelle als Gouvernante. Dort wurde sie schwanger und kehrte nach der Entbindung zu ihren Verwandten in Kyïv zurück, wo sie am 25. Oktober 1911 eine Tochter zur Welt brachte, die sie und ihr Mann Larysa (Lesja) nannten. Dann ging sie mit dem Kind nach Pryluky zu ihrer Mutter. Einige Monate später kehrte Ol’ha nach Moskau zurück und nahm ihre Mutter mit. In Moskau wurde Larysa am 23. September (6. Oktober) 1912 in der orthodoxen Kirche der Lebensspendenden Dreifaltigkeit getauft; ihre Taufpaten waren Stepan Trofymenko, ein Bürger aus der Provinz Voroneš, und Oleksandra Ivanovna, Lesjas Großmutter. Als der Erste Weltkrieg ausbrach und ihm die Mobilisierung und die Entsendung an die Front in eine unbekannte Richtung drohte, beschloss Symon, sich einer Wohltätigkeitsorganisation anzuschließen, die sich für die Bedürfnisse an der Front einsetzte und deren Mitglieder den Soldaten gleichgestellt waren. Er wurde
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an die nordwestliche Front, nach Minsk, geschickt. Aus Angst, dass Ol’ha bei seinem Unfalltod mit dem gemeinsamen Kind ohne finanzielle Unterstützung dastehen würde, beschlossen sie damals, ihre Ehe zu legalisieren, also in der orthodoxen Kirche zu heiraten. Auf diese Weise hätte Ol’ha, wenn sie Soldatenwitwe würde, Anspruch auf staatlichen Schutz. Die Hochzeit fand am 3. (18.) Januar 1915 in der Verklärungskirche im Dorf Ljubercy bei Moskau statt. Pfarrer Sergej Cholmogorov nahm die Trauung vor. Er trug in das Heiratsregister ein: „Simon Vasil’evič Petljura, Bürger aus Poltava, orthodox, erste Ehe, 35 Jahre alt, und Ol’ga Opanasovna Bel’skaja, Gouvernante, orthodox, erste Ehe, 30 Jahre alt, haben geheiratet.“ Leider enthält dieses Dokument keine Angaben zu Geburtsdatum und -ort von Ol’ha Bil’s’ka. Dies lässt jedoch die Vermutung zu, dass sie 1884 und nicht 1885 geboren wurde, da in Russland alle offiziellen Dokumente das volle Alter angeben. Am Tag ihrer Hochzeit, am 3. Januar 1915, war Ol’ha Bil’s’ka 30 Jahre alt, aber nur, wenn sie 1884 geboren worden wäre. Bei dieser Gelegenheit sollte auch die in vielen Werken über Symon und Ol’ha Petljura enthaltene Information widerlegt werden, dass sie 1910, ein Jahr vor der Geburt ihrer Tochter Lesja, in Moskau eine Zivilehe geschlossen haben. Dies ist nicht wahr, denn Zivilehen wurden in Russland erst nach der Oktoberrevolution durch ein Dekret des Rates der Volkskommissare vom 18. Dezember 1917 als rechtmäßig anerkannt. Zuvor, im zaristischen Russland, gab es nur für Altgläubige eine Ausnahme, die in ihrer Heimat geheiratet hatten. Diejenigen, die in eine altgläubige Kirche eintraten oder dort ein Kind tauften, waren, da dies von den staatlichen Institutionen nicht anerkannt wurde, verpflichtet, die örtlichen Behörden zu informieren, und erst dann wurde eine solche Handlung rechtsverbindlich. Alle anderen mussten Geburt, Heirat oder Tod in einer der in Russland anerkannten religiösen Einrichtungen bestätigen. Eine solche Urkunde war das einzige offizielle Dokument, das vom Staat anerkannt wurde. Selbst Vladimir Lenin ließ sich nach orthodoxem Ritus trauen, um seine Ehe mit Nadežda Krupskaja zu legalisieren.
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Das weitere Schicksal von Ol’ha und ihrer Tochter Lesja hing von ihren öffentlichen Aufgaben und dem Schicksal ihres Mannes ab. Anfang 1917 beschloss Ol’ha, Moskau zu verlassen, und kam mit ihrer Tochter nach Minsk, wo sie mit ihrem Mann lebte. Als er jedoch am Ersten Ukrainischen Militärkongress teilnahm, der vom 18. bis 21. Mai 1917 in der ukrainischen Hauptstadt stattfand, wo er zum Vorsitzenden des ukrainischen militärischen Organisationskomitees gewählt wurde, und deshalb nicht nach Minsk zurückkehrte, fuhr sie nach Kyïv, um ihn zu besuchen. Ol’ha kam dort Anfang Juni 1917 mit ihrer Tochter an und ließ sich in Symons Dienstwohnung im Prager Hotel in der Volodymyr-Straße nieder, neben dem Pädagogischen Museum, das die ukrainische Zentralna Rada beherbergte. Ol’ha und Lesja blieben in der ukrainischen Hauptstadt, auch als Petljura gezwungen wurde, die Stadt zu verlassen. Da sie nicht mehr in dem oben erwähnten Hotel wohnen konnten, zogen sie in das Haus eines Freundes, wo sich Ol’ha zur Sicherheit unter einem anderen Namen niederließ. Im Frühjahr 1919 verließen sie und ihre Tochter aufgrund der Bedrohung der Stadt durch die bolschewistische Armee Kyïv und zogen mehrere Monate lang mit den ukrainischen Armeeeinheiten auf dem Rückzug nach Westen. Im Frühherbst überredete Petljura seine Frau und seine Tochter, in die Tschechische Republik, nach Prag, zu gehen. Am 21. November 1919 reiste Ol’ha mit einer Gruppe ukrainischer Emigranten, darunter ein Mitglied des Direktoriums, Fedir Švec’, und ihrem Neffen nach Krakau. Sie ließ sich im französischen Hotel im Stadtzentrum nieder und beschloss, ihren Aufenthalt zu nutzen, um für die ukrainische Sache zu werben: Sie sprach mit der lokalen Presse und gab Interviews. Am 24. November 1919 schrieb die „Gazeta Poranna“, die Frau des Atamans „macht einen schönen Eindruck, hat helles Haar und große verträumte Augen, ihre Tochter ist ihrer Mutter sehr ähnlich“. Gleichermaßen berichtete 5 Tage später die Krakauer gesellschaftspolitische Tageszeitung „Iskra“, dass jeder ihrer Auftritte in der Stadt in typisch ukrainischer Kleidung großes Interesse bei der Bevölkerung weckte. Um den Aufenthalt zu erleichtern und verschiedene Angelegenheiten zu ermöglichen, außerdem aus Sicherheitsgründen, wiesen ihr
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Heiratsurkunde von Ol’ha Bil’s’ka und Symon Petljura. 1915
die polnischen Behörden einen Adjutanten zu, den polnischen Armeeoffizier Leutnant Mieczysław Susicki. Im tschechischen Konsulat in Krakau vervollständigte Ol’ha alle Dokumente für ihre geplante Reise nach Prag, fuhr aber stattdessen nach Warschau, wo sich ihr Mann aufhielt. Sie kam am 29. November mit einem Eilzug in der polnischen Hauptstadt an und registrierte sich im Hotel Brülowski, später zog sie in die Wohnung ihres Mannes in der Rosenallee 6. Warschau befürchtete ein Attentat auf den Ataman, so dass es für seine Frau und seine Tochter gefährlich wurde, bei ihm zu bleiben. Aus diesem Grund wurde Mitte Februar 1920 beschlossen,
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dass Ol’ha und ihre Tochter nach Prag ausreisen sollten, auch wenn es offiziell hieß, dass sie sich in der Schweiz in ärztliche Behandlung begeben würde. Nach ihrer Ankunft in Prag wurden Ol’ha und ihre Tochter von der dortigen ukrainischen Volkskolonie betreut, insbesondere von der verwandten Familie Siropolk. Lesja ging dort auf eine tschechische Volksschule. 1921 besuchten Ol’ha und Lesja kurz Symon Petljura, der zu dieser Zeit in Tarnów lebte, kehrten aber einige Wochen später nach Prag zurück. Erst Ende 1922 kamen sie in Warschau an, wo sie sich dank der Hilfe von Henryk Józefski (einem ehemaligen UPR-Beamten und später einflussreichen Politiker in Polen) niederließen, wenn auch anonym. In Warschau besuchte Lesja eine polnische Schule, während Ol’ha den Haushalt führte. Beide lernten mit Hilfe von Józefskis Frau Julia Französisch, denn es war bekannt, dass ein Teil der Exilregierung nach Paris gehen würde, und auch der Oberste Ataman würde dorthin gehen. Petljura verließ Warschau am 31. Dezember 1923 und erreichte nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in Ungarn und der Schweiz am 16. Oktober 1924 Paris. Ol’ha und ihre Tochter blieben in Warschau, weil Lesja die 3. Klasse des Gymnasiums absolvieren musste. Nach dem Ende des Schuljahres erhielten sie mit Hilfe der polnischen Behörden ein französisches Visum, und nachdem sie ihre persönlichen Angelegenheiten geregelt hatten, reisten Mutter und Tochter nach Paris, wo sie am 21. August 1925 ankamen. Aufgrund der Ankunft der Familie mietete Petljura eine neue Wohnung, eine bescheidene Zweizimmerwohnung in der Nähe der Sorbonne im berühmten Quartier Latin. Aus Sicherheitsgründen zogen Ol’ha und ihre Tochter jedoch bald in eine separate Wohnung in der Rue Gay-Lussac. Am 1. September 1925 trat Lesja in die 4. Klasse des Lycée Fénelon in Paris ein. Sie zeigte ein bemerkenswertes Talent für Sprachen, aber auch für Malerei und Poesie. Das friedliche, wenn auch recht arme Leben der Petljuras wurde jäh unterbrochen durch die Ermordung des obersten Atamans am 25. Mai 1926 von Schlomo Schwartzbard, der seine Tat damit begründete, dass er Symon Petljura für die Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung
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Ol’ha Petljura mit ihrer Tochter Lesja. Anfang der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts
der Ukraine durch die von ihm befehligte Armee während des Unabhängigkeitskampfes verantwortlich machte. Die Beerdigung des Atamans, gefolgt von einer langen, brutalen und betrügerischen Kampagne gegen ihn während des Prozesses gegen den Mörder, beeinträchtigte die Gesundheit seiner Frau und seiner Tochter.
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Aus der Pariser Zeit haben wir bisher das einzige Dokument mit dem genauen Geburtsdatum von Ol’ha Petljura, geborene Bil’s’ka. Es handelt sich um eine 1928 von der Polizeipräfektur ausgestellte „Identitätsbescheinigung“ (Certificat d’Identité), eine Art Personalausweis oder Reisepass, die das Geburtsdatum enthält. Allerdings ist die letzte Ziffer der Jahreszahl, die von Hand geschrieben wurde, so eingetragen, dass sie entweder als 5 oder 6 gelesen werden kann. Die Analyse der anderen 6 Ziffern, die in dem Dokument erscheinen, schließt jedoch die letzte Ziffer aus. Auf der Grundlage dieses Dokuments und des in ihren Schulunterlagen und ihrer Heiratsurkunde angegebenen Alters ist also davon auszugehen, dass Ol’ha Petljura, geborene Bil’s’ka, am 23. Dezember 1884 geboren wurde, aber das Jahr 1885, das auf ihrem Grab angegeben war, kann nicht ausgeschlossen werden. Übrigens gab sie ihren Nachnamen in französischen Dokumenten mit Bielsky an. Der oben erwähnte Personalausweis aus dem Jahr 1928 bestätigt auch, dass Ol’ha ein Ausreisevisum nach Polen erhielt und mit ihrer Tochter in Warschau blieb. Während ihres Aufenthalts in Warschau gewährten ihr die polnischen Behörden dank der Hilfe der polnischen Freunde des Atamans eine ständige finanzielle Unterstützung, ein monatliches Budget von 1000 Złoty, das sie nach ihrer Rückkehr nach Polen erhielt. Das Visum für die Einreise nach Frankreich erhielt sie durch die Vermittlung des Leiters des Prometheismus-Klubs3 in Warschau, des prominenten ukrainischen Linguisten und Professors an der Universität Warschau, Roman Smal’-Stoc’kyj. Es handelte sich um eine illegale Aktion, und an der Überweisung des Geldes an Ol’ha waren bekannte ukrainische Emigranten beteiligt: der Sekretär des in Paris tätigen Hauptemigrationsrates, der Verwalter der Wochenzeitung „Tryzub“, Ilarion Kosenko, der ehemalige Ministerpräsident der Ukrainischen Volksrepublik und treue Genosse von Symon Petljura, Volodymyr Prokopovyč, General Oleksandr Udovyčenko sowie der Neffe ihres Mannes, Stepan
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Der Prometheismus war eine von Marschall Józef Piłsudski initiierte politische Bewegung in Polen und der Ukraine, die sich gegen den geopolitischen Einflussausbau der Sowjetunion richtete (Anm. d. Übers.).
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Das Certificat d’Identité von Olga Petlura, ausgestellt von der Pariser Polizeipräfektur, zusammen mit ihrem Einreisevisum nach Polen. 1928
Skrypnyk, Abgeordneter im polnischen Sejm und Verbündeter des Woiwoden von Wolynien, Henryk Józefski. Diese finanzielle Unterstützung war für Ol’ha umso nützlicher, als ihre Tochter Lesja Ende 1929 an Tuberkulose erkrankte. Sie war im letzten Jahr des Gymnasiums. Eine Behandlung im Sanatorium wurde notwendig. Mit der finanziellen Unterstützung von Freunden reisten sie und ihre Tochter im März 1930 nach Cambo-les-Bains, einem bekannten Sanatorium. Es lag am Meer, im französischen Teil des Baskenlandes. Nach der ersten Zeit der Behandlung fühlte sich Lesja gut genug, um im späten Frühjahr 1931 ihre Abschlussprüfungen am Gymnasium abzulegen. Unter
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ständiger ärztlicher Aufsicht schrieb sie sich 1933 an der Fakultät für Literatur der Universität Bordeaux ein. Die Wahl fiel auf diese Universität, weil die Stadt in der Nähe von Cambo-les-Bains lag und über eine gute Eisenbahnverbindung verfügte. Dies war wichtig, da Lesja alle 2 Monate zu einer medizinischen Untersuchung in ein Sanatorium gehen musste. Lesja schloss ihr erstes Studienjahr erfolgreich ab und begann bereits mit dem zweiten Studienjahr, doch im Frühjahr 1935 verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand erneut. Ol’ha war gezwungen, mit ihrer Tochter erneut in das Sanatorium zu gehen. Trotz jahrelanger intensiver Behandlung starb Lesja am 6. November 1941 im Sanatorium Cambo-les-Bains. Sie wurde auf dem örtlichen Friedhof beigesetzt. Olga kehrte daraufhin in ihre
Ol’ha Petljura. Ende der 1920er Jahre
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frühere Wohnung in Paris zurück. Am 28. November 1942 konnte sie den Leichnam ihrer Tochter in einem Gemeinschaftsgrab neben dem ihres Vaters auf dem Friedhof Montparnasse beisetzen. Sie führte ein sehr bescheidenes Leben und wurde von ihren ukrainischen und polnischen Freunden sowie dem Neffen ihres Mannes, Stepan Skrypnyk, einem Abgeordneten im polnischen Sejm, finanziell unterstützt, er war Mitarbeiter des Woiwoden von Volyn’ Henryk Józefski (später Leiter der Ukrainischen Orthodoxen Kirche in den USA und der UAOC unter dem Bischofsnamen Mstyslav). Ol’ha Petljura, geborene Bil’s’ka, starb am 23. November 1959 und wurde in einem Gemeinschaftsgrab neben ihrem Mann und ihrer Tochter auf dem Friedhof von Montparnasse beigesetzt. Es gibt viel Unbekanntes in ihrer Biografie. Es ist hervorzuheben, dass in den Unterlagen, die in den „Archives de la Préfecture de Police de Paris“ in der Abteilung „Renseignements généraux“ aufbewahrt werden, kein zuverlässiges Geburtsdatum und kein verlässlicher Geburtsort von Ol’ha Petljura, geborene Bil’s’ka, gefunden wurde. Über die Ehefrau des Obersten Atamans, Ol’ha Petljura, sind nur allgemeine Informationen über ihren Wohnsitz in Paris, ihre Reaktion auf den Prozess gegen ihren Mann und ihre Kontakte zu Vertretern der ukrainischen Emigration bekannt. Nach dem Prozess gegen Schwartzbard war sie für die französische Polizei im Grunde nicht mehr von Interesse.
Tetjana Taïrova-Jakoleva
Zwei Händedrücke von Hruševs’kyj. Mein Treffen mit Nadija Surovcova „Weißt du, es gibt eine Frau, die in unserer Nachbarschaft wohnt, … Sie kann dir helfen … Sie weiß alles … Wenn du keine Angst hast …“ „Ich erinnere mich noch an mein echtes Staunen. Warum sollte ich Angst haben?“ In einem gewissen Alter blickt man auf sein Leben zurück und fragt sich, welche erstaunlichen Zufälle (oder Muster) die Veränderungen in seinem Verlauf beeinflusst haben. Wie du durch Begegnungen mit einzigartigen Menschen beeinflusst wurdest. Wie unerwartete Ereignisse den Fluss des Lebens in Bewegung gebracht haben. Ob es ein Zufall oder ein Muster war, kann ich nicht entscheiden. Aber es gab mehrere Ereignisse und Begegnungen, die meine Zukunft radikal verändert haben. Ich war ein gewöhnlicher Teenager aus einer großväterlichurgroßväterlicherseits Intelihencija-Familie Leningrads.
Nadija Surovcova
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Im Alter von 10 Jahren war mein Lieblingsbuch ‚Die Geschichte der Diplomatie‘. Meine Leidenschaft für das Genre der historischen Abenteuer führte mich zunächst nach Frankreich. Natürlich virtuell: In der Sowjetunion war es undenkbar, von solchen Reisen zu träumen. Dann entdeckte ich Henryk Sienkiewicz mit seiner „Sintflut“. Und dann geschah das Unabänderliche. Im Alter von 14 Jahren sah ich in einem Schulbuch für Geschichte eine Abbildung von Samokyš „Schlacht von Maksym Kryvonos mit Jarema Vyšnevec’kyj“. Ich war sehr daran interessiert, wer diese Leute waren und warum sie kämpften. Sienkiewicz vermittelte mir eine gewisse Vorstellung von den Zusammenhängen, aber ich wollte mehr Details. Die Brockhaus-Efron-Enzyklopädie, die ich zu Hause hatte und die mir normalerweise weiterhalf, war in diesem Fall nicht hilfreich. Und dann brachte meine Mutter aus der Bibliothek des Hauses der Wissenschaftler (dem mein Großvater, ein bekannter Chemiker, angehörte) ein Buch von Mykola Kostomarov mit dem Titel „Bohdan Chmel’nyc’kyj“. Das war das Ende.
Mykola Samokyš. „Die Schlacht von Maksym Kryvonos mit Jarema Vyšnevec’kyj“. 1934
Zwei
Händedrücke
von
Hruševs’ky
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Mykola Kostomarov, „Bohdan Chmel’nyc’kyj“
Ich habe mich in Bohun verliebt. Und zusammen mit ihm verliebte ich mich in die Saporožer Kosaken und in die Geschichte der Ukraine. Wie es sich herausstellte, für immer. Im Alter von 16 Jahren war ich bereits zweimalige Gewinnerin der Leningrader Schulolympiade in Geschichte. Normalerweise gewannen die Zehntklässler. Aber ich hatte schon in der 8. Klasse gewonnen. Damals bestand die Olympiade darin, eine Arbeit über ein beliebiges Thema zu schreiben. Mein Thema war ein Roman über Bohun mit einer großen Menge an historischen Details und Quellen. Ich hatte bereits polnische Tagebücher, verschiedene Akten und allerlei Ähnliches gelesen – zum Glück war der Zugang zur „öffentlichen“ Staatlichen M. E. Saltykoc-Ščedrin-Bibliothek kostenlos, und die St. Petersburger Sammlung war unübertroffen. Jetzt frage ich mich, wie die St. Petersburger Historiker in der Jury die Arbeit zugelassen haben, in der keineswegs „Vertreter der Arbeiterklasse“ agierten.
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Ein
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Während derselben Reise. 1983
Ich wurde auch in der Leningrader Komsomol-Zeitung „Smena“ vorgestellt: „Treppen, die zur Geschichte führen …“ Um meine Begeisterung zu „stillen“, versprachen meine Eltern, mich in die Ukraine zu bringen, „zu den Orten von Bohun“. Wir fuhren mit dem Auto. Ich habe die Route selbst festgelegt: Berestečko, Monastyryšče, Uman’, Čyhyryn, Subotiv . . . Es war 1983, und ich stand kurz vor dem Abschluss meiner Schule und dem Eintritt in den begehrten Fachbereich Geschichte der L’viver Staatsuniversität. Ich ging nicht aus reiner Neugierde dorthin. Ich musste verstehen, was die „Steppe“ war. In Leningrad war das schwer zu bewerkstelligen. Ich musste herausfinden, wo sich die Burg in Monastyryšče befand (um den Verlauf der Schlacht im Roman besser beschreiben zu können), und vor allem musste ich verstehen, wo die „neuen“ und „alten“ Städte in Uman’ lagen, das von Bohun so erfolgreich verteidigt wurde. Wir kamen in Uman’ an und gingen direkt zum Heimatmuseum. Ich erinnere mich noch an die dürftige Darstellung der „Kosaken“-Zeiten und die jungen weiblichen Mitarbeiterinnen. Offenbar kam es ihnen seltsam vor, dass eine Leningrader Familie mit ihrem „Wat“ und „Bordstein“1 nach einer „alten“ Stadt und Bohun fragte. 1
Beides steht hier für befremdliche Leningrader Sprache und Kultur, der „Bordstein“ zugleich auch für „Grenze“ und sogar für Russland insgesamt (Anm. d. Übers.).
Zwei
Händedrücke
von
Hruševs’ky
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Das Heimatmuseum von Uman’
Tetjana Taïrova mit ihrem Vater in Uman’
Sie gaben aufrichtig zu, dass sie nicht helfen konnten. Dann sagte eine der Mitarbeiterinnen verlegen und stotternd (offensichtlich bemerkte sie die schreckliche Enttäuschung in meinem Gesicht): „Wissen Sie, es gibt eine Frau, die hier wohnt, . . . Sie kann Ihnen helfen . . . Sie weiß alles . . . Wenn Sie keine Angst haben . . . Wenn sie einverstanden ist, Sie zu sehen . . . “ Ich erinnere mich noch an mein echtes Staunen. Warum sollte ich Angst haben? Meine Eltern waren genauso „züchtig“ in Bezug auf den „ukrainischen Nationalismus“, wir baten sie, diese Frau anzurufen.
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Ein
Land
weiblichen
Geschlecht
Ich erinnere mich an ein Notizbuch und einen alten sowjetischen Telefonapparat. Und die unerwartete Zustimmung der ‚Frau‘, uns zu empfangen. Natürlich war es Nadežda Surovcova. Im Sommer 1983 war sie 87 Jahre alt . . . Man sagte uns, wie wir zu ihrem Haus kommen sollten. Ich erinnere mich an ein typisches sowjetisches „Häuschen“ (ich erkannte sie sofort, als ich sie vor einiger Zeit im Internet fand—es ist jetzt das Surovcova-Museum). Wir wurden von Nadija Vitaliïvna und ihrem Enkel empfangen. Ich erinnere mich, dass ich auf einem großen Sofa saß und ihnen von meiner Bewunderung für Bohun und meinem Traum, die Historische Fakultät zu besuchen, erzählte. Aus irgendeinem Grund erwähnte Surovcova damals nicht, dass sie selbst an der Universität St. Petersburg studiert hatte. Aber das Auftauchen eines Leningrader Mädchens in Uman’, das sich für die Kosaken-Ukraine begeisterte, muss sie sicher beeindruckt haben. Bevor ich ankam, hatte Nadija Vitaliïvna aus einem Versteck ihr Diplom von der Universität Wien hervorgeholt, auf dem stand, dass sie ihre Dissertation über „Bohdan Chmel’nyc’kyj und die Idee der ukrainischen Staatlichkeit“ verteidigt hatte.
Museums-Gedenkstätte der Wohnung von Nadija Surovcova
Zwei
Händedrücke
von
Hruševs’ky
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Nadija Surovcova
Ich erinnere mich noch jetzt daran, welch großartiges Aussehen dies Diplom hatte, es unterschied sich sehr von den sowjetischen, die ich später sah. Ich fragte nicht nach, war aber innerlich verwundert, warum hier Wien und Chmel’nyc’kyj . . . Und wie kann man in einem „kapitalistischen“ Land promovieren?! Surovcova wiederum fragte, was ich lese und welche Quellen ich kenne. Ich nannte Kostomarov, Velyčko, den Augenzeugen (Samovyd), die polnischen Tagebücher von Jerlicz, Michałowski … „Und haben Sie die Arbeiten von Mychajlo Hruševs’kyj gelesen?“, fragte sie.
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Nadija Surovcova, 1918. Nach dem Staatsstreich von Pavlo Skoropads’kij wurde Nadija zu Mychajlo Hruševs’kyj geschickt. Die junge ukrainische Diplomatin musste den ehemaligen Vorsitzenden der Zentralna Rada davon überzeugen, eine Diktatur zu akzeptieren, die dem Regime des Hetman entgegengesetzt sein könnte. Hruševs’kyj erwiderte, dass er, der Vorsitzende des Parlaments, dem niemals zustimmen würde.
Aber weder ich noch Mama, Kunsthistorikerin von Beruf, die die Historische Fakultät der L’viver Staatlichen Universität abgeschlossen hatte, hatten davon gehört. Nadija Vitaliïvna nahm eine Karteikarte und schrieb darauf: „Geschichte der Ukraine-Rus“. Sie ergänzte noch Bahalij und Petrovs’kyj … Sie verwies mich auf die Lage der Befestigungsanlagen von Uman’, wir tauschten Adressen aus … Als ich nach Hause kam, eilte ich sofort zur „Öffentlichen“ und bestellte die Werke Hruševs’kyjs. Man gab sie mir . . . In Leningrad lag Hruševs’kyj nicht im „Spezialschrank“, obwohl er nicht im Katalog auftauchte. Das heißt, „für die, die mit dem Thema vertraut sind“ . . . Ich schrieb an Nadija Vitaliïvna und teilte ihr mit, dass ich Čyhyryn und Subotiv besucht hatte. Ich hoffte, wieder nach Uman’ zu kommen und ihr Fragen zu stellen . . . Aber nach einiger Zeit wurde sie schwer krank, verlor ihr Gedächtnis, und später erhielt ich einen Brief von ihrem Enkel mit der traurigen Nachricht, dass Surovcova verstorben war.
Zwei
Händedrücke
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Nadija Surovcova, 1980er Jahre. In Uman’ wurde sie von Dissidenten besucht, von denen sie einige aus den Lagern kannte. Auch KGBAgenten besuchten sie und berichteten den Kuratoren über die antisowjetischen Äußerungen der „nationalistischen Rentnerin“.
Sie war nicht mehr da, aber es gelang ihr, mir die Welt der erstaunlichen historischen Schule zu eröffnen, deren Gründer und Seele Hruševs’kyj war. Noch mehrere Jahre lang korrespondierten wir mit ihrem Enkel Dmitrij Kaljužnjj. Er erzählte mir von Pavlyčkos Besuch und dem gemeinsamen ehrenden Erinnern an Bažan. Er sprach nicht über seine Großmutter, und ich hatte niemanden, den ich nach ihr fragen konnte. Dann reiste er nach Kanada aus und übergab meine Briefe an das Archiv. Vielleicht sind sie noch dort. Die Zeit nach dem Zusammenbruch der UdSSR verging wie im Flug, und ich hatte diese erstaunliche Begegnung fast vergessen. Vor Kurzem bereitete ich ein Projekt über die lokale Geschichte von Uman’ vor. Und unter den Materialien anderer Autoren sah ich eine Notiz über Nadija Surovcova. Erst da wurde mir klar, mit wem mich das Schicksal zu Anfang meiner Jugend zusammengeführt hatte.
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Nachdem sie einige Zeit im Exil gelebt hatte, zog Surovcova in den 1920er Jahren in die UdSSR. Bald darauf wurde sie aufgrund einer politischen Anklage verhaftet und verbrachte bis in die 1950er Jahre Zeit in Lagern und in der Verbannung. Während ihres Exils an der Kolyma entwickelte Nadija Surovcova eine Vorliebe für das Motorradfahren.
Blatt aus dem Heimatmuseum Uman’, auf dem die Mitarbeiter die Adresse und Telefonnummer von Nadija Surovcova notiert haben.
Marta Havryško
Galizische Feministinnen der 1930er Jahre: „Kinder, Küche, Kirche“ ist nichts für uns Der Verband der ukrainischen Frauen, der von der Professorin und Abgeordneten Milena Rudnyc’ka geleitet wurde, hatte 60 000 Mitglieder. Im Verhältnis zur Bevölkerung war sie die größte Frauenorganisation in Europa. In der Zwischenkriegszeit entwickelte sich die ukrainische Frauenbewegung aktiv, lehnte den westlichen Feminismus ab und entwarf ihre eigene Version des nationalen Feminismus. Neben den Ideen der sozialen Befreiung konzentrierten sich die Frauen auf nationale Organisationsaufgaben in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Kultur und Bildung, da sich die Befreiungsbewegung zu dieser Zeit aktiv entfaltete. Im Allgemeinen basierte die Herausbildung feministischer Konzepte zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf drei führenden Ideologien: Konservatismus, Liberalismus und Radikalismus. Dementsprechend entwickelten sich drei Hauptströmungen des ukrainischen Feminismus: christlich-sozial, liberal und sozialistisch. Organisatorisch manifestierte sich die ukrainische Frauenbewegung der Zwischenkriegszeit in den Aktivitäten von Vereinigungen, die auf der christlichen Ideologie basierten (Marianische Organisationen, ein Frauenkreis des Katholischen Verbandes), des Verbandes der ukrainischen Frauen (ab 1938 „Ehefrau Fürstin Ol’ha“), des Verbandes der ukrainischen arbeitenden Frauen und der „Frauengemeinschaft“ (die der Ukrainischen Sozialistisch-Radikalen Partei unterstand). Die Frauenorganisationen in der Ukraine hatten prominente Persönlichkeiten, die die weltweite Frauenbewegung beeinflussten. Dazu gehörten Olena Kysilevs’ka (das einzige ukrainische Mitglied des polnischen Senats), Olena Šeparovyč (die 71
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Teilnehmerinnen des Ukrainischen Frauenkongresses. Wien, 1921
ukrainische Frauen auf internationalen Frauenkongressen in Paris, Berlin und Wien vertrat), Ivanna Blažkevyč (Leiterin der „Frauengemeinschaft“, Organisatorin von 140 Kindergärten in der Westukraine), Kostjantyna Malyc’ka (stellvertretende Vorsitzende des Weltverbandes ukrainischer Frauen) und Charyta Kononenko (Doktor der Wirtschaftswissenschaften, Gründerin des Verbandes ukrainischer Frauen in Kanada). Die einflussreichste Organisation in Galizien war der Verband der ukrainischen Frauen, der 60 000 Mitglieder zählte und im Verhältnis zur Bevölkerung die größte Frauenorganisation in Europa war. Er wurde in den 1930er Jahren von Milena Rudnyc’ka geleitet, Professorin am Pädagogischen Institut in L’viv und Mitglied des Zentralkomitees der einflussreichsten legalen politischen Partei in Galizien, der Ukrainischen Nationalen Demokratischen Vereinigung (UNDO), und von 1928 bis 1935 Botschafterin der UNDO im polnischen Sejm. Milena Rudnyc’ka war eine von drei Delegierten beim Völkerbund im Januar 1931, die sich dafür einsetzten, dass Polens Verstöße gegen die Garantien der Minderheitenrechte, einschließlich Terror und Befriedung, angesprochen wurden. Sie hielt Reden zu diesem Thema im Unterhaus des Parlaments und am Royal Institute of Foreign Affairs im Vereinigten Königreich.
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Milena Rudnyc’ka. 1930er Jahre
Es war Milena Rudnyc’ka, die auf dem IX. Internationalen Kongress der nationalen Minderheiten in Bern im September 1933 als eine der Ersten die Frage des stalinistischen Holodomor in der Ukraine auf die internationale Bühne brachte. Rudnyc’ka war die wichtigste Ideengeberin der ukrainischen Frauenbewegung in der Zwischenkriegszeit. Sie betonte, dass viele der Themen, die Frauen in den Nationalstaaten betreffen, für ukrainische Frauen nicht relevant seien. Die deutschen Frauen waren rechtlich und faktisch den Männern weitgehend gleichgestellt. Doch die Machtergreifung der Nationalsozialisten nivellierte die Errungenschaften der deutschen Frauen durch einen gezielten Kampf gegen den Feminismus als Ideologie und Praxis.
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Die Errungenschaften der deutschen Frauen sind irrelevant, da in der ukrainischen Realität das „nationale Bewusstsein der Frauen“ in den Vordergrund tritt. Zugleich war die Analyse der Entwicklung der Frauenfrage in Europa ein wichtiger Faktor bei der Entstehung der ukrainischen Frauenbewegung. Die ukrainischen Frauen interessierten sich besonders für Deutschland, wo die Frauenbewegung während der Weimarer Republik eine der stärksten in Europa war. Die starke Veränderung der Trends in der „Frauenfrage“ in Deutschland konnte den Aktivistinnen der ukrainischen Frauenbewegung nicht entgehen. Sie studierten dieses Phänomen in ausländischen Zeitschriften und tauschten sich mit ihren ideologischen Schwestern in internationalen Organisationen aus, in denen ukrainische Frauen vertreten waren. Eine der Führerinnen der ukrainischen sozialistischen Bewegung in Galizien, M. Matjušenkova, stellte zu Recht fest, dass ein Drittel der Mitglieder der damals einflussreichen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Frauen waren, während in der Nazipartei nur 5% Frauen waren, weil Hitler Frauen als zur politischen Tätigkeit unfähig ansah. Dies führte zum weitgehenden Ausschluss von Frauen aus dem politischen Leben. Nach 1933 (dem Jahr, in dem Hitler an die Macht kam) wurden 30 von 35 weiblichen Reichstagsabgeordneten verhaftet (10 von ihnen wurden in Konzentrationslager geschickt), und 4 begingen Selbstmord. Alle Parteien mit Ausnahme der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) wurden verboten, und die Frauenbewegung wurde in der „Nationalsozialistischen Frauenschaft“ unter der Leitung von Gertrud Scholtz-Klink vereinigt. Milena Rudnyc’ka zufolge war dies ein „anormales Phänomen“, da Frauenorganisationen überparteilich sein sollten, um Frauen mit unterschiedlichen politischen Ansichten, Weltanschauungen und Überzeugungen zu vereinen und nicht den Interessen einer Partei zu dienen. Nach der Verabschiedung eines Gesetzes am 30. Juni 1933 wurden Frauen im Dritten Reich vom öffentlichen Dienst
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Das Präsidium des Verbandes der Ukrainischen Frauen. Im Zentrum Milena Rudnyc’ka
ausgeschlossen, und später wurde ihnen die Tätigkeit als Anwältin und Richterin untersagt. Am 25. April 1933 wurde das Gesetz über die „Überfüllung der Schulen und Hochschulen“ verabschiedet, welches eine Frauenquote von 10% für den Hochschulzugang vorsah. Eine gute Ausbildung für Frauen war keine Priorität der staatlichen Politik, was zu einer Art „Epidemie der Dummheit“ in Nazideutschland führte. Es gab sogar ein „pädagogisches“ Projekt zur Streichung von Algebra, Geometrie und den Buchstaben des Alphabets aus dem Lehrplan, da diese Fächer für Mädchen als unnötig angesehen wurden. Empört über diese Sache, schrieb die L’viver sozialistische Zeitschrift „Hromads’kyj holos“ (Bürgerstimme) über die Auffassung der Nazis, dass „es für eine Frau ausreicht, mit der Köchin abrechnen zu können und Gebete zu lesen“. Stattdessen brauchten die Ukrainer gebildete, intelligente und nationalbewusste Frauen“, schrieb die in Kolomyja ansässige Zeitschrift „Žynoča Dolja“ (Frauenschicksal). In einem ihrer Feuilletons in der L’viver Zeitschrift „Žinočnyj holos“ (Frauenstimme) beschrieb die Autorin die „Philosophie der Frau“ wie folgt: „Eine Frau ist ein Wesen, das in der Küche sitzen, kochen, Töpfe waschen und Kinder gebären muss . . . Ohne all dies ist eine Frau keine Frau, sondern eine Missgeburt.“
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Nazipropaganda der ideologischen Organisation „Mutter und Kind“. 1934
Diese Interpretation war eine satirische „Neuinterpretation“ von Hitlers Gedanken, die er auf einem der Nürnberger Nazitreffen geäußert hatte: „Die Welt des Mannes ist der Staat, es ist ein Kampf um die Gesellschaft, das heißt, die Welt der Frau ist kleiner, ihre Welt ist die Familie, der Mann, die Kinder, das Heim“. Milena Rudnyc’ka war in einem Brief vom 21. Juni 1937 an Sofija Rusova, einem aktiven Mitglied der ukrainischen Frauenbewegung im Exil, besorgt über die Verbreitung antifeministischer Ideen in Deutschland, die die Frauen ihrer Positionen beraubten und ihre natürlichen und bürgerlichen Rechte einschränkten. In den Jahren 1933 bis 1939 kritisierten ukrainische Autoren in zahlreichen Artikeln unterschiedlicher ideologischer Ausrichtung die Beschränkung der „weiblichen Sphäre“ in Deutschland auf das Familienleben, das auf die Formel der drei Ks gebracht
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wurde: Kinder, Kirche, Küche. Denn wie die Forscherin Martha Bohachevska-Chomiak treffend feststellte, war die Hausfrau für die ukrainische Frauenbewegung jener Zeit kein weibliches Ideal mehr, sondern wurde durch eine politisch bewusste, der öffentlichen Arbeit verpflichtete Frau ersetzt. Wichtig in diesem Zusammenhang war die Debatte über Sexualität und ihre rechtliche Auslegung, wobei das Problem der „bewussten Mutterschaft“ und der Geburtenkontrolle im Vordergrund stand. Die Grundidee der aktualisierten nationalsozialistischen Version der „Philosophie der Frau“ wurde von Hitler wie folgt formuliert: „Unser Frauenprogramm ist auf ein Wort reduziert: ‚Kinder‘.“ Im Dritten Reich war die Lösung dieser Frage rein biologisch-mechanistisch und basierte auf dem Sozialdarwinismus des 19. Jahrhunderts. Im Gefolge des Führers betonte die Reichsfrauenführerin Scholtz-Klink in ihren Propagandareden, dass die Hauptberufung der Frau die Mutterschaft sei. Um sich darauf vorzubereiten, wurde, wie die galizischen Zeitungen vermerkten, die deutsche Frauenbewegung mit der verantwortungsvollen Aufgabe betraut, die Aktivitäten der neu eingerichteten, in ganz Deutschland umherziehenden „Mütterschulen“ zu koordinieren, in deren Rahmen Kurse in Haushaltsführung, Säuglings- und Krankenpflege sowie Kindererziehung und -bildung im Sinne der Staatsideologie anboten wurden. Im Jahr 1938 besuchten 1,8 Millionen Frauen solche Kurse. Mutterschaft wurde zu einem organischen Teil der deutschen Idylle. Im selben Jahr führten die Nazis bronzene, silberne und goldene „Mutterkreuze“ für kinderreiche Frauen ein (Scholtz-Klink selbst hatte 11 Kinder). Frauen, die heirateten und ihren Beruf ein halbes Jahr vorher aufgaben, erhielten ein langfristiges Staatsdarlehen von 1000 Reichsmark, welches sie „mit ihren Kindern zurückzahlen“ konnten (Kindergeld): 25% des Betrags wurden nach der Geburt eines jeden Kindes abgeschrieben. 1938 wurde eine „Strafsteuer“ für Paare eingeführt, die nach 5 Ehejahren noch keine Kinder hatten. Diese Politik führte
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Eröffnung des Kongresses des Verbandes der ukrainischen Frauen. L’viv, 9. Oktober 1937
Gertrud Scholtz-Klink
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dazu, dass Deutschland in den Jahren 1938 bis 1939 die höchste Heiratsrate in Europa hatte und die Geburtenrate stieg, während sie in anderen europäischen Ländern überall zurückging. Obwohl die Maßnahmen des NS-Staates im Bereich der Müttergesundheit im Allgemeinen positiv bewertet wurden, äußerten galizische Feministinnen eine Reihe von Vorbehalten. Die Empörung rührte zunächst von der patriarchalischen Verteilung der Geschlechterrollen in der autoritären Familie der Nazis her, in der die Frauen einer doppelten Diskriminierung ausgesetzt waren: wirtschaftlich (völlige Abhängigkeit vom Mann) und sexuell (Verweigerung der Gleichberechtigung in sexuellen Beziehungen, Behandlung der Frauen als „Maschinen zur Kinderproduktion“). In diesem Zusammenhang stellten die galizischen Frauen fest, dass die erhabene Idee der Mutterschaft in Deutschland durch den Zweck, zu dem sie umgesetzt wurde (Vorbereitung auf den Krieg und die Geburt von Soldaten), zunichte gemacht wurde. Zweitens wurden die Anwendung der Eugenik zur Erhöhung der Geburtenrate, die Sterilisierung von Frauen, die nicht in der Lage waren, „die Rasse zu verbessern“, das Verbot der Abtreibung und die Diskriminierung unehelicher Kinder in der Ukraine als absolut inakzeptabel angesehen. Drittens gab es in der ukrainischen feministischen Gemeinschaft heftige Diskussionen über die Frage der Frauenarbeit in Nazideutschland. Im Allgemeinen waren Frauen in Deutschland bis 1939 von allen Bereichen der Beschäftigung ausgeschlossen, mit Ausnahme der Hausarbeit. Der Hauptgrund für diese Politik war laut Charyta Kononenko, Aktivistin des Ukrainischen Frauenverbandes, die Notwendigkeit, den Arbeitsmarkt von überflüssigen Arbeitskräften zu entlasten (dies war einer der wichtigsten Faktoren für die Entstehung der Vollbeschäftigung im Reich im Jahr 1936). Nach Ansicht einer anderen bekannten ukrainischen Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, Hanna Čykalenko, war diese Lösung für das Problem der Arbeitslosigkeit jedoch unwirksam, da die Löhne der Männer erhöht werden mussten, um ihre Familien zu unterstützen.
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Im gleichen Zusammenhang wies Milena Rudnyc’ka auf erhebliche Diskrepanzen zwischen Ideologie und Praxis in der Frauenpolitik des Dritten Reiches hin. Denn trotz der weit verbreiteten Förderung des Ideals der Frau als „Hüterin des Hauses“ verlangten die Erfordernisse der militarisierten deutschen Wirtschaft den größtmöglichen Einsatz einer maximalen Anzahl von Humanressourcen. Lidija Buračyns’ka, die Herausgeberin der galizischen Zeitschrift „Nova Chata“, betonte, dass die Behörden die Frauenarbeit im Dritten Reich tatsächlich akzeptierten. Im Jahr 1936 wurde innerhalb der Deutschen Arbeitsfront (DAF) eine spezielle Frauenabteilung gegründet, die sich um das Wohlergehen von 7 Millionen arbeitenden deutschen Frauen kümmerte. Ihre Vertreter in den Betrieben kontrollierten die Arbeitsbedingungen der Frauen. Buračyns’ka kam daher zu dem Schluss, dass sich die Lage der arbeitenden Frauen trotz des eindeutig antifeministischen Charakters der nationalsozialistischen „Geschlechterpolitik“ etwas verbessert hat. Gleichzeitig wurde nach Angaben der in L’viv erscheinenden Zeitschrift „Žynka“ (Frau) ein Lohnunterschied von 25% für gleiche Arbeit je nach Geschlecht zur diskriminierenden Norm in der deutschen Produktion, was einen direkten Verstoß gegen den Versailler Vertrag von 1919 darstellte. Das im nationalsozialistischen Deutschland propagierte Frauenideal, das in internationalen Kreisen diskutiert wurde, sowie die gesamte Politik Hitlers in dieser Zeit waren sehr weit von der ukrainischen Version entfernt und wurden daher von der ukrainischen Frauenbewegung verurteilt. Ohne die „Heiligkeit“ der Mutterschaft zu verunglimpfen, betonten die galizischen Feministinnen, dass die Aufgaben der ukrainischen Frauen viel schwieriger waren, da sie eine aktive staatsbürgerliche Position und Selbstaufopferung im Kampf für die nationale Befreiung erforderten.
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Galizische Frauenzeitschriften der 1930er Jahre
Die unterschiedlichen Kriterien für die gesellschaftliche Anerkennung in der deutschen und der ukrainischen Gesellschaft jener Zeit führten dazu, dass als „eine echte Frau“ im Reich eine Mutter galt, während sie in Galizien als Ukrainerin („Bürgerin“) betrachtet wurde.
Ola Hnatjuk
Irena Jarosevyč – Renata Bogdańska. Die schönsten Augen L’vivs zwischen den beiden Feuern der Identität Man kann sie für die Königin des Uneindeutigen bezeichnen. Ihre Nachkommen halten sie für jünger als ihre Biografen. Bei ihren Konzerten spielte die Künstlerin mit dem Bruder des UPA-Kommandanten Roman Šuchevyč und war die treue Ehefrau des berühmten polnischen Generals Władysław Anders. Eine unglaubliche Geschichte über eine lange Reise zwischen zwei Identitäten. Auf den erhaltenen Schallplatten des Orchesters „L’viver Tea-Jazz“ aus dem Jahr 1941 finden sich nicht nur die Namen des Dirigenten, sondern auch die der Interpreten der Hits. Eugeniusz Bodo sang „Til’ku vi L’vovi“ (Nur in L’viv), einen Walzer namens „Verabschiedungs-Liedchen“, das weder mehr „batjarisch“1 noch proletarisch war. Der Schlager „Vergessen“, übersetzt von einem gebürtigen Kyïver, Ref-Ren (Feliks Konarski), wurde von Albert Harris interpretiert. Das Lied „Nur ein Zeichen, und mein Herz wird flattern“ von Hanka Ordonówna aus dem Film „Die maskierte Spionin“ (1933) wurde von Renata Jarosiewicz (einer ganz neuen Figur unter den berühmten Warschauer Künstlern) gesungen, in der russischen Version von Pavla Grigor’eva, die mit den Worten begann: „Versuche nicht, das Herz zu betrügen“. Das Lied wurde zu einem der größten Hits. Wer war diese Künstlerin? Irena Jarosevč (so der richtige Name der Sängerin) musste schon sehr beeindrucken, um als Solistin in die Band „L’viver Tea-Jazz“ aufgenommen zu werden, die aus hervorragenden Musikern bestand. Ihre Chancen in einem 1
Die Batjaren waren Teil der Subkultur L’vivs und oft auf Straßen und in Kneipen anzutreffen (Anm. d. Übers.).
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solch erlesenen Kreis waren gering: Sie hatte sich in Warschau noch nicht einmal einen Namen gemacht. Für die Stars der Hauptstadt mag sie wie eine Provinzlerin gewirkt haben, denn sie wuchs in L’viv auf und machte ihre ersten Schritte auf der ukrainischen Bühne, deren Existenz nicht nur in der Hauptstadt nicht wahrgenommen wurde. Dennoch war Jarosevyč in den ukrainischen Musikkreisen von L’viv bekannt: Sie sang in der Jazzband „Jabc’o“ mit Leonid Jablonovs’kyj, Anatolij Kos-Anatol’s’kyj, Bohdan Vesolovs’kyj und Myron Eberhart, Hits wie „La Paloma“ und „Miami Rhumba“ – auf Ukrainisch. Zu ihrem Repertoire gehörten auch originelle Romanzen (die berühmteste davon ist „Auf dem Wasser schaukelt das Boot“) und Lieder von Vesolovs’kyj, ihrem Verlobten. Den Künstlernamen Renata Bogdańska nahm sie erst während des Krieges an, als sie begann in der Band „Polska Parada“ zu singen.
Irena Jarosevyč. Eines der frühen Fotos. Die Nachkommen der Künstlerin sind überzeugt, dass sie 1920 geboren wurde, aber das ist eher ein Missverständnis.
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Irena Jarosevyč mit „Tea Jazz“ in L’viv
Zuvor hatte sie ihren Mädchennamen Jarosevyč verwendet. Auf Plakaten aus der Vorkriegszeit und auf sowjetischen Schallplatten wurde der Name Rena Jarosevyč/Jarosiewicz beibehalten. Die Künstlerin wählte dieses Pseudonym, um ihren Nachnamen polnisch klingen zu lassen. Sie wurde 1917 in Freudenthal (heute Bruntál, Tschechische Republik) als drittes Kind von Olena Nyžankivs’ka und Mykola Jarosevyč geboren. Mykola Jarosevyč war ein griechisch-katholischer Priester, Gefangener in Thalerhof (1914–1915) und später Seelsorger für ukrainische Flüchtlinge in der Tschechischen Republik. Sie war das jüngste Kind des Paares. Mitte der 20er Jahre zog die Familie nach L’viv. Irena besuchte das Gymnasium der Basilianerinnen in L’viv. Wie die meisten jungen Menschen aus intelligenten ukrainischen Familien gehörte sie der Pfadfinderorganisation „Plast“ an.
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Realitäten im L’viv der Zwischenkriegszeit: Irena Jarosevyč, die spätere Ehefrau des berühmten Generals Anders, und Jurij, der Bruder des UPAKommandanten Roman Šuchevyč, traten bei einem Konzert gemeinsam auf
Irena Jarosevyč wuchs in der musikalischen Atmosphäre der Familie ihrer Mutter auf, der Schwester des Komponisten Ostap Nyžankivs’kyj. Sie studierte auch am Mykola-LysenkoMusikinstitut, in derselben Klasse wie Jurij Šuchevyč (Romans Bruder, der am 27. Juni 1941 vom NKVD erschossen wurde). Das Umfeld der Gleichaltrigen des jungen Künstlers war also typisch für die ukrainische Jugend jener Zeit, die der OUN nahestand. Die offizielle Biografie der Sängerin schweigt über ihre Herkunft und alle ihre Verbindungen zur ukrainischen Künstlergemeinschaft der Vorkriegszeit. Irena Jarosevyč begann ihre Konzertkarriere in der ersten Hälfte der 30er Jahre mit der Band „Jabc’o“. Als sich die Seele der Jazzband, der Komponist Bohdan Vesolovs’kyj, 1938 den
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Der Film „Der lange Weg“ erzählt die Geschichte des schwierigen Weges von Anders’ Armee. Die Hauptrolle spielt Renata Bohdańska (Irena Jarosevyč).
ukrainischen Streitkräften anschloss, die um die Karpato-Ukraine kämpften, stellte „Jabc’o“ seine Aktivitäten ein. Der Zweite Weltkrieg und die „Befreiung“ folgten bald. Jarosiewicz schloss sich der Band von Henryk Wars an. Zu Beginn der Tournee des Tea Jazz Orchesters in Kyïv heiratete sie ihren Bühnenpartner Gwidon Borucki, der sie in die Band aufnahm. Die Künstler lernten sich kurz vor dem Krieg, im Sommer 1939, in Zakopane kennen, wohin alle von ihnen auf der Suche nach Arbeit in einem Kurort gekommen waren. Ende 1941 schlossen sich Jarosiewicz und ihr Mann der polnischen Armee in der UdSSR an. Gemeinsam mit ihm reiste sie durch den Nahen Osten und Monte Cassino bis nach Rom. Dann ließ sie sich in London nieder. Irena Jarosiewicz war nicht nur als Sängerin, sondern auch als Filmschauspielerin erfolgreich. Kurz nach der Premiere des Films „Der lange Weg“, der 1946 in Rom gedreht wurde, war ihre Affäre mit General Władisłav Anders, die sich bereits während des Italienfeldzugs abgezeichnet hatte, kein Geheimnis mehr. Es dauerte jedoch bis 1948, bis die beiden heirateten. Im London der Nachkriegszeit arbeitete Irena Jarosiewicz bereits als Anders’
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Frau mit Marian Hemar und Feliks Konarski (Ref-Ren) zusammen und trat in Hemars Kabarett auf, wo sie ihre Lieblingslieder aus L’viv sang. Gemeinsam mit Hemar und Ref-Ren schuf sie den Mythos dieser Stadt. Sie wurde zu einer Ikone „jenes L’viv“. Hat Irena Jarosiewicz-Anders die polnische Kultur selbst gewählt oder wollte sie ihrem Mann die Treue halten? Oder war das eine vielleicht untrennbar mit dem anderen verbunden? Zahlreiche öffentliche Äußerungen der Künstlerin sowie das Vorwort zur ersten Ausgabe der Memoiren ihres Mannes in Polen, die nach der Wende erschien, sollten dies bezeugen: „Ich denke an meinen Mann, der vor zweiundzwanzig Jahren gestorben ist, mit Respekt vor seiner Lebensstellung und seinen Leistungen im Dienst des Vaterlandes.“ Als Ehefrau hatte Irena die Pflicht, für den guten Namen von General Anders und seinen Platz in der Geschichte zu sorgen. Gleichzeitig unterstützte Jarosiewicz das in der Emigration vorherrschende polonozentrische Narrativ, das ukrainische und jüdische Akzente verdeckte oder gar eliminierte. Hat die Vorkriegs- und Kriegsvergangenheit der Sängerin, die Gemeinsamkeit des polnisch-ukrainisch-jüdischen Schicksals, Spuren in ihrer Seele hinterlassen? Hat die Künstlerin ein ukrainisches Gebetbuch für Soldaten des östlichen Ritus aufbewahrt, das 1943 von Jerzy Giedroyc, dem Leiter der Presse- und Verlagsabteilung der Propagandaabteilung des Zweiten Korps, herausgegeben wurde? Es ist unmöglich, diese Fragen nicht zu stellen, und es ist unmöglich, umfassende Antworten zu geben. Vielleicht würden Tagebücher, Briefe und Memoiren weiterhelfen, aber darüber ist nichts bekannt. Was bleibt, sind Dokumentarfilme, gelegentliche Interviews mit Journalisten und Berichte über Ereignisse aus erster Hand. Und die ukrainischen Wurzeln der Schauspielerin werden völlig ignoriert. Dies wurde gerade in einem Dokumentarfilm von Bohdan Nahajlo erwähnt, und zwar in dem Teil des Films, der „Die ukrainische Dimension“ heißt. Unter der Regie von Michał Waszynski, komponiert von Henryk Wars und mit Irena Jarosiewicz-Bogdańska in der Hauptrolle, ist „Der große Weg“ ein Spiel- und Dokumentarfilm
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über die Aktivitäten der polnischen Armee vom Beginn bis zum Ende des Krieges. Die wichtigsten Ereignisse spielen sich vor dem Hintergrund der Schlacht um den Durchbruch der Gustav-Linie2 ab. Das Schicksal eines Helden, der in einem Feldlazarett um sein Leben kämpft, bildet die Grundlage für die Erzählung der großen Reise, die Anders’ Armee, wie im Titel zum Ausdruck kommt, durchlief: vom Septemberfeldzug über die sowjetischen Lager bis in den Nahen Osten und schließlich zum Italienfeldzug. Das Ereignis, um das sich die Handlung des Films dreht, ist die Schlacht von Monte Cassino. So ist es nicht verwunderlich, dass das Lied „Roter Mohn auf Monte Cassino“ auch im Film vorkommt. Die Geliebte des Protagonisten, Irena, wird von Renata Bogdańska (Irena Jarosevyč) gespielt. Aus dem Privatleben der Schauspielerin stammen im Film nur Name und Beruf der Sängerin. Nicht nur ihre Nationalität, sondern auch ihr Schicksal zu Beginn des Krieges wurde verändert: Die Heldin und ihr Geliebter sind in Lagern inhaftiert, und von ihrer Karriere in der Band „L’viver Tea Jazz“ ist keine Rede. So entstehen neue, außergewöhnlich heroische Biografien. Die Handlung des Films, die auf historischen Ereignissen beruht,
Renata Bogdańskas „Der lange Weg“ 2
„Gustav-Linie“ war der Codename für die Verteidigungslinie der „Organisation Todt“ in Mittelitalien (Anm. d. Übers.).
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basiert auf dem Tagebuch des Protagonisten: Die Einträge werden von einer Krankenschwester gelesen, die in ihn verliebt ist. Doch selbst das Tagebuch ist nicht authentisch: Es wurde für den Film erfunden, der eine Legende über die Anders-Armee und ihre Helden schafft. Die patriotische Botschaft des Films wurde wichtiger als die Geschichte der Soldaten und Zivilisten ukrainischer oder jüdischer Herkunft, die hier verschwiegen wurde, da sie nicht in das vorherrschende polnische nationale Narrativ über den Krieg passte. Dies geschah, obwohl der Schöpfer des Films, der Komponist der Musik und mehrere Schauspieler nicht die polnische
Ein weiteres Standbild aus dem Film „Der große Weg“. Renata Bogdańska (Irena Jarosevyč) in der Titelrolle
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Staatsangehörigkeit besaßen. Einige—wenn auch nicht alle—entschieden sich auf dieser langen Reise für die polnische Identität. Es ist jedoch unmöglich, hier ein heikles Thema zu umgehen: Um in Anders’ Armee aufgenommen zu werden, musste man seine polnische Staatsangehörigkeit angeben. Dies geschah zum Teil aufgrund der Aktivitäten der sowjetischen Behörden, die darauf bestanden, dass Personen ukrainischer oder jüdischer Nationalität nicht unter die Bestimmungen des Sikorski-Majskij-Abkommens fielen. Aus Berijas Informationen für Stalin geht hervor, dass von den fast 400 000 Personen, die sich zur Armee melden wollten, nur die Hälfte Polen waren. Für die übrigen beschlossen die sowjetischen Behörden, den Eintritt in die Armee unmöglich zu machen, sobald sie merkten, wie verbreitet dieser Wunsch war. Die Beamten stützten sich auf den Beschluss des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 29. November 1939, wonach sie sowjetische Staatsbürger waren und somit der Einberufung in die Rote Armee unterlagen. Trotz der Bitten des Botschafters Stanisław Kot entließen die sowjetischen Behörden die galizischen Ukrainer nicht aus den Lagern (die meisten der älteren Führer starben 1941–1942 an Erschöpfung). Die Rekrutierung zur Armee, die von den polnischen Vertretungen in der UdSSR durchgeführt wurde, wurde von den sowjetischen Behörden sorgfältig kontrolliert. So musste man bereits in der ersten Phase seine Herkunft verheimlichen. Darüber hinaus wurde die Staatsangehörigkeit in Militärkommissionen überprüft (der NKVD hatte dort seine offiziellen Vertreter). Die von den sowjetischen Behörden geschaffenen Hindernisse waren nicht die einzigen, die Freiwillige anderer als polnischer Herkunft auf ihrem Weg überwinden mussten. Es gibt zahlreiche Berichte über Beschränkungen, die in der Phase der Rekrutierung aufgrund religiöser und nationaler Kriterien angewandt wurden. Einer davon ist von besonderer Bedeutung, da ihn der polnische Botschafter der Regierung verfasste und Probleme schilderte wie:
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„Bis heute habe ich keinen einzigen Ukrainer sehen dürfen. Ich habe soeben erfahren, dass Dmytro Levyc’kyj, der alte und kränkliche Führer der UNDO (Ukrainischen Nationalen Demokratischen Allianz), in Buzuluk festgehalten wurde und kein anderer Politiker dieser Partei freigelassen wurde. Er hat unter der Obhut unserer Armee in Buzuluk Schutz gefunden. Er wurde vom Generalstabschef empfangen, der jedoch weder Anweisungen zu seiner Betreuung erteilte noch über die Anwesenheit einer so wichtigen Person in der Armee informierte. Levyc’kyj wurde sogar verboten, mit den jüngeren Kommandeuren zu essen, und er wurde in den Süden transportiert, wo er bald an den Folgen schwerer Arbeit starb. Dieser Schatz ist für uns verloren.“ Personen jüdischer Abstammung mussten, bevor sie in die polnische Armee eintraten, einen Fragebogen ausfüllen, damit ihre Aktivitäten in den Jahren 1939–1941 überprüft werden konnten. Damit sollte verhindert werden, dass Personen in die Armee eintraten, die mit dem Sowjetregime sympathisierten oder es in irgendeiner Weise unterstützten. Trotz aller Hindernisse fanden sich viele Juden und Ukrainer in der Armee ein (die Belarussen leisteten keinen solchen Widerstand). Trotz der Bemühungen der Kommandeure und Offiziere, einschließlich der Propagandaabteilung, eine Atmosphäre religiöser und nationaler Toleranz zu schaffen, gab es Fälle von Fremdenfeindlichkeit. Diese Tatsachen wurden von den sowjetischen Behörden beobachtet und zu Propagandazwecken genutzt, um die in der UdSSR verbliebenen Juden davon abzuhalten, sich polnischen Verbänden anzuschließen. Im Anschluss an die sowjetischen Berichte schrieb die „Jewish Telegraphic Agency“ im Westen darüber. „‚Der L’viv Tea Jazz‘, dessen Rückgrat aus Juden bestand, die Persönlichkeiten der polnischen Kultur waren, hörte 1941 auf zu existieren. Eine neue Band, ‚Polska Parada‘, wurde in Anders’ Armee gegründet. In der Zwischenzeit änderten ihre Mitglieder ihre Identität.“ Dies war die Entscheidung von Michał Waszyński, dem Regisseur des Films „Dybuk“. Als der Künstler zur Armee
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Ägyptische Presse über die Konzerte von Renata Bogdanska mit der „Polish Parade“
eingezogen wurde, gab er Warschau als seinen Geburtsort und seine Religion als römisch-katholisch an, obwohl er aus Kovel’ stammte, aus einer Familie, die chassidische Traditionen verehrte. Irena Jarosevyč machte es ähnlich. Henryk Wars, der in Warschau in einer jüdischen Familie geboren wurde, entschied sich anders: Nach der Demobilisierung im Jahr 1947 wanderte er in die Vereinigten Staaten aus und wurde amerikanischer Komponist. Zuletzt komponierte er 1946 Musik für einen polnischen Film. Es handelte sich um „Der lange Weg“.
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Neben den Hits aus der Vorkriegszeit, unter anderem aus L’viv, enthält der Film auch andere Lieder aus der Zeit der sowjetischen Besatzung. Von besonderer Bedeutung im Film ist eine Szene, wo die unmenschlichen Arbeitsbedingungen in den Lagern und der Terror des NKVD mit musikalischem Hintergrund gezeigt werden, mit dem fröhlichen und pathetischen Lied „Weit ist mein Heimatland“ und dem Refrain: „Ich kenne kein anderes Land wie dieses, wo die Menschen so frei atmen“. Das Schicksal von Irena Jarosiewicz-Anders und ihrer berühmteren Freunde aus der Band „L’viver Tea Jazz“ ist nur ein Teil des Lebens der L’viver Künstlergemeinde. Die Aufmerksamkeit von Journalisten und Autoren von Biografien berühmter Künstler wird oft auf die dramatischen Wechselfälle der Szene gelenkt. Niemand schreibt über die zweideutige Wahl einer Überlebensstrategie oder den Wechsel der Identität. Dabei handelt es sich um die Zeit des Totalitarismus, in der eine solche Entscheidung entscheidende Konsequenzen für das Leben hatte: Man konnte entweder überleben oder sterben. Weder Henryk Wars, Michał Waszyński, Gwidon Borucki noch Irena Jarosiewicz-Anders haben Zeugnisse in Form von Tagebüchern oder Memoiren hinterlassen. Alle vier gehörten zur Spitze der polnischen Kultur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie waren auf dem Großen Weg unterwegs. Jeder von ihnen hat sich für eine polnische Identität entschieden, wenn auch unter etwas anderen Umständen. Das von Irena-Renata gesungene Lied verankerte die Heldentaten der Soldaten von Władysław Anders’ Armee im allgemeinen Bewusstsein. Es endete mit den Worten: Und nur die Mohnblumen auf dem Monte Cassino werden röter sein, denn polnischem Blut sind sie entsprungen. Basierend auf dem Buch „Mut und Angst“, 2015 auf Polnisch in Wrocław und auf Ukrainisch in Kyïv erschienen, 2019 auf Englisch in Boston, MA, unter dem Titel „Courage and fear“.
Bohdan Červak: Olena Teliha
„Das Leben ist ein Kampf, und der Kampf ist das wahre Leben“ Am 22. Februar 1942 wurde die Dichterin in Babyn Jar erschossen. In der Zelle, in der sie vor ihrer Hinrichtung festgehalten wurde, fand man eine von ihrer Hand geschriebene Inschrift: „Hier saß Olena Teliha und von hier geht sie zur Erschießung“. Darüber war ein Dreizack in Form eines Schwertes eingraviert. Olena Teliha wurde am 21. Juli 1907 geboren. Das kaiserliche Sankt Petersburg wurde die Stadt ihrer Kindheit und Jugend. Olena stammte aus einer ukrainischen Familie. Ihr Vater, Ivan Šovheniv kam aus der Steppenstadt Slov’jans’k und war ein intelligenter und gebildeter Mann. Er war von Beruf Ingenieur, ein Spezialist für Wasserbau. Seine Mutter stammte aus Podillja und war eine empfindsame und freundliche Frau. Übrigens war Russisch die vorherrschende Sprache in der Familie Šovheniv. Und obwohl ihre Eltern ihre ukrainische Herkunft nie verleugneten, wirkte sich diese Tatsache auf die Weltanschauung der zukünftigen Dichterin aus. Olenas Kindheit war recht sorglos. Ihre Eltern waren wohlhabend, so dass die Kinder – Olena und ihre beiden älteren Brüder – alles hatten, was sie für eine gute Erziehung und Bildung brauchten. Die Šovhenivs reisten viel: Sie fuhren in den Kaukasus und bewunderten die Landschaften Finnlands. Olena lernte von klein auf Fremdsprachen: Sie sprach fließend Französisch und Deutsch, aber kein Ukrainisch. Das kulturelle Umfeld, das Lesen von Büchern und Theaterbesuche ermutigten sie, zur Feder zu greifen. Ihre ersten Versuche waren jedoch unbeholfen, und später sprach Olena Teliha nur noch im Scherz über sie. Vor den revolutionären Ereignissen von 1917 wurde der Ingenieur Ivan Šovheniv eingeladen, in Kyïv zu arbeiten. Er wurde
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Professor am Kyïver Polytechnikum. Olena zog nach Kyïv, wo sie an einem Gymnasium Naturwissenschaften studierte. Im Allgemeinen unterschied sich das Leben in Kyïv sehr von dem in St. Petersburg. Zunächst einmal wurden die Šovhenivs von der ukrainischen Revolution in Kyïv eingeholt. Zum ersten Mal im 20. Jahrhundert wurde der ukrainische Staat gegründet. Die Šovhenivs schlossen sich der aktiven ukrainischen Gemeinschaft an. So wurde Ivan Šovheniv Beamter in der Abteilung des Eisenbahnministeriums der Regierung der Ukrainischen Volksrepublik, und sein älterer Bruder Serhij wurde Soldat in der Armee der UNR. Die Ära der UNR war jedoch nur von kurzer Dauer. Nach dem Scheitern der Staatlichkeit waren ihr Vater und ihr älterer Bruder gezwungen auszuwandern. Olena blieb zusammen mit ihrer Mutter und ihrem jüngeren Bruder im von den Bolschewiken besetzten Kyïv. Bald folgten Hungersnot und Verwüstung. Zu der großen finanziellen Not gesellten sich ständige Schikanen. Das Mädchen wurde als „Petljurka“ abgestempelt. Sehr bald wurde Olenas
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Mutter klar, dass sie unter der sowjetischen Herrschaft nicht in der Lage sein würde, ihren Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen und ihr Leben zu retten. Im Frühjahr 1922 verließen die Mutter und ihre Kinder die Ukraine. Der Weg in den Westen war beschwerlich und mit großen Gefahren verbunden, aber auf diesem Weg lernte Olena die Ukraine und ihre Menschen wirklich kennen. Die Route führte durch Vinnycja, wo die Rote Armee die Flüchtigen eine Zeit lang festhielt und verhaftete. Dann ging es weiter nach Kam’janec’-Podil’s’kyj, ein mühseliger Weg, und zu einem Grenzübergang. Olena fand sich in der polnischen Stadt Tarnów
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wieder, wo zu dieser Zeit bereits viele ukrainische Soldaten interniert waren. Es war wahrscheinlich das erste Mal, dass Teliha diejenigen, die die Ukraine mit Waffen verteidigten, so nah sah. Das Zusammentreffen mit dem Vater brachte glückliche Momente mit sich, was nach der schwierigen und gefährlichen Reise sehr willkommen war. Die Familie Šovheniv zog in die Tschechoslowakei, nach Poděbrady. Dort wurde Olenas Vater zum Rektor der ukrainischen Wirtschaftsakademie ernannt, und Olena schrieb sich für Maturakurse ein, um an der Fakultät für Geschichte und Philologie des Ukrainischen Pädagogischen Mychajlo-Drahomanov-Instituts in Prag zu studieren. Die Zeit, die Olena in Poděbrady verbrachte, war äußerst interessant und geprägt von zahlreichen Bekanntschaften und Begegnungen. Hier kristallisierte sich allmählich ihr ukrainisches Ich heraus. Hier lernte sie Leonid Mosendz kennen, der sie nicht nur auf den Eintritt in das Institut vorbereitete, sondern ihr als ehemaliger Soldat, talentierter Dichter und renommierter Gelehrter auch half, ein Umfeld zu finden, das sie nicht nur interessieren, sondern auch ihr kreatives Potenzial entfalten mochte. Olena traf Jevhen Malanjuk, Jurij Darahan, Vasyl’ Kurylenko, Natalija Livyc’ka-Cholodna, Oksana Ljaturyns’ka und Oleh Štul’. Besonders beeindruckt war sie von Mykola Scibors’kyj, dessen Intelligenz, Gelehrsamkeit, Überzeugungskraft und herausragende rednerische Fähigkeiten bewundernswert waren. Olena nahm oft an verschiedenen Studententreffen teil und beteiligte sich aktiv an hitzigen Diskussionen. Dabei kam es auch zu Zusammenstößen. Bei einer der Versammlungen im Volkshaus, an der russische monarchistische Emigranten teilnahmen, kam es beispielsweise zu beleidigenden Angriffen auf die ukrainische Sprache. Olena fand sofort den Mut, sich kompromisslos zu äußern: „Ihr seid ungehobelt! Diese Hundesprache ist meine Sprache! Die Sprache meines Vaters und meiner Mutter. Ich will euch nicht mehr kennen.“ Auf einer dieser Abendeinladungen lernte die junge Frau Mychajlo kennen, einen großen, gutaussehenden jungen Mann,
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Olena und Mychajlo. 1928
der aus Kuban stammte und Oberstabsfeldwebel in der Armee der UNR war. Aus der Bekanntschaft von Olena und Mychajlo wurde Liebe, und bald heirateten sie. Während ihres Studiums in Prag begann Olena Teliha ihre literarische Karriere. Ihre Gedichte erschienen in dem von Dmytro Doncov herausgegebenen „Literaturno-naukovyj vistnyk“ (Literarisch-wissenschaftliches Bulletin) und in anderen Zeitschriften. Im Jahr 1929 starb Olenas Mutter, und die junge Frau zog mit ihrem Mann nach Warschau. Die etwas romantische Zeit ihrer Studentenjahre ging zu Ende, und es begann der schwierige Alltag einer Emigrantin. Auch auf der Suche nach Arbeit und Lebensunterhalt ließ Olena Teliha nicht von ihrer künstlerischen und sozialen Arbeit ab.
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Titelseite von Doncovs Zeitschrift „Vistnyk“, in dem Teliha veröffentlicht wurde. Oben ist der Schriftzug von Oleh Kandyba (Olžyč). 1933
In Warschau kam sie Dr. Doncov näher, schrieb regelmäßig für seine Zeitschrift und wurde bald zu einem der führenden Mitglieder der „Vistnyk-Quadriga“, die eine treibende Rolle im geistigen Leben der ukrainischen Emigration spielte. Der Literaturkritiker Jurij Bojko schrieb über Teliha: „Wenn man die von der Dichterin geschaffene Bilderwelt allgemein charakterisiert, muss man sagen, dass sie Lesja Ukraïnka nahesteht. Diese Nähe rührt vor allem von der Seelenverwandtschaft des geistigen Komplexes beider Dichterinnen her.“ Sowohl in Poděbrady als auch in Prag und in Warschau nahm Olena an fast allen Festen, Akademien und literarischen Diskussionen teil. Doch nun trat sie eher allein auf, hielt Reden und trug ihre eigenen Gedichte vor. In der Hauptstadt Polens war Olena Teliha das gesellschaftliche und politische Leben nicht gleichgültig. Sie war an jeder Nachricht aus der versklavten Ukraine interessiert. Mit Schmerz im Herzen nahm sie die Nachricht vom Tod der ukrainischen Patrioten Vasyl’ Bilas und Dmytro Danylyšyn auf und reagierte sofort mit ihrem Gedicht „An die Verurteilten“ auf dieses Geschehen. Sie interessierte sich für die Aktivitäten der Untergrundorganisation OUN, die allmählich an Stärke gewann
„Das Leben ist ein Kampf, und der Kampf ist das wahre Leben“ 101 und zur einflussreichsten sozialen und politischen Kraft in der Westukraine wurde. 1938 stand die Karpatenukraine in den Flammen des Befreiungskampfes. Die OUN schickte ihr bestes Personal ins „Silberland“. Olena Teliha war nicht direkt an den Ereignissen beteiligt, aber das Pathos des revolutionären Kampfes, der Triumph und die Tragödie des jungen karpato-ukrainischen Staates beeinflussten ihre Weltanschauung und ihre politischen Überzeugungen erheblich. Währenddessen lebte Europa in der Erwartung eines neuen Weltkrieges. Nach der Zerstörung des „Ein-Tages-Staates“ hatte Teliha keinen Zweifel mehr an der Politik Deutschlands und Hitlers gegenüber der Ukraine. Wenn der Krieg den Ukrainern die Chance geben sollte, ihre Unabhängigkeit zu erlangen, konnten sie sich nur auf ihre eigene Kraft und ihren harten Kampf verlassen. Im September 1939 besetzten die deutschen Truppen Polen. Olena Teliha kam zum ersten Mal direkt mit dem Nationalsozialismus in Berührung. Sie sah Deutsche auf den Straßen Warschaus, die kostenlos Lebensmittel verteilten. Obwohl keine Hungersnot herrschte, ließen sich die Polen die Gelegenheit nicht entgehen, die „Großzügigkeit“ der Besatzer auszunutzen. Dies empörte sie. Teliha duldete keine Knechtschaft. Im Dezember 1939 traf sich Olena mit Oleh Olžyč. Sie hatten sich schon oft gesehen, aber diese Begegnung war etwas Besonderes, Außergewöhnliches und bestimmte einen ganzen Abschnitt im Leben der jungen Frau. Zu diesem Zeitpunkt war Olžyč nicht nur als talentierter Dichter bekannt, sondern vor allem als öffentliche und politische Persönlichkeit, als einer der Führer der nationalistischen Bewegung und stellvertretender Leiter der OUN-Führung. Er hatte Erfahrung in den revolutionären Kämpfen um die Karpato-Ukraine und bei der Organisation der Zweiten Großen Versammlung der ukrainischen Nationalisten. Zu diesem Zeitpunkt war Teliha ideologisch und weltanschaulich bereits voll ausgebildet und erklärte sich bereit, Mitglied der OUN zu werden, um sich der organisierten nationalistischen Bewegung anzuschließen. Sie arbeitete aktiv in der Kulturabteilung
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der OUN, die von Olžyč geleitet wurde. Auf ihren Schultern lastete eine schwierige, aber interessante Aufgabe. Sie bereitete ideologisches und pädagogisches Material vor, das in die ukrainischen Gebiete geschickt wurde, verfasste Texte für Flugblätter, Appelle und Flugschriften und hielt illegale Reden vor OUN-Mitgliedern, die aus der Ukraine kamen. Als die Revolutionäre im Untergrund Teliha zum ersten Mal sahen, waren sie ihr gegenüber misstrauisch, da sie dachten, dass eine so junge und schöne Frau nicht für einen gefährlichen Kampf geeignet sei. Doch nach den ersten Worten von Olena fassten sie volles Vertrauen zu ihr, denn sie sahen in ihr eine feurige Nationalistin, die bereit war, der ukrainischen Revolution nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten zu dienen. In diesen Jahren beschäftigte sie sich intensiv mit der Literatur aus der ehemaligen Sowjetunion. Intellektuell, moralisch und kreativ bereitete sie sich auf die Rückkehr in ihr Heimatland vor. Im Jahr 1940 spaltete sich die OUN. Teliha war von der Spaltung der Organisation zutiefst betroffen, blieb aber auf der Seite des Leiters der OUN, Oberst Andrij Mel’nyk. In der Zwischenzeit bereitete sich die OUN auf den Krieg vor. Krakau wurde zum Zentrum der Ausbildung. Fast alle Mitglieder der „Führung der ukrainischen Nationalisten“ (PUN) versammelten sich dort und begannen mit den Vorbereitungen für ihre Rückkehr in die Ukraine. Oberst Roman Suško leitete militärische Ausbildungskurse. Mykola Scibors’kyj organisierte eine Propagandazentrale und bereitete entsprechende Literatur und Flugblätter vor. Die staatliche Planungskommission unter der Leitung von Oleh Olžyč arbeitete intensiv an der Erprobung von Programmentwürfen für das wirtschaftliche, kulturelle und administrative Leben der Ukraine im Falle der Bildung eines unabhängigen Staates. Im Auftrag der PUN bereitete Scibors’kyj einen Entwurf für die Verfassung des ukrainischen Staates vor, die das staatliche Leben während der Übergangszeit regeln sollte. Oleh Olžyč hatte als begabter Dichter, öffentliche und politische Persönlichkeit, einer der Führer der nationalistischen
„Das Leben ist ein Kampf, und der Kampf ist das wahre Leben“ 103 Bewegung und stellvertretender Vorsitzender der OUN-Führung einen großen Einfluss auf Olena Telihas Weltanschauung. In Krakau leitete Teliha die Gesellschaft „Zarevo“ (Flackern), die nach neuen Wegen für die ukrainische Kunst suchte, kreative Jugendliche um sich scharte und viele praktische Probleme im Zusammenhang mit dem Funktionieren der kulturellen und wissenschaftlichen Einrichtungen in dem von den Nazis geschaffenen General-Gouvernement. Olena und Mychajlo Teliha. Krakau, 1939Im Frühjahr 1941 besuchten der Leiter der PUN und OUN Mel’nyk persönlich illegal die ukrainischen Gebiete von Cholm, Polissja und Lemkivščyna, die nun unter deutscher Besatzung standen und von der OUN als Sprungbrett für einen Marsch in den Osten betrachtet wurden. Jaroslav Hajvas, der Leiter der regionalen Exekutive der OUN, wurde angewiesen, Grenzübergänge am Fluss Sjan vorzubereiten, über die die OUN-Marschgruppen in die Ukraine aufbrechen sollten, um das ukrainische Leben zu aktivieren, ein Netz staatlicher Verwaltungen aufzubauen und das wirtschaftliche, kulturelle und kirchliche Leben zu beeinflussen. Vor dem Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges fand in Krakau ein Treffen der PUN statt, wo organisatorische Änderungen vorgenommen wurden, um die Aktivitäten der OUN auf ukrainischem Boden effektiver zu gestalten. Vor allem wurde das Sekretariat der OUN gegründet, zu dessen Mitgliedern Oleh Olžyč, Volodymyr Martynec’ und Zynovij Knyš ernannt wurden. Olžyč wurde der erste stellvertretende Leiter der PUN-OUN und Leiter der zentralen OUN-Führung in den östlichen und mittleren Gebieten der Ukraine mit Sitz in Kyïv. Im Juli 1941 überquerte Olena Teliha als Teil einer der Marschgruppen der OUN zusammen mit dem Schriftsteller Ulas Samčuk den Fluss Sjan im Powiat Jarosław und machte sich auf den Weg nach L’viv. Am 22. September 1941 fuhr sie nach Rivne, einem Durchgangsort für die Gruppen auf ihrem Weg nach Kyïv. Am 22. Oktober kam Olena Teliha in Kyïv an. Ihr Traum ging in Erfüllung. Sie kehrte in die Stadt ihrer Jugend zurück, in die Hauptstadt der Ukraine.
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Olena und ihr Mann
Ukrainische Nationalisten waren bereits in Kyïv tätig. Zu unterschiedlichen Zeiten und auf unterschiedliche Weise kamen Oleh Olžyč, Oleh Laščenko, Marko Antonovyč, Ivan Irljavs’kyj, Ivan Rohač, Oleh Štul’, Mychajlo Mychalevyč, Mykola Kuzmyk-Petrenko und andere in die Hauptstadt. Teliha begann sofort, das literarische Leben zu organisieren. Sie wurde Vorsitzende des Ukrainischen Schriftstellerverbandes. Ein literarischer und künstlerischer Almanach, „Litavry“ (Literatur-Auren), begann in Kyïv als Beilage der Zeitung „Ukraïns’ke Slovo“ zu erscheinen, der von Olena herausgegeben wurde. In kurzer Zeit gelang es ihr viele Intellektuelle zu vereinen. Zum ersten Mal nach den langen Jahren der bolschewistischen Versklavung wurde in Kyïv offen über die Staatlichkeit diskutiert, nationale Symbole tauchten auf, und Ukrainisch war die Sprache der Gottesdienste in den Kirchen.
„Das Leben ist ein Kampf, und der Kampf ist das wahre Leben“ 105 Eine wichtige Rolle bei der Stärkung des Nationalbewusstseins in jenen Jahren spielte die Zeitung „Ukraïns’ke Slovo“ (Ukrainisches Wort), die in einer Auflage von 50 000 Exemplaren erschien und weit über Kyïv hinaus verbreitet wurde. „Die national-schöpferische Rolle der Kyïver Zeitung „Ukraïns’ke Slovo“ bestand vor allem darin, dass sie nie aufhörte, die Idee der ukrainischen Staatlichkeit zu propagieren“, schrieb Jurij Bojko. „Das war etwas, das eine direkte Gefahr für die imperialistische Politik des Dritten Reiches darstellte. Die Redakteure waren sich dessen sehr wohl bewusst. Aber sie taten es trotzdem. Es war wichtig, so viel wie möglich in dieser Richtung zu tun, als der Feind seine Repressionen begann.“ Sowohl „Ukraïns’ke Slovo“ als auch „Litavry“ machten die Leser in großem Umfang mit den Werken von Dichtern und Schriftstellern bekannt, die in der Ukraine in letzter Zeit zum Schweigen gebracht worden waren, weil sie unterdrückt oder erschossen worden waren. Zum ersten Mal konnten sich die Kyïver Bürger über die Arbeit ukrainischer Künstler im Exil informieren. In den Publikationen wurden Werke von Oleh Olžyč, Ulas Samčuk, Leonid Mosendz, Jevhen Malanjuk und anderen berühmten Dichtern und Prosaikern veröffentlicht. Die Publikationen der ukrainischen Nationalisten waren stark antimoskauisch geprägt. Sie betonten immer wieder die Andersartigkeit und Eigenständigkeit nicht nur der ukrainischen Kultur und Spiritualität, sondern auch der Arbeits-, Verhaltens- und Denkweise. Sehr schnell wurde in Kyïv ein Netz von Handels-, Militär- und Industriegewerkschaften organisiert. Dieser Prozess gipfelte in der Gründung des ukrainischen Nationalrats, eines nationalen Vertretungsorgans unter der Leitung des Rektors des Kyïver Polytechnikums, Professor Mykola Velyčkivs’kyj. Die Aktivitäten der OUN in Kyïv konnten den deutschen Behörden nicht lange entgehen. Doch der erste spürbare Schlag erfolgte in der Oblast’ Žytomyr. Hier veranstaltete die OUN im November 1941 in der Nähe des Dorfes Bazar auf Initiative des unbeugsamen Oleh Olžyč eine Großdemonstration
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anlässlich des Jahrestages der Hinrichtung der Teilnehmer am Zweiten Winterfeldzug der UPR-Armee durch die Bolschewiki. Die Aktion der OUN war massiv, gut organisiert und eine Manifestation der Unabhängigkeitsbestrebungen der ukrainischen Nationalisten. Auf die Demonstration hin folgten Verhaftungen in Žytomyr, Korosten’, Radomyšl’ und anderen Städten und Dörfern. Hunderte von ukrainischen Patrioten wurden im November und Dezember in den Vororten von Žytomyr, in Malovanka, erschossen. Kyïv lebte in der Erwartung von Repressionen. In der ersten Dezemberhälfte wurden der Herausgeber Ivan Rohač, Jaroslav Orshan-Chemeryns’kyj, Mykola Olijnyk und andere Mitarbeiter von „Ukraïns’ke Slovo“ verhaftet. Die Wochenzeitung stellte ihr Erscheinen ein. Später wurde auch „Litavry“ eingestellt, es wurden nur vier Ausgaben veröffentlicht. Olena Teliha schwebte in Lebensgefahr. Sie weigerte sich jedoch kategorisch, die Stadt zu verlassen, und konzentrierte ihre ganze Kraft auf die Arbeit des Ukrainischen Schriftstellerverbandes. „Olena Teliha lebt wie in Klondike“, erinnerte sich Oleh Štul’: „Schreckliches Essen, es ist winterkalt im Haus, es gibt weder Wasser noch Strom. Aber jeden Tag um 9 Uhr morgens, ordentlich frisiert, elegant gekleidet, zitternd vor Kälte mit blauen Fingern, aber mit einem freundlichen und ermutigenden Lächeln, kommt die Dichterin zum Gebäude des Schriftstellerverbandes in der Tr’ochsvjatytel’s’ka-Straße. Das war echtes Heldentum, und alles nur, um Wort zu halten und die Arbeit fortzusetzen. Hier fanden wir die Gestalt von Olena Teliha in ihrer ganzen Größe—im Leben hat sie ihre Prinzipien bis zum Schluss verwirklicht. Wiederholt wurden Versuche unternommen, Olena Teliha zu überreden, Kyïv so schnell wie möglich zu verlassen. Sie lehnte dies kategorisch ab. Es ist auch bekannt, dass Olžyč, der die Hauptstadt im Januar kurz verlassen hatte, um sich mit Oberst Andrij Mel’nyk zu treffen, am Vorabend ihrer Verhaftung nach Kyïv zurückkehrte. Er suchte ein Treffen mit Teliha, um sie von der Notwendigkeit zu überzeugen, Kyïv zu verlassen und ihr Leben zu retten. Das Treffen fand jedoch nie statt.
„Das Leben ist ein Kampf, und der Kampf ist das wahre Leben“ 107 Denkmal für Olena Teliha im Kyïver Polytechnikum. Es wurde am 31. August 2009 auf Kosten der Fakultät, der Studenten und der Alumni der Universität errichtet. Am Morgen des 9. Februar 1942 begab sich Olena Teliha zum Ukrainischen Schriftstellerverband, wo sich bereits ein Hinterhalt der Gestapo befand. Eine Stunde später kam auch ihr Ehemann Mychajlo dorthin. Die Dichterin und andere Nationalisten wurden um den 20. Februar (offiziell am 22. Februar) in Babyn Yar erschossen. In der Zelle, in der die Frau gefangen gehalten wurde, bevor sie erschossen wurde, fand man eine von ihrer Hand geschriebene Inschrift: „Hier saß Olena Teliha und von hier geht sie zur Erschießung.“ Darüber war ein Dreizack in Form eines Schwertes eingraviert. Nach dem Tod von Olena Teliha soll einer der Henker gesagt haben, er habe noch nie einen Menschen so heldenhaft sterben sehen wie diese schöne Frau. Insgesamt waren die Verluste der OUN im Zweiten Weltkrieg enorm. Fünf der neun Mitglieder der OUN, darunter der unvergessliche Oleh Kandyba-Olžyč, der von den Nazis im Konzentrationslager Sachsenhausen brutal gefoltert wurde, sowie Tausende von OUN-Mitgliedern wurden getötet. Und im Netz der Querfarben träume ich inbrünstig bis in die frühen Morgenstunden, dass Gott mir das größte Geschenk schicken würde: einen heißen Tod, nicht winterliches Sterben.
Volodymyr V’jatrovyč
Gutes in schrecklichster Zeit. Die Geschichte der Nonne Olena Viter Als die Tschekisten Olena Viter abholten, machten sie bei ihr eine Hausdurchsuchung und fanden eine Priesterkutte und . . . einen Revolver. Im Oktober 1981 besuchte Petro Mirčuk, ein bekannter Historiker der ukrainischen Nationalbewegung und ehemaliger Häftling des schrecklichsten Nazi-Vernichtungslagers, Auschwitz, Israel. Er war einer der wenigen, die überlebt und Erinnerungen an seine Erlebnisse hinterlassen haben. Er kam nicht ins Heilige Land, um Urlaub zu machen: Als Mitglied mehrerer ukrainisch-jüdischer Organisationen versuchte Mirčuk, seine Arbeit zum Aufbau freundschaftlicher Beziehungen zwischen den beiden Völkern fortzusetzen. Petro Mirčuk als Häftling von AuschwitzDie Reise hatte auch ein ganz konkretes Ziel: darauf hinzuwirken, dass Metropolit Andrej Šeptyc’kyj von der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche als Gerechter unter den Völkern anerkannt wird. Petro Mirčuk besuchte Yad Vashem, die Institution, von deren Entscheidung das Problem abhing. Nachdem der Gast in die Ausstellung des Museums eingeführt worden war, wurde er zu einem Ort geführt, an dem die Namen von Menschen geehrt werden, die während des Holocausts Juden gerettet haben. „Der Garten der Gerechten“, erinnerte er sich, „ist eine Reihe von Bäumen vor und hinter dem Hauptgebäude von Yad Vashem. Zusammen mit meiner Frau schaue ich mir die Gedenktafeln neben jedem Baum genau an, um nach Ukrainern zu suchen. Wir fanden nur eine einzige Aufschrift ‚Ukraine‘: der Name war Olena Viter.“ Später tauchten an diesem Ort neben der Aufschrift „Ukraine“ auch die Namen anderer Personen auf. Heute gibt es 2573 davon. Damals war die Nonne Olena Viter die erste, aber nicht die einzige rechtschaffene Person aus unserem Land—andere wurden 109
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als Bürger Polens oder der UdSSR registriert. Als sie 1976 mit dem Ehrentitel ausgezeichnet wurde, bestand sie darauf, dass als ihr Heimatland „Ukraine“ aufgeführt wird. Der Nationalist Petro Mirčuk nahm die bewundernswerte Position der Frau zur Kenntnis. Er ahnte jedoch nicht, wie sehr sich sein Bekanntenkreis mit den Menschen, mit denen Olena Viter zusammenarbeitete, überschnitt. Die Frau, deren Name als Erste im Garten der Gerechten neben dem Wort „Ukraine“ auftauchte, war seine Kameradin, ein Mitglied der Organisation der ukrainischen Nationalisten (OUN). Sie lebte ein langes Leben voller dramatischer Wendungen, das eines Romans oder Spielfilms würdig wäre. Das vollständigste Zeugnis ihrer Biografie sind die vier dicken Bände ihrer Strafakte, niedergeschrieben von den Tschekisten. Olena wurde 1904 in dem Dorf Myklašiv im Gebiet L’viv geboren. Ihre Eltern waren die Gymnasialprofessoren Vasyl’ und Marija. Das Mädchen wuchs in einer national gemischten Familie auf (ihre Mutter war Polin), aber es war ihre familiäre Erziehung, die die Grundlage für ihre patriotische Einstellung bildete. Olena betrachtete sich immer als Ukrainerin, obwohl sie bis zu ihrem 13. Lebensjahr mit ihren Eltern in Österreich lebte. Vermutlich stand die Rückkehr der Familie nach L’viv im Jahr 1918 im Zusammenhang mit den politischen Aktivitäten ihres Vaters. Überhaupt war er es, der einen entscheidenden Einfluss auf die Persönlichkeitsbildung des Mädchens hatte. Nachdem sie eine gute Grundausbildung an einem Gymnasium erhalten hatte, wurde sie 1921 Studentin an einem medizinischen Institut. Doch schon bald änderte sich ihr Leben dramatisch: Ihr Vater starb im selben Jahr, und im Jahr darauf brach Olena ihr Studium ab und trat ins Kloster ein. Wir können nur vermuten, ob das erste dieser Ereignisse die Ursache für das zweite war. Die Nähe zu ihrem Vater und eine gewisse Entfremdung von ihrer Mutter, die den Rest ihres Lebens in Posen verbrachte, weit weg von ihrer Tochter, sprechen dafür. Der Weg, den sie wählte, bedeutete nicht, dass Olena sich völlig von ihrem früheren Leben und ihren Interessen abkapselte: Schon
Gutes in schrecklichster Zeit 111 im Kloster kümmerte sie sich um Bedürftige und beteiligte sich aktiv an der ukrainischen Sozialbewegung. Im Jahr 1924 wurde im Studitinnenkloster in Jaktoriv eine Zweigstelle der Organisation „Ridna Škola“ eingerichtet, in welcher ukrainische Kinder die Möglichkeit erhielten, in ukrainischer Sprache zu lernen. Die pädagogische Begabung der Nonne wurde von der Verwaltung erkannt, und Olena Viter wurde trotz ihres jungen Alters (sie war erst 22 Jahre alt) zur „magistra noviciarum“, zur Mentorin der neuen Novizinnen, ernannt. Ihre aktive soziale Arbeit wurde auch außerhalb des Klosters wahrgenommen. Im Sommer 1930 zelteten Mitglieder der Pfadfinderorganisation „Plast“ in der Nähe von Jaktoriv. Während des Lagers sprachen sie mit Nonnen, die ihnen bei der Lösung alltäglicher Probleme halfen. Zu diesem Zeitpunkt, so erinnerte sich Olena später, bot ihr einer der Teilnehmer am Lager, Julijan Holovins’kyj, ein ehemaliger Offizier der ukrainisch-galizischen Armee und damals eine führende Persönlichkeit des nationalistischen Untergrunds in der Westukraine, an, der OUN beizutreten. Nach dem Beitritt zur nationalistischen Untergrundorganisation änderte sich Olenas Leben nicht wesentlich. Sie bereitete keine Terroranschläge gegen die Besatzungsbehörden vor, bereitete keinen bewaffneten Aufstand vor und leistete lediglich weiterhin eine aktive Bildungsarbeit. Die „Ridna Škola“, die zuvor im Kloster eröffnet worden war, wurde durch eine Abendschule für Erwachsene, einen Theaterclub und sogar einen Kindergarten ergänzt. All diese Arbeit wurde später von den Gegnern unter dem Vorwurf der „nationalistischen Erziehung der Jugend“ zusammengefasst. Die einzige zusätzliche Tätigkeit war das Sammeln von Spenden für ukrainische politische Gefangene, um die sich Olena nun kümmerte. 1932 wurde Schwester Josyfa (so lautete der Ordensname von Olena Viter) Äbtissin oder Oberin des Frauenklosters Jaktoriv. Die junge (erst 28 Jahre alte) und aktive Nonne wurde vom Oberhaupt der Griechisch-Katholischen Kirche selbst, von Metropolit Šeptyc’kyj, unterstützt.
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„Exzellenz behandelte mich väterlich“, erinnerte sich die Nonne, „er überwachte meine Studien, ermutigte mich zum klösterlichen Leben und gab mir ein Beispiel für religiösen Eifer. Später überwachte er meine Entwicklung im Kloster und schickte mich mehrere Male nach Rom.“ Die nächsten sieben Jahre verliefen für Olena Viter recht ruhig. Es war die Ruhe vor dem Sturm, der im September 1939 losbrach. Die sowjetische Regierung, die in die westukrainischen Gebiete kam, zerstörte nicht nur den polnischen Staat, sondern auch das Leben von Millionen von Menschen, die in diesen Gebieten lebten. „1939“, so erinnerte sich Olena Viter später, „wurde unser Kloster von der Roten Armee zermalmt . . . Sowjetische Soldaten drangen in das Kloster ein, stürzten Ikonen um und machten sich über das Allerheiligste lustig.“ Die schlimmsten Gerüchte über die „gottlose, satanische Macht der Sowjets“ hatten sich bewahrheitet. Für Äbtissin Josyfa war das zerstörte Kloster nicht nur ein entweihtes Gebäude, in dem sie 17 Jahre verbracht hatte. Es wurde zu einem Symbol für ihr Leben, das sie unter schrecklichen Umständen neu beginnen musste. In ihrer Verzweiflung wollte sie ihr Heimatland verlassen. Metropolit Šeptyc’kyj hielt sie davon ab und erklärte ihr, dass sie in diesem Land mehr denn je gebraucht würde. Olena kehrte nach L’viv zurück, wo sie sich wieder mit ihren Schutzbefohlenen traf. „Wir meldeten das Haus des Klosters“, erinnerte sie sich, „als Schwesternwohnheim an, und alle Nonnen legten die Ordenskleider ab und begannen als medizinische Schwestern zu arbeiten.“ Die ehemalige Äbtissin selbst bekam eine Stelle als Sekretärin bei einem bekannten L’viver Arzt und einer öffentlichen Persönlichkeit, Mar’jan Pančyšyn. Für diese Stelle empfahl sie Dr. Pančyšyns berühmtester Patient, Metropolit Andrej. Die Stelle war für Olena Viter ziemlich sicher, da der Arzt bei der neuen Regierung einen guten Ruf genoss: Einer der Abgeordneten der Volksversammlung der Westukraine, der persönlich für die Eingliederung des Landes in die UdSSR gestimmt hatte, ein Mitglied des Obersten Sowjets der
Gutes in schrecklichster Zeit 113 UdSSR, leitete seit Oktober 1939 das Gesundheitsamt der Oblast’ L’viv. Unter diesem Deckmantel unterhielt Olena weiterhin Verbindungen zur OUN, die auch unter der Besatzung ihre Aktivitäten nicht einstellte. Die Repressionen des NKVD waren viel umfassender und brutaler als die Verfolgung der Nationalisten durch die polnischen Behörden. Es kam zu Verhaftungen und Hinrichtungen von OUN-Mitgliedern und zu Massendeportationen ihrer Familien. Unter diesen extremen Bedingungen bestand eine der Möglichkeiten für die gefährdeten OUN-Mitglieder darin, in das von Deutschland besetzte Polen zu fliehen. Olena Viter, die selbst den Gedanken aufgegeben hatte, ihre Heimat zu verlassen, organisierte die illegalen Grenzübertritte der Untergetauchten. Im Sommer 1940 versuchte sie einen weiteren Revolutionär in Soutane, einen Priester und Mitglied der OUN, Jaroslav Čemeryns’kyj, in den Westen zu schmuggeln. Zu diesem Zweck wandte sie sich an eine Mitarbeiterin einer speziellen Poliklinik „für verantwortungsbewusste Arbeiter“ in L’viv, die versprach, gegen Geld Dokumente zu beschaffen, die dem Flüchtigen zur Ausreise verhelfen würden. Nach einiger Zeit hatte der Priester die Papiere und zog nach Westen an die Grenze. Aber damit endete der Erfolg der Operation: Čemeryns’kyj wurde verhaftet. Es stellte sich heraus, dass die Frau, die die Papiere besorgt hatte, eine sowjetische Agentin war. Ihr Nachname war Lerman. Später kam zutage, dass ihr Mann im NKVD diente. Ob er irgendwelche Beziehungen zu Lerman hatte, dem Leiter der NKVDGefängnisabteilung in der Oblast’ L’viv, bleibt unklar. Am 11. Juni 1940 holten die Tschekisten Olena Viter ab. Bei der Durchsuchung fanden sie einen Koffer, den Čemeryns’kyj zurückgelassen hatte und in dem sich besondere Symbole seines Lebens befanden—eine Priesterkutte und ein Revolver.
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Für die Ermittlungen wurde der Häftling an den damals schrecklichsten Ort in L’viv gebracht—ein Gefängnis in der ehemaligen Łącki-Straße.1 Die Untersuchung dauerte fast 6 Monate. „Sie zogen mich an den Haaren, schlugen meinen Kopf gegen die Wand und schlugen mir ins Gesicht“, erinnerte sie sich an die Folter: „Dann packte mich ein NKVD-Offizier an den Armen, ein anderer an den Haaren und ein dritter an der Nase und goss mir Urin in den Mund. „Hier, das ist deine heilige Kommunion“, sagten sie. Am nächsten Morgen brachten sie mich ins Gefängnis. Die Verhöre fanden jede zweite oder dritte Nacht statt. Bei jedem Verhör wurde ich gefoltert. Sie schlugen mich mit einem Gummi- oder Eisenstab, rissen mir die Haare aus, verdrehten mir die Arme. Einmal lief mir Blut aus dem Mund. Der NKVD-Offizier nahm einen schmutzigen Lappen, der neben dem Spucknapf lag, und schob ihn mir in den Mund. Später zog er den Lappen mit Gewalt heraus, öffnete meinen Mund und spuckte seine Spucke hinein. Seit dem Tag meiner Verhaftung wurde ich 47-mal verhört und bei jedem Verhör gefoltert. Einmal nahmen sie mich mit aus dem Gefängnis zum Verhör und fragten mich, ob ich eine unabhängige Ukraine wolle. Ich sagte ja. Dann warfen sie mich in den Keller, wo Ratten über mich herfielen. Dann brachten sie mich zurück in den Raum des Ermittlers, zogen mir das Hemd aus und versetzten mir einen Stromschlag mit einem Draht.“ Während der Verhöre gab Olena Viter ihre Zugehörigkeit zur OUN zu und sprach über ihre pädagogischen Aktivitäten. Die Organisation von Schulen, Kindergärten und Theatergruppen war jedoch nichts, was die Tschekisten interessierte. Die OUN war eine revolutionäre Organisation, also musste die Verhaftete, obwohl sie eine Nonne war, eine Terroristin sein. So enthielt der Vernehmungsbericht ein „Geständnis“, dass sie in einer Spezialklinik eine terroristische Untergrundgruppe gegründet 1
Die Straße wurde nach dem bekannten Feldherrn Eliasz Jan Łącki benannt, der im ottomanisch-polnischen Krieg 1672 bei der Schlacht um Lemberg Verdienste erwarb. In der Literatur heißt es öfter „Gefängnis an der Lonzki- oder LonskiStraße“ (Anm. d. Übers.).
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Olena Viter, Foto aus der Strafprozessakte
hatte, deren Ziel unter anderem die Beseitigung des Direktors der Einrichtung war. Nun beruhigten sich die Tschekisten, da ihnen für die „Enttarnung“ der Terrorgruppe eine Beförderung garantiert wurde, und die Verhaftete wurde zum Tode verurteilt. Die Verhöre wurden eingestellt, aber Olena wurde weiterhin im Gefängnis in der Łącki-Straße festgehalten. Sie wusste nicht, ob die Ermittlungen noch liefen oder bereits abgeschlossen waren. Auch wusste sie nichts von dem Todesurteil, das bereits gegen sie verhängt worden war. Heute befindet sich im NKVD-Gefängnis Nr. 1 (dem berüchtigten „Gefängnis in der Łącki-Straße“) ein Museum. Es hat die Aufgabe, die Erinnerung an diejenigen zu bewahren, die diese Folterkammer durchlaufen haben. Die Ausstellung endet mit einer
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Stele, die die Namen von Hunderten von Menschen trägt, die während der schlimmsten Tage in der Geschichte des Gefängnisses zwischen dem 22. und 28. Juni 1941 erschossen wurden. Damals, während der überstürzten Evakuierung der sowjetischen Regierung aus L’viv, begann das NKVD auf Befehl der Führung mit einer Massenexekution von politischen Gefangenen. An der Decke stehen die Namen von Ukrainern, Polen und Juden, die die letzten Opfer des NKVD wurden, bevor die Tschekisten die Stadt verließen. Unter anderem kann man den Namen von Olena Viter lesen. Innenhof des NKVD-Gefängnisses in der Łącki-Straße. L’viver Bürger finden ihre erschossenen VerwandtenDen sowjetischen Dokumenten zufolge wurde sie erschossen. In Wirklichkeit hat Gott sie vor einer brutalen Hinrichtung bewahrt. Am 24. Juni 1941 berichtete der Leiter der NKVD-Gefängnisabteilung in der Oblast’ L’viv, Lerman, dass auf Befehl der Führung von den 1355 zum Tode Verurteilten das Urteil gegen 924 Personen bereits vollstreckt worden war. Die „Arbeit“ ging danach weiter, wurde aber mit jedem Tag schwieriger. An dem Tag, an dem der Bericht verfasst wurde, wurde L’viv von deutschen Flugzeugen bombardiert, und in der Stadt kam es zu von der OUN organisierten Aufständen. In der Folge gelang es dem Untergrund, die Flucht einiger Gefangener zu organisieren. Doch das war nicht das Ende der sowjetischen Herrschaft— der NKVD kehrte zurück und begann, Gefangene auf der Straße zu fangen, und auch andere verdächtige Personen wurden festgenommen. Die Gefangenen wurden in die Gefängnisse zurückgebracht, wo die Hinrichtungen fortgesetzt wurden. Doch so sehr sich die Henker auch beeilten, sie konnten nicht mithalten, und schließlich verließen sie aus Angst, in eine deutsche Falle zu geraten, die Stadt. Sobald klar war, dass die Sowjets nicht zurückkommen würden, stürmten die Einwohner von L’viv am Samstag, dem 28. Juni, zum Gefängnis. Dort fanden sie schreckliche Bilder von Massenmorden vor, aber gleichzeitig ließen sie eine kleine Anzahl von Gefangenen frei, die noch nicht „an die Reihe gekommen“ waren. Zu denjenigen,
Gutes in schrecklichster Zeit 117 die an diesem Tag aus dem Gefängnis in der Łącki-Straße entlassen wurden, gehörte auch Olena, obwohl man offiziell davon ausging, dass sie erschossen worden war. Ihr Leben entwickelte sich in die entgegengesetzte Richtung zur Geschichte des Evangeliums—von einer wundersamen „Auferstehung“ über weiteres Leiden bis hin zum wirklichen Tod. Für ihr gerettetes Leben revanchierte sich Olena bei Gott und den Menschen mit dem Leben vieler anderer, die sie in den Jahren der deutschen Besatzung retten musste. Auf Anweisung von Metropolit Andrej nahm Olena Viter die Arbeit des Studitinnenklosters in der Stadt wieder auf. In den ersten Monaten der neuen Regierung in L’viv glaubten viele Ukrainer an die Propaganda von der „Befreiung vom bolschewistischen Joch“. Doch die wahren Absichten der Deutschen wurden von Tag zu Tag deutlicher. Zunächst verhafteten sie die Mitglieder des ukrainischen Staatsrates, der am 30. Juni ausgerufenen Regierung des wiederhergestellten Staates. Später schränkten sie auch andere Erscheinungsformen des politischen und öffentlichen Lebens in der Ukraine ein. Im August kündigten sie den Anschluss von L’viv und Galizien an das Generalgouvernement an, also an den von ihnen besetzten Teil Polens. Im September begannen Massenverhaftungen von OUN-Mitgliedern. Die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung der Stadt nahm immer größere Ausmaße an. Anders als die sowjetischen Behörden behinderten die Deutschen die Tätigkeit der Geistlichen nicht, schlossen keine Kirchen und lösten keine Klöster auf. Daher wurden Kirchen und Klöster für viele von den deutschen Behörden Verfolgte zur letzten Zuflucht und Möglichkeit der Rettung. Der Klerus half ihnen trotz der offensichtlichen Gefahr von Repressionen durch die Behörden. Die Führung der GriechischKatholischen Kirche unter der Leitung von Šeptyc’kyj war sich dessen nicht nur bewusst, sondern versuchte auch die Arbeit zur Rettung der Verfolgten zu koordinieren. Äbtissin Josyfa, die selbst kurz zuvor nur knapp dem Tod entronnen war, war aktiv an dieser Arbeit beteiligt. Das von ihr geleitete Kloster in L’viv und das ebenfalls wiederbelebte Kloster in
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Jaktoriv wurden zu einem Ort, wo verwundete Untergrundkämpfer medizinisch versorgt wurden. In den Mauern der Heiligtümer war wieder Kinderlachen zu hören—Äbtissin Josyfa belebte Kindergärten wieder, und Kinder ukrainischer Untergrundführer, darunter ein Mitglied der OUN-Führung, Darija Rebet, der UPA-West-Kommandeur Oleksandr Luc’kyj und andere, versteckten sich hier, unbemerkt von anderen. Olena Viter bot jedoch nicht nur den „Bandera“-Kindern Unterschlupf, sondern auch jüdischen Kindern, die so vor dem Tod bewahrt wurden. Die Frau des Rabbiners David Kahane, der sich im Kloster Univ vor den Nazis versteckt hielt, erinnerte sich, wie sie einmal bei einem Besuch bei Schwester Josyfa miterlebte, wie die Äbtissin in ihrem Badezimmer zwei jüdische Mädchen wusch, die aus einem Zug in das Vernichtungslager Bełżec entkommen waren. Eines der Mädchen hatte eine Schusswunde—sie war auf der Flucht von einer Wache angeschossen worden. Die Frau des Rabbiners wollte ihr helfen, aber Schwester Josyfa weigerte sich und sagte: „Das ist meine Pflicht, ich tue sie, indem ich Gottes Gebote erfülle. Und ich will sie ohne Hilfe erfüllen.“ Die Fürsorge der Nonnen schützte ukrainische und jüdische Kinder vor einer schrecklichen Welt, die sie zu Leid und Tod verdammte, und verlängerte—vielleicht nur für kurze Zeit—ihre Kindheit. Damit setzten sie sich selbst einer tödlichen Gefahr aus, denn der Klerus garantierte keine Sicherheit vor den Repressionen der Nazis. Diesmal blieb das Kloster jedoch verschont, und die Äbtissin und die anderen Schwestern überlebten die deutsche Besatzung. Der Rückzug der Nazis aus L’viv im Sommer 1944 bedeutete nicht, dass die Stadt endgültig sicher wurde. Ein Besatzer wurde durch einen anderen ersetzt, und der neue war für Olena Viter viel gefährlicher, denn er hatte sie einst zum Tode verurteilt. Für viele Einwohner von L’viv waren die Sowjets mit der Katastrophe des Sommers 1941 verbunden, als Tausende von Gefangenen in den Gefängnissen ermordet wurden. Deshalb
Gutes in schrecklichster Zeit 119 warteten sie nicht auf ihre Rückkehr, sondern beschlossen in den Westen zu gehen. Olena Viter blieb dieses Mal trotz der Bedrohung, die ihr drohte, in ihrem Land. Außerdem hörte sie nicht auf, den ukrainischen Aufständischen zu helfen, die weiterkämpften, diesmal gegen das Sowjetregime. Genau wie während der deutschen Besatzung konnten die UPA-Kämpfer auf Äbtissin Josyfa zählen. Und wieder war ihr Kloster nicht das einzige, das den Aufständischen Hilfe leistete; auch andere Priester und Mönche waren aktiv beteiligt. Zu ihnen gehörte der Bruder des Metropoliten, Archimandrit Klymentij Šeptyc’kyj, mit dem Olena Viter eng zusammenarbeitete. Unmittelbar nach ihrer Rückkehr begannen die sowjetischen Behörden mit Massenrepressionen gegen die örtliche Bevölkerung. Sehr schnell betrafen sie auch den Klerus der GriechischKatholischen Kirche. Die Behörden waren bestrebt, die Kirche vollständig zu liquidieren, da sie in ihr die Grundlage der ukrainischen Nationalbewegung in Galizien sahen. Daher begannen die Verhaftungen von Priestern, wobei die Zusammenarbeit mit dem antisowjetischen Untergrund, die sich in erster Linie in gewöhnlicher christlicher Hilfe für die Bedürftigen äußerte, den Behörden als Vorwand für ihr brutales Vorgehen diente. Metropolit Andrej Šeptyc’kyj wurde wahrscheinlich nur durch seinen Tod am 1. November 1944 vor der Verhaftung bewahrt. Sein Nachfolger Josyf Slipyj blieb nur 6 Monate auf freiem Fuß—im April 1945 wurden er und andere Bischöfe vom NKVD verhaftet. Olena Viter wusste, dass ihre Verhaftung in naher Zukunft bevorstand. Und sie irrte sich nicht. Am 12. April 1945 um 7 Uhr morgens traf ein Einsatzkommando von Stalins Opričniki im Studitinnenkloster in L’viv ein. Die Nonne, die an die Tür kam, öffnete sie nicht sofort unter dem Vorwand, dass sie die Schlüssel bringen müsse. Sie rannte los, um die Äbtissin vor den ungebetenen Gästen zu warnen. Die Tschekisten warteten indessen nicht lange und drangen, nachdem sie das Tor aufgebrochen hatten, in das Kloster ein.
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Keine der Schwestern wollte antworten, wo die Äbtissin war. Den Agenten war klar, dass sie zu wenig Zeit hatte, um zu fliehen, und sich deshalb im Kloster verstecken musste. Daher begannen sie mit der aktiven Durchsuchung des Gebäudes, was zum Resultat brachte, dass Olena Viter auf dem Dachboden gefunden wurde. Das erste Verhör begann am Abend desselben Tages. Die Verhaftete gab sofort zu, dass sie „Verbindungen zur UPA hatte, sie in ihrem Kampf gegen das Sowjetregime unterstützte, ihre Ansichten voll und ganz teilte und sich für die Schaffung einer unabhängigen Ukraine einsetzte. Ich habe dies ganz bewusst getan, da ich der sowjetischen Regierung feindlich gegenüberstand.“ Da sie verstand, dass ihr Geständnis dazu verwendet werden könnte, andere zu beschuldigen, sagte sie dem Ermittler: „Wenn die Banderaleute mich angesprochen haben, dann haben sie mich angesprochen, und die anderen Schwestern hatten, soweit ich weiß, keine solche Verbindung zu den Banderaleuten.“ Doch wie schon bei ihrer ersten Verhaftung genügten den Tschekisten solche Geständnisse nicht, denn in der Haftanordnung wurden der Äbtissin neben der Unterstützung der Rebellen auch „terroristische Absichten“ vorgeworfen. Sie wies diese Anschuldigungen kategorisch zurück. Erst bei den Verhören im Jahr 1945 erfuhr sie von ihren „Geständnissen“ terroristischer Aktivität während der ersten Vernehmung 1940. Es stellte sich heraus, dass die Tschekisten ein weiteres Argument hatten, um ihre Anschuldigungen zu stützen. Es handelte sich um die Aussage von Inna Danylenko, einer Studentin, die zuvor verhaftet worden war. Sie gab an, dass Olena Viter sie in den nationalistischen Untergrund hineingezogen und ihr sogar befohlen habe, zwei NKVD-Offiziere und einen bekannten Schriftsteller, Jaroslav Halan, zu töten, Letzteren wegen seiner kirchenfeindlichen Publizistik. Olena war sehr überrascht über die absurden Anschuldigungen, vor allem weil sie von einem Mädchen kamen, das sie kannte. Sie hatte Inna 6 Monate zuvor kennengelernt, als sie als Taufbewerberin der Griechisch-Katholischen Kirche ins Kloster gebracht wurde. Schwester Josyfa bereitete das Mädchen, das ursprünglich aus Kyïv stammte, auf dieses Sakrament vor.
Gutes in schrecklichster Zeit 121 Nun war die Aussage ihres Schützlings das Hauptargument in der Terrorismusanklage. Die Vernehmungen dauerten bis zum 9. April 1946. Olena Viter gab die Vorwürfe der Vorbereitung der Morde nicht zu, aber sie wurden trotzdem in die Anklageschrift aufgenommen. Der Prozess fand am 27. April in Kyïv statt. Olena Viter wurde gemeinsam mit ihrer „Patentochter“ Inna Danylenko vor Gericht gestellt. Der militante Atheist Jaroslav Halan, Autor antireligiöser Pamphlete wie „Ich spucke auf den Papst“, an seinem Schreibtisch. Im Jahr 1949 wurde er von Mitgliedern der OUN im Untergrund getötet.Das Verhalten der Letzteren vor Gericht war tragikomisch. Das Mädchen gestand „aufrichtig“ ihre Verbindungen zum Untergrund und die Vorbereitung von Terroranschlägen zusammen mit Olena Viter, aber das reichte ihr nicht. Inna beschloss, das Gericht zu nutzen, um ihre Loyalität gegenüber der sowjetischen Regierung zu bezeugen. Einen großen Teil ihrer Rede widmete sie ihrem Einsehen in die falsche Einstellung gegenüber dieser Regierung, welches sie dem hervorragenden Ermittler Hauptmann Dubok verdankte. „Ich bitte das Gericht“, wandte sie sich an den Saal, „dem Ermittler Dubok meine Dankbarkeit zu übermitteln, die Dankbarkeit eines Menschen, der seine Heimat gefunden hat.“ Sie fuhr fort: „Hätte ich Ermittler Dubok früher in meinem Leben kennengelernt, wäre ich schon lange in einer sowjetischen Partisaneneinheit und nicht auf der Anklagebank.“ Der Prozess endete lange nach Mitternacht. Olena Viter wurde zu 20 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, während ihre „Komplizin“ Inna Danylenko, obwohl sie die Behörden lobte, zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Es dauerte einige Monate der Haft, bis sie erkannte, dass sie nur dazu benutzt worden war, eine Gerichtsfarce zu organisieren. Im Juli 1946 schrieb Inna einen langen Brief an den Staatsanwalt, in dem sie behauptete, ihre Aussage sei falsch und durch Täuschung während der Ermittlungen erlangt worden. Doch die Hoffnungen, dass dieser Brief die Gerichtsentscheidung plötzlich ändern würde, waren ebenso naiv wie ihre früheren Erwartungen an die Gnade der sowjetischen Behörden.
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Es vergingen 8 Jahre, bis der Brief endlich berücksichtigt wurde: Im Jahr 1954, nach dem Tod des „Führers der Völker“ Stalin, begann man allmählich mit der Überprüfung von Strafsachen aus den Massenrepressionen der 1930er und 1950er Jahre. Im Rahmen dieser Überprüfung stellte sich heraus, dass die in den Protokollen erwähnten NKVD-Offiziere, die Olena Viter angeblich umbringen wollte, nie existiert hatten. Oberstleutnant Kuznecov, der die Unterlagen dieser Strafsache untersuchte, kam zu dem Schluss, dass „die Persönlichkeit der verurteilten Danylenko einige Zweifel an ihrer Aussagekraft und Haltbarkeit aufkommen lässt“. Im November 1955 wurde sie erneut verhört, und es wurde herausgefunden, woher die fantastische Aussage von 1945 rührte. Es stellte sich heraus, dass der NKVD im Herbst desselben Jahres ihre Pflegemutter Marija Jasenyc’ka verhaftet hatte. Danach wurde Inna selbst verhaftet und ihr wurde gesagt, dass ihre Stiefmutter Verbindungen zur OUN-Untergrundorganisation hatte, dass die Tschekisten sie aber freilassen würden, wenn sie berichtete, mit wem sie nach außen hin in Kontakt stand. Bei der Rekrutierung der Studentin schlug ihr der Ermittler Brekker vor, „ein Dokument zu schreiben, das mich einer kriminellen Handlung belasten würde, nämlich dass ich Mitglied der OUN bin, über meine Aktivitäten in der OUN und insbesondere
Olena Viter (erste von links) in der Verbannung
Gutes in schrecklichster Zeit 123 etwas über meine Beteiligung an terroristischen Handlungen, also genau die Art von Dokument, die mich strafrechtlich zur Verantwortung ziehen könnte. Dieses Dokument, so Brekker, würde im Innenministerium aufbewahrt werden, und wenn ich meine Arbeit ehrlich erledigte, würde es vernichtet.“ Inna ging auf dieses Angebot ein. Die Zeugenaussage wurde mehrmals umgeschrieben, und durch die Bearbeitung des Ermittlers tauchten Olena Viter und die von ihr „vorbereiteten“ Terroranschläge im Text auf. Dann erfolgte der Prozess, in dem Inna eine gute Bürgerin spielen wollte, die ihren nationalistischen Lebensabend bereut. Und dann das Urteil, das für sie offensichtlich ein Schock war. Die Überprüfung des Falles endete 1956 damit, dass Danylenko als zu Unrecht verurteilt anerkannt wurde, die „terroristischen“ Artikel gegen Olena Viter fallengelassen und ihre Strafe auf 10 Jahre reduziert wurde. Schwester Josyfa wurde am 29. März 1956 entlassen, nachdem sie 10 Jahre, 5 Monate und 17 Tage im Gefängnis verbracht hatte. Dies ist das Ende der vierbändigen Akte über Olena Viter, eine Nonne, ein Mitglied der OUN, einen Menschen, der andere in schrecklichen Zeiten gerettet hat. Aber das war nicht das Ende ihres Lebens: Schwester Josyfa lebte noch lange 32 Jahre. Über diese Zeit gibt es nur wenige Informationen – es scheint, dass die alte Nonne für die Tschekisten nicht mehr von großem Interesse war. Wir wissen jedoch, dass sie den Rest ihres Lebens in der Stadt Skalat in der Oblast Ternopil’ verbrachte. Hier organisierte sie, wie schon in ihrer Jugend, wieder ein unterirdisches Nonnenkloster. Trotz des Mangels an sachlichen Informationen besteht kein Zweifel daran, dass sie den Menschen bis zu den letzten Tagen ihres Lebens Gutes tat. Olena Viter, Schwester Josyfa, starb am 15. November 1988, weniger als ein Jahr, bevor ihre Heimatkirche aus dem Verborgenen auftauchte. Die Wiederbelebung der Ukrainischen GriechischKatholischen Kirche war der Beginn der Wiederbelebung des Staates, der 2 Jahre später seine Unabhängigkeit erlangte. Olena Viter verdient unseren Respekt und unser Andenken als eine
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Person, die ursächlich zu beidem beigetragen hat, und vor allem als eine Person, die selbst in schrecklichsten Zeiten Gutes getan hat. Die Publikation entstand im Rahmen des Projekts „Krieg macht keine Ausnahmen. Frauengeschichten des Zweiten Weltkrieges“ des Ukrainischen Instituts für Nationales Gedenken.
Maryna Mirzajeva
„Satan“ im Rock oder eine Frau im Untergrund, die die Kugeln verfehlen „In dieser Hinsicht gibt es nur noch ‚Chrystja‘, deren Energie der Kraft von hundert ‚Burlaken ‘ entspricht“, wird der Führer Vasyl’ Halasa ‚Orlan‘ über das Untergrundmitglied Iryna Tymočko ‚Chrystja‘ schreiben und ihr die höchste Position unter den Frauen in Trans-Curzonia1 geben—die der Leiterin des Superdistrikts „Verchovyna“. Dies geschah 1947, als das Gebiet eine schwierige Zeit mit Personalverlusten durchlebte. Iryna Tymočko wurde am 8. Juli 1923 im Dorf Jaksmanyč unweit von Przemyśl als Tochter von Ksenija Pankevyč und Stepan Tymočko, einer großen Familie, geboren. Iryna war von Jugend an stolz: In der Schule weigerte sie sich, ein Gedicht zum Gedenken an Marschall Piłsudski aufzusagen, was zur Verhaftung ihres Vaters, eines ehemaligen Soldaten der ukrainisch-galizischen Armee, führte. Wenige Tage später wurde Stepan Tymočko freigelassen, und die aufgeregte Iryna erwartete eine Bestrafung, erhielt aber stattdessen das Gegenteil—Lob für ihre Haltung. 1936 bestand sie eine Prüfung, um in das private Mädchengymnasium des Ukrainischen Instituts für Mädchen in Przemyśl aufgenommen zu werden. Dort schloss sie sich auch der Organisation „Plast“ an, die in den Mauern der Schule im Untergrund arbeitete. Mit der Ankunft der ersten Sowjets im Jahr 1939 hörte das Institut auf zu existieren. 1941 setzte Iryna ihr Studium unter den Deutschen fort. Die drohende Zwangsarbeit veranlasste sie, an einem sechsmonatigen Mathematikkurs für ukrainische Lehrer teilzunehmen, der
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Das polnische Gebiet westlich der Curzon-Linie mit einem starken ukrainischen Bevölkerungsanteil (Anm. d. Übers.).
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2. Klasse des Ukrainischen Instituts für Mädchen. Iryna Tymočko steht in der ersten Reihe. Przemyśl, 1937–1938
vom Ukrainischen Hilfskomitee am Staatlichen Lehrerseminar in Javoriv organisiert wurde. Dort lernte Iryna die Organisation der ukrainischen Nationalisten kennen und schloss sich den Reihen der Jugend an. Nach dem Unterricht nahm sie an Treffen teil, bei denen sie das Programm der OUN sowie Geschichte und Geografie der Ukraine studierte. Iryna Tymočkos ernsthaftere Beziehungen zur Organisation begannen während ihres letzten Studienjahres in Przemyśl, als ihre Cousine aus L’viv, Zenja Chymka „Zoja“, sie im Januar 1944 mit Natalka Kozakevyč „Sira“, der Bezirksleiterin des Frauennetzwerks der OUN in Przemyśl, bekannt machte. Zu dieser Zeit wurde „Trans-Curzonia“ die Rolle einer Verbindungsstelle zwischen dem Westen und dem ukrainischen Untergrund zugewiesen. Nachdem sie am 29. März 1944 ihr Abitur gemacht hatte, schlug „Sira“ Iryna vor, in den Untergrund zu gehen. Das erste Pseudonym, das sie noch in Javoriv annahm, war „Nina“. Erst später wurde Iryna zu „Chrystja“ und durchlebte ihr gesamtes Leben in der Illegalität und im Gefängnis unter diesem Pseudonym. „In den Untergrund zu gehen war meine persönliche, ganz bewusste Entscheidung. Unter diesen Umständen, mit der
„Satan“ im Rock oder eine Frau im Untergrund 127 patriotischen Erziehung meiner Familie, hätte ich mich einfach als weniger anständig betrachtet, wenn ich mich nicht der ukrainischen Befreiungsbewegung angeschlossen hätte“, schreibt Iryna Tymočko in ihren Memoiren „Meine Odyssee“.2 Im Mai 1944 absolvierte „Chrystja“ einen Sanitätslehrgang in der Nähe von Knjažpil’, an dem 22 Personen teilnahmen, darunter die Anführerin „Sira“ sowie Marija Rovenčuk „Iryna“ und Marija Bodnarenko „Oksana“ und Marija Savčyn „Marička“. Nach der Ausbildung und bis Dezember 1944 war „Chrystja“ Bezirksleiterin des Ukrainischen Roten Kreuzes im Gebiet Birča, später sollte sie die Leitung des Ukrainischen Roten Kreuzes im Gebiet Przemyśl übernehmen. Diese Aufgabe wurde jedoch Marija Savčyn übertragen, und Iryna Tymočko wurde im Januar 1945 in den Bezirk „Beskiden“ des Gebiets Lemkenland entsandt.
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2 Iryna Tymočko-Kamyns’ka, Moja Odyseja. Vydavnyctvo Ukraïns’kyj Archiv. Varšava 2005 (Anm. d. Übers.).
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In den Gebieten Birča, Bojken- und Lemkenland musste „Chrystja“ die Frauenstruktur des Ukrainischen Roten Kreuzes fast von Grund auf neu aufbauen, mit dem einzigen Unterschied, dass sie sich auf einem viel größeren Gebiet befand (Gebiete Sjanok, Lis’ky, Korosnjany, Jaselka und später Horlycja und Novosančiv). Als diese Bezirke, die später in Rajons umbenannt wurden, zum Superrajon „Beskiden“ zusammengelegt wurden, war das Frauennetzwerk bereits gut organisiert. In jedem dieser Rajons gab es Leiterinnen des Ukrainischen Roten Kreuzes, ausgebildete Krankenschwestern und Sanitätsstationen, von denen einige später in echte Partisanenkrankenhäuser umgewandelt wurden. „Chrystja“ war Augenzeugin der ersten Zwangsräumungen in „Trans-Curzonia“. Doch selbst in einer so schwierigen Zeit fand der Untergrund Zeit für die Liebe: In einem Brief gestand Ivan Mandryk „Letun“ (Flieger), der Bezirksleiter der SB I der Region „Trans-Curzonia“, seine Gefühle für „Chrystja“. Die junge Frau bat um Bedenkzeit, aber „Letun“ geriet bald darauf in einen Hinterhalt und wurde getötet. Im September 1946 wurde der Superrajon „Beskiden“ neu organisiert, und der siebte Rajon, der „Lemkivščyna“ umfasste, wurde durch den neuen Superrajon „Verchovyna“ ersetzt, wo „Chrystja“ als Wirtschaftsreferentin zum Einsatz kam. Doch bereits im Februar 1947 hörte die Lemko-Führung aufgrund der Strafaktionen der polnischen Armee auf zu existieren. Um das Gebiet zu erhalten, beschloss „Orlan“ (Seeadler), „Chrystja“ in Lemkivščyna zu belassen und ihr die Leitung des Superrajons „Verchovyna“ zu übertragen, die höchste Position unter den Frauen in „Trans-Curzonia“. Dann kam der Moment des Einsetzens der Operation „Wisła“ (Weichsel), der Massenvertreibung der ukrainischen Bevölkerung aus den ostpolnischen Gebieten. Niemand wusste, was unter diesen Umständen zu tun war, und alle warteten auf Anweisungen, die nie kamen. Hunderte von UPA-Mitgliedern hielten um jeden Preis an ihrem Rajon fest, denn dort befanden sich ihre Wohnungen und Partisanenpfade.
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„Chrystja“ nach jahrelanger Gefangenschaft in ihrer Heimat Lemkivščyna. 1956
Während der Umsiedlungsaktionen der polnischen Armee geriet „Chrystja“ zusammen mit der Hundertschaft „Brodyč“ auf tschechoslowakischem Territorium in eine Razzia. Im Juni 1947 nahm der Untergrund an der Schlacht von Perunka teil. Einmal, als sich die Hundertschaft „Brodyč“ zurückzog, blieb der Anführer mit vier Schützen im Wald zurück. Durch die Unachtsamkeit des Mannes auf dem Posten kamen die polnischen Einheiten bis fast an die ukrainischen Untergrundkämpfer heran. Links: der Quartiermeister der Hundertschaft „Čoven“, der Kommandant Petro Hnatjuk „Doroš“; sitzend: der Bunčušnyj (Unteroffizier) der Hundertschaft Theodor Lazar „Kodyjar“ und ein unbekannter Maschinengewehrschütze Das Maschinengewehr des Schützen „Orlyk“ (Adler) ertönte, verstummte aber bald wieder. Sein beherzter Freund „Zalizo“ (Eisen) eilte ihm zu Hilfe, aber auch sein Maschinengewehr verstummte. Damit blieben „Chrystja“ und der Schütze „Vyšnja“ (Kirsche) übrig, wo der vierte geblieben war, ist nicht bekannt. „Vyšnja“ war verwundet, also griff „Chrystja“ zu seiner Maschinenpistole, um sich zu verteidigen. Die Waffe funktionierte jedoch nicht richtig: Die Scheibe zog keine Kugeln ein, sondern machte nur ein lautes „Plopp“-Geräusch. „Chrystja“ nutzte dies aus und begann, den Feind mit unsichtbaren Kugeln einzudecken.
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Soldaten der UPA-Hundertschaft „Brodyč“.
Den Moment des Schreckens bei den polnischen Soldaten ausnutzend, versteckte sich die junge Frau mit dem Kameraden im Wald. Dieser Kampf wird „Chrystja“ im Gefängnis von Rzeszów in Erinnerung bleiben: „Wir wollen die junge Frau sehen, die wie ein Satan schießt, und die die Kugeln verfehlen.“ Nach der Operation „Weichsel“ stellte die Realität den Untergrund in dieser Region vor die Frage: Wie geht es weiter? Wie unter den neuen Bedingungen agieren, wenn die ukrainische Bevölkerung fehlt, für deren Leben die Bewegung existierte? „Chrystja“ ging den Anweisungen folgend zu „Orlan“, und Anfang 1947 wurde ihr die schwere Pflicht aufgetragen, die
„Satan“ im Rock oder eine Frau im Untergrund 131 Mitglieder der Organisation über die Einstellung des Kampfes zu informieren. Die Führung räumte ein, dass nach der vollständigen Deportation der Bevölkerung die Existenz eines zivilen und militärischen Netzes in der Lemkivščyna in seiner jetzigen Form sinnlos sei. In einem späteren Verhör erinnerte sich „Chrystja“ an diese Ereignisse wie folgt: „Die Umsiedlungskampagne und die Aktionen der polnischen Armee veränderten die Struktur und den Stil der OUN-Organisation. Zunächst einmal verlor die OUN ihre wichtigste Kraft, die UPA, welche große Verluste erlitten hatte – sie verlor ihre wirtschaftliche und informationelle Basis. Die Organisation war gezwungen, ihr Organisationsnetz zu liquidieren.“ Gemäß den neuen Befehlen wurde „Chrystja“ zur Verbindungsoffizierin für besondere Aufgaben ernannt. Sie musste eine Wohnung in Przemyśl mieten, sich neue Papiere besorgen und ihre Arbeit im Untergrund fortsetzen. Doch schon bald wurde Iryna Tymočko „Chrystja“ wegen des Verrats des Untergrundmitglieds Jaroslav Hamivka „Vyšyns’kyj“ verhaftet, der seit Mai 1947 für den polnischen Geheimdienst arbeitete. Das ehemalige Mitglied der OUN, der Finanzreferent des OUN-Bezirks I, war unter dem Pseudonym „Urahan“ (Wirbelsturm) ein verdeckter Mitarbeiter. Er lieferte eine Menge Material, das den polnischen Geheimdiensten half, die Personal- und Führungsstruktur der OUN in Polen aufzudecken. Mit Hilfe von „Vyšyns’kyj“ wurde in Przemyśl, in der Wohnung des Untergrundmitglieds „Svjatoslav“, eine Falle gestellt (die Untergrundleute, die zum Unterschlupf der OUN kamen, wussten nicht, dass es einen Hinterhalt des polnischen Geheimdienstes gab), in die Iryna Tymočko „Chrystja“ geriet. „Ich musste um 5 Uhr abends zu einem Treffen gehen. Mit dem gekauften Papier und dem Transparentpapier betrat ich das Haus von ‚Svjatoslav‘, um das Paket zu verlassen und weitere Einkäufe zu tätigen, aber ich wurde von der UBP [Amt für öffentliche Sicherheit des Ministeriums für Staatssicherheit Polens] festgehalten. Ich sah, wie ein Soldat auf dem Heuboden eine Frau festhielt. Da stellte ich den Rucksack auf den Bürgersteig und
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Das Haus in der Ul. Franciczkańska 1. Hier, in der Wohnung im Erdgeschoss, arrangierte der kommunistische Sicherheitsdienst einen Hinterhalt, in dem Iryna gefangen wurde.
Die Hochzeit von Iryna Tymočko und Myron Kaminsky. 1967
ging zu ‚Svjatoslav‘. Ich wurde verhaftet. Bei der Durchsuchung fand man einen Reisepass auf den Namen Marija Kovalčuk und eine Aufenthaltsgenehmigung auf den Namen Irena Kamins’ka. Ich erklärte, dass das Papier einer Frau gehörte, die ich auf dem
„Satan“ im Rock oder eine Frau im Untergrund 133 ‚Fischplatz‘ treffen sollte. Ein Leutnant begleitete mich zum ‚Platz‘, um diese Frau zu finden. Das alles war meine Idee, um zu fliehen. Die Flucht misslang, und ich wurde verhaftet“, heißt es im Vernehmungsbericht von Iryna Tymočko vom 15. November 1947. Die Ermittlungen zogen sich über ein Jahr hin. Und obwohl der Folterer der ukrainischen Frauen, Michał Bajowski, sie während der Verhöre körperlich verletzte, ist „Chrystja“ für den Rest ihres Lebens nicht zusammengebrochen und hat nicht aufgegeben. Sie arbeitete dem Feind nicht zu. Am 15. November 1955 wurde sie nach 8 Jahren Haft entlassen. Ein Jahr später besuchte sie ihre Heimat Lemkivščyna und erinnerte sich an die Spuren der Partisanen. Zur gleichen Zeit erhielt Iryna Tymočko einen Brief von ihren Verwandten, die nach Sibirien deportiert worden waren, und besuchte sie bald darauf. 1967 schloss Iryna Tymočko ihr Studium an der Fakultät für Philosophie und Geschichte der Universität Wrocław ab und heiratete Myron Kamins’kyj „Don“, der ebenfalls im Untergrund im Superrajon „Verchovyna“ tätig war. 1981 zog Iryna Tymočko in die Vereinigten Staaten von Amerika. Ihr Ehemann blieb wegen der ständigen Überwachung
Iryna Tymočko und ihr Mann wandern im Lemkenland. 1972
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durch die Geheimdienste in Polen. Das Paar sah sich nie wieder: Myron starb bald an einer Krankheit. „Chrystjas“ Odyssee endete mit ihrer Rückkehr in die unabhängige Ukraine. Hier, am 21. Mai 2010, hörte das Herz der Frau aus dem Untergrund auf zu schlagen. Iryna Tymočko starb in dem Land, für das sie ihre Jugend geopfert hatte.
Oleksandr Pančenko
Die Verbindungsoffizierin von General Šuchevyč. Schicksal und Stellung von Halyna Dydyk Einige Jahre im Untergrund und 25 Jahre in sowjetischen Lagern. Sie war bei Roman Šuchevyč in den entscheidenden Momenten seines Lebens. Sie hörte seinen letzten Schuss und nahm dann Gift … Halyna Dydyk spielte Mitte der 1940er Jahre eine wichtige Rolle in der nationalen Befreiungsbewegung in der Westukraine, zunächst als Sprecherin des Ukrainischen Roten Kreuzes (URK) im Untergrund, später als Verbindungsperson und Vertraute von Roman Šuchevyč. Es ist wahrscheinlich, dass Halyna Dydyks Pseudonyme, Anna und Moločarka, den sowjetischen Geheimdiensten bekannt waren. Nach der Verhaftung von Darija Husjak kam der MGB über die Agentin „Roza“ („Olga“) auf die Spur von Šuchevyč und Dydyk. Infolge der Operation wurde Roman Šuchevyč getötet, und Halyna Dydyk nahm Gift, wurde aber von den Tschekisten geret tet, um alle Höllenkreise in den Moskauer Gefängnissen zu über leben. Am 31. Oktober 1951 wurde sie nach fast eineinhalb Jahren Ermittlungen zu 25 Jahren Haft im berüchtigten Zentralgefängnis von Vladimir verurteilt. Vor einigen Jahren habe ich eine Sammlung von Schriften, Memoiren und Briefen dieser legendären Frau unter dem Titel „Die Verbindungsoffizierin des Generals Halyna Dydyk: ‚… Leider lebe ich noch …‘“ herausgegeben.1 Ende August 2006 besuchte ich das Grab der Verbindungs offizierin in der Stadt Berežany, Oblast Ternopil’, auf einem alten Friedhof auf einem Hügel. 1
OLEKSANDR PANČENKO, Zv’jazkova henerala Halyny Dydyk“: … Na žal’, i ja še žyva. Hadjač 2007.
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Halyna Dydyk und Roman Šuchevyč beim Lesen
Ein graues Kreuz stand stolz zwischen den tristen Gräbern und Grabsteinen und den kleinen gelben Blumen . . . Ich erinnere mich gut daran, dass es regnete, der letzte Regen des Sommers, es war schon ein bisschen winterlich . . . Ich stand an dem Grab in der Mitte des Friedhofs, mit einer brennenden Kerze und einem Kranz, und dachte über das Wesen der menschlichen Existenz und des menschlichen Schicksals nach. Welche Schrecken musste Halyna Dydyk, eine verletzte Frau, deren Gesundheit durch das Gift, das sie vor ihrer Verhaftung ein genommen hatte, geschwächt war, ertragen! Ich erinnere mich gut an die wichtigsten Episoden aus Halyna Dydyks Memoiren – im Gegensatz zu einigen anderen Schriften über diese Ereignisse unseres Untergrund- und Aufstandskampfes, die Anfang der 1990er Jahre in der Ukraine veröffentlicht wur den, wurden sie von den tapferen L’viver Frauen Nadija Mudra und Hanna Sadovs’ka sorgfältig aufgezeichnet und unter strenger Geheimhaltung zusammengestellt. Die Fragmente aus Halyna Tomivnas Leben und Werk von damals und heute lassen keine Zweifel an ihrer Aufrichtigkeit, Objektivität und Wahrhaftigkeit aufkommen. Tatsächlich werden alle von ihr geschilderten Ereignisse durch Dokumente aus den Staatsarchiven bestätigt, die von den
Die Verbindungsoffizierin von General Šuchevyč 137 Forschern der Widerstandsbewegung von 1940–1950 Lesja Onyško und Lesja Bondaruk sorgfältig untersucht wurden. Die Persönlichkeit von Halyna Dydyk und die Etappen ihres heroischen Lebens und ihres Martyriums bedürfen nur eines detail lierten philosophischen Verständnisses und einer Analyse. Halyna Dydyk wurde am 17. April 1912 in der national bewussten Familie von Toma und Olena im Dorf Šybalyn in der Region Berežany geboren. Obwohl in der ersten Ausgabe des biografischen Nachschlagewerks „Die ukrainische Frau im Befreiungskampf 1940–1950“ sowie in der Sammlung „General Halyna Dydyk, Verbindungsoffizierin des Generals: ‚Ach, ich lebe noch …‘“ (2007) das Datum ihrer Geburt anders lautet, 18. März 1912, ist wahrscheinlich, dass der 17. April das richtige Datum ist. Halyna verbrachte ihre ersten Kindheitsjahre in ihrem Heimatdorf. Ihr Vater Toma (Tomko) Dydyk kämpfte in der Ukrainischen Galizischen Armee (UHA) und arbeitete während der österreichisch-ungarischen Besatzung eng mit Tymotej Staruch zusammen, dem Botschafter beim Landessejm in Wien, einer pro minenten ukrainischen Persönlichkeit in diesem Gebiet. Halyna war die jüngste in einer Familie mit sechs Töchtern und einem Sohn. Ein Jahr nach ihrer Geburt starb ihr Vater, und alle Aufgaben im Haushalt fielen ihrer Mutter und ihrer ältesten Schwester Stefa zu, die zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre alt war.
Das von Oleksandr Pančenko herausgegebene Buch
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Halyna Dydyk, Anfang der 1950er Jahre
In der Familie Dydyk war es Tradition, eine Ausbildung zu erhalten. Nach ihrem Abschluss an der Bursa von Berežany zog Halyna in ein Kloster in der Oblast’ L’viv zu ihrer Schwester Stefa, wo sie später ein Studium an einem Lehrerseminar aufnahm und der Jugendorganisation „Plast“ beitrat, die eine umfassende Bildungsarbeit zur Erziehung junger Menschen im nationalisti schen Geist leistete. Alle Mitglieder der Organisation studierten ukrainische Geschichte und Literatur, und die hohen Ideale der Treue zu Gott und dem Vaterland prägten die Vorstellung der jungen Generation von der Notwendigkeit eines unabhängigen ukraini schen Einheitsstaates. Eine große Anzahl von OUN-Führern und aktiven Mitgliedern, darunter Bohdan Kravciv, Stepan Ochrymovyč, Stepan Bandera, Roman Šuchevyč, Jaroslav Staruch, Mykola Lebed’, Ivan Hryn’och, Kateryna Zaryc’ka und Halyna Dydyk, waren bis 1930 aktive Mitglieder von „Plast“, und die erste regionale Führung der OUN im Jahr 1929 bestand größtenteils aus Mitgliedern von „Plast“. Bis 1931 studierte Halyna am Lehrerseminar in Berežany und arbeitete in der Organisation „Prosvita“2, wo sie gelegentlich Vorträge über ukrainische Sprache und Literatur im Dorf Jaktoriv (heute 2
Die Organisation „Prosvita“, 1868 in Lemberg gegründet, widmete sich der Aufklärung der ukrainischen Bevölkerung (Anm. d. Übers.).
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Panorama des Dorfes Šybalyn in der Region Berežany, aus dem Halyna Dydyk stammte.
Bezirk Peremyšljany in der Oblast’ L’viv) hielt. Nach dem Abschluss des Seminars konnte sie die Stelle als Lehrerin nicht antreten. Sie wurde als Lehrerin ausgebildet und bekam im folgenden Jahr eine Stelle im Dorf Wierchomla (Polen), um in der Familie eines dortigen Pfarrers Kinder zu erziehen. In den Jahren 1934–1939 war Halyna Dydyk Mitglied der Union der ukrainischen Frauen, mit der sie in den Dörfern der Region Ternopil’ Aufklärungsarbeit leistete. Im Jahr 1935 absolvierte Halyna Dydyk einen Kochkurs in L’viv und arbeitete anschließend in den örtlichen Kindergärten. Im Januar 1937 kehrte sie in ihr Heimatdorf Šybalyn zurück, wo sie an der örtlichen Landwirtschaftsschule unterrichtete, dann in das Genossenschaftssystem wechselte und als Lehrerin in den Städten Pidhajci, Zboriv und Berežany arbeitete. Nach der Ankunft der ersten bolschewistischen Truppen in der Westukraine wurde Dydyk vom NKVD in Berežany wegen ihrer Verbindung zur Untergrundorganisation OUN und aktiver nationalistischer Propaganda unter den Arbeitern der Fischereigewerkschaft von Berežany verhaftet, aber im Mai 1940 aus
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Mangel an Beweisen wieder freigelassen. Halyna verließ daraufhin ihre Heimatregion und zog nach L’viv, wo sie eine Ausbildung zur Krankenschwester machte. „Ich bin überzeugt“, schrieb Halyna Dydyk am 10. Juli 1971 in einer Erklärung an das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR, „dass solche Veränderungen im Denken und Verhalten meiner Landsleute durch die despotische Politik des NKVD in den Jahren 1939–1941 in der Westukraine verursacht wurden … Sie wurden für ihre früheren Aktivitäten unter Polen, für ein unbedachtes Wort, ohne jeglichen Grund inhaftiert. Ehemalige ideologische Gegner – Mitglieder der OUN, UNDO und KPZU – wurden mit politisch neutralen Personen in eine Zelle gesteckt. Sie wurden gefoltert und ohne Gerichtsverfahren in Gefängnissen erschossen. Ich kann mich noch immer nicht beruhigt an die Bilder erinnern, die ich in den ersten Kriegstagen sah, … Der NKVD-Terror von 1939 bis 1941 war eine große und schwere Schule …“ Bis Juni 1941 arbeitete Halyna Dydyk als Sekretärin in der regionalen Abteilung für Volksbildung. In den ersten 3 Monaten der Besatzung arbeitete sie als Direktorin einer Marmeladenfabrik in L’viv, und dann 6 Monate lang als Ausbilderin in der landwirt schaftlichen Kommandantur. Über Jaroslav Fedyk „Slavko“ nahm sie Kontakt zu Mykola Lebed’ („Maksym Ruban“, „Jaropolk“) auf, einem Regierungsführer der OUN-B, der, während er untergetaucht und auf der deutschen Fahndungsliste stand, zum Hauptorganisator des antideutschen Kampfes in seiner Heimat wurde. Er, Lebed’, nutzte die L’viver Wohnung von Halyna Dydyk in der Pijariv-Straße fast das ganze Jahr 1942 über als sein eigenes „Zuhause“ im Untergrund. Dydyk wurde im März 1944 offiziell Mitglied der OUN, als sie feierlich den Treueeid ablegte, obwohl sie schon viel früher mit ihren nationalistischen und Untergrundaktivitäten begonnen hatte. Zur gleichen Zeit fing Halyna Dydyk auf Anweisung des Leiters der regionalen OUN „Danylo“ im Untergrundbüro des Ukrainischen Roten Kreuzes an zu arbeiten. Zu ihren Aufgaben gehörte es, für das Funktionieren der Krankenpflegekurse zu sor gen, medizinisches Personal in die entsprechenden Bezirke zu ent senden, Krankenhäuser für die Verwundeten in jedem Bezirk und
Die Verbindungsoffizierin von General Šuchevyč 141 jeder UPA-Einheit zu organisieren, sich um die notwendige medi zinische Versorgung und Medikamente sowie um Lebensmittel zu kümmern und die Arbeit der Untergrundkrankenhäuser und des URK im Allgemeinen zu überwachen. Moločarkas Tätigkeit als regionale Vertreterin des Ukrainischen Roten Kreuzes in der Bezirksleitung von Ternopil’ dauerte ein Jahr lang, bis zur Auflösung seiner Untergrundbüros auf regionaler und Gebietsebene im März 1945. In dieser Zeit gelang es ihr Kurse für Krankenschwestern in den Dörfern Romanivka in Ternopil’ und Suslivka in den Bezirken von Bilobožnycja zu organisieren. Ende 1944 fanden die Kurse in den Wäldern von Trostjanec’ statt, an denen eine Person pro hun dert UPA-Mitglieder teilnahm, die in der Bezirksleitung der OUN in Berežany stationiert waren. Im Auftrag der Leiterin „Moneta“, Kateryna Zaryc’ka, organi sierte Dydyk Kurse für UPA-Ärzte, zu denen ältere Studenten der medizinischen Fakultäten eingeladen wurden. 1945 wurde Halyna Dydyk für ihre selbstlose Arbeit als Leiterin des Roten Kreuzes im Untergrund mit dem Silbernen Verdienstkreuz ausgezeichnet, das ihr mündlich überreicht wurde. Im Frühjahr 1948 wurde ihr das Verdienstkreuz auf Initiative von Roman Šuchevyč zum zweiten Mal verliehen.
In dem Film „The undefeated“ (Unbesiegt) von Oles Jančuk wurde die Rolle der Halyna Dydyk von Viktorija Malektorovyč gespielt
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Roman Šuchevyč (rechts), einer der prominenten OUN-Führer und UPA-Kommandeure Oleksa Hasyn „Ritter“ und Halyna Dydyk beim Mittagessen
Später gehörte es zu den Aufgaben von Halyna Dydyk, eine stän dige Verbindung zwischen Šuchevyč (OUN-Pseudonyme: „Dzvin“, „Ščuka“, „Tur“), dem Leiter der OUN-Führung in den ukrainischen Gebieten, und anderen Mitgliedern der Führung, darunter „Taras“ (Dmytro Majevskyj), „Halyna“ (Jakiv Busel) und „Lemiš“ (Vasyl’ Kuk), herzustellen. Offensichtlich war die bisherige Kommunikation unzuver lässig geworden, so dass Roman Šuchevyč über vertrauenswür dige Personen versuchte, den ständigen Kontakt zwischen den Mitgliedern der Führung aufrechtzuerhalten. Um diese Aufgabe zu erfüllen, brauchte er intelligente Leute, die seine Anweisungen verbal übermitteln konnten. Darüber hinaus mussten die Bevollmächtigten ihn mit Literatur versorgen, ihn über Ereignisse informieren und Verstecke und „Hütten“ zu seiner Sicherheit organisieren. Die Historiker Dmytro Vjedenijejev und Hennadij Bystruchin beschreiben in ihrem Buch „Der Geheimdienst der Aufständischen handelt präzise und mutig …“ die Rolle von Frau Dydyk wie folgt: „Am 9. Juli 1947 floh Jurko Šuchevyč aus einem Spezialgebäude in der Stadt Ručenkovo in der Oblast’ Stalino … Am 20. März 1948 brach Jurko zusammen mit Šuchevyčs Verbindungsfrau Halyna Dydyk auf, um seine Schwester Marija (die damals 7 Jahre
Die Verbindungsoffizierin von General Šuchevyč 143 alt war) aus dem Waisenhaus zu entführen. Der Plan scheiterte, und am 25. März wurde Jurij erneut gefangen genommen … Im Juli 1948 hielt sich Roman Šuchevyč aufgrund seines Gesundheitszustands zusammen mit Halyna Dydyk, „einer ihm besonders vertrauten und nahestehenden Person“, im Lermontov-Sanatorium in Odesa auf. Sie kauften Kurkarten auf den Namen eines Lehrers Jaroslav Polevyj und Hanna Chom’jak. Sie besuchten einen führenden Kardiologen, Professor Suhal. Zu den Anwendungen nahmen sie immer Gift mit und versteckten abwechselnd eine Pistole. Sie wie derholten sogar im Juni 1949 die gefährliche Reise zur „Perle am Meer“. Natürlich war dies ein großes Risiko, aber es war der Gesundheit von Šuchevyč geschuldet, und der erfolgreiche Ausgang der beiden Reisen bestätigte sein wahres Talent als Verschwörer . . . “ Der letzte Aufenthaltsort des UPA-Oberbefehlshabers wurde in dem Dorf Bilohoršča in der Nähe von L’viv eingerichtet. Für Roman Šuchevyč wurde ein Unterschlupf gebaut, in dem er sich fast eineinhalb Jahre lang versteckte.
Das Lermontov-Sanatorium heute
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Mit gefälschten Dokumenten eines polnischen Einwanderers wohnte Dydyk legal in diesem Haus, das einem örtlichen Lehrer gehörte. Nach der erworbenen „Legende“ arbeitete Halyna als Hausangestellte. Sie war oft abwesend, erledigte Besorgungen für den Kommandanten, kümmerte sich um die Lieferung von Lebensmitteln und war für die Gesundheit des Anführers verantwortlich. Am 5. März 1950 nahm Anna während einer Razzia und dem Versuch, Šuchevyč in Bilohoršča festzunehmen, Gift (nach 1946 mussten alle leutenden Mitglieder der OUN auf ukrainischem Boden Gift (Kaliumcyanid) und Waffen mit sich führen). Als Halyna merkte, dass sie umzingelt waren, riss sie sich von den beiden Soldaten los, die ihre Arme festhielten, und lief, wie sie sich später erinnerte, in den Nebenraum und legte sich auf den Boden: „Im Liegen nahm ich das Gift heraus, nahm es zwischen die Zähne und begann zu kauen. Plötzlich spürte ich, dass ich mein Bewusstsein verlor. Ich hatte das Gefühl, als würde mich eine Art Gummi nach unten ziehen, alles lief mir die Kehle hinunter. Ich
Halyna in der Zelle des NKVD
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Das Haus im Dorf Bilohoršča, wo der letzte Unterschlupf von Roman Šuchevyč war
verlor völlig das Bewusstsein. Ich weiß nicht, was danach mit mir geschah, denn ich verbrachte einige Zeit in der NKVD-Zelle im Gefängnis in der Łącki-Straße.“ Die herausgestellten Dinge—Figuren und Ereignisse—in Halyna Tomivnas Memoiren sind überraschend lebendig. Es ist, als ob die Folterknechte, die längst nicht mehr leben, aus unheimlicher Dunkelheit und Nieselregen auftauchen: Guzjejev, Solop, Pivovarec, Klimenko, Leničenko . . . außerdem Moroz, Jestygnjejev, Rafal, Kalynyčenko . . . Und ihre Vorgesetzten: Ovsijenko, Sudoplatov . . . Höllische, grausame und heimtückische Hunde. Nein, sie waren die Kettenhunde des blutigen Regimes, seine Diener und Knechte. „ . . . Es gab auch andere, die schwankend kamen, um mich im Suff zu verspotten . . . Sie retteten mich vor dem Tod, um mich zu foltern, während ich noch halb bewusstlos war. Sie schlugen mich erbarmungslos. In den ersten 6 Monaten taten sie das jeden Tag, Tag und Nacht, und ich durfte nicht schlafen. Diese ‚Untersuchung‘ dauerte über zwei Jahre . . . “
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Hier sind einige der wortgewaltigsten Passagen aus Halyna Dydyks Memoiren: „Zuerst gaben sie mir Briefe, die der Anführer (er lebte nicht mehr) angeblich für mich geschrieben hatte, aber ich glaubte ihnen nicht, obwohl ich so tat, als hätte er sie geschrieben . . . Zuerst wurde ich auf einer Bahre zur Untersuchung getragen, ich konnte nicht laufen. Sie haben mich durch einen Schlauch ernährt . . . Das Schlimmste ist, wenn sie mich schlagen wollen. Die Angst ist schlimmer als das körperliche Leiden selbst. Wenn du ohnmäch tig wirst, geben sie dir eine Spritze, übergießen dich mit Wasser, und dann geht es wieder los. Tag für Tag, Nacht für Nacht. Während der Ermittlungen war ich für kurze Zeit in einer Zelle . . . Die Schläge waren eine Form der Folter. Ich litt unter schrecklicher Schlaflosigkeit, sie ließen mich überhaupt nicht schla fen: die ganze Nacht während der Untersuchung, dann fast den ganzen Tag . . . Dann gaben sie mir einige Drogen . . . “ Die Ermittlungen gegen Dydyk dauerten 2 Jahre. Sie wurde zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt. Sie saß die gesamte Strafe ab. Halyna Dydyk hörte auch nach ihrer Entlassung nicht auf, gegen den Feind zu kämpfen. In den Briefen, die ich las, spürte ich, wie sehr Halyna es bedauerte, dass sie angesichts ihrer durch Gefängnis und Folter geschwächten Gesundheit nicht wieder auf stehen konnte, um unter den neuen Bedingungen der ukraini schen Realität zu kämpfen, als der Samizdat bereits aufgetaucht war und sich Künstler und Schriftsteller gegen die weit verbreitete Russifizierung wehrten. In Chrystynivka in der Oblast’ Čerkasy, wo sich Halyna Dydyk niederlassen durfte, vergingen die Tage eintönig: mit Hausarbeit und endlosen Gedanken über ihr Schicksal und ihr Ziel im Kampf. Vielleicht kann niemand ihre Geduld, ihre Willenskraft und ihr Heldentum ermessen—das übersteigt die menschliche Kraft. Halyna Dydyk starb am 23. Dezember 1979 an einem Herzinfarkt.
Ivan Ol’chovs’kyj
Tschechin von Geburt, aus freien Stücken aber Ukrainerin. Über das tragische Schicksal der Frau von Ataman Taras Bul’ba-Borovec’ Es gibt Berichte, dass die Frau des Gründers der UPA von den Geheimdiensten der OUN-B ermordet wurde. Um ihr tragisches Schicksal hat sich eine wahre Farce entwickelt, als die Chronisten der OUN-B nach dem Krieg behaupteten, Anna Borovec’ habe nicht mit ihrem Mann zusammengelebt . . . Trotz der großen Aufmerksamkeit von Historikern und Lokalhistorikern für den Aufstand in der Ukraine ist das Leben von Anna Opochenska, der Ehefrau des Gründers der Ukrainischen Aufständischen Armee, Taras Bul’ba-Borovec’, noch unerforscht. Aus den Memoiren des polesischen Atamans ist bekannt, dass sie die Tochter eines tschechischen Kolonisten aus Luc’k war und ihn 1931 heiratete. Einer der Leibwächter des UPA-Oberbefehlshabers, Mykola Šyrko, beschreibt sie wie folgt: „Sie war nicht groß. Vielleicht bis zu den Schultern des großen Taras. Ihr Gesicht war sehr sanft, lächelnd, und ihr Haar war blond. Es war klar, dass sie sehr gut erzogen war und eine gute Ausbildung hatte. Sie interessierte sich mehr für politische Fragen als für private Angelegenheiten.“ In seiner Erzählung „Polis’ka Sič oder Wer sind diese Bul’bas“ deutet Polikarp Šafeta, der langjährige Herausgeber der Zeitung „Radjans’ka Volyn’“, offen an, dass der Erfolg von Taras Borovec’, insbesondere der Erwerb des Karpyliv-Granitsteinbruchs, auf seine erfolgreiche Heirat mit Anna Opochenska zurückzuführen sein könnte, die aus einer wohlhabenden Familie stammt. So bemerkt der Träger des Jaroslav-Halan-Preises etwas neidisch: „Da er Geld und eine reiche Frau hatte, begann er mondäne Kurorte aufzusuchen, zum Beispiel Krynica, wo sich die Elite traf.“ 147
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Taras Bul’ba-Borovec’ mit seiner ersten Frau Anna Opochenska, 1941–1942 (?)
Meines Erachtens wäre es jedoch viel gelungener gewesen, darüber zu schreiben, wie die „reiche Frau“ ihrem Mann mit Geld half, seine Aufklärungs- und Propagandatätigkeit in Polissja zu betreiben. Das nämlich geht aus einer Reihe von Berichten des polnischen Sicherheitsdienstes für die Jahre 1933–1935 hervor. Schließlich lässt sich diese Auffassung auch aus den Worten des Atamans selbst ableiten: „Dieser Mensch wurde, ohne seine eigene Nation zu verleugnen, mein treuer Freund, beherrschte die ukrainische Sprache, lernte unsere Bräuche und wurde mein aktivster Mitarbeiter in öffentlichen Angelegenheiten. Sie ertrug mit mir klaglos alle Lasten und Sorgen, die meine sozialen und politischen Aktivitäten mit ihren endlosen Polizeirazzien, Verhaftungen und Inhaftierungen ständig in unser Haus brachten.“
Tschechin von Geburt, aus freien Stücken aber Ukrainerin 149 Obwohl die Zeugnisse und Erzählungen der Mitglieder der Bul’ba-Widerstandsbewegung die Frau des Atamans nur selten erwähnen, machen auch sie deutlich, dass sie eine weitsichtige Person und eine Unterstützerin der ukrainischen Sache war. Mal kümmert sie sich bis zu seinem Tod um Hennadij Jankevyč, einen erbitterten Kämpfer für den ukrainischen Staat aus Klevan, der als Gefangener von Bereza Kartuzka an Tuberkulose litt. Mal ist sie wie eine Mutter, die ihre Kriegsrationen, die sie von der Verwaltung in Sarny erhielt, mit den Gymnasiasten Stepan Hožyj und Petro Solov’ev teilt, die in ihrer Wohnung lebten. Und als Schwester der Barmherzigkeit verband sie die Wunden der Aufständischen und wusch ihre Kleidung, und sie war nicht stolz auf den Titel „Ataman“. Und im Herbst 1943 wurde diese Frau voller Güte und Loyalität Opfer einer brudermörderischen Tragödie, die noch immer Gegenstand einer zynischen Farce ist. Doch bevor ich die Einzelheiten dieser Tragödie und ihrer Verhöhnung beschreibe, halte ich es für sinnvoll, den Hintergrund kurz zu erzählen. Wie Sie wissen, verhandelte Taras Bul’ba-Borovec’ von Januar bis April 1943 mit Vertretern von Banderas OUN über die Vereinigung der von ihm geführten UPA mit deren militärischen Einheiten. Die Parteien waren sich jedoch nicht einig, wer die politische Linie der UPA entwickeln sollte. Bul’ba war der Ansicht, dass dies durch einen Rat geschehen sollte, der sich aus Vertretern der verschiedenen Parteigruppen zusammensetzte. Die Banderaleute bestanden darauf, dass allein ihre Führung dafür zuständig sein sollte. Am 20. Mai 1943 eskalierten diese Meinungsverschiedenheiten zu einer offenen Konfrontation. An diesem Tag gab das Hauptkommando der ukrainischen Aufstandsarmee unter der Führung von Banderas OUN ein Flugblatt mit dem Titel „Ukrainer!“ heraus, in dem die Bevölkerung aufgerufen wurde, sich den Aufständischen anzuschließen und „die verschiedenen anarchistischen Atamane und den Abschaum aller politischen Gruppen und Parteien zu vertreiben, die die Ukrainische Revolutionäre Front auf Befehl des NKVD oder der Gestapo zerschlagen wollen!“
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Stattdessen machte sich Bul’ba-Borovec’ diesen „Abschaum aller politischen Gruppen“ zu eigen, benannte seine UPA in Ukrainische Nationale Revolutionsarmee (UNRA) um und richtete am 10. August 1943 einen offenen Brief an die Mitglieder der OUN-Führung, in welchem er sie der „Parteidiktatur“, der „Ausgrenzung nationaler Minderheiten“ (Polen) und der „Anstiftung zum Unfrieden“ beschuldigte. Die Reaktion der Banderaleute auf diese Anschuldigungen war harsch: Sie ordneten die gewaltsame Unterwerfung der Einheiten von Bul’ba an. In der Nacht des 19. August 1943 umstellte die Kurin’ (Hundertschaft) von Doroš das UNRA-Hauptquartier. Oleh Štul (alias Ždanovyč, Šujak), ein Teilnehmer an diesen Ereignissen und Vertreter der Mel’nykschen OUN im Hauptquartier von Bul’ba-Borovec’, beschreibt sie folgendermaßen: „Am 18.8.1943 hielt Ataman Bul’ba auf den Bauernhöfen in der Nähe von Chmelivka in der Region Kostopil’ an, um seine Ludwipoler Hundertschaft zu besuchen, die er besonders mochte, weil sie aus seinen engen Landsleuten aus dem Gebiet Ludwipol bestand. Gleichzeitig bemerkten sie eine verdächtige Bewegung von Banderas Verbindungsleuten, die sich jedoch sehr friedlich unterhielten und erklärten, dass sie gegen Gewalt gegen ihre eigenen Leute seien, weil sie und die Kämpfer der Ludwipoler Hundertschaft Kameraden seien, die gemeinsam Kühe hüteten. Sie waren Brüder. Am Abend berichteten die Patrouillen, dass sich Hundertschaften von Banderivci1 in den nahegelegenen Dörfern aufhielten, und eine von ihnen nicht weit weg im Wald Halt gemacht und ein wirklich freundliches Gespräch begonnen habe, als wären sie Soldaten desselben Regiments. Sobald es dunkel wurde, kam Bewegung in den Wald, und die Ludwipoler Hundertschaft war umzingelt, aber bereit, aus zwei Gründen bis zur letzten Kugel zu kämpfen: 1
„Banderovci“ war die pejorative Bezeichnung für die Banderaleute oder -anhänger seitens ihrer Opponenten, insbesondere seitens der Russen (Anm. d. Übers.).
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Taras Bul’ba-Borovec’. Polissja 1942
1) um ihren Ataman und seine Frau zu verteidigen, die die Wunden vieler Soldaten verband und ihre Wäsche wusch; 2) diese Hundertschaft wurde 1940 als Untergrundhundertschaft gebildet, und ab 1941 befand sie sich in Kämpfen mit den Besatzern und dachte nicht daran, die Waffen niederzulegen, die sie erworben hatten, als die Banderaleute noch nicht an einen bewaffneten Kampf dachten. Die Bandera-Befehlshaber (Hundertschaft Doroš) wussten dies sehr wohl, ebenso wussten sie, dass ihre Männer Bul’ba tagsüber nicht in die Augen schauen würden, da es sich um frisch mobilisierte Männer handelte, die keine Parteikämpfer waren.
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Bul’ba gab den Befehl, nicht zu schießen, sondern sich zerstreut/in kleinen Gruppen zurückzuziehen, und nannte Sammelplätze. Obwohl die Banderaleute zahlenmäßig sechs zu eins unterlegen waren, wurde fast niemand „gefangen genommen“, lediglich drei Oberstleutnants (Teilnehmer am Befreiungskampf 1917–1921) und Bul’bas Frau wurden später gefangen genommen. Sie wurde in das bereits erwähnte Styden’ gebracht, und nach zwei Wochen unmenschlicher Folter (man wollte wissen, wo Bul’ba sich aufhielt, wo seine Waffen waren und welche Pläne er hatte) tötete der Sicherheitsdienst sie auf Befehl von Aeneas.“ Mykola Lebid’, der damalige Befehlshaber von Banderas (revolutionärer) OUN, stellt diese Ereignisse anders dar: „Im August 1943 umzingelte die 43. UPA-Einheit unter Doroš die gesamte Gruppe von Bul’ba und übernahm sie, ohne einen Schuss abzugeben. Die Gruppe bestand aus drei Obersten, mehreren Offizieren und hundert Schützen, die 63 Personen umfassten. Es handelte sich um Personen, die sich auf der Flucht vor dem deutschen Terror zufällig bei Bul’ba eingefunden hatten. Auf ihren Antrag hin wurden sie alle in die UPA aufgenommen. Bul’ba selbst und eine Gruppe von 30–40 Personen entkamen. Dem Vorschlag der drei oben genannten Obersten, erneut an Bul’ba zu appellieren, stimmte der UPA-Kommandeur Nord zu und sicherte Bul’ba gleichzeitig die Aufnahme in die UPA und völlige Sicherheit zu, wenn er sich bis zum 9.9.43 (in drei Wochen) bereit erklärte, der UPA beizutreten; wenn er nicht zustimmte, würde er als Rebellen-Ataman behandelt werden. Sein Adjutant Kruk, der zu Bul’ba geschickt wurde, kehrte nicht zurück . . . Bul’bas unmittelbare Familie waren und sind kriminelle Mitglieder der Organisation. Einem Augenzeugen zufolge lebte die Ehefrau von Bul’ba, welche tschechischer Abstammung war, im Bezirk Tuchyn (Rivne). Sie wurde nie von Mitgliedern der Organisation oder der UPA verfolgt oder verurteilt.“ Im Jahr 1951 deckte Oleksandr Hryčenko, der das Leben des Atamans erforschte, einige Details über den Aufenthalt von Anna Opochenska in Bandera-Gefangenschaft auf und veröffentlichte sie in der von Ivan Bahrijanyij herausgegebenen Zeitung „Ukraïns’ki visti“, die in Neu-Ulm (Deutschland) erschien.
Tschechin von Geburt, aus freien Stücken aber Ukrainerin 153 Ihm zufolge „wurde die Frau von Ataman Bul’ba vom 19.8. bis 14.11.1943 vom SB gefoltert und zu Tode gequält. Sie verlangten zu wissen, welche Pläne ihr Mann hatte, wo die Lager und Druckereien und das Heeresarchiv vergraben waren. Nach den Aussagen der Folterer und der Wachleute starb Anna Borovec’, ohne etwas zu verraten. Am 15.11.1943 erhielt Ataman Bul’ba die schreckliche Nachricht, dass seine Frau seit dem 14.11.1943 nicht mehr lebte.“ Doch im Gegensatz zu diesen Angaben wiederholt der Bandera-Chronist Petro Mirčuk in seinem Buch „Die Ukrainische Aufständische Armee 1942–1952“ die Version von Mykola Lebed’ Wort für Wort als unfehlbar. Seit 1970 ist der Autor der UPA-Geschichte aber offenbar einsichtiger; da er erkannte, dass der NKVD Anna Borovec’-Opochenska leicht im Bezirk Tuchyn hätte finden und ihr den Prozess machen können, um den Ataman als Geisel zu erpressen und so die Erfindung von M. Lebed zu entlarven, legte er eine neue Version vor, nach der sie die Frau des NKVD-Offiziers Lukin (!!?) wurde. Die endgültige Fassung dieser Version wurde 1987 in seinem Buch „Der revolutionäre Kampf um den USSD (Ukrainischen unabhängigen freien Staat)“ veröffentlicht: „In den Memoiren bolschewistischer Partisanen wird erwähnt, dass Bul’bas Frau, eine Tschechin, während Bul’ba mit bolschewistischen Partisanen verhandelte, mit dem Kommandeur des bolschewistischen Kommandos Lukin durchgebrannt ist, ihn geheiratet hat und offenbar noch immer mit ihm in der UdSSR lebt …“ Diese Unverfrorenheit und dieser Zynismus von Petro Mirčuk beeindruckten sogar die sowjetischen Mantel-und-Degen-Ritter. Sie nannten diesen „Einfallsreichtum“ des Bandera-Chronisten „schwarzen Humor“. Und zur Verteidigung schrieben sie: „Alexander Lukin, ein Hauptmann der Staatssicherheit, Medvedevs Stellvertreter für Nachrichtendienste, der eine spezielle Gruppe hochqualifizierter Staatssicherheitsoffiziere in der Einheit leitete, bedauert etwas ganz anderes: ‚Was auch immer passiert ist, mehrere tausend junge und gesunde Männer sind mit Ataman Bulba in den Westen gegangen.
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Die Ukraine hat sie für immer verloren. Und natürlich die schöne Czeslawa, die ihn nie verlassen hat.‘“ Ein anderer Bandera-Aktivist und Chronist, Roman Petrenko („Jurko“, „Omel’ko“), fand offenbar Gefallen an Anna Borovec’ Version des Verrats ihres Mannes und beschloss, uns in seinem hohen Alter mit seinen Erkenntnissen zu überraschen: „Bul’bas Frau (eine Tschechin) lebte nicht bis zuletzt mit ihm zusammen [der aufständische Quartiermeister stellte über dem Bett des Atamans die Kerze auf (!?) – I.O.], sie schloss sich der UPA an [geführt von der OUN-B—I.O.] und arbeitete als Krankenschwester in der Hundertschaft „Šavula“, die ein Posten in der Gmina Ludwipol war. In der Emigration gibt es Hinweise von Personen (Frau H.B., die sie persönlich aus Wolhynien kannte und die einige Zeit in der Tschechischen Republik lebte), dass sie die Frau von Bul’ba in der Tschechischen Republik kennengelernt hat. Sie lebte dort unter ihrem Mädchennamen Anna Opochenska.“ Na großartig! Und der arme Bul’ba lebte ganz in der Nähe, jenseits der Grenze, und vor seiner zweiten Heirat mit Olena Kušnir versuchte er, wenigstens ein paar Nachrichten über seine erste Frau zu finden (denn in Deutschland wird Bigamie mit Gefängnis bestraft), fand aber nichts Tröstliches. Aus den Dokumenten, die er gesammelt hatte, ging lediglich hervor, dass sie verstorben war. Es stellt sich heraus, dass der „prinzipientreue“ Chronist die Wahrheit verschwieg, das „Verbrechen“ des Atamans nicht verhinderte und somit selbst ein Verbrechen beging! Aber wie Roman Petrenkos nächsten Worte zeigen, hat sein Gewissen weder wegen der seelischen Verletzung von Bul’ba-Borovec’ noch wegen der Irreführung der Justiz gezittert. Und es ist unwahrscheinlich, dass es angesichts der Geschichte zittern wird, die neue Fakten ans Licht bringt, auch über die Frau des Atamans, die die Erfindungen von ihm und anderen Chronisten widerlegen. Zu den kürzlich in den SBU-Archiven gefundenen und von Volodymyr Serhijčuk, Doktor der Geschichtswissenschaften, veröffentlichten Dokumenten gehört beispielsweise ein Brief von Taras Bul’ba-Borovec’, den er im Namen des UNRA-Hauptkommandos am 24. September 1943 an Banderas OUN-Führung und das
Tschechin von Geburt, aus freien Stücken aber Ukrainerin 155 UPA-Hauptkommando schrieb, als er von Mykola Kruk, einem von Bandera „gefangen genommenen“ UNRA-Oberleutnant, über den Verbleib seiner Frau und eines Teils seines Hauptquartiers erfuhr. Darin heißt es unter anderem: „Ihre ‚Regierung‘ verhält sich nicht wie eine revolutionäre Volksregierung, sondern wie eine gewöhnliche Bande . . . Anstatt wirklich revolutionäre Arbeit in dem Gebiet zu leisten, spielen Ihre Leute arrogant mit der Macht, und eine so genannte Sicherheitskraft schlägt und foltert die Menschen rechts und links. Es ist so weit gekommen, dass junge Leute, die den Befehlen der ‚Behörden‘ folgen, sogar Frauen misshandeln . . . Es ist mir bekannt geworden, dass meine Frau mit Ladestöcken verprügelt wurde, weil sie versucht hat, aus ihrem Gewahrsam zu entkommen.“ Und hier nun, was im Bericht des Agenten vom 8. September 1944 steht: „Im frühen Frühjahr dieses Jahres, als ich in Kotovo im Rajon Aleksandrija war, traf ich dort mit meinem Bekannten aus der „Polis’ka Sič“ einen Einwohner von Rovno namens Vanja (einen jungen Burschen von etwa 20–21), der mir erzählte, dass er in der SB-Miliz des Rajons arbeitet. Als ich nun bei Manja war, erwähnte ich diese Begegnung, und sie erzählte mir, dass Vanja gezwungen war, zu den Banderovcy zu gehen, weil ich ihn nach der Verhaftung von Bul’bas Frau kurz nach der Ermordung eines NKVD-Offiziers gesehen hatte. Vanja trug die Uniform dieses Mannes. Sie töteten ihn in Kozlino. Vanja war in einer Kampfeinheit zur Bewachung von Taras Bul’ba, und während er Bul’bas Frau begleitete, fielen sie alle in die Hände der Banderovcy, von da an blieb er bei ihnen.“ Stepan Moisejec’ sagte über die Gefangennahme der Frau von Bul’ba-Borovec’ durch die Banderaleute am 6. August 1948 Folgendes aus: „Die Frau von Bul’ba wurde, wie ich von anderen Mitgliedern der UNRA-Einheiten weiß, von den „Banderovcy“ im Wald zwischen den Dörfern Trostjanec’ und B.-Styden’ im Bezirk Deražnjans’k getötet.“ Informationen über die Hinrichtung von Anna Opochenska finden sich in der Notiz des Agenten vom 27. Februar 1951: „Bei einem Treffen am 10. Februar 1951 berichtete die Quelle, dass er in den ersten Februartagen dieses Jahres bei einem Spaziergang durch das Dorf Bystriči im Rajon Sosnovsk, Osnickij Efim traf.
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Während sie zusammen unterwegs waren, unterhielten sie sich über die Banditen. Osnickij erklärte, dass man nichts von „Taras Bul’ba“ gehört habe und dass er, falls er noch am Leben sei, nicht hier sei, weil er hier nichts zu tun habe, da seine Familie getötet worden sei. Auf die Frage, woher er das wisse, antwortete er, dass er 1944–1945 in Kostopil’, Gebiet Rivne, gelebt und in einer Fabrik gearbeitet habe, in der Eisenbahnschwellen hergestellt wurden. In der Nähe dieser Fabrik lebte eine polnische Frau, deren Namen, Vornamen und Vatersnamen er nicht kennt und die aus dem Dorf Penkovo im Bezirk Kostopil’ stammte. Sie wurde im Dorf Penkovo, Bezirk Kostopil’, geboren, und ihr Mann war Ukrainer. Letztere sagte, dass 1945 OUN-Banditen in ihre Wohnung kamen und miteinander sprachen. Sie erzählten, wie sie irgendwo die Frau von „Taras Bul’ba“ mit einem Kind festhielten [Borovec’ Frau hatte keine Kinder] und sie beide erhängten, und ein Bandit prahlte damit, dass sich die Frau von „Taras Bul’ba“, als sie erhängt wurde, lange Zeit hängend bewegte und mit den Beinen zuckte. Daraufhin begannen die Räuber zu lachen. Aus welchem Grund die Banditen zu dieser Frau kamen, hat sie nicht erzählt.“ Ich glaube, dass mit jeder weiteren Freigabe von Archivdokumenten mehr und mehr Beweise für das wahre Schicksal der Frau des Atamans auftauchen werden, und dass ihr strahlendes Bild von dem Schlamm der Erfindungen und der Verhöhnung durch die politischen Gegner ihres Mannes befreit werden wird.
Lesja Bondaruk
Das weibliche Gesicht des Norilsker Aufstandes Der größte Aufstand der politischen Gefangenen im GULag dauerte 71 Tage, vom 26. Mai bis zum 4. August 1953. Seine Besonderheit war die aktive Beteiligung der Frauen der 6. Frauenzone, von denen die meisten Ukrainerinnen waren. Als die sowjetische Regierung 1935 von großen Mineralienvorkommen (u.a. Platin und Gold) erfuhr, beschloss sie, auf der Tajmyr-Halbinsel ein Nickelkombinat zu bauen. Für den Bau des Werks wurde das Norilsker Arbeitslager Norilag eingerichtet, das bis 1956 bestand. Der Leiter des Kombinats war gleichzeitig der Leiter des Konzentrationslagers. Hunderttausende von Häftlingen wurden aus der gesamten Sowjetunion hierhergebracht. Mit ihren Händen und ihrer harten Arbeit wurden die Stadt Norilsk und ihre Infrastruktur von Grund auf aufgebaut, und die bis dahin unbewohnte nördliche Region vollständig erschlossen.
Errichtung des Norilsker Kombinats
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Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg die Zahl der wegen politischer Verbrechen verurteilten Gefangenen erheblich an. Mitglieder nationaler Befreiungsbewegungen aus der ganzen Union, ehemalige Kriegsgefangene, Vertreter deportierter Völker und viele andere waren in Konzentrationslagern inhaftiert. Unter ihnen waren 60–80% Ukrainer in mehreren Lagern. Sie gründeten verschiedene Untergrundvereinigungen zur Unterstützung und Selbstverteidigung. Im August 1948 wurde auf der Grundlage von fünf Schwerarbeitszonen in Norilsk ein Sonderlager des Regimes, GorLag [Gebirgslager], eingerichtet, in dem die politischen Häftlinge getrennt von den wegen inländischer Verbrechen Verurteilten untergebracht wurden. Hier herrschten besonders harte Lebens- und Arbeitsbedingungen. „Es herrschte ein sehr strenges Regime, extrem harte Arbeit und unerträgliche Lebensbedingungen. Wir wurden an dem Ort untergebracht, an dem Norilsk später entstand, und lebten in Zelten. Nachts froren unsere Haare an der Plane fest. Gekleidet waren wir mit den Resten von der Front. Die Militärkleidung hatte Löcher von Kugeln und Schrapnellen, getrocknetes Blut. Läuse nagten an uns. Es gab nicht genug Wasser. Wir mussten es aus dem Schnee holen.
Skizzen der Baracken in den Norilsker Lagern
Das weibliche Gesicht des Norilsker Aufstandes 159 Es gab zwei Mahlzeiten pro Tag. Dünne Balanda-Suppe wurde aus Roggenmehl hergestellt, der verfaulte Sprotten zugesetzt wurden. Das Brot, das wir bekamen, war dürftig und mit allerlei Verunreinigungen versehen. Es war gruselig, uns anzusehen. Die Arbeit war Schwerstarbeit, wir arbeiteten 12 Stunden in den Steinbrüchen, und die Frauen bekamen die gleiche Arbeitsnorm wie die Männer. Wir durften nur zwei Briefe pro Jahr nach Hause schreiben. Niemand interessierte sich für unsere Gesundheit, aber auf Schritt und Tritt wurden wir vernachlässigt und hatten Unfälle. Die Leute wurden verrückt. Es ist schwer, das alles zu vergessen, nicht jeder Sträfling konnte solche Bedingungen ertragen“, erinnert sich die politische Gefangene Oksana Kamins’ka-Jurčuk. Sie wurde 1922 im Dorf Ostriv, Rajon Radyvyliv, Gebiet Rivne, geboren, arbeitete als Lehrerin, war Mitglied der OUN, und ihr Bruder kämpfte in der Ukrainischen Aufständischen Armee. Im Jahr 1945 wurde sie von den sowjetischen Behörden zu 15 Jahren GULag verurteilt. Im Frühjahr 1953 gab es 35 Lagerabteilungen und 14 Lagerpunkte des Arbeitslagers in Norilsk sowie 6 Zonen von GorLag. Am 1. Juli 1953 befanden sich 19 545 Gefangene in GorLag, darunter 10 227 Nationalisten, 966 Mitglieder aufständischer Organisationen, 1862 wegen Spionage Verurteilte, 1694 als Geheimagenten Inhaftierte und 1120 Mitglieder „pro-faschistischer Organisationen“ … Im GULag galt die Amnestie nach Stalins Tod im Jahr 1953 nicht für politische Gefangene. Nur diejenigen, die zu 5 Jahren Haft verurteilt worden waren, wurden freigelassen. Im Oktober 1952 wurden über tausend Gefangene aus Kasachstan nach Norilsk gebracht, die meisten von ihnen Ukrainer. Sie konnten die Misshandlungen nicht ertragen und rebellierten. Um die Aktivsten einzuschüchtern, schossen die Lagerwächter gelegentlich auf Menschen. Am Abend des 25. Mai 1953 wurde eine Gruppe ungehorsamer Männer von Zone 4 nach Zone 5 verlegt, und auf dem Weg dorthin feuerte die Eskorte mit einem Maschinengewehr auf die Männer. „Häftlinge aus den Reihen der ukrainischen und litauischen Nationalisten, die den Waffenmissbrauch des Wachfeldwebels Djatlov, der mit einem Maschinengewehr auf eine Gruppe von
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Postkarte vom Norilsker Aufstand
Häftlingen schoss, ausnutzten, organisierten Massensabotage und Ungehorsam der Häftlinge gegenüber der Lagerverwaltung“, schrieben die Ermittler später in einem Bericht an ihre Vorgesetzten. Angesichts dieser Willkür weigerten sich die Männer der Zone 4, die auf der Baustelle arbeiteten, in ihre Baracken zurückzukehren und traten in den Streik. Jevhen Hrycjak ergriff auf der Versammlung das Wort, forderte eine Bestrafung der Misshandlungen und verlangte die Einberufung einer Kommission aus Moskau, die ihre Beschwerden prüfen sollte. 1949 wurde Hrycjak wegen seiner Mitgliedschaft im Jugendnetzwerk der Organisation Ukrainischer Nationalisten zum Tode verurteilt, was später in eine 25-jährige Haftstrafe umgewandelt wurde. Und das, obwohl Hrycjak 1944 in die Rote Armee einberufen wurde, wo er bis zum Sieg über den Nationalsozialismus kämpfte und hohe militärische Auszeichnungen erhielt. Am 26. Mai unterstützten politische Gefangene aus Zone 5 die Aufständischen aus Zone 4. Dies war der Beginn des Norilsker Aufstandes, der den Ungehorsam gegen das gesamte System des sowjetischen Totalitarismus verkörperte. Unsere Landsleute waren seine Inspiratoren, Organisatoren und aktiven Teilnehmer. In diesem Kampf wurden sie von Gefangenen aus den baltischen Staaten, dem Kaukasus und anderen Gebieten aktiv unterstützt. Die Gerüchte über den Häftlingsaufstand verbreiteten sich schnell in Norilsk. Häftlinge aus der einzigen Frauenzone, Zone 6, gingen in der Nähe von Zone 5 zur Arbeit. Männer warfen ihnen aus einer Entfernung von 40–50 Metern Zettel zu, auf denen sie zur Unterstützung des Aufstands aufriefen, und schrien, dass in
Das weibliche Gesicht des Norilsker Aufstandes 161 ihrer Zone Menschen getötet worden seien, und das Kommen der Moskauer Kommission forderten. Junge ukrainische Frauen begannen, in den Baracken herumzugehen und die Frauen davon zu überzeugen, nicht zur Arbeit zu gehen. Am Morgen des 28. Mai stoppten sie einen Arbeitszug, der zur Arbeit fahren wollte, und schickten ihn zurück. „Lesja Zelens’ka stand auf einem Fass und erklärte den Leuten, warum wir rebelliert haben, was wir erreichen wollen und dass wir uns mit den Männerzonen solidarisieren müssen, wo es zu dieser Zeit Schandtaten, Willkür, Misshandlungen und sogar Hinrichtungen von Gefangenen gab. Wir müssen in den Hungerstreik treten, bis die Kommission aus Moskau eintrifft. Es kann 3 Tage dauern, es kann 4 Tage dauern, aber wir werden unser Ziel erreichen, wenn wir uns einig sind. Wir werden nicht zur Arbeit gehen, bis die Kommission eintrifft. Lesja hatte die Gabe, öffentlich zu sprechen. Sie sprach mutig und klar, und es schien, als würde alles, was sie sagte, wahr werden. Lesja beendete ihre Rede unter dem Beifall der Mädchen“, so Stefanija Koval’ in ihren Erinnerungen. Lesja Zelens’ka wurde 1928 in dem Dorf Pustomyty, Rajon Horochiv, Volyn’, geboren. Im Alter von 19 Jahren wurde sie zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie den UPA-Soldaten geholfen hatte. Im Jahr 1952 wurde sie in den Lagern von Karaganda zum Tode verurteilt, weil sie in den Konzentrationslagern Untergrundflugblätter und Karikaturen gedruckt hatte. Eine ganze Woche lang wurde die 19-Jährige in einer Todeskammer mit an die Wände gemalten Kreuzen festgehalten und musste in einem einfachen, mit Sägemehl bedeckten Sarg schlafen. Glücklicherweise wurde die Todesstrafe abgeschafft; und Lesja erhielt weitere 10 Jahre Gefängnis. Fast die gesamte weibliche Schicht blieb in der Zone, und diejenige, die am Abend kam, blieb auch. Der Protest von 3015 Frauen in der GorLag-Zone 6 und ihre Unterstützung für den Aufstand waren zu dieser Zeit ein außergewöhnliches Phänomen im GULag. Entrechtet und erschöpft von harter Arbeit und Krankheit, mit Nummern auf der Kleidung, mit denen die Gefangenen anstelle ihrer Namen angesprochen wurden, wagten sie es, keine Angst zu
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haben. Die Angst, die gefesselt und unterdrückt, getötet und verstümmelt hatte, wurde durch Wut und den Wunsch ersetzt, für die Menschenrechte zu kämpfen. Alida Dauge, eine Litauerin, war die älteste der GorLagAufständischen – 49 Jahre alt. Sie hatte einen Universitätsabschluss. Sie wurde verurteilt, weil sie es versäumt hatte, die sowjetischen Behörden über ihren Mann zu informieren, der während der deutschen Besatzung zum Dienst mobilisiert worden war. Im Lager war Lida [wie sie genannt wurde—L.B.] eine der Vorarbeiterinnen auf dem Bau von Norilsk. Am ersten Tag des Aufstandes kam der Leiter von GorLag, General Semenov, zu ihr und verlangte, dass sie die Mädchen zur Arbeit bringt. Alida weigerte sich. Um die Forderung nach dem Eintreffen einer Kommission aus Moskau zu beschleunigen, traten die Frauen in einen Hungerstreik. Zu dieser Aktion wurde in Flugblättern aufgerufen, die jemand in den Kasernen verteilte. Die Kranken, die Behinderten und die stillenden Mütter konnten essen. Unter unglaublichen Anstrengungen
Hanna Mazepa-Kučma
Das weibliche Gesicht des Norilsker Aufstandes 163 hielten die Frauen den Hungerstreik mehr als 9 Tage lang durch— bis die Kommission eintraf. „Wir forderten Gerechtigkeit und menschliche Behandlung für uns Gefangene, mit dem Ruf ‚Freiheit für die Völker, Freiheit für die Menschen!‘ Sie glaubten den Versprechungen der örtlichen Lagerleitung nicht mehr und verlangten die Einberufung einer Kommission aus Moskau. Ohne den geringsten Widerstand, ohne Beschwerden, nahmen die Häftlinge die Forderungen der Initiatoren des Streiks und des Hungerstreiks freundlich und diszipliniert an. Mit so etwas hatte die Verwaltung der Norilsker Lager nicht gerechnet. Älteren Häftlingen, die am fünften oder sechsten Tag krank waren, wurde vor Hunger schwarz vor Augen, sie waren völlig erschöpft und wurden zwangsweise in die Sanitätsabteilung gebracht, wo sie gefüttert werden sollten, aber niemand wollte ihnen etwas zu essen geben, mit der Begründung, dass sie verhungern würden, bis die Kommission aus Moskau käme. Es gab Mädchen unter uns, die in ein paar Monaten entlassen werden sollten, aber sie verließen uns nicht, gingen nicht aus der Zone, obwohl ihre Vorgesetzten sie mehr als einmal warnten und ermahnten. Es waren Hanja Švec’, Hanja Čubins’ka aus Jaseniv und andere“, erinnerte sich Hanna Mazepa-Kučma. Sie stammte aus der Region L’viv und wurde 1928 geboren. Sie war Lehrerin und wurde 1946 wegen ihrer Mitgliedschaft in der OUN zu 10 Jahren Haft verurteilt. Die Estin Asta Tofri kannte das nautische Alphabet mit Hilfe von Flaggen, weshalb sie ständig auf dem Dach der Kaserne Dienst tat und mit den Männern der Zone 5 sprach. Geboren in Leningrad, wurde sie im Alter von 7 Jahren zur Waise: Ihre Eltern erlagen in den 1930er Jahren Repressionen. Als sie erwachsen war, heiratete sie den Matrosen Radomyr Bondarjev und ging mit ihm nach Sevastopol’. Nach der Denunziation ihres Freundes, der angeblich ins Ausland fliehen wollte und für Japan spionierte, wurde sie verhaftet. Die 22-jährige Asta wurde zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt. Im Gefängnis fand Asta Tofri enge Freundinnen in ihrem Alter: die Ukrainerin Lesja Zelens’ka und die Litauerin Irena Martinkute,
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die wegen der Herausgabe der antisowjetischen Zeitschrift „Golos Litovcja“ in ihrer Schule verurteilt worden war. Die Ukrainerinnen Marija Nič und Nadija Jaskiv waren ebenfalls aktive Teilnehmerinnen am Norilsker Aufstand. Marija wurde 1922 in dem Dorf Poljuchiv in der Region L’viv geboren. Sie besaß einen Universitätsabschluss und studierte in L’viv. Seit 1941 war sie Mitglied der OUN und Bezirksleiterin der OUN in den Bezirken Hlynjans’ke, Krasne und Peremyšljany. Im Dezember 1945 verhaftet, wurde Marija zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt, die in Norilsk begannen. Nadija Jaskiv stammte aus dem Bezirk Žovkiv in der Oblast’ L’viv. Im Untergrund arbeitete sie als Bezirksmitglied der OUN und erfüllte die schwierigsten Aufgaben, die ihr von der UPA übertragen wurden. Die Tschekisten erwischten sie mit Waffen in den Händen. Während der Verhöre wurde sie gefoltert und halb tot mit Seilen an einen Baum gefesselt und sie schossen um sie herum. Sie wurde taub und halbblind. Nadija wurde zu 10 Jahren Haft verurteilt und nach Norilsk geschickt. Im Lager wurde sie als Behinderte nicht zur Arbeit in die Zone geführt und arbeitete als Hilfskraft in der Kantine. Die Verhandlungen zwischen der örtlichen Lagerverwaltung und den politischen Gefangenen blieben erfolglos, so dass am 5. Juni eine Kommission des MGB der UdSSR unter der Leitung von Oberst M. Kuznecov aus Moskau in Norilsk eintraf. Die Kommission bestand aus Generalleutnant A. Sirotkin, Oberst A. Kiselëv, Oberst G. Gromov, Oberst F. Teplov, Oberst V. Michajlov, Oberstleutnant V. Krajuchin, Major A. Bogdanov, Oberst Zverev, dem stellvertretenden Leiter des Innenministeriums der Oblast’ Krasnojarsk, Oberstleutnant Poljenov, dem Leiter der Gefängnisabteilung des Innenministeriums der Oblast’ Krasnojarsk, Generalmajor Carëv, dem stellvertretenden Leiter der Abteilung für Gebirgslager des Innenministeriums, Generalmajor Semënov und Oberstleutnant Duryšin, Kommandant der 78. Abteilung der paramilitärischen Garde des Innenministeriums der UdSSR. Das Treffen mit den Häftlingen fand am 6. Juni in den Lagerabteilungen 5 und 4 statt. Am 7. Juni besuchte die Kommission die Zone 1 und anschließend die Frauenzone 6. Die
Das weibliche Gesicht des Norilsker Aufstandes 165 Aufständischen delegierten ein 9-köpfiges Komitee, um mit den Behörden zu verhandeln. Zum ersten Mal seit vielen Jahren wurden die Gefangenen als menschliche Wesen und nicht als billige, nummerierte Sklavenarbeiter behandelt. Die Frauen stellten Forderungen, auf die sie sich zuvor gemeinsam geeinigt hatten. Darunter waren die wichtigsten: die Einführung von Lohn für Arbeit, die Entfernung der Nummern von der Kleidung und die Rückgabe der Namen, die Erleichterung der Frauenarbeit, das Recht, Briefe nach Hause zu schreiben und Pakete zu erhalten, die Kaserne nachts nicht zu schließen, Besuche bei Verwandten zuzulassen, die Geisteskranken und Behinderten auf das Festland zu bringen, die Fälle der Verurteilten zu überprüfen und die Strafen zu reduzieren, die Schwerarbeit für Frauen zu verringern, Aufhebung der Verbannung nach der Haft, Recht auf Rückkehr zu ihren Familien nach der Entlassung. Angelina Petroščuk-Hačkevyč, die aktivste Teilnehmerin des Aufstandes, sprach ebenfalls während der Verhandlungen. Nach dem Aufstand wurde sie von den Ermittlern als Anführerin der Frauen bezeichnet, die am Norilsker Aufstand teilgenommen
Angelina Petroščuk mit ihrem Mann und ihren Kindern. 1960er Jahre
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hatten. Sie erklärte sich bereit, die Verantwortung für alle zu übernehmen. Angelina wurde am 26. Februar 1925 in dem Dorf Torčyn in Volyn’ geboren. Ihr Vater war Priester im Dorf Ozdeniž, und ihre Brüder kämpften in der UPA. Ab 1943 sammelte sie auch Lebensmittel und leistete den ukrainischen Partisanen auf verschiedene Weise Hilfe. Sie studierte an der Pädagogischen Hochschule in Luc’k und wurde Mitglied einer antisowjetischen Untergrundgruppe, wofür sie 1945 verhaftet und zu 15 Jahren Zwangsarbeit (vor allem Schwerstarbeit) verurteilt wurde. In den Norilsker Konzentrationslagern musste Alina zusammen mit anderen Häftlingen im Hafen von Krasnojarsk, beim Bau des Flugplatzes Nadežda, eines Kanals am Fluss Dudinka und in den Steinbrüchen von Norilsk arbeiten. Nach mehrstündigen emotionalen Verhandlungen zwischen den weiblichen politischen Häftlingen und Mitgliedern der Moskauer Kommission gaben die Behörden einige Zugeständnisse bekannt und versprachen, die Organisatoren des Aufstandes nicht zu bestrafen. Den Gefangenen wurde erlaubt, die Nummern von ihrer Kleidung abzumachen, die Gitterstäbe an den Fenstern der Baracken zu entfernen, einen 9-Stunden-Tag festzulegen, einen Ausgleich für die Arbeitstage einzuführen und Geld an ihre Familien zu schicken und mit ihren Angehörigen zu korrespondieren (ein Brief pro Monat). Was die Abschaffung der Zwangsarbeit und die Aufhebung von 25-jährigen Haftstrafen anbelangt, so hieß es, der Kreml werde darüber entscheiden. Gleichzeitig verlangte die Moskauer Kommission, dass die Gefangenen sofort zur Arbeit gehen sollten. Die Zone 6 nahm sodann ihre Arbeit wieder auf, obwohl der Norilsker Aufstand in anderen Männerlagern weiterging. Eine Woche später brachen die Lagerbehörden ihr Versprechen und verhafteten drei Aktivistinnen des Aufstands in der Frauenzone: die Estin Asta Tofri, die Russin Nina Alchimova (geboren 1922, verurteilt zu 25 Jahren; sie war Vorarbeiterin und meldete den Aufstand bei den Lagerbehörden) und die Ukrainerin Stefanija Koval’ (verurteilt zu 10 Jahren wegen ihrer Teilnahme an
Das weibliche Gesicht des Norilsker Aufstandes 167 der UPA). Die Mädchen wurden bis zu ihrer erneuten Verhandlung in Einzelhaft in der Strafzelle gehalten. Am Tag nach ihrer Verhaftung, dem 26. Juni, trat die Frauenzone in einen neuen Hungerstreik und ging nicht mehr zur Arbeit. Die Gefangenen waren sehr erschöpft, aber sie beteiligten sich erneut aktiv an dem Aufstand. In den Baracken 9 und 10 wurden zwei schwarze Fahnen mit einem roten Streifen in der Mitte aufgehängt, als Symbol der Trauer um die in den Norilsker Lagern verstorbenen Häftlinge. Die Frauen verweigerten sich den Aufrufen der Lagerverwaltung, den Aufstand zu beenden, mit den Worten: „Freiheit oder Tod!“. Keinerlei Überredungskunst zeigte Wirkung. Am 7. Juli beschlossen die Behörden, den Aufstand der Frauen niederzuschlagen. Drei Feuerwehrautos fuhren in die Zone 6 ein, umringt von Soldaten, gefolgt von Militärpersonal. Laut der Litauerin Irena Smetonienė-Martinkutė bildeten die Frauen einen menschlichen Ring und skandierten: „Schießt! Freiheit
Irena Martinkutė
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Frauen der Zone 6, Teilnehmerinnen am Aufstand. 1954
oder Tod!“. „Der Ring befand sich um ein zuvor gegrabenes Loch. Die Konfrontation dauerte die ganze Nacht—die Soldaten trauten sich nicht, die Frauen anzugreifen. Dann setzte die Verwaltung Feuerwehrautos ein. Sie begannen, Wasser in ihre Gesichter und Beine zu spritzen“, sagte I. Smetonienė. „Es wurde ein Befehl gegeben, und eine wilde Gruppe von betrunkenen Schlägern mit Stöcken, Brechstangen und Brettern griff uns an, die wir unbewaffnet waren. Sie schlugen auf uns ein, wo sie nur konnten, und versuchten, unsere Reihen zu durchbrechen. Die Schreie und Rufe der Menge von mehreren tausend Gefangenen konnten den Angriff nicht stoppen, aber sie konnten nichts tun—die Gefangenen blieben standhaft. Feuerwehrautos trafen ein und begannen, uns mit eisigem Wasser unter hohem Druck zu überschütten. Als uns das nicht weiterbrachte, schalteten sie heißes Wasser an. Die Reihen bewegten sich, der Kreis brach. Die wütenden Soldaten hörten nicht auf zu schlagen, zogen uns an Armen, Beinen und Haaren heraus, trampelten mit ihren Stiefeln auf uns herum, zerrissen unsere Kleidung und stießen uns aus der Zone. Und dort, ein paar Dutzend Meter vom Stacheldraht entfernt, mitten in der Tundra, standen rot gedeckte Tische, und an diesen Tischen warteten die ‚Sieger‘ – die Führer des Lagers mit ihren Handlangern und Inoffiziellen Mitarbeitern—auf uns, geschlagen,
Das weibliche Gesicht des Norilsker Aufstandes 169 gefoltert, nass gemacht, gedemütigt. Sie fingen an, uns zu sortieren—wer zur Untersuchung ins Gefängnis und wer zurück in die Zone geschickt werden würde. In dieser Zeit wurde alles in der Zone geglättet, abgewaschen und die Löcher im Stacheldraht wurden geflickt. Unsere Anführer, die den Streik angeführt hatten, wurden ins Gefängnis gebracht, und die Verbliebenen arbeiteten weiter am Aufbau der Stadt“, beschrieb Hanna Mazepa-Kučma das Massaker in ihren Memoiren. Am 7. Juli hätte die Niederschlagung des Widerstands in der Frauenzone 6 den Norilsker Aufstand beenden können, da die politischen Gefangenen aus den Zonen 1, 4 und 5 zuvor niedergeschlagen worden waren. Am längsten dauerte der Aufstand jedoch in der Zone 3. Der Aufstand wurde dort am 4. August 1953 niedergeschlagen, als 7 Fahrzeuge mit bewaffneten Soldaten vorfuhren. Etwa zweihundert Gefangene wurden bei den blutigen Zusammenstößen getötet. Aus allen eroberten Lagerabteilungen wurden 2920 Aktivisten ausgewählt, von denen 45 als Organisatoren verhaftet, 365 inhaftiert und 1500 in das Küstenlager in Magadan verlegt wurden. Die übrigen 1010 Personen wurden in zwei neuen, getrennten Lagern in Norilsk isoliert. Die Aktivisten des Norilsker Aufstandes wurden in das interne Gefängnis des Innenministeriums in Krasnojarsk verlegt. Die Krasnojarsker Abteilung des Innenministeriums war für den Fall „Über einen von außen organisierten antisowjetischen Aufstand“ zuständig. „Der September verging ohne jede Veränderung, und erst am Ende des Monats wurden wir Frauen in Einzelhaft genommen, und die Untersuchung begann. Wir waren uns alle einig, was wir sagen sollten, aber die Ermittler versuchten auf jede Weise herauszufinden, wer der Anstifter oder ‚Drahtzieher‘ war. Wir erzählten ihnen, was wirklich passiert war, aber sie wollten nicht einmal glauben, dass es das grausame stalinistische System war, das die Menschen zu einem solchen Massenungehorsam trieb“, sagt Stefanija Koval’-Nadorožnjak.
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„Neun Mädchen wurden durch den Schlamm und das Wasser über das Lager zum Tor der Zone getrieben, wo bereits ein Lastwagen stand . . . Und sie wurden in ein Gefängnis namens ‚Paškina Derevnja‘ gebracht. Das Gefängnis war überfüllt mit politischen Gefangenen aus allen Lagern in Norilsk. Nachdem sie uns in diesem verdammten Gefängnis gefoltert hatten, verurteilten sie uns. Asta Tofri, Lesja Zelens’ka und Marija Nič. Marija wurden zu 5 Jahren in einem geschlossenen Gefängnis verurteilt, und der Rest von uns bekam weitere 10 Jahre auf die erste Strafe aufgeschlagen“, schrieb Angelina Petroščuk-Hačkevyč in ihren Memoiren. Trotz der Niederschlagung des Norilsker Aufstandes wurde ein Sieg errungen. Es war ein Sieg des Geistes der politischen Gefangenen über den sowjetischen Totalitarismus. Die politischen Forderungen der Gefangenen wurden teilweise erfüllt: 6 Monate später wurde der Sonderrat abgeschafft, die Überprüfung der Fälle politischer Gefangener begann, Ausländer wurden zur Deportation zusammengezogen, Behinderte und andere Personen wurden herausgeholt. Neue Aufstände folgten dem Beispiel des Norilsker Aufstandes: der Vorkuta-Aufstand vom 19. Juli bis 1. August 1953 und der Kengir-Aufstand vom 16. Mai bis 26. Juni 1954 in Kasachstan. Sie zwangen die sowjetischen Behörden schließlich zu einer Reform des GULag, der 1960 aufgelöst wurde. In den nachfolgenden sowjetischen Konzentrationslagern herrschten völlig andere Haftbedingungen und Lebensregeln. 1954 wurde GorLag als Sonderlager des Regimes aufgelöst, und eine Kommission kam nach Norilsk, um die Fälle der politischen Gefangenen zu überprüfen. Während 1953– 1954 nur Wissenschaftler, Partei- und Komsomol-Funktionäre sowie Großunternehmer entlassen wurden, kam 1955–1956 die große Mehrheit der GorLag-Häftlinge frei. Nach dem 20. Parteitag der KPdSU war dieser Prozess abgeschlossen, und das Kombinat Norilsk ging zu einer freien Belegschaft über. Dies war eines der wichtigsten Ergebnisse des Norilsker Aufstandes, da die solide Grundlage des Repressions- und Strafsystems des GULag untergraben wurde: die Sklavenarbeit von
Das weibliche Gesicht des Norilsker Aufstandes 171 Tausenden von Gefangenen, dank derer die UdSSR wirtschaftlich florierte. Viele Frauen, die am Norilsker Aufstand teilgenommen hatten, wurden 1955–1956 entlassen. Einige von ihnen erlebten noch, wie die Ukraine ihre Unabhängigkeit erklärte, und hinterließen Erinnerungen an ihr Leben und ihre Kämpfe. Über jedes Mitglied der Widerstandsbewegung in den sowjetischen Konzentrationslagern ließe sich ein unglaublich interessanter, tragischer Film drehen oder ein Roman schreiben. Am 1. Juli 1990 wurden die sterblichen Überreste der bei der Niederschlagung des Aufstandes Verstorbenen in einem Massengrab auf dem Berg Schmidt bei Norilsk beigesetzt. In der Nähe wurde eine Kapelle gebaut, und die Gedenkgesellschaft errichtete ein Kreuz mit der Inschrift: „Friede ihrer Asche, Ehre dem Namen der unschuldig Unterdrückten, ewiges Gedenken und Trauern um die, die durch den GULag gingen.“
Olena Bondarenko
Die junge Frau, die den GULag überwand In Kyïv verstarb am 19. März 2021 nach Komplikationen infolge einer Coronainfektion die neunzigjährige Ol’ha Bondarenko, Teilnehmerin am Aufstand von Kengir gegen die grausamen Haftbedingungen der Gefangenen, der 1954 in einem der Lager des GULag-Systems ausbrach.
Ol’ha Bondarenko (Ljads’ka) (stehend) mit ihrer Cousine Marusja
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174 Ein Land weiblichen Geschlechts Als ich 5 Jahre alt war, habe ich mich in Luhans’k verlaufen. Wir gingen spazieren, ich hielt die Hand meiner Mutter, und plötzlich war ihre Hand verschwunden, und ich fand mich allein mitten auf der Straße wieder. Offenbar hat meine Mutter mich sofort gefunden. Aber ich erinnere mich für immer an diesen Zustand der Verzweiflung, des Entsetzens, der Einsamkeit, der Hilflosigkeit und der Wehrlosigkeit. Und jetzt ist es wieder aufgetaucht . . . Als meine Mutter auf der Intensivstation lag und ich auf der Normalstation war, durfte ich sie besuchen. Sie war schon immer klein gewesen, aber jetzt sah sie aus wie ein Vogel. Ich streichelte ihr Gesicht, ihre dünnen Hände und sagte: „Meine kleine Mutti . . .“ Mein kleiner, tapferer Vogel. Gott hat dir so viele Talente gegeben. Du hast wunderschön gesungen und gestickt. In der grauen Sowjetzeit waren unsere luxuriösen Kattun- und Stapelkleider, die du genäht hast, ein schöner Anblick. Und wie du gemalt hast! Im Lager begann deine Freundschaft mit den Mädchen aus dem Westen mit Weihnachts- und Osterpostkarten, die du für sie auf ein paar Zettel gemalt hast, die zufällig bei der Durchsuchung gerettet wurden. Vielleicht haben die Kinder oder Enkelkinder von jemandem noch heute diese Postkarten . . . Mein Großvater San’ko (Oleksandr Jakymovyč) hatte eine vierklassige Grundschulbildung und einen Kurs in Buchhaltung. Es heißt, dass er ein sehr guter Buchhalter war. Im Frühjahr 1941 wurde er zur Arbeit nach Krasnodon geschickt und brachte später seine Frau und seine Tochter mit. Im Juni 1942, als die Deutschen bereits im Anmarsch waren, wurde mein Großvater als Herzpatient zum Ausheben von Schützengräben in die „Arbeitsarmee“ gebracht. Seine Frau und seine Tochter kehrten in ihr Heimatdorf Orichivka zurück. Heimlich gab das Mädchen ihrer Mutter (meiner Großmutter) einen Brief für den Jungen mit. In dem Brief ging es um Liebe, um „Ruhm dem lieben Stalin“ und „Tod den Nazi-Invasoren“. So nahmen die Deutschen dem „Junggardisten“ die Freundin weg. Bevor sie den Brief einwerfen konnte, fanden sie ihn und
Die junge Frau, die den GULag überwand 175 kamen zu Mama. Sie schlugen sie, folterten sie, und sie sagte, sie wisse nichts, und das war die Wahrheit. Wie hätte sie von diesem „Gardisten“ wissen können: wo Orichivka und wo Krasnodon lagen . . . Meine Großmutter verbrachte Tage und Nächte bei der Polizei, bis ihr jemand riet, alles herbeizubringen, was sie hatte. Sie kaufte sich für eine Flasche Schnaps und zwei „türkische“ Tücher aus der Mitgift frei. Sie folgte dem Mädchen zu Fuß von Krasnodon nach Orichivka, beide weinten. Am 2. April 1943 kam die SMERSH1, um meine Mutter abzuholen. Sie gaben ihr schnell die berüchtigte „Zehn“ – wie alle, die „überlebten, also kollaborierten“. Im Jahr 1946 wurden sie unerwartet, bereits aus der Zone, nach Moskau, nach Lefortovo, geschickt. Weil der Roman von Oleksandr Fadjejev erschienen war, „Die junge Garde“. Die „Freundinnen Vyrikova und Ljads’ka“ wurden für die Hauptrollen der „Verräter“ ausersehen. (Zinaïda Vyrikova traf sie nach ihrer Rehabilitation. Bis dahin hielten sich die beiden wechselseitig für fiktive Figuren . . . ) Und dann musste der „Prototyp“, frisch aus dem Roman von Fadjejev, an die Figur angepasst werden. Meine Mutter musste gestehen, dass sie . . . „die junge Garde“ verraten hatte. Sie wurde kaum verhört, die „Ermittler“ wussten, dass es nichts zu fragen gab. Sie wurde einfach 3 Jahre lang gefoltert mit einer einzigen Forderung: „Unterschreiben Sie!“. Dann erkrankte sie an einer offenen Form von Tuberkulose. Sie erhielt keine Medikamente. Sterben durfte sie auch nicht. Als sie ihren Kopf gegen die Wand schlug, wurde sie gerettet. Sie sollte den Prozess miterleben. Ein weiteres „Lockmittel“: „Unterschreibe es, du bist so jung, sie werden dich verurteilen, dich in die Zone schicken, ins Krankenhaus, du wirst überleben . . . “ Einmal fragte ich sie, was sie unterschrieben hatte. Meine Mutter sagte: „Ich weiß es nicht . . . Es war ein leeres Blatt . . . “
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Militärischer Nachrichtendienst der Sowjetunion (Anm. d. Übers.).
176 Ein Land weiblichen Geschlechts
Ol’ha Bondarenko (Ljads’ka) in der 8. Klasse
Sie war für die Verhandlung von jemandem mit einem schönen Kleid und hochhackigen Schuhen gekleidet worden. Ihre Zellengenossin sagte: „Das heißt Erschießung, das machen sie immer so . . . “ Sie wurde zu 15 Jahren in strengem Regime verurteilt. Kasachstan. Lager StepLag (Sonderstrafzelle Nr. 4). Das Dorf Jezqazğan, Kengir . . . Sie wurde tatsächlich aus irgendeinem Grund etwas behandelt. Beim Röntgen lernten sie sich kennen—der Häftling und Arzt Ferenc und Ol’ha. Wie viele andere junge Menschen auch schrieben sie sich gegenseitig Briefe. In einem schrieb er, dass er sie liebe und sie gerne zur Frau hätte. Ferenc Várkonyi—seine Mutter hieß Anna Leber—wurde halb deutsch, halb ungarisch geboren, nach der Entlassung wurde er nach Deutschland ausgewiesen, wo er in München lebte und viele Jahre lang bei Radio Free Europe in der ungarischen Ausgabe arbeitete. Er starb im Jahr 1987. Am 16. Mai 1954 begann der Aufstand. Meine zukünftige Mutter und mein zukünftiger Vater waren das erste Paar unter vielen, das heiratete. Sie wurden von einem katholischen Priester, Pater Anton Kujava, getraut, ein UPA-Soldat, Volodymyr Karataš,
Die junge Frau, die den GULag überwand 177 und seine zukünftige Frau, Anna (Nusja) Ljudkevyč, waren Trauzeugen. Zu diesem Zeitpunkt kannte meine Mutter bereits die Wahrheit über das unmenschliche Sowjetregime und über unsere schreckliche, tragische und heldenhafte Geschichte von ihren westlichen Freunden. Dank ihnen wurde sie von einem gejagten Opfer zu einer Ukrainerin. Am 26. Juni, um 3:30 Uhr morgens, fuhren Panzer in die Zone ein. Ukrainische Frauen in bestickten Hemden hielten sich an den Händen und gingen ihnen entgegen, um ihre Freunde zu schützen. Die Panzer begannen, sich auf die Menschen zuzubewegen . . . Wer meine Mutter gepackt und in eine Grube geworfen hat, weiß sie nicht mehr. Es scheint ein Freund meines Vaters gewesen zu sein. Zu diesem Zeitpunkt trug sie mich bereits . . . Die Organisatoren und Anführer wurden erschossen. Mehrere Hundert wurden in ein Gefängnisregime überführt. Mehr als 1000 „besonders aktive“ Personen wurden in einen Zug verladen und einen Tag lang ohne Wasser in der sengenden Sonne festgehalten. Die Toten wurden aus den Waggons geworfen und dort zurückgelassen. Dann setzte sich der Zug in Bewegung. Nach Sibirien. Ins OzerLag. Dort wurde ich geboren. Als ich an Blutarmut litt und in ein Waisenhaus gebracht werden sollte, trat meine Mutter in einen trockenen Hungerstreik. Und sie hat gewonnen. Meine Großeltern durften mich abholen, sie brachten mich von Tajšet nach Orichivka . . . Viele Menschen wussten, dass meine Mutter unschuldig war. Aber es gab keinen einzigen Menschen, der daran glaubte, dass sie rehabilitiert werden würde. „Das ist doch die junge Garde!“ Jahrelang hatte sie sich um Gerechtigkeit bemüht, hartnäckig, beharrlich, ohne zu klagen. Nur nachts in unserer Einzimmerwohnung, als sie dachte, dass ich schlief, flüsterte sie zum Herrn: „Gott, der Barmherzige und Gerechte, hilf mir um meines Kindes willen . . . “ Sie wurde zum KGB gerufen und aufgefordert, damit aufzuhören. Sie drohten damit, „mehr hinzuzufügen, wenn es nicht genug ist“. Für diesen Fall bewahrte sie in Zuckersirup getränkte Kekse in einer Tasche auf.
178 Ein Land weiblichen Geschlechts
Ol’ha Bondarenko (Ljads’ka). 1954
Andrej Sacharov, Elena Bonnėr, Sergej Averincev und viele andere Personen waren an der Rehabilitation meiner Mutter beteiligt. 23. März 1990. „Der Beschluss der Sondersitzung vom 29. Oktober 1949 gegen Ljadskaja Olga Aleksandrovna wurde aufgehoben und das Strafverfahren wurde eingestellt, da sie sich nichts zuschulden kommen ließ. Ljadskaja Olga Aleksandrovna wurde in diesem Fall rehabilitiert.“ Nach 50 Jahren haben die Henker ihr Opfer rehabilitiert . . . Sie litt an Parkinson, was von der schweren Spritzpistole herrührte, mit der sie im „Lokomotiv-Werk“ in Luhans’k Diesellokomotiven lackierte. In den letzten Jahren konnte sie nicht mehr hören und sehen, was sie sehr deprimierte. Denn sie hörte auf, die Welt zu sehen und zu hören, die sie immer geliebt hatte. Das Leben schien alles getan zu haben, um einen Menschen wütend, hasserfüllt und hartherzig zu machen. Meine kleine Mutter aber liebte es, das Leben. Sie liebte die Natur, die Tiere, die Malerei und die Poesie, vor allem—neben der ukrainischen—die japanische. Es gibt Alben mit Reproduktionen von Gemälden, den wieder und wieder gelesenen Kobzar, ihre Lieblingssammlungen von Tanka und Hokkus. Geblieben sind
Die junge Frau, die den GULag überwand 179
Ol’ha Bondarenko (Ljads’ka) mit ihrer Tochter Olena
ihre Aquarelle. Im Stillen, solange sie noch sehen konnte, schrieb sie ihre Erinnerungen auf. Sie träumte davon, in ihre Heimat Orichivka zurückzukehren, und bat darum, in der Nähe ihres Vaters und ihrer Mutter begraben zu werden. Aber der Weg nach Hause hat kein Ende— Russland hat auch unser Heimatdorf okkupiert . . . „Meine Mutter liebte meinen Vater ihr ganzes Leben lang und hat mir diese Liebe auch hinterlassen. Meine Mutter war wahrscheinlich die letzte von den Leuten aus Kengir, die an einem der größten Lageraufstände gegen das Sowjetsystem teilnahm. Ich bin in aller Bescheidenheit all jenen dankbar, die Interviews mit ihr aufgenommen haben und zu ihren Lebzeiten über sie geschrieben und gesprochen haben. Ich danke Pater Jurij Kozovs’kyj, der meiner Mutter in ihrem Kampf half, sie unterstützte und der erste in der Oblast’ Luhans’k war, der über ihr Schicksal schrieb. Jurij Ščekočychin und Nadija Ažgichina. Oleksandr Rjabokrys danke ich für den Film mit meiner Mutter, Halja Dacjuk und Ola Ungurjan für ihre Radiosendungen und Veröffentlichungen sowie Vakhtang Kipiani und Oleksandr Zinčenko für ihre Artikel und Fernsehfilme. Ich danke meiner lieben Schwester Lesja Kokovs’ka-Romančuk für ihren Roman
180 Ein Land weiblichen Geschlechts
Olh’a Bondarenko (Ljads’ka)
‚Ritter der Liebe und der Hoffnung‘, in dem meine Eltern eine der Figuren sind. Ich danke Volodymyr V’jatrovyč für die Ausstellung ‚Triumph des Menschen. Bewohner der Ukraine, die den GULag besiegten‘, in der auch meine Mutter zu sehen ist. Ich danke Dir, Herr, dass Du mir meine Mutter geschenkt hast. Ich verneige mich vor jedem Einzelnen, der uns in all den Tagen und Nächten, in denen meine Familie vom Covid niedergemäht wurde, unterstützt, gebetet, getröstet und uns geholfen hat, wo er nur konnte. Dort, auf der Intensivstation, streichelte ich das Haar und die kleinen Hände meiner Mutter und flehte sie an, mich nicht zu verlassen. 18 Tage lang kämpfte sie. Und dann machte sie das Letzte, was sie auf dieser Welt für mich tat: Sie vermachte mir ihren großen Lebenswillen . . . Jetzt muss ich nach Gottes Willen leben, um von meiner Mutter zu erzählen. Eine junge Frau aus einem kleinen ukrainischen Dorf, die den GULag überwand. Denn wir alle brauchen mehr denn je Liebe und Hoffnung. Geistige Stärke, Mut und Glaube in der Ukraine.
Die junge Frau, die den GULag überwand 181
Olena Bondarenko neben einem Plakat über ihre Mutter
Nachts wird alles still, und das Lied meiner Mutter erklingt leise in unserem leeren Haus: „Oh Hopfen, mein Hopfen, grüner Hopfen . . . “2 Und immer wieder höre ich ihre vertraute Stimme: „Schau nur, Olenka, wie schön die Welt ist!“
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Der Text handelt vom Überwintern und der Wärme, die trotz aller Wolken im Frühling mit dem warmen Herzen eines Mädchens kommt (Anm. d. Übers.).
Oksana Kis’
„Urky“, „Blatni“, „Bytovyčki“ Beziehungen zwischen ukrainischen Frauen, politischen Häftlingen und Straffälligen in den Lagern des GULag Am schärfsten waren die Konflikte zwischen den straffällig gewordenen Häftlingen und den politischen Gefangenen. Erstere verhöhnten die wegen so genannter politischer Vergehen Verurteilten auf jede erdenkliche Art und Weise: Diese wurden gedemütigt, beraubt, körperlich und sexuell misshandelt und gezwungen, an ihrer Stelle zu arbeiten. „Urky“, „Blatni“ oder „Bytovyčki“1 misshandelten mit stillschweigender Duldung der Wächter, Aufseher und Lagerverwalter die weiblichen politischen Häftlinge, die als unterste Gefangenenkaste der „Vaterlandsverräter“ und „Volksfeinde“ galten, körperlich und seelisch. 1929 wurde auf persönlichen Befehl von Josef Stalin eine spezielle Struktur für den Strafvollzug geschaffen—die Hauptdirektion der Lager und Kolonien (GULag). Die GULag-Einrichtungen (insgesamt etwa 30 000 verschiedene Haftorte) waren über die gesamte UdSSR verstreut, wobei sich eine beträchtliche Anzahl von ihnen— mit besonders harten Haftbedingungen—in Sibirien, Zentralasien, den nördlichen Regionen der UdSSR und im Fernen Osten befand. Einigen Schätzungen zufolge belief sich die Gesamtzahl der verfolgten und unterdrückten Bürger, die zwischen den 1920er Jahren und 1953 inhaftiert waren oder deren Freiheit über längere Zeiträume erheblich eingeschränkt war, auf etwa 25–30 Millionen Menschen. Die genaue Zahl der GULag-Opfer ist zwar nicht bekannt, doch einigen Quellen zufolge könnte die Zahl der in den Lagern und Kolonien verstorbenen Menschen bis zu 13,2 Millionen betragen haben.
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Banditen, Gauner, weibliche Klein- und Wirtschaftskriminelle (Anm. d. Übers.).
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184 Ein Land weiblichen Geschlechts In der Periode des „späten Stalinismus“, von 1939 bis 1956, erreichte diese Straf- und Repressionsstruktur sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht ihren Höhepunkt. In dieser Zeit veränderte sich die demografische Zusammensetzung der Gefangenenpopulation in dreierlei Hinsicht erheblich. Erstens nahm der Anteil der Gefangenen zu, die aus so genannten politischen Gründen verurteilt wurden. Zunächst stieg nach dem Anschluss der Westukraine und der Bukowina an die Ukrainische SSR und insbesondere nach der Vertreibung der deutschen Besatzer aus der Ukraine und dem Sieg über Nazideutschland die Zahl der Menschen, die wegen antisowjetischer Aktivitäten (Nationalismus), Kollaboration, Hochverrat und anderer „politischer Verbrechen“ (gemäß Artikel 54 des Strafgesetzbuchs der Ukrainischen SSR von 1934 oder Artikel 58 des Strafgesetzbuchs der RSFSR) inhaftiert wurden, rapide an. Generell wuchs der Anteil der politischen Gefangenen im GULag ab 1939 von 18,6% im Jahr 1938 auf 40,7% im Jahr 1944, und 2 Jahre später machten die aus politischen Gründen Verurteilten bis zu 60% der Gefangenen aus. Gleichzeitig änderte sich die geschlechtsspezifische Zusammensetzung der Gefangenen. Während in den 1930er Jahren der Anteil der Frauen unter den GULag-Häftlingen relativ gering war, änderte sich dieser Anteil in den Kriegs- und Nachkriegsjahren erheblich: Im Jahr 1941 lag der Frauenanteil noch bei 7,6%, im Sommer 1944 dann bei 26% und am 1. Januar 1945 erreichte der Frauenanteil 30,6%. Neben anderen Kategorien verurteilter Frauen (ehemalige Ostarbeiterinnen, Einwohnerinnen aus den besetzten Gebieten usw.) gelangte bei Kriegsende und in den Nachkriegsjahren, als die sowjetischen Strafbehörden eine massive Offensive gegen den ukrainischen nationalistischen Untergrund starteten, eine große Zahl von Mädchen und Frauen in den GULag, die der Kollaboration mit Aufständischen in der Westukraine beschuldigt wurden. Auch die ethnische Zusammensetzung der Häftlinge änderte sich. In den Vorkriegsjahren lag der Anteil der Ukrainer unter den GULag-Häftlingen bei etwa 14%. Zwischen 1944 und 1947 stieg die Zahl der Ukrainer in den Lagern um das 2,4-Fache, und sie
„Urky“, „Blatni“, „Bytovyčki“ 185 bildeten durchweg die zweitgrößte nationale Gruppe unter den GULag-Häftlingen. Am 1. Januar 1951 war einer von fünf GULag-Häftlingen Ukrainer. Unter den Häftlingen machten Ukrainer ein Drittel bis die Hälfte aus, während der Anteil der anderen Nationalitäten im GULag nicht mehr als 4% betrug. Ukrainische politische Gefangene gab es praktisch in jedem Lager, und an einigen Orten war der Anteil der Ukrainer sehr hoch. In StepLag (in der Nähe von Karaganda in Kasachstan) beispielsweise waren im Juni 1954 46,3% aller 16 667 Häftlinge Ukrainer. Die signifikanten Veränderungen in der Zusammensetzung der GULag-Gefangenenpopulation während des Zweiten Weltkrieges und im Nachkriegsjahrzehnt (gleichzeitiger Anstieg des Anteils der politischen Gefangenen, des Anteils der Ukrainer und des Anteils der Frauen) geben somit Anlass, sich auf diesen Zeitraum zu konzentrieren und die Besonderheiten der Erfahrungen der Gefangenschaft ukrainischer weiblicher politischer Gefangener zu untersuchen.
Karte der Gefängnisse in der UdSSR. 1982
186 Ein Land weiblichen Geschlechts
Teilnehmerinnen am Norilsker Aufstand
Eines der größten Probleme für die weiblichen politischen Häftlinge waren diejenigen, die wegen kleiner oder schwerer Straftaten verurteilt worden waren: die so genannten „Urky“ oder „Blatni“, d.h. echte Wiederholungstäter (Diebe, Räuber, Betrüger, Mörder, Vergewaltiger usw.). Unter den Häftlingen gab es relativ wenige von ihnen—im Durchschnitt etwa 15%, und bis 1952 war ihre Zahl auf etwa 5% gesunken. Eine andere Gruppe von Häftlingen, mit denen die „Politischen“ ernsthafte Reibereien hatten, waren die so genannten „Bytovyčky“ – diejenigen, die wegen relativ geringfügiger Vergehen verurteilt wurden (Diebstahl am Arbeitsplatz, Spekulation, Unterschlagung, Verstöße gegen die Arbeitsdisziplin oder die Passvorschriften usw.). Vor allem in den Nachkriegsjahren gab es sehr viel mehr von ihnen—die Hälfte bis zwei Drittel der Häftlinge. Die „Blatni“/„Urky“ waren eine privilegierte Kategorie: Sie arbeiteten selten (oder nie) bei der allgemeinen Arbeit, verlagerten die Erfüllung der „Produktionsnorm“ mit Angst vor Repressalien auf die Schultern anderer politischer Häftlinge und hatten „prestigeträchtige“ Führungspositionen in den Lagern inne (Vorarbeiter, Lagerleiter, Garderobiere usw.), was ihnen zusätzlichen Zugang zu Ressourcen verschaffte. Aufgrund des offensichtlichen Missbrauchs
„Urky“, „Blatni“, „Bytovyčki“ 187 ihrer Positionen und ihrer Macht hatten sie wesentlich bessere Lebensmittel, Kleidung, Lebensbedingungen usw. Unter den Gefangenen gab es die schärfsten Konflikte zwischen den wegen krimineller und wirtschaftlicher Vergehen Verurteilten („Urky“/„Blatni“ und „Bytovyčky“) und den politischen Gefangenen. Erstere misshandelten die wegen so genannter politischer Vergehen Verurteilten auf jede erdenkliche Weise (sie wurden gedemütigt, beraubt, körperlich und sexuell misshandelt und gezwungen, an ihrer Stelle zu arbeiten). Diese weit verbreitete und massive Gewalt spiegelt sich in den Memoiren ukrainischer Gefangener wider. Es ist bezeichnend, dass die meisten Berichte über derartige Vorfälle sehr allgemein gehalten sind und sich darauf beschränken, die Tatsache der Misshandlung, ihre Schwere und ihre Folgen zu erwähnen. Gleichzeitig verbinden sich in einigen Berichten über den Schock des Kontakts mit brutalen „Urky“ und „Bytovyčky“ und über die Erfahrung der von ihnen erlittenen Gewalt Erzählungen über einen gewissen Aufbau von Beziehungen und sogar gewisse Gefälligkeiten. Nahezu jede Erwähnung enthält eine Geschichte darüber, wie „Urky“, „Blatni“ oder „Bytovyčky“ mit stillschweigender Duldung von Wärtern, Aufsehern und Lagerverwaltern weibliche politische Häftlinge, die als unterste Gefangenenkaste von „Vaterlandsverrätern“ und „Volksfeinden“ galten, physisch und psychisch misshandelten. „In den Brigaden gab es neben uns Politgefangenen auch „Bytovyčky“ . . . Diese herzzerreißend schreckliche Bande arbeitete überhaupt nicht, sie unterdrückten uns, verhöhnten uns, beraubten uns und nahmen uns unsere persönlichen Gegenstände und vor allem die Päckchen weg, die unsere Leute von zu Hause erhielten“, schrieb Oleksandra Blavac’ka aus L’viv über die Haltung der Verbrecher gegenüber den politischen Gefangenen in den Lagern. Eine andere ehemalige Gefangene, Oksana Vintoniv, deren Erinnerungen im Archiv of Oral History des KanadischUkrainischen Forschungs- und Dokumentationszentrums in Toronto aufbewahrt werden, beschrieb ausführlich die Situation der „Bytovyčky“ und ihre Haltung gegenüber den „Politischen“:
188 Ein Land weiblichen Geschlechts „Im Jahr 49 wurden wir mit den gewöhnlichen zusammengelegt, und sie verhöhnten die politischen Gefangenen, sie erhielten bessere Arbeit, arbeiteten als Garderobiere, brachten die Leute zur Arbeit, halfen einfach unserer Lagerverwaltung. Sie haben überall die ganze Verwaltungsarbeit gemacht [ . . . ]. Es war sehr schwierig für uns [ . . . ]. Frauen kamen in die Baracken, nahmen sich, was sie wollten, stahlen, und wir mussten schweigen. Sie arbeiteten auch nicht—sie wurden auf Kosten unserer Häftlinge verpflegt, denn die Rationen wurden an alle gleich ausgegeben, und sie arbeiteten eigentlich nicht, hingen herum. Sie hatten entsprechende Spitznamen, sie rauchten, sie haben sich alles erlaubt. Selbst wenn wir ein Buch aus der Bibliothek holten, konnten sie es uns stehlen, es zum Zigarettendrehen verarbeiten, und wir konnten uns nicht einmal bei jemandem über sie beschweren. Wir hatten Angst, dass sie uns schlagen würden, also taten wir, was sie sagten. Denn unsere Mädchen sind nicht in einen solchen Konflikt mit ihnen geraten, um sich zu prügeln, sondern hatten Angst vor ihnen, einfach Angst, also haben sie nachgegeben. Sie konnten uns alles wegessen—in die Kantine gehen und unser Essen nehmen, unser Brot stehlen, sie konnten alles tun, denn sie waren stärker als wir.“ Josyfa Žoldak, deren Zeugenaussage von Marta Havryško aufgezeichnet wurde, erinnerte sich mit Schrecken an ihre Erfahrungen: „Die schlimmsten Leute in den Lagern waren die Blatni. Wenn sie deine Strümpfe wollten, haben sie sie dir weggenommen. Wenn sie deine Rationen wollten, haben sie sie gestohlen. Sie raubten und vergewaltigten uns. Als ich in Vorkuta ankam, sagten mir zwei Blatni, dass sie mich vergewaltigen würden. Ich ging in eine andere Baracke und bat eine Frau, unter ihrer Koje zu schlafen. Sie suchten nach mir, aber sie fanden mich nicht. Die Welt öffnete sich für uns, als die Blatni von uns getrennt wurden.“ Tatsächlich war das Leben der weiblichen politischen Gefangenen bedroht. Oleksandra Blavac’ka erinnerte sich an einen Fall, bei dem die einzige „politische“ ukrainische Frau von den „Bytovyčky“ in ihrer Baracke misshandelt wurde, der damit
„Urky“, „Blatni“, „Bytovyčki“ 189 endete, dass die junge Frau sich das Leben nahm, sie ertränkte sich in einem Brunnen. Was die Politgefangenen beim ersten Treffen mit den „Blatni“-Frauen am meisten schockierte, waren das aufmüpfige Verhalten und die übermäßigen Beschimpfungen in ihrer Sprache. „Das Repertoire ihrer Worte war begrenzt, die Frauen fluchten schlimmer als die Männer, mit mehr Brutalität in der Stimme. Frauen sind brutaler als Männer, sie können dich aus Hass in Stücke reißen. Wütende Frauen sind wie die Elemente, ungezähmt. Es ist seltsam, wenn zwei solche Damen sich gegenseitig die Haare büschelweise ausreißen, sich auf dem Boden wälzen [ . . . ] und nach einer Stunde sitzen sie zusammen auf der Pritsche, essen Zwiebeln und teilen ihre wahrscheinlich gestohlenen Rationen“, schilderte die polnische Gefangene Barbara Skarga ihre Eindrücke in ihren berühmten Memoiren.2 Obwohl sich die meisten Erzählungen auf Klagen darüber beschränken, wie hilflos und wehrlos sich die politischen Häftlinge angesichts der brutalen Gewalt der „Urky“ oder „Bytovyčky“ fühlten, gibt es auch Hinweise darauf, wie solchen Angriffen mit organisiertem Widerstand begegnet wurde. Stefanija Kostjuk erinnerte sich daran, wie sie im Transitgefängnis in L’viv unter „Vytovyčky“ litt: „Unsere Mädchen hatten von zu Hause Essen, Sachen in Taschen, und sie haben alles gestohlen. Also sagte ich:,Lasst uns zurückschlagen‘. Wir stellten uns in einem Ring auf, und sie griffen uns an.“ In den Memoiren von Ivanna Maščak finden wir eine Geschichte darüber, wie im Lager Buchta Vanino in der Nähe des Ochotskischen Meeres die „Blatni“, die mitten in der Nacht einen Raubüberfall auf die Baracke verübten, in der die neu angekommene Gruppe politischer Gefangener aus Galizien untergebracht war, mit einer organisierten Antwort konfrontiert wurden, weil ihre Schwestern sie vor dieser Bedrohung gewarnt hatten. Iryna Matešuk-Hrycyna berichtet von zwei verschiedenen Anlässen (einem in einem Transitgefängnis in Kyïv im Herbst 1949, dem anderen am Transitpunkt Karabas in Kasachstan im Frühjahr
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Barbara Skarga, Po wyzwoleniu, 1944–1956. Instytut literacki, Paris 1985.
190 Ein Land weiblichen Geschlechts 1953), bei denen sich ukrainische Frauen zusammenschlossen und die Angriffe der Kriminellen erfolgreich abwehrten. Marija Pyrih, deren Memoiren im Rahmen des Projekts aufgezeichnet wurden, erinnert sich an einen ähnlichen Vorfall in „Eine lokale Geschichte“: „Sie griffen in unsere Taschen und nahmen unsere Schuhe, unsere besten Pullover, ‚weil ihr in russisches Land gekommen seid‘ . . . Und wir gerieten in einen Kampf mit ihnen . . . Und sie kamen am Abend und [ . . . ] sie stürmten zu unseren Taschen. Und ich sagte, wisst ihr was, lasst uns die Decken nehmen und die Decken auf sie werfen und die Holzscheite nehmen, sie mit irgendetwas schlagen . . . Und sie werden Angst vor uns haben. Und nachdem wir sie verprügelt hatten, hatten sie schon Angst vor uns.“ Obwohl das Thema der Feindschaft zwischen den „Politischen“ und den „Bytynky“/„Urky“/„Blatni“ im Allgemeinen die Memoiren der Frauen dominiert, halten es die ehemaligen Gefangenen dennoch für notwendig, Fälle von Zusammenarbeit
Ukrainische Frauen bei der Arbeit
„Urky“, „Blatni“, „Bytovyčki“ 191 und sogar Unterstützung durch einige Vertreter dieser privilegierten Gruppe von Häftlingen in den Lagern zu erwähnen. In ihren Memoiren erinnert sich Darija Poljuha dankbar an einige glückliche Momente, als sie während ihrer Gefangenschaft mit ihrem Bruder, der ebenfalls in einem benachbarten Lager inhaftiert war, kommunizieren konnte: „Brigadier war eine ‚Bytovyčka‘ namens Svetka. Dank ihr—denn sie hatte Verbindungen zu den freien Mitarbeitern—hatte ich ein Treffen mit meinem Bruder [ . . . ]. Svetka machte ein Geschäft mit dem Wachmann und nahm mich mit, um angeblich Kohle auf die Schubkarre zu schaufeln. In Jevdokija Kotelkos Memoiren über das Osterfest im Lager, für das die ukrainischen Frauen einen improvisierten Altar mit einer Ikone der Gottesmutter gebaut hatten, erinnert sie sich an eine Gruppe von stets eigensinnigen Wiederholungstätern, die jedoch Respekt vor den religiösen Praktiken (Morgen- und Abendgebete) der ukrainischen Frauen hatten. Als die Aufseherinnen versuchten, die ukrainischen Frauen zu zwingen, am Ostermorgen zur Arbeit zu gehen, erklärte sich
Muster der Lagerbekleidung von Gefangenen
192 Ein Land weiblichen Geschlechts die rückfällige Vorarbeiterin Suchoručka bereit, die Arbeit für sie zu übernehmen: „Diese Mädchen gehen nirgendwo hin. Meine Brigade wird zum Ausladen gehen. Wie können wir die Heilige Mutter allein lassen? [ . . . ] Mädchen, ihr singt, singt und betet für uns.“ In den Memoiren von Oleksandra Blavac’ka folgt auf die Geschichte des schrecklichen Missbrauchs einer „Politischen“ durch die „Bytovyčky“ die Geschichte der „Bytovyčka“-Vorarbeiterin Paša, die diese erschöpfte Gefangene in einem Konstruktionsbüro anstellte, was ihr Schicksal als Gefangene tatsächlich veränderte und ihr Überleben sicherte. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass die in diesen Memoiren beschriebenen Episoden weniger reale Ereignisse als vielmehr Wunschdenken widerspiegeln, ist der Versuch der Memoirenschreiber, sich eine Situation der erfolgreichen Konfrontation mit Kriminellen vorzustellen, sehr aufschlussreich. Das Wichtigste an diesen Geschichten ist, dass die Erzählerin den Zusammenhalt und die Entschlossenheit der ukrainischen Frauen hervorhebt.
Oksana Chraščevs’ka
„Urky“, „Blatni“, „Bytovyčki“ 193 Trotz der allgemeinen Abscheu und Verachtung den erwähnten „Bytovyčky“, „Urky“ und „Blatni“ gegenüber, die die Memoiren ukrainischer weiblicher Politgefangener durchzieht, enthalten sie einige Geschichten, in denen versucht wurde, etwas Menschliches in diesen Frauen zu sehen. Manchmal entwickeln sich die Erzählungen über den ersten Schock über die Brutalität und Aggressivität, der diese Frauen in der Gefangenschaft ausgesetzt waren, und den Groll über das erlittene Leid (Raub, Demütigung) später zu Beschreibungen von Fällen, in denen „Urky“ oder „Bytovyčky“ Sympathie für politische Gefangene aufwiesen, ihnen in schwierigen Situationen halfen oder andere respektable Eigenschaften zeigten. Ivanna Maščak, die zunächst die von den „Urky“ in den Lagern begangenen Gräueltaten beschreibt (von der Schikane und der Ausraubung der „Politischen“ bis hin zum Mord, wenn jemand einfach beim Kartenspiel sein Leben verlor), schildert diese kriminelle Welt dann aus einem anderen Blickwinkel. Einmal erschoss ein Wachmann im Lager eine „Urka“: „Die Blatni brachten ihre Leiche sofort in ihre Baracken [ . . . ]. Seltsamerweise trugen diese Wiederholungstäter manchmal ein Kreuzzeichen auf der Brust und verbanden auf ihre Weise Mord, Diebstahl, Stehlen und Fluchen mit dem Glauben an Gott. Sie legten den erschossenen Kameraden (offenbar in gestohlenen Kleidern) beiseite, riefen die ‚Nonnen‘, die den Befehl hatten, die ganze Nacht zu beten [ . . . ], sie kamen zu jedem von uns und baten uns, der Seele des Verstorbenen zu gedenken.“ Barbara Skarga, die über das Lagerkrankenhaus berichtete, bezeugte, dass „eine Krankenschwester-‚Urka‘ ein Segen für das Personal war. Da hat sich niemand getraut, Patienten zu bestehlen, und die ‚Urka‘ hat das lieber in anderen Krankenhausgebäuden getan als in ihrem eigenen.“ Oksana Chraščevs’ka, die als Studentin in Kyïv verhaftet wurde, erinnert sich zunächst mit Abscheu an die schrecklichen, brutalen Beschimpfungen aus dem Mund der „Urky“ in der Untersuchungshaftzelle, wo sie die „Politischen“ offen ausraubten und demütigten.
194 Ein Land weiblichen Geschlechts Doch dann berichtet die Memoirenschreiberin dankbar, wie dieselben „Urky“ aus eigenem Antrieb die Wärterin dreist bestahlen und ihr ein Dokument über ihre Verurteilung aushändigten (die Frau konnte dieses Dokument bis zu ihrer Entlassung behalten). An anderer Stelle wird erzählt, wie in einem Durchgangsgefängnis, in dem alle Gefangenen Hunger litten, der Anführer der „Urky“ das von anderen Gefangenen gestohlene Geld dazu verwendete, im Gefängnisladen Lebensmittel für alle, auch für die „Politischen“, zu kaufen. In denselben Memoiren von Oksana Chraščevs’ka wird auch erzählt, wie die „Blatni“, die sich gegenüber den weiblichen politischen Gefangenen im Güterwaggon auf der Bühne sehr böse verhielten, sich plötzlich als empfänglich für ukrainische Lieder und Gesänge erwiesen. Wenn die ukrainischen Frauen sangen, „ . . . waren auch die Urky von dem Gesang fasziniert. Sie hörten mit angehaltenem Atem zu. Als sie fertig waren, hörten wir von der Gruppe der „Urky“: ‚Singt noch mehr‘, baten sie, ohne zu fluchen [ . . . ]. Die Urky begannen ebenfalls zu singen. Ihre Lieder sind melodramatisch . . . “ Dieselbe Memoirenschreiberin, die als Krankenschwester im Lager arbeitete und sich immer wieder in riskanten Situationen allein mit Verbrechern wiederfand, erinnert sich auch an eine Art ethischen Kodex: „Ich wurde durch das eiserne Gesetz der „Urky“ gerettet—rühre die Ärzte nicht an.“ Der gleiche Kodex prägte die besondere Haltung der „Blatni“ gegenüber Kindern, wie Oleksandra Blavac’ka bezeugen konnte, als sie und mehrere andere frisch entlassene weibliche politische Gefangene mit Kindern im gleichen Waggon wie die Verbrecher ins Exil transportiert wurden: „Sobald Kinder auf dem Gang [des Wagens] erschienen, gaben die Blatni ihnen, was sie konnten, einige ein Stück Zucker, andere ein Stück Keks [ . . . ]. Die Blatni hörten auf zu fluchen. Aber am Abend riefen sie den Wärterkommandanten an, fragten, ob die ‚Engel schon schliefen‘, und als sie eine positive Antwort erhielten, ging es wieder los. Das exquisite Fluchen hielt an bis zum Morgen. Am Morgen, wenn die ‚Engel aufwachten‘, hörte das Fluchen für den ganzen Tag auf“.
„Urky“, „Blatni“, „Bytovyčki“ 195 Es scheint, dass die anfängliche Feindseligkeit gegenüber den „Politischen“ seitens der Indoktrinierten und die Verachtung der politischen Häftlinge gegenüber den Vertretern der kriminellen Welt im Laufe der Kommunikation und des gegenseitigen Kennenlernens allmählich schwächer wurden. Zumindest in einigen Memoiren finden wir eindeutige Hinweise auf ein gewisses Verständnis zwischen den Frauen. Oksana Chraščevs’ka beschrieb ihre Trauer über den Tod eines jungen Kriminellen bei einer Schlägerei mit den Worten: „Urky sind Verbrecher, aber trotzdem Menschen . . . “ Stefanija Kostjuk erinnerte sich an den Moment ihrer Freilassung und fügte hinzu: „Eine Gruppe von Mädchen verabschiedete mich. Unter ihnen befand sich eine ehemalige Soldatin. Sie sagte zum Abschied zu mir: ‚Stefa, du bist zwar ein Bandera-Luder, aber du bist ein eigenständiger Mensch.‘“ Basierend auf dem Buch „Ukrainische Frauen im GULag: Überleben heißt siegen“
Daryna Rohačuk
Aufgerufen vom eigenen Blut. Der Familiengeschichte in den KGB-Archiven nachspüren Diese Familiengeschichte war fast 70 Jahre lang tabu. Und so hätte es auch bleiben können, wenn mich nicht eines Tages der Wunsch, die Wahrheit herauszufinden, in die SBU-Archive geführt hätte, wo das wichtigste Geheimnis im Leben meiner Großmutter Marija Rohačuk verborgen war. 2016 widerfuhr mir etwas Wichtiges. Endlich verstand ich, warum mich die Geschichte der Ukrainischen Aufständischen Armee im Geschichtsunterricht der 11. Klasse so bewegt hatte. Ich wusste, dass der SBU auf den Strafakten des NKVD und des KGB Zugriff hatte. Ich wusste auch, dass die Geschichte meiner Familie väterlicherseits jahrelang von Mysterien und Geheimnissen umhüllt gewesen war. Es war ein Fehler, sich diese Chance entgehen zu lassen, und ich überwand meine heftige Aufregung und wagte einen Blick in die Vergangenheit. Es ist schwer zu beschreiben, wie es sich anfühlt, wenn einem ein Archivar ein Dokument in die Hand drückt, das seit Jahrzehnten unter der Einstufung „streng geheim“ verstaubt. Vor allem, wenn es sich bei diesem Dokument um die Strafakte der eigenen Großmutter handelt. Marija Rohačuk wurde 1926 in der Region Ternopil’, im damals polnischen Dorf Lanivci, in der Familie eines wohlhabenden Bauern namens Mykola Ščerban geboren. Außer ihr hatten die Ščerbans noch die älteren Kinder Ivan und Anastasija. Leider war ihre Mutter Hanna (meine Urgroßmutter) früh verstorben, und es ist fast nichts über sie bekannt. Meine Großmutter war gebildet—sie absolvierte 7 Klassen der Schule, arbeitete als Lehrerin und kümmerte sich nach dem Tod ihrer Mutter um den Haushalt. Im November 1948 heiratete sie im 197
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bereits sowjetischen Lanivci meinen Großvater, einen Rotarmisten und Vorsitzenden des Dorfklubs, Mychajlo Rohačuk. Doch innerhalb von 3 Monaten wurde das Eheleben der beiden unterbrochen. Die 23-jährige Marija wurde von einer Spezialeinheit des NKVD verhaftet. Die Familie wusste nur wenig über die Gründe für die Verhaftung meiner Großmutter. Mein Vater hörte, dass es irgendwie mit der UPA zusammenhing und dass man sie in den ersten Tagen ihrer Inhaftierung erschießen wollte, aber man „gnädig“ war und sie zu 25 Jahren Sibirien verurteilte. Die Schwester ihres Vaters, Hanna, die als einziges der vier Kinder ihrer Großmutter im Haus ihrer Eltern in Lanivci lebte, erzählte ein wenig mehr. Sie wusste, dass ihre Großmutter wegen einiger Briefe verhaftet wurde, die entweder in ihrem Haus oder in einem Versteck gefunden wurden. Aber Tante Hanna hatte nie einen dieser Briefe gesehen, und sie hatte keine Ahnung, was sie enthielten. Erst 70 Jahre später enthüllte der „Strafsache Nr. 12712-P“ der Familie endlich die tragische Geschichte von Marija Rohačuk, über die sie ihr ganzes Leben lang geschwiegen hatte. Die Strafakte umfasst etwa 100 Seiten. Das Erste, was ins Auge fällt, ist die akribische Bürokratie des sowjetischen Strafapparats: Der Inhalt der Akte ist detailliert beschrieben, die Titel der Dokumente sind aufgelistet, und es gibt eine Nummerierung. Alles ist sehr klar, spezifisch und … gruselig. Was Marija Rohačuk seitens der sowjetischen Behörden vorgeworfen wurde, erklärt der Haftbefehl: „Im Frühjahr 1947 ging Rohačuk eine kriminelle Beziehung mit einem Mitglied der UPA-Bande, Bogdan Ivanovič Prjima, Spitzname ‚Oleg‘, ein und informierte ihn systematisch schriftlich über die Situation im Dorf, d.h., sie war eine Informantin.“ Der Name des Aufständischen Bohdan Ivanovyč Prjima war mir und meiner Familie nicht bekannt. Doch dann fügte sich alles zusammen. Laut dem Fragebogen der Verhafteten wurde Marija Rohačuk am 13. Februar 1949 verhaftet. Einige Tage später durchsuchten die „Operativen“ der Bezirksabteilung Skala-Podil’s’kyj des MGB das
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Strafsache Nr. 12712-P von Rogatsčuk Maria Mykolaivna
Meine Großmutter Marija Mykolaïvna Rohatsčuk
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Großmutter Marija und Großvater Mychajlo
Haus des jungen Paares und das Haus meines Urgroßvaters Mykola Ščerban, wo sie einen interessanten Fund machten: „Handschrift, beginnend mit „30 / III, 48. Lb. Marijka! Danke …“, endend mit den Worten „sehr dankbar B.“. Es scheint sich bei der „Handschrift“ um einen Brief des Aufständischen Bohdan Prjima an Großmutter Marija zu handeln, der aus irgendeinem Grund im Haus ihrer Eltern aufbewahrt wurde. Mit zitternden Händen begann ich, die Dokumente durchzublättern, und traute meinen Augen nicht, als ich auf einen Umschlag stieß, der auf den Deckel der Akte geklebt war. Er enthielt mehrere verbrannte Blätter, die sich als Briefe von Marija Rohačuk und dem Aufständischen Bohdan „Oleh“ Prjima herausstellten. Als ich diese Briefe las, brach ich im Archiv in Tränen aus. Besonders als das Foto meiner Großmutter aus einem der Briefe herausfiel … Es war kaum zu glauben, dass diese Blätter von ihrer Hand geschrieben waren. Wie sich herausstellte, enthielten sie das Geheimnis ihrer Verhaftung. Die Briefe von Marija an Bohdan Prjima stammen aus der Zeit von April 1947 bis März 1948 (sie war damals noch ledig).
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Ein Fragment der Korrespondenz zwischen Marija Rohačuk und dem Aufständischen „Oleh“ Prjima
Die Briefe sind nicht rein informativ, sondern ähneln eher einem Gespräch zwischen zwei engen Freunden. Marija schreibt „Lieber Bohdan“ oder „Lieber Oleh“ und beginnt „Du“ immer mit einem Großbuchstaben. In ihren Briefen berichtete die Großmutter vom Stand der Dinge in Lanivci. Insbesondere über die Ereignisse in der Schule und im Dorfrat, über die Arbeit mit den Pionieren, darüber, welche Dorfbewohner mit den repressiven Behörden kommunizierten, und warnte sogar vor der Ankunft von Truppen im Dorf, um mit den „Banditen“ der UPA aufzuräumen.
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Foto von Marija Rohačuk, aufgefunden in der Strafsache № 12712-П
Daraufhin schickte Bohdan Prjima Großmutter Literatur, Lieder und Gesänge. Es scheint, dass er ein sehr intelligenter und kultivierter Mann war und ein Talent zum Schreiben hatte: „24. III. – 1948 Lb. Bohdan! Vielen Dank für Deine Antwort, Deine Lieder und Deine Literatur, die für mich sehr interessant sind. Ich werde die Sammlung deiner Gedanken verstecken und versuchen, sie für dich aufzubewahren.“ Leider ist nur ein Brief von Bohdan Prjima erhalten geblieben, datiert vom 30. März 1948. Darin schrieb er: „ . . . Ich werde Dir jedes Mal Lieder schicken. Aus irgendeinem Grund ist mir der Stern meinem Herzen sehr nahe, diese Zärtlichkeit, die ich noch nicht erlebt habe, außer im Lied. Vielleicht bist Du damit nicht glücklich, denn Du musst handeln, und hier ist nur ein Lied . . . “ In der Tat enthält der Brief sein Lied. Es ist sehr einfach, aber gleichzeitig so romantisch, tragisch und aufrichtig . . . Seine Worte sprechen für sich selbst. Bohdan Prjima bemerkt, dass die letzten beiden Zeilen jeder Strophe zweimal gesungen werden, und fügt hinzu:
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Ein Brief von Bohdan Prjima an Marija Rohačuk vom 30. März 1948
„Es tut mir leid, dass ich Dir nicht sogleich mit den Worten die Melodie mitsenden kann, das ist schwierig: Ich will glauben, und ich glaube, dass der allmächtige Gott hilft, wenn ich sie lernen will, dann werde ich ihre Melodien nie vergessen, und ich werde sie Dir zur rechten Zeit in Erinnerung bringen.“ Marija und Bohdan schrieben einander hauptsächlich über persönliche Angelegenheiten. Es ist klar, dass ihre Beziehung nicht einfach war. Bohdan war gekränkt, als Marija lange Zeit nicht schrieb, und machte sich Sorgen, dass er kein Interesse bei ihr weckte und ihr zur Last fiel. Umgekehrt bat ihn Großmutter, nicht
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Meine Großmutter Marija Rohačuk
böse zu sein, und versicherte ihm, dass sie mit ihm in Harmonie leben wolle. Eine ihrer rührendsten Botschaften stammt vom 8. Juli 1947: „Lieber Bohdan! Als ich die traurige und unerwartete Nachricht über Deinen Gesundheitszustand hörte, wurde mein Herz von einem schweren Schmerz erfasst. Meine Augen füllten sich mit Tränen, als ich diese letzten Worte von meinem engsten Freund und Gefährten las . . . Ich glaubte selber nicht, dass es möglich wäre, und dass ich nicht mehr mit Dir in dieser Welt zusammentreffen kann.“ Aus demselben Brief geht hervor, dass Bohdan und der ältere Bruder seiner Großmutter, Ivan, der ebenfalls Soldat der Roten Armee war, von der Beziehung wussten: „Ich grüße Dich, und Ivan grüßt Dich, wir wünschen Dir, dass Du so schnell wie möglich wieder gesund wirst und mit uns bessere und freiere Zeiten erlebst, dass Du ein glückliches und freudvolles Leben in Deiner freien Ukraine führst, die wir noch nicht gesehen haben, die wir uns aber vorstellen können.“
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Das Ehepaar Marija und Mychajlo Rohačuk und mein Urgroßvater Mykola Ščerban
Doch leider war es dem UPA-Kämpfer Bohdan Prjima nicht vergönnt, die freie Ukraine zu erleben. In der Strafakte der Großmutter heißt es, dass NKVDisten im Oktober 1948 das Versteck der UPA-Verbindungsoffizierin Justyna Stasjuk stürmten, über die Marija und Bohdan korrespondiert hatten. Das Versteck befand sich im Keller des Hauses der Stasjuks in Lanivci.
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Vernehmungsbericht von Ivan Ščerban vom 17. Februar 1949
Vernehmungsbericht von Marija Rohačuk vom 14. Februar 1949
Aufgerufen vom eigenen Blut 207 „1. Stasjuk Justinija Jakovlevna, geboren 1915 […], bei der Entdeckung ihres ‚Verstecks‘ im Jahr 1948 ist sie geflohen und ihr Aufenthaltsort ist derzeit unbekannt. 2. Prjima Bogdan Ivanovič, geboren 1920 […], 1944 schloss er sich der UPA-Bande unter dem Spitznamen ‚Oleg‘ an. Er operierte in dem Dorf Lanovcy.“ Zur gleichen Zeit fand ich in der Studie des Publizisten Bohdan Savka „Die Letzten auf dem Feld des Ruhms (Aus der Geschichte des nationalen Befreiungskampfes der späten 40er und frühen 50er Jahre im Bezirk Čortkiv der OUN)“ tragische Informationen: Die UPA-Mitglieder Bohdan Prjima und Justyna Stasjuk starben 1949– 1950 im Kampf oder durch Selbstmord. Was meine Großmutter betrifft, so stellte sich heraus, dass ihr Briefwechsel mit den Aufständischen für sie tödlich war. Bei der Erstürmung des Verstecks in Lanivci fanden die NKVD-Offiziere ihre Briefe an Bohdan und verurteilten sie, die bereits verheiratet war, zu einer Gefängnisstrafe—eine schreckliche Ironie. Marija Rohačuk wurde fast einen Monat lang mit Verhören gequält. Die Berichte darüber zu lesen ist unerträglich schmerzhaft . . . Hier nur ein kleines, aber wortreiches Detail: „Das Verhör begann um 12:00 Uhr und endete um -.-“ Nach den Verhören zu urteilen, könnte Marija ihre Aussage über Nacht plötzlich geändert haben. Es ist beängstigend, sich vorzustellen, warum . . . „1949, 13. Februar Frage: Welche Mitglieder der OUN-UPA-Bande kennen Sie? Antwort: Ich kenne keines der Mitglieder der OUN-UPA-Bande. 1949, 14. Februar Frage: Die Untersuchung verlangt, dass Sie die Wahrheit darüber sagen, wann und unter welchen Umständen Sie Kontakt mit dem Banditen ‚Oleg‘ aufgenommen haben? Antwort: Ich gestehe, dass ich bei der letzten Vernehmung versucht habe, die Ermittlungen zu täuschen und . . . “ Schließlich gestand Marija Rohačuk, dass sie seit 1945 in Kontakt mit der OUN stand. Zunächst las sie nationalistische Literatur über den Untergrund, und im Frühjahr 1947 traf sie
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sich mit dem „Banditen“ Bohdan Prjima, für den sie als Informantin arbeitete. Meine Großmutter hat jedoch nicht alle Mitglieder der OUN-UPA genannt, die sie kannte. Sie sagte: „Wie sollte ich auf die Straße gehen, wenn ich so viele Seelen verkaufte . . . “, erinnerte sich Tante Hanna später. Auch die Verwandten meiner Großmutter wurden verhört. Insbesondere mein Urgroßvater Mykola Ščerban, der, wie sich herausstellte, mehr als 30 Jahre lang Mitglied von „Prosvita“ war, sagte aus, dass der Aufständische Bohdan Prjima bei ihm zu Hause gewesen sei, aber nur einmal: „ . . . überdurchschnittlich groß, durchschnittliche Statur, schlank, rundliches Gesicht, dunkles Gesicht, schwarze Haare, gerade Nase, gerader Gang. Er trug einen schwarzen Mantel.“ Es scheint, dass der ältere Bruder der Großmutter, Ivan, zu einer Aussage gezwungen werden musste. „Frage: Wer von den Bewohnern des Dorfes Lanovci, die sich in einer illegalen Lage befanden, hat in Ihrer Wohnung in den Jahren 1947-48 gewohnt?
Großmutters älterer Bruder Ivan Ščerban (links)
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Großmutter Marija (obere Reihe Mitte) während der Verschickung. Magadan
Antwort: Von den Bewohnern des Dorfes Lanivci hat keiner, der sich in einer illegalen Lage befand, jemals meine Wohnung besucht. Frage: Wann hat sich die illegale Justina Stasjuk in Ihrer Wohnung einquartiert? Die Ermittlung verlangt von Ihnen, dass Sie wahrheitsgemäß aussagen. Antwort: Ja, ich habe den Ermittlern die Unwahrheit gesagt, und da ich sehe, dass weiterer Widerstand zwecklos ist, werde ich wahrheitsgemäß aussagen . . . “ Anfangs wollten sie Marija Rohačuk erschießen. Die ersten 6 Tage ihrer Verhaftung verbrachte sie in Einzelhaft, dann wurde sie in eine Gemeinschaftszelle verlegt. Hier erlitt sie einen neuen Schicksalsschlag—ihr geliebter älterer Bruder Ivan starb . . . Ihre Zellengenossinnen erzählten ihr, dass Ivan, als er seiner Schwester ein Brot und eine Flasche Milch geben wollte, von den Gefangenen schwer geschlagen wurde. Er kämpfte eine Zeit lang um sein Leben, aber die Schläge erwiesen sich als tödlich. Er hinterließ eine schwangere Frau, die aufgrund des Erlebten leider ihr Kind verlor . . .
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Marija Rohačuk (dritte Reihe, rechts) und ihre Freunde in der Verbannung. Magadan
So „menschlich“ und „friedlich“ war die sowjetische Regierung . . . Nach fast einmonatigen Ermittlungen wurde Marija Rohačuk schließlich zu 25 Jahren Verbannung in Magadan sowie 5 Jahren Entzug der Bürgerrechte und Beschlagnahme des Eigentums verurteilt. Trotz der Kassation und zahlreicher Einsprüche von meinem trauernden Urgroßvater, der zu diesem Zeitpunkt bereits 68 Jahre alt war, blieben die „gerechten“ sowjetischen Behörden unnachgiebig. Man weiß, dass Marija im Gebiet Chabarovsk unter unmenschlichen Bedingungen in Steinbrüchen arbeitete und später Vorarbeiterin eines Bautrupps wurde. Sie hatte viele Freunde in der Verbannung. Ihnen widmete sie die folgenden Worte, die auf der Rückseite eines ihrer Fotos
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Marija und Mychailo Rohačuk mit ihren Kindern Myroslav, Ivan, Hanna und Volodymyr
zu sehen sind: „Freunde erkennt man nicht im lauten Gespräch, Freunde erkennt man mit der Zeit, wenn Kummer kommt und Tränen fließen, der ist Freund, der mit dir weint. Sich an die harten Tage in der Gefangenschaft erinnert.“ Glücklicherweise konnte Oma Marija dank des Chruš čëv’schen Tauwetters im Sommer 1955 früher als geplant nach Hause zurückkehren. Ihr Vater Mykola Ščerban und ihr Mann Mychajlo Rohačuk, mit dem sie später vier Kinder hatte, warteten in Lanivci auf sie. 1991 wurde meine Großmutter rehabilitiert, und sie lächelte glücklich, als das Lenin-Denkmal im Dorf abgebaut wurde. Ich bin sehr froh, dass meine Großmutter nach all dem Leid die freie Ukraine gesehen hat. Die Zeit bringt immer alles an seinen Platz, und endlich, nach fast 70 Jahren, wird die Welt wissen, dass eine einfache Dorflehrerin, Marija Rohačuk, in ihr lebte und ihren wertvollsten Besitzt für die Ukraine aufgab—Freunde, Freiheit, Gesundheit und Zeit. Ich bin überzeugt, dass ihr Leiden, wie das von Hunderttausenden anderer Menschen, nicht umsonst war. Und
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heute muss jeder von uns die Arbeit unserer Vorfahren fortsetzen und für die glückliche Ukraine kämpfen, von der sie träumten. Großmutter, ich bin unheimlich stolz auf dich! Und ich danke dir und dem heldenhaft gefallenen Aufständischen Bohdan Prjima im Namen unserer ganzen Familie.
Oleksandr Zinčenko
„Die Stunde des Papageis“: Zofia Bartnickas große Liebe Im April und Mai 1940 erschoss der NKVD Zehntausende unschuldiger Menschen ohne Gerichtsverfahren. Auch polnische Kriegsgefangene gerieten in sowjetische Gefangenschaft, weil sich Stalin im September 1939 auf die Seite Hitlers geschlagen und die unabhängige polnische Republik gemeinsam mit den Nazis besiegt hatte. Oleksandr Zinčenko, der Autor von „Die Stunde des Papageis“, hat zusammen mit Mitarbeitern des Fernsehsenders „Inter“ anderthalb Dutzend Interviews in Polen mit Angehörigen von Polen aufgenommen, die beim Massaker von Katyn in der Nähe von Charkiv und Smolensk ums Leben kamen oder überlebten: Mit dem Regisseur Andrzej Wajda, dessen Vater in Charkiv liegt; mit Professor Rieger; mit den Nachkommen von Professor Swianiewicz, der wie durch ein Wunder Katyn überlebt hat; mit der 102-jährigen Zofia Bartnicka, der Witwe von Zygmunt Bartnicki, einem mobilisierten polnischen Offizier (von Beruf Agronom), der in Charkiv getötet wurde. 70 Jahre später erinnerte sich Frau Bartnicka an die letzten Gerüchte aus der UdSSR, aus dem Osten der Ukraine, über das Schicksal ihres Mannes: „Der Bruder meines Mannes hatte einmal—ich weiß nicht, wann—Kontakt zu einigen Militärs dort. Ihm wurde gesagt: „Er ist nicht unter den Lebenden. Man darf einfach nicht darüber sprechen.“ Der ehemalige Agrarwissenschaftler, Reserveleutnant Zygmunt Bartnicki verschwand. 50 Jahre lang war es unmöglich, darüber zu sprechen, was mit ihm geschehen war. Einige Wochen vor diesem Tag verschwendete ich viel Zeit und noch mehr Geld unseres Senders mit internationalen Anrufen, um sie dazu zu bringen, diesem Interview zuzustimmen. Unser Filmteam strömte in einer lärmenden Menschenmenge in ihre rustikale, helle Wohnung in Łódź, Polen. Ein paar Minuten
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214 Ein Land weiblichen Geschlechts
Zofia Bartnicka beobachtet in aller Ruhe die Vorbereitungen unseres Filmteams. Februar 2009.
später kam sie zu uns heraus. Frau Bartnicka setzte sich auf das Sofa und betrachtete interessiert unsere umständlichen Vorbereitungen. Aber es lief nicht alles gut. Zuerst war der Ton ein bisschen daneben. Die zuverlässigen Ansteckmikrofone nahmen normalerweise gut auf, produzierten aber einen fehlerhaften Ton. Dann war die Kamera an der Reihe und vollführte ihre eigenen Macken. Schließlich begannen wir zu filmen. Aber: „Kamera Stopp!“ Wieder einmal rauschte es in den Kontrolllautsprechern, als hätte sich ein Bienenschwarm irgendwo in den Mikrophonschaltungen unserer Ausrüstung eingenistet. Ich war ein wenig beunruhigt. Und vielleicht war ich nicht der Einzige. Fast unsere gesamte Gruppe war beunruhigt, und das übertrug sich irgendwie auf die Geräte. Frau Bartnicka betrachtete all dies mit unerschütterlicher Ruhe. Ihr ganzes Auftreten zeugte von der Güte ihrer polnischen Vorkriegserziehung. Diese Frau erinnerte sich gut an den Tag, an dem die Königin von England geboren wurde, an den Tag, an dem die Zweite
„Die Stunde des Papageis“ 215
Zofia Bartnicka. Standbild aus dem Film „Katyn. Briefe aus dem Paradies“. 2011
Polnische Republik ausgerufen wurde, und an viele andere Dinge, mehr oder weniger wichtige. Ein paar Monate vor unserer Ankunft feierte Zofia ihren 101. Geburtstag. Und alles, was für uns Geschichte war, war einfach ihr Leben. Wir waren also besorgt. Wir hatten große Angst, dass sie ihre eigenen Erinnerungen nicht ertragen könnte. Wir mussten sie fragen, wie ihr Mann verschwunden war. Im Flur sah ich, dass unsere freundliche Gastgeberin umsichtig den Hörer von der Sprechanlage abgenommen hatte, damit, Gott bewahre, nicht jemand Unerwartetes unser Gespräch durch Klingeln an der Tür unterbrechen würde. Ich legte den Hörer automatisch wieder auf die Basis. Der „Bienenschwarm“ in unserer Anlage verschwand augenblicklich. Heureka! „Motor!“ „Zohna, weil ich Zofia bin. Und er hat mich Zohna genannt. Aber nicht wirklich! Nein, er war normalerweise nicht zu sensibel,
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Zofia und Zygmunt Bartnicki mit ihrer Tochter Halyna. Vorkriegsfoto
sentimental! Obwohl . . . Er kam einmal zu mir. Wir haben uns hingesetzt. Wir haben uns unterhalten. Plötzlich herrschte einen Moment lang absolute Stille. Er sagte: „Ich möchte der Dame etwas sagen“ (als sie sich daran erinnerte, kicherte Zofia leise). Ich sagte zu ihm: „Ich höre!“ Und er kniete vor mir nieder und sagte: „Ich liebe Pani, ich bitte darum, dass Pani meine Frau wird!“ Auf Knien! Das hat mich so geärgert, weil er mich damit wirklich überrumpelt hat. Ich war so genervt von diesem Knien, dass ich dachte, es sei eine Art Komödie!
„Die Stunde des Papageis“ 217 Zwei Wochen später kam er und brachte einen Brief und sagte, er habe ihn von zu Hause erhalten und alle seien sehr glücklich, dass er eine Braut habe. Ich sagte ihm, er solle warten, und er hatte geschrieben, er habe bereits eine Braut! Er war so schnell in allen seinen Angelegenheiten. Danach verliebte ich mich in ihn. Es war nicht die Art von Liebe, die man im Kino sieht – „oh-ach“. Es war eine so ruhige, sogar ein bisschen unterhaltsame Liebe. Und deshalb war mein Leben mit ihm auch ruhig. Es war gut. Es war gut. Aber . . . der Krieg hat alles zerstört! Irgendwann Anfang Dezember 1939 erhielt ich eine Postkarte von meinem Mann aus Starobil’s’k. Auf dieser Postkarte schrieb er, dass er gesund sei, dass er sich gut fühle, dass er schreiben könne, und zählte die Offiziere auf, die er dort getroffen hatte. 1940, in den ersten Apriltagen, erhielt ich einen Brief mit Osterwünschen, und der Vater meines Mannes erhielt denselben Brief. Und seither habe ich nichts mehr von ihm gehört.“ Und 70 Jahre später erinnerte sich Frau Bartnicka an die letzten Gerüchte, die aus der UdSSR, aus dem äußersten Osten der Ukraine, über das Schicksal ihres Mannes zu ihr drangen: „Der Bruder meines Mannes hatte einmal—ich weiß nicht, wann—Kontakt zu einigen Militärs dort. Einer von ihnen besuchte sogar meinen Bruder. Und eines Tages erfuhr er von ihm, dass mein Mann geschrieben hatte, dass er in Starobil’s’k sei. Da sagte er dem Bruder: ‚Er ist nicht mehr unter den Lebenden. Wir können aber nicht darüber sprechen‘.“ Ich [Oleksandr Zinčenko] kam zum ersten Mal an die Grabstätte, nachdem die Gedenkstätte [Mahnmal für die Opfer des Totalitarismus in Charkiv] errichtet worden war. Aber der Abstand zwischen den Gräbern verrät noch immer die „Kurve“ und die Ausmaße des Lastwagens. Hier, im Wald, machte er einen großen Bogen. Die Leichen wurden von der Seite in die Gräber geworfen: 3810 Polen, etwa 9000 Ukrainer, Russen und Juden. „Ausgehend von der Tatsache, dass sie alle hartgesottene, unverbesserliche Feinde des sowjetischen Regimes sind, hält es der NKVD der UdSSR für notwendig, die Fälle der 14
218 Ein Land weiblichen Geschlechts 700 ehemaligen polnischen Offiziere, Beamten, Gutsbesitzer, Polizisten, Geheimdienstler, Gendarmen, Einsitzenden und Gefängnismitarbeitern in den Kriegsgefangenenlagern sowie die Fälle von 11 000 Verhafteten und Gefangenen in den westlichen Regionen der Ukraine und Weißrusslands [ . . . ] in besonderer Weise zu behandeln, wobei die höchste Form der Bestrafung—die Hinrichtung—anzuwenden ist“ – dieses Dokument wird Stalin mit schwungvollem blauem Stift unterschreiben. Es wird dann fast wörtlich in das Protokoll Nr. 13 des Politbüros des Zentralkomitees der KPdSU vom 5. März 1940 übernommen. Stalin würde am selben Tag sterben, genau 13 Jahre später. Manch einer wird dies als Zufall, manch einer als Fluch betrachten . . . In Charkiv fand man unter anderem ein hölzernes Zigarettenetui. Es trug eine Aufschrift: „Für meine liebste Zohna. Ich liebe und vermisse dich.“ Ich habe keinen Grund anzunehmen, dass diese Beschriftung von Zygmunt Bartnicki in seinen letzten Tagen stammt. Aber ich möchte es wirklich glauben. Und ich glaube, es ist wahr. Immerhin hat die liebste Zohna 102 Jahre lang mit dieser Liebe gelebt. Und blieb ihm all diese Jahre treu.
Jurij Zajcev
Nina Strokata-Karavans’ka. Tochter des ukrainischen Odesa Die Geschichte einer Frau aus Odesa, einer Ärztin, einer politischen Gefangenen und der Frau eines politischen Gefangenen, entspricht nicht dem stereotypen Bild der Stadt am Schwarzen Meer. Es ist jedoch diesen Menschen zu verdanken, dass die Russifizierung und die kommunistische Unterdrückung den starken Strom der Ukrainer im Süden des Landes nicht zerstören konnten. Es wird allgemein angenommen, dass die Bewegung des Widerstands gegen das totalitäre Regime in der Ukraine ein Merkmal der westlichen Gebiete und der Hauptstadt Kyïv ist. Erschöpft von der Massenunterdrückung, betäubt von jahrzehntelangem ideologischem Rausch und entfremdet von ihren angestammten Wurzeln durch die jahrhundertelange Russifizierung,
Nina Strokata
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220 Ein Land weiblichen Geschlechts befanden sich die Bewohner der östlichen und südlichen Regionen in einem glückseligen, gleichsam drogenähnlichen Winterschlaf und betrachteten es als ihr höchstes Glück, ihre Kommunistische Partei zu verherrlichen, ein Sockel für ihre Führer und einen Nährboden für das Gedeihen marxistisch-leninistischer Ideen zu sein. Diese Sichtweise ist nicht unbedeutend, aber sie entspricht nicht der Wahrheit. Es genügt, an Oleksa Tychyj aus der Oblast’ Donezk, Mykola Rudenko und Ivan Svitlyčnyj aus der Oblast’ Luhans’k, Mychajlo Masjutko aus der Oblast’ Cherson, Ivan Sokuls’kyj aus der Oblast’ Sičeslav, Volodymyr Savčenko aus der Oblast’ Zaporižžja, Gelij Snegirëv und Henrik Altunjan aus der Oblast’ Charkiv zu erinnern. Auch die Oblast’ Odesa ist nicht frei von oppositionellen Traditionen. Heute kennt die Öffentlichkeit die Namen von Svjatoslav Karavans’kyj, Hanna Holumbijevs’ka, Oleksa Riznykiv, Vasyl’ Barladjan, Vjačeslav Ihrunov, Hanna Mychajlenko, Pavlo Očenašenko, Halyna Mohylnyzka, Leonid Tymtsčuk, Rejza Palatnyk, Leonid und Valentyna Sirych, Iryna Ratušyns’ka, Nina Odolins’ka, Oleh Kodenčuk, Viktor Hončarov, Petro Butov und vielen anderen—bestraft, verfolgt, gejagt, verurteilt für ihre Meinungsfreiheit, für ihre Liebe zur Ukraine, für ihren Wunsch, in einem unabhängigen, demokratischen Staat zu leben. Einen besonderen Platz unter ihnen nimmt Nina Strokata ein. Ich erinnere mich, wie ich mitten im Sommer 1998 die unerwartete Nachricht von ihrem Hinscheiden an einen besseren Ort nicht glauben wollte. Ich hoffte, dass die Informationen der „Voice of America“ falsch oder ungenau waren. Doch am nächsten Tag rief mich ein bekanntes Mitglied der Befreiungsbewegung, Veniamin Dužyns’kyj, an und erzählte mir von einem Anruf aus den Vereinigten Staaten von seinem ehemaligen Mitgefangenen Svjatoslav Karavans’kyj, einem bekannten Sprachwissenschaftler, Übersetzer und Dichter, dem Ehemann von Nina Strokata. Er informierte ihn über den Tod seiner Frau und den Termin der Beerdigung – 8. August: Wenn du kannst, komm her. Eine Episode kam mir sofort in den Sinn. Bei der Untersuchung der Strafsache von Nina Strokata, Oleksa Riznykiv und Oleksij
Nina Strokata-Karavans’ka 221 Prytyka, die im Mai 1972 zu strengen Lagerhaftstrafen verurteilt wurden, stieß ich im Archiv des ukrainischen Sicherheitsdienstes in Odesa auf ein erstaunliches Dokument: den handschriftlichen Text von Strokatas letzten Worten während des Prozesses vor dem Bezirksgericht Odesa. Ich träumte davon, sie zu treffen und ihre Erinnerungen aufzunehmen. Aber es sollte nicht sein. Das irdische Leben von Nina Antonivna Strokata (Strokatova laut ihrem russifizierten Passeintrag) umfasste drei Hauptabschnitte: den ersten – vor der Verhaftung; den zweiten – Untersuchung, Prozess, Inhaftierung, Verbannung; und den dritten – den Kampf im Exil. Die wahrscheinlichste Quelle für Informationen über die erste Phase ist ihre eigene Aussage im Prozess. Sie wurde am 31. Januar 1926 in Odesa geboren. Nach der Beendigung der Sekundarschule im Jahr 1942 begann sie ein Medizinstudium, das sie 1947 mit Auszeichnung abschloss. Sie arbeitete als Krankenschwester in einem Militärkrankenhaus. Danach erhielt sie die Stelle einer Nachwuchsforscherin am medizinischen Institut. In den Jahren 1950–1952 arbeitete sie als
Nachruf in der amerikanischen Zeitung „Svoboda“. August 1998
222 Ein Land weiblichen Geschlechts
Erinnerungsbuch für Nina Strokata, herausgegeben von ihrem Freund, dem Dichter Oleksa Riznykiv
Assistentin in der Abteilung für Epidemiologie am Institut für Höhere Medizinische Studien und in den folgenden 6 Jahren in der Abteilung für Mikrobiologie an ihrer Alma Mater. Anschließend arbeitete sie 2 Jahre lang als stellvertretende Chefärztin in Tatarbunary und für den gleichen Zeitraum als Leiterin einer ländlichen medizinischen Abteilung. 1962 kehrte sie als Assistentin an das medizinische Institut zurück, und von 1963 bis 1971 war sie als Nachwuchswissenschaftlerin am Zentralen Forschungslabor der gleichen Universität tätig. 1971 war Nina Strokata gezwungen, nach Nal’čik umzuziehen, wo sie bis zu ihrer Verhaftung Mikrobiologie an einer medizinischen Hochschule unterrichtete. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits 23 wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht, eine Doktorarbeit verfasst und sprach Ukrainisch, Englisch, Deutsch, Polnisch, Rumänisch und Russisch. Im Herbst 1941, im Alter von 15 Jahren, schloss Nina Freundschaft mit dem gleichaltrigen Oleh Lehkyj. Auf Anraten des einige Jahre älteren Svjatoslav Karavans’kyj, der aus der deutschen Umzingelung in den weißrussischen Wäldern geflohen und in das besetzte Odesa zurückgekehrt war, schloss er sich den unabhängigen Aktivitäten der Untergrundorganisation OUN an.
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Nina Strokata und Svjatoslav Karavans’kyj. Beide zusammen erhielten fast 40 Jahre Lager und Verbannung
Im März 1944, kurz vor dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in die Stadt, verließen sie auf Befehl der Untergrundbewegung vorübergehend Odesa, wurden aber im Herbst, unmittelbar nach ihrer Rückkehr, verhaftet. Ein Militärgericht verurteilte Lehkyj zu 10 Jahren Gefängnis und Karavans’kyj zu 25 Jahren. 10 Jahre später erreichte Oleh, krank und erschöpft, Odesa. Er hatte keinen Platz zum Leben. Nina nahm ihn auf, half ihm, eine Arbeit zu finden, und ermutigte ihn zu studieren. Sie heirateten, aber 1960 wurde der Ehevertrag aufgelöst. Beim Prozess 1972 sagte Lehkyj, der auf Antrag seiner Ex-Frau als Zeuge geladen war, aus: „Meine Freundschaft mit Strokata wird mir für den Rest meines Lebens in guter Erinnerung bleiben.“ 1960 kehrte der amnestierte Karavans’kyj schließlich nach Odesa zurück. Er lernte Strokata kennen, und sie heirateten bald. Gleichzeitig nahm er sein Studium an der Abendabteilung der Philologischen Fakultät der Staatlichen Universität Odesa wieder auf. Er übersetzte Byron, Burns, Shakespeare und Shelley. Er beteiligte sich aktiv an oppositionellen Aktivitäten, erstellte und verteilte Samizdat und setzte sich für die Verteidigung der
224 Ein Land weiblichen Geschlechts ukrainischen Sprache ein. Er schrieb einen Artikel „Über einen politischen Fehler“, in dem er Chruščëvs Gesetz über das Recht der Eltern auf Wahl der Unterrichtssprache für ihre Kinder kritisierte. Im Februar 1965 reichte er bei der Staatsanwaltschaft der Ukrainischen SSR eine Petition ein, um Jurij Dadenkov, den Minister für das höhere und mittlere Fachschulwesen der Ukrainischen SSR, für die Russifizierung der ukrainischen Universitäten strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Die sowjetische „Justiz“ reagierte auf diese Äußerungen prinzipienfest: Am 13. November wurde Karavans’kyj verhaftet und 2 Tage später ohne Gerichtsverfahren oder Ermittlungen zur Verbüßung der restlichen 25-jährigen Haftstrafe von 8 Jahren, 7 Monaten und 11 Tagen verurteilt. Nina Strokata, die es gewohnt war, ihrem Mann bei seiner entbehrungsreichen Arbeit zu helfen, nahm nach der Inhaftierung von Karavans’kyj die ganze Last des ungleichen und brutalen Kampfes auf ihre Schultern. Ihre kleine Zweizimmerwohnung in der Čornomors’ka-Straße wurde zum Zentrum des ukrainischen Geisteslebens in Odesa. Menschen, denen das Schicksal der Ukraine nicht gleichgültig war, kamen hierher wie in ihre Heimat: Vasyl’ Stus, Valentyn Moroz und Petro Hryhorenko. Von den Einwohnern L’vivs besuchten Vjačeslav Čornovil, Iryna Kalynec’, Stefanija Hulyk, Ljudmyla Šeremet’jeva-Daškevyč und andere das Haus. Und Strokata selbst war äußerst mobil. Sie reiste fast durch das gesamte Sowjetimperium, hielt Kontakt zu politischen Gefangenen und deren Familien, verfasste und verteilte Briefe, Petitionen und Proteste und gab sie und Informationen über die Widerstandsbewegung in der Ukraine über den Eisernen Vorhang hinaus weiter. Natürlich blieb dies vom KGB nicht unbemerkt. So fanden ab dem 4. Januar 1967 mehr als 2 Monate lang fast täglich „präventive“ Gespräche mit Strokata in den Büros der Anstalt in der Bebelstraße 44 [Adresse des KGB-Büros in der Oblast’ Odesa] statt. Neben den Vorschlägen, ihre „subversive“ Arbeit einzustellen, wurde insbesondere der Ratschlag ausgesprochen, sich von
Nina Strokata-Karavans’ka 225 ihrem „kriminellen“ Ehemann scheiden zu lassen oder zumindest sein Verhalten zu verurteilen. Strokata lehnte dies jedoch kategorisch ab. Im Gefängnis von Vladimir setzte Karavans’kyj seine regimefeindlichen Aktivitäten fort, schrieb Artikel und Gedichte, die er bei Treffen mit seiner Frau und in Kassibern heimlich nach außen weitergab. Bei einer Durchsuchung am 30. Mai 1969 wurde ein Teil dieser Materialien beschlagnahmt und ein neues Strafverfahren eingeleitet. Es waren jedoch nicht so sehr die oben genannten Artikel, die den Behörden Angst machten, sondern die von Karavans’kyj gesammelten Beweise für die Hinrichtung polnischer Offiziere in Katyn durch NKVD-Einheiten. Als sie im April 1970 als Zeugin zu einem „offenen“ Prozess vor das Zentralgericht in Vladimir geladen wurde, verteidigte Strokata ihren Mann energisch. Das Gericht trug diesem Protest Rechnung, verurteilte Karavans’kyj zu weiteren 8 Jahren Gefängnis, fügte der Höchststrafe nach Artikel 70 des Strafgesetzbuchs der RSFSR [„Antisowjetische Agitation und Propaganda“] 2 weitere Jahre hinzu und richtete eine gesonderte Anordnung an das Medizinische Institut in Odesa, „Maßnahmen der öffentlichen Beeinflussung gegen Nina Antonovna Strokatova zu ergreifen, um ihr ein Gefühl der hohen patriotischen Pflicht als Bürgerin der UdSSR zu vermitteln“. Strokata wurde im Institut schikaniert, im Kollegium und im Rektorat diskutiert und für ihr „Verhalten“ verurteilt. Am 6. März 1971 veröffentlichte die Regionalzeitung „Znamja Kommunizma“ (gleichsam als Geschenk für einen Frauenfeiertag) einen langen, verleumderischen Artikel eines gewissen I. Petrenko mit dem Titel „Mit wem bist du zusammen, Strokatova?“. Im Mai wurde sie aus dem medizinischen Institut entlassen. Es wurde offensichtlich, dass eine Verhaftung vorbereitet wurde. Am Ende des Sommers gelang es ihr dennoch, eine Stelle an der medizinischen Fakultät in Nal’čik zu erhalten, wo sich der langjährige politische Gefangene Jurij Šuchevyč in der Verbannung befand, sie tauschte die Wohnung, die sie von Šuchevys Familie übernommen hatte, und vertraute einem ihrer Dissidentenfreunde,
226 Ein Land weiblichen Geschlechts Leonid Tymčuk, einem Matrosen auf dem Schlepper „Rekord“ des Seehafens Odesa, ihren Besitz und andere Angelegenheiten an. Am 6. Dezember 1971 wurde Strokata im Nordkaukasus verhaftet und in das Untersuchungsgefängnis des KGB in Odesa gebracht. Die Verhaftung Strokatas löste in ukrainischen Oppositionskreisen ein großes Echo aus. Vjačeslav Čornovil reagierte am lautesten. Er beschloss, das Bürgerkomitee zur Verteidigung von Nina Strokata zu gründen. Neben dem Initiator wurde die Erklärung zur Gründung des Komitees von Iryna Stasiv (Kalynec’) aus L’viv, Vasyl’ Stus aus Kyïv, Leonid Tymčuk aus Odesa sowie Pëtr Jakir und Viktor Krasin aus Moskau unterzeichnet.
Vjačeslav Čornovil – Leiter des Bürgerkomitees zur Verteidigung von Nina Strokata. Fast alle, die sich zu ihrer Verteidigung äußerten, wurden anschließend verfolgt.
Nina Strokata-Karavans’ka 227 Das Dokument ist auf den 21. Dezember 1971 datiert. Das Komitee wurde die erste Menschenrechtsorganisation in der Ukraine. Die Erklärung und die biografische Notiz „Wer ist N. A. Strokata (Karavans’ka)“ wurden im Bulletin Nr. 1, dem Informationsorgan des Komitees, veröffentlicht. Später wurden diese Dokumente in der unzensierten Zeitschrift „Ukraïns’kyj Visnyk“ veröffentlicht, die von Čornovil herausgegeben wurde. Bald darauf, 1972, wurde die sechste Ausgabe der Zeitschrift vom ukrainischen Verlag „Smoloskyp“ im Ausland nachgedruckt. Auf diese Weise erfuhr die Weltgemeinschaft von dem Komitee. Doch ein massives Pogrom der Opposition im Januar 1972 beendete die Aktivitäten des Komitees. Alle Unterzeichner der Erklärung wurden inhaftiert, mit Ausnahme von Leonid Tymčuk, dem es gelang, seine Beteiligung an der Gründung der Organisation zu verbergen. Zu den Hauptvorwürfen, die im Rahmen der Ermittlungen gegen Strokata erhoben wurden, gehören der Besitz eines nicht abgeschickten Briefes, der 1966 an die Internationale Journalisten organisation in Prag anlässlich der Verurteilung von Julij Daniel’ geschrieben wurde, ein von Pavlo Skochko, Vjačeslav Čornovil und Ljudmyla Šeremet’jeva-Daškevyč unterzeichneter Brief an die Mitarbeiter der Zeitschrift „Perec’“ (Pfeffer) zur Verteidigung von Ivan Dzjuba vom 27. September 1966 sowie mehrere Gedichte ihres Mannes. Außerdem wurde sie beschuldigt, Samizdat verbreitet zu haben, als sie dem Arzt Oleksij Prytyka (verhaftet am 9. August 1971) und dem Lehrer und Dichter Oleksij Riznykiv (verhaftet 2 Monate später, am 11. Oktober) die Werke von Valentyn Moroz „Unter dem Schnee“ und „Moses und Datan“, die Zeitschrift „Ukraïns’kyj Visnyk“ und den Gedichtband „Ein Schrei aus dem Grab“ von Mykola Cholodnyj übergab. Durch den Prozess gegen drei Ukrainer (der vom 4. bis zum 19. Mai 1972 vor dem Bezirksgericht De-Ribas-Straße – Ecke Puškin-Straße stattfand) versuchte der KGB, die Mitglieder der ukrainischen Kapelle einzuschüchtern und zu neutralisieren und
228 Ein Land weiblichen Geschlechts die Verbreitung der nationalen Idee in der Stadt am Meer zu stoppen. Während der Ermittlungen und des Prozesses verhielt sich Nina Strokata mutig und vernünftig und bewies, dass die Anschuldigungen absurd waren. Vor Gericht verteidigte sie ihr Recht auf eine objektive Beurteilung der Realität. Da sie das Fehlen kritischer Ansichten für abnormal hielt, stellte sie ihren eigenen Standpunkt dem des KGB gegenüber, der ihre Existenz als antisowjetisch bezeichnete. Strokata wies das Gericht auf die Diskrepanz zwischen den in der Verfassung der Ukrainischen SSR erklärten Freiheiten und dem Strafgesetzbuch hin: „Ich halte Artikel 62 des Strafgesetzbuchs der Ukrainischen SSR (‚Antisowjetische Agitation und Propaganda‘) für verfassungswidrig, da dieser Artikel die formellen Bürgerrechte negiert.“ Nina Strokata machte ihr Schlusswort in der Verhandlung am 17. Mai 1972 zu einer Anklage gegen das kommunistische Regime mit seiner totalitären „Demokratie“, der kassierten Redefreiheit und dem KZ-Willen der Völker und Menschen: „Die Verfassung unseres Landes garantiert das Recht auf freie Meinungsäußerung im Allgemeinen und die Pressefreiheit im Besonderen. Als Erbe aus der Zeit des Kults gibt es jedoch immer noch die Freiheit der Zensur, die die Meinungsfreiheit überlagert … Der ukrainische Patriotismus als Garant für den nationalen Fortschritt der ukrainischen Nation sollte unterstützt und nicht stigmatisiert oder verurteilt werden … Wer die Weite der Prinzipien von Demokratie und Freiheit ablehnt, öffnet den Weg zur Tyrannei.“ Trotz der Absurdität der Anklage und der öffentlichen Proteste verkündete das Gericht am 19. Mai 1972 das programmierte Urteil: Nina Strokata – 4 Jahre strenge Lagerhaft, Oleksij Prytyka – 2 Jahre, und Oleksij Riznykov – 5,5 Jahre. Das Gerichtskollegium für Strafsachen des Obersten Gerichts der Ukrainischen SSR bestätigte das Urteil in einer Entscheidung vom 27. Juli desselben Jahres. Kurz darauf wurde Nina Antonivna Strokata in das Konzentrationslager ZhX-385/3-4 im Dorf Baraševo in der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik Mordwinien verlegt.
Nina Strokata-Karavans’ka 229
Oleksa Riznykiv – Lektor von Nina Strokata und Autor zahlreicher Publikationen über die Widerstandsbewegung im Süden der Ukraine.
Ihr neunmonatiger Aufenthalt in dem KGB-Gefangenenlager schwächte ihre Gesundheit. Die unerträgliche Zwangsarbeit und das harte Lagerregime verschlimmerten Strokatas Gesundheitszustand weiter (von den 39 Monaten ihres Lagerlebens verbrachte sie 8 Monate im Gefängniskrankenhaus). Gleichzeitig nahm sie an Protestaktionen teil und führte fünfmal einen vier- bis achttägigen Hungerstreik und anderthalb Dutzend eintägige Hungerstreiks durch. Die Strafe für ihren Ungehorsam war unbarmherzig: Sie musste fast ein Drittel ihrer Strafe in einem Lagergefängnis – einem PKT („Raum nach Art einer Zelle“) und in einer Strafzelle – verbüßen. In ihrer kurzen Freizeit arbeitete Nina intensiv an einem Wörterbuch der medizinischen Mikrobiologie und Immunologie. Ihre Zellgenossinnen Nadija Svitlyčna, Iryna Kalynec’, Stefanija Šabatura, Iryna Senyk, Odarka Husjak und andere tapfere Töchter der leidgeprüften Ukraine halfen ihr, zu überleben und ihre Würde und Selbstachtung nicht zu verlieren.
230 Ein Land weiblichen Geschlechts
Die Moskauer selbstverlegte „Chronik der Laufenden Ereignisse“ berichtete wiederholt über den Prozess gegen ukrainische Patrioten in Odesa
Im Dezember 1975 fand Strokatas Zwangserziehung zum sowjetischen Patriotismus schließlich ein Ende. Sie wurde aus der von Stacheldraht umgebenen Konzentrationslagerzone in ein von Stacheldraht umgebenes Land verlegt. Die Ukraine durfte sie nicht betreten. Sie durfte in dem Städtchen Tarusa im Gebiet Kaluga leben. Sie wurde unter administrative Aufsicht gestellt, die alle 6 Monate erneuert wurde. Strokata konnte weder an einer Tagung der „American Association of Microbiologists“ teilnehmen, deren Mitglied sie seit 1966 war, noch an einem Seminar über Tumorbiologie an der „Harvard University Medical School“, zu dem sie eingeladen worden war. Erst 1976, 10 Jahre nach dem letzten Mal, durfte sie ihren Mann täglich besuchen. In einem Brief an Hanna Mychajlenko in Odesa beschrieb Strokata, wie sie um die gesetzlich festgelegten Besuche bei Karavans’kyj kämpfen musste: „Ich habe ihn am 25. November [1977] besucht. Sie gaben mir drei Stunden Zeit. Während dieser drei Stunden hatte eine Gruppe von Leuten mit mir seit Anfang August konkurriert, und er war seit 34 Tagen im Hungerstreik.“ Weder die Inhaftierung noch die administrative Überwachung in einer fernen russischen Stadt veranlassten Strokata, den Kampf für die Freiheit der Ukraine aufzugeben.
Nina Strokata-Karavans’ka 231 In Tarusa traf sie sich mit Stefanija Hulyk (Hnatenko) und Jaroslav Daškevyč aus L’viv, Halyna Mohyl’nyc’ka aus Odesa, Oksana Meško aus Kyïv, anderen Mitgliedern der Widerstandsbewegung aus der Ukraine und Moskauer Dissidenten. Strokatas Unnachgiebigkeit und Verzweiflung zeigt sich deutlich in ihrer Zustimmung, Gründungsmitglied einer Menschenrechtsorganisation, der Ukrainischen Öffentlichen Gruppe für die Umsetzung der Helsinki-Vereinbarungen, zu werden und deren Gründungsdokumente offen zu unterzeichnen. Zu diesem Zeitpunkt (9. November 1976) war noch nicht einmal ein Jahr seit ihrer Entlassung vergangen, und Strokata „verdiente“ sich absichtlich eine neue Haftstrafe. Sie zählte die Tage bis zur Rückkehr ihres Mannes aus dem Konzentrationslager. Am 15. September 1979, dem lang erwarteten Tag, erschien vor der Tür von Strokatas Wohnung in Tarusa der entlassene Svjatoslav Karavans’kyj. Insgesamt verbrachte er 31 Jahre hinter Gittern, mehr als die Hälfte seines damaligen Lebens. Die Behörden lehnten seinen Antrag ab, in die Ukraine zurückzukehren und sie auch zu besuchen. Sie schlugen ihm vor,
Die ukrainische politische Emigration vergaß die vom kommunistischen Regime verhafteten Frauen nicht. Eine der Formen des Fundraisings waren die so genannten „Hungertafeln“, deren gesamter Erlös zur Unterstützung von Familien verwendet wurde, indem Pakete an Konzentrationslager und Orte der Verbannung geschickt wurden.
232 Ein Land weiblichen Geschlechts eine der Einladungen in die Vereinigten Staaten zu nutzen. Aus Angst vor weiteren Repressalien reiste das Ehepaar Karavans’kyj am 30. November desselben Jahres nach Wien und von dort in die Hauptstadt Großbritanniens. Am 11. Dezember betraten sie den amerikanischen Kontinent. Sie ließen sich in Denton, Maryland, nieder. Strokata stürzte sich sofort in einen Strudel sozialer und politischer Aktivitäten: Sie hielt viele Reden, schrieb Artikel, erzählte der ukrainischen Diaspora und anderen Amerikanern die Wahrheit über die nationale Befreiungsbewegung in der Ukraine und organisierte moralische und manchmal auch materielle Unterstützung für sowjetische Gefangene und ihre Familien. Strokata arbeitete weiter in der Ukrainischen Helsinki-Gruppe, genauer gesagt in deren Auslandsbüro, das von General Petro Hryhorenko geleitet wurde, dem die Staatsbürgerschaft der UdSSR entzogen worden war. Sie wurde Mitbegründerin der Informationszeitschrift der Gruppe, des „Visnyk represji v Ukraïni“ (Bulletin der Repression in der Ukraine), das von Nadija Svitlyčna herausgegeben wurde. Sie nahm regelmäßig an den Protesten in Washington gegen die Verfolgung freien Denkens in der Ukraine teil. Sie veröffentlichte das englischsprachige Buch „Repression in Documents. 1975–1980“. Sie engagierte sich auch in der „American Association of Microbiologists“ und der „Ukrainian Scientific Society of Physicians of North America“ (USA und Kanada), zu deren Mitglied sie 1977 in Abwesenheit ernannt wurde. Mit unbeschreiblicher Freude begrüßte sie die Unabhängigkeitserklärung der Ukraine und die Ergebnisse des gesamtukrainischen Referendums vom 1. Dezember 1991. Sie drückte ihre Haltung zu diesen Ereignissen in der Literarischen Ukraine aus: „Es war ein großer Sieg. Lasst uns fleißig, wachsam und geduldig sein—bewahren wir ihn!“ In den letzten Jahren war Nina Strokata-Karavans’ka schwer erkrankt—die Folgen der „Gefängnispflege“ der sowjetischen Behörden für die politische Gesundheit einer Arbeiterin. Am 2. August 1998 schaute sie in einem Krankenhauszimmer in
Nina Strokata-Karavans’ka 233
Ärztekollegen hatten jahrelang für die Freilassung der Mikrobiologin Nina Strokata gekämpft, und nach ihrer Ankunft in den Vereinigten Staaten nahmen sie sie in ihre Obhut.
Baltimore zum letzten Mal in die Augen ihres Mannes und verstarb bald darauf. Strokata hat sich noch zu Lebzeiten ein Denkmal gesetzt—mit ihrem unermüdlichen Kampf für die Freiheit der Ukraine, ihrem würdevollen Verhalten während des ungerechten Prozesses und ihrer einzigartigen Rede während des Prozesses, die es wert ist, auf dem Grabstein und in unseren Herzen eingraviert zu werden.
Gulnara Bekirova
Aişe Seitmuratova. Von der Krim deportiert, verurteilt, unbesiegt Sie ist eines der Symbole der modernen Geschichte der Krimtataren, Historikerin und Journalistin. Sie wurde zweimal wegen ihrer Beteiligung an der nationalen Bewegung der Krimtataren verurteilt. Unter der Drohung einer dritten Verhaftung verließ sie die Sowjetunion, hörte aber nicht auf, für ihr Volk zu kämpfen. Viele Jahre lang war sie die Stimme des deportierten Volkes und arbeitete für „feindliche Radiostimmen“. Eine freudlose Kindheit Wenn ich das Lebenscredo von Aişe Seitmuratova mit einem Wort beschreiben müsste, wäre es wohl das Wort „Kampf“. Aişe wurde am 11. Februar 1937 im Dorf Acı Eli, Rajon Majak-Salyns’kyj der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik Krim, in einer Familie von Kolchosbauern geboren. Sie war das fünfte Kind in der Familie. Ihr Vater wurde am 1. Oktober 1941 an die Front einberufen. Sie sah ihn nie wieder: Er wurde vermisst. Ihre jüngere Schwester Fatma wurde im Februar 1942 geboren. Die Halbinsel Kerč, auf der sich das Dorf Acı Eli befand, wurde gleich zu Beginn des Krieges von deutschen Truppen besetzt. Die Familie von Aişe – Mutter und Kinder – blieb unter der Besatzung. Fast 3 Jahre lang überlebten sie nur, weil sie Land und ihr eigenes Vieh besaßen. Als die Rote Armee im April 1944 die Krim befreite, wohnte ein sowjetischer Offizier in ihrem Haus. Alle freuten sich über die Befreier, aber die Freude war nur von kurzer Dauer … Aişe wird sich immer an den Sonnenaufgang des 18. Mai 1944 erinnern: „Um 3 oder 4 Uhr weckte uns meine Mutter unter Tränen … Es waren Soldaten im Haus, die uns vertreiben wollten. Der Offizier, der meine Mutter und meine sieben Kinder sah, fragte: „Wo ist euer Mann?“ Meine Mutter antwortete: „Ich bin es, 235
236 Ein Land weiblichen Geschlechts die Sie fragen sollte, wo mein Mann ist. Er ist in den Krieg gezogen … Aber er ist weg, und Sie sind gekommen.“ Der Offizier hatte Mitleid mit der kinderreichen Frau, zog etwas Geld heraus und reichte es ihr trotz ihrer Zurückweisung: „Nimm das, es wird dir nützlich sein.“ Und Naïme sagte den Soldaten, sie sollten der Familie beim Packen helfen. Naïme verließ das Haus ohne ein Stück Brot und schaffte es nur, ihre Kinder anzuziehen. Ein Nachbar, Onkel Makljak, brachte
Aişe Seitmuratova
Aişe Seitmuratova 237 ihnen einen großen Topf mit saurer Sahne, einen halben Sack Mehl, Kekse, eine Matratze, zwei Kissen, einen Trog und eine Bratpfanne. Die meisten der vertriebenen Krimtataren landeten in Usbekistan, der Rest in Kasachstan und in abgelegenen Regionen Russlands. Anfang Juni 1944 kam die große Familie von Naïme Khanum am Bahnhof Zirabulak im Bezirk Xatirci in der Region Samarkand in der Usbekischen SSR an. Sie wurden in mehreren Schuppen untergebracht, die zuvor zur Haltung von Eseln genutzt worden waren. Die Hitze war unerträglich. Die Malaria wütete. Die Kranken wurden mit dem Auto ins Krankenhaus gebracht. Auch Aişe und ihre Mutter erkrankten. Um ihre Kinder zu ernähren, musste ihre Mutter auf dem Markt etwas verkaufen. Eines Tages war sie dazu nicht mehr in der Lage. Plötzlich kam ein alter Mann auf sie zu und bot ihr an, ihr für das Samtkleid einen Eimer Jugara (Hirsemehl) zu geben. Ohne zu zögern, zog Naïme ihr Kleid aus und blieb in ihrem Hemd. „Mama hat uns gerettet. Wir haben Glück, dass in diesen schrecklichen Jahren niemand von uns gestorben ist. Wir müssen unseren Müttern danken, die nicht alles selbst gegessen haben, sondern das Leben ihrer Kinder gerettet haben“, betont Aişe Seitmuratova. Die Brüder, von denen der älteste 17 Jahre alt war, arbeiteten zusammen mit Männern in der Wolframmine Ljangar. Hier bekamen sie ein Zimmer in einer Baracke, eines für acht Personen. Mama arbeitete auf der Baustelle, sie ebnete Straßen und stapelte Steine. Für die harte Arbeit bekamen sie Brotkarten. Alle mussten arbeiten, auch die jüngste Fatma. 1946 kam Aişe in Lyangar in die 1. Klasse und setzte ihre Ausbildung in Xatirci fort. Sie besuchte eine russische Schule. Ihre älteren Brüder blieben ohne Ausbildung: Sie mussten arbeiten und ihre Familien ernähren. Die Eindrücke der ersten Jahre ihres Lebens—die Deportation, der Alltag der Sondermigranten—wurden entscheidend für die Ausbildung von Seitmuratovas Persönlichkeit. Diese Jahre waren freudlos und sehr schwierig: „Am Anfang lebten wir in
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Jugend in der Deportation
Erdbaracken. Jeden Tag wurden mehrere Menschen begraben. Erschöpfte Erwachsene und Kinder im Alter von 12 oder 15 Jahren trugen einen Toten auf einer Decke. Wir Kinder erinnerten uns für den Rest unseres Lebens an dieses Bild.“ „Uns hat die Sowjetmacht selbst beleidigt . . . “ In den frühen 1950er Jahren wurde das Leben allmählich besser . . .
Aişe Seitmuratova 239 Sie lebten bis Dezember 1953 in Lyangar. Das Hochgebirgsklima behagte Naïme Khanum nicht. Die Ärzte stellten ihr ein Attest aus, auf dessen Grundlage die Kommandantur ihr erlaubte, in eine andere Region Usbekistans zu ziehen. Im Jahr 1955 ließ sich die Familie im Dorf Superphosphat in der gleichnamigen Fabrik in Samarkand nieder. Aişe zeichnete sich in der Leichtathletik aus. Nach dem Schulsporttag 1955, bei dem sie hervorragende Ergebnisse erzielte, wurde sie in die Mannschaft aufgenommen, die zu Jugendwettkämpfen ins Ausland fahren sollte. Die Deportierten durften jedoch nicht außerhalb Usbekistans reisen, und Aişe durfte nicht mitfahren. Ende April 1956 hob der Ukaz des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR „Über die Aufhebung der Beschränkungen für die Sondersiedlungen für Krimtataren, Balkaren, Türken – Bürger der UdSSR, Kurden, Hemschilen und Mitglieder ihrer Familien, die während des Großen Vaterländischen Krieges vertrieben wurden“ das Regime der Sondersiedlungen für die oben genannten Völker auf und befreite sie von der administrativen Überwachung, jedoch ohne ihnen das Recht auf Rückkehr an ihre früheren Wohnorte zu gewähren. Einige Monate später durften die meisten der „bestraften Völker“ jedoch in ihre historische Heimat zurückkehren. Die Krimtataren waren von dieser „Barmherzigkeit“ der Behörden nicht betroffen. 1957 schloss Aişe die Schule ab. Sie war eine begeisterte Leserin und schrieb sich an der Usbekischen Staatlichen Universität, Fakultät für Geschichte, ein. Nach ihrem Abschluss wurde Seitmuratova zur Arbeit an einer Schule eingeteilt, wo sie 2 Jahre lang arbeitete und 1964 ihr Diplom erhielt. Im folgenden Jahr reiste sie nach Moskau, um sich für ein Postgraduiertenstudium am Institut für Geschichte zu bewerben. Aişe bestand zwar die Prüfungen, wurde aber nicht in das Postgraduiertenprogramm aufgenommen und erhielt das Angebot, mit diesen Noten am Institut für Geschichte und Archäologie der Usbekischen SSR zu studieren.
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Ukaz des Präsidiums des Obersten Rates der UdSSR vom 28. April 1956
Aişe ging nach Taschkent, aber das Institut für Geschichte und Archäologie der Usbekischen SSR lehnte ihre Bewerbung mit der Begründung ab, man habe „eigenes Personal“. Aişe kehrte nach Samarkand zurück und bekam eine Stelle als Geschichtslehrerin an einer Abendschule. Eines Tages ging sie zu ihrer Heimatuniversität, um von ihrer Reise nach Moskau zu erzählen, und traf dort den Dekan I. Muminov. Er sah sich ihr Prüfungszeugnis an und stellte sie als Teilzeitmitarbeiterin an der Universität ein. Bald darauf kam es zu einem weiteren wichtigen Ereignis in Seitmuratovas Leben: Sie schloss sich der nationalen Bewegung der Krimtataren für die Rückkehr auf die Krim an. Durch einen Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR wusste Aişe, dass es „Initiativgruppen“ gab – informelle Zusammenschlüsse von Aktivisten der Bewegung, die regelmäßig selbst herausgegebene „Informaciï“ produzierten und verteilten.
Aişe Seitmuratova 241 In den Jahren 1964–1965 sammelten die Aktivisten der Bewegung Informationen über Personen, die am Krieg und an der Partisanenbewegung teilgenommen hatten. Aişe beteiligte sich aktiv an dieser Tätigkeit. Allerdings durfte sie sich nicht öffentlich äußern, um „nicht gesehen zu werden“. Im Sommer 1965 traf eine Gruppe von Vertretern der Krimtataren mit Stroganov, dem Leiter der Empfangsabteilung des ZK der KPdSU, zusammen. Seitmuratova, die an dem Treffen teilnahm, zog Stroganovs Aufmerksamkeit auf sich. Die Aktivisten der Bewegung berichteten dem Beamten des Zentralkomitees von der Diskriminierung der Krimtataren und der Erniedrigung ihrer nationalen Würde. Es kam zu einer Diskussion, und als Stroganov fragte, wer genau die Krimtataren beleidige, antwortete Aişe: „Erstens ist es der Erlass des DKO [Staatliches Verteidigungskomitee] vom 11. Mai über die Vertreibung der Krimtataren, und zweitens, was brauchen Sie Namen—wir werden von der sowjetischen Regierung selbst beleidigt.“
Gefängnisuniversitäten Anfang Oktober 1966 nahm Seitmuratova zum dritten Mal an Postgraduiertenprüfungen teil—diesmal an der Staatlichen
Mit Kameraden in der Menschenrechtsbewegung
242 Ein Land weiblichen Geschlechts Universität Moskau—und fiel erneut durch. Am 4. Oktober kehrte sie nach Samarkand zurück, und am 7. Oktober wurde ihr Haus durchsucht. Von morgens bis abends durchsuchten acht Polizeibeamte das Haus und beschlagnahmten Dokumente: Auszüge aus bereits veröffentlichten Büchern, die sich mit der Geschichte der Krimtataren befassten, und eine unvollendete handgeschriebene „Informacija“. Einige Tage später, am 14. Oktober, wurde Aişe mitgeteilt, dass sie als Zeugin im Fall der zuvor verhafteten Aktivisten nach Moskau reisen müsse. Während ihres Verhörs beim KGB in der Region Samarkand stellte sich heraus, dass sie verhaftet worden war. Sie wurde in einem Flugzeug mit Eskorte nach Moskau gebracht. Am 24. Oktober wurde Seitmuratova wegen eines Verbrechens nach Artikel 74 des Strafgesetzbuchs der RSFSR angeklagt. Aişe wurde wegen „Zusammenstellung, Vervielfältigung und Verbreitung verleumderischer Dokumente zur Aufstachelung zum Nationalhass“ angeklagt, und es wurde festgestellt, dass „Seitmuratova strafbare Handlungen zur Aufstachelung zum Nationalhass“ begangen hat. Am 19. Mai 1967 fand ein geheimer und geschlossener Prozess statt. Aişe wurde zu einer dreijährigen Bewährungsstrafe verurteilt und aus dem Gerichtssaal entlassen. Trotz der Monate, die sie im Gefängnis von Lefortovo verbrachte, nahm Seitmuratova von der Bewegung nicht Abstand. 2 Monate nach dem Prozess, am 21. Juli 1967, gehörte sie zu den Volksvertretern, die an einem Treffen im Kreml mit dem Chef des KGB der UdSSR, Jurij Andropov, dem Generalstaatsanwalt der UdSSR, Roman Rudenko, und dem Innenminister der UdSSR, Nikolaj Ščelokov, teilnahmen. „Auf Anweisung des Politbüros des Zentralkomitees der KPdSU“, so Andropov, werde in Kürze ein Ukaz des Präsidiums der Verchovna Rada zur Rehabilitierung der Krimtataren verabschiedet werden. In der Frage der Rückkehr in ihre Heimat, so Andropov, seien die Mitglieder des Politbüros geteilter Meinung.
Aişe Seitmuratova 243 Am 5. September 1967 erließ das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR den Ukaz „Über Bürger tatarischer Nationalität, die früher auf der Krim wohnten“. Als Aişe ihn las, war ihre Empörung überwältigend. In der Resolution Nr. 494 des Präsidiums der Verchovna Rada, die unmittelbar nach dem Dekret verabschiedet wurde, heißt es, dass „Bürger tatarischer Nationalität [ . . . ] und ihre Familienangehörigen wie alle Bürger der UdSSR das Recht haben, sich auf dem gesamten Gebiet der Sowjetunion im Einklang mit den geltenden Rechtsvorschriften über Beschäftigung und Passwesen aufzuhalten“. Mit diesem Dokument wurde der Status quo der Krimtataren nach ihrer Deportation an den Orten des Exils gefestigt. Die Tatsache, dass Aişe für das Postgraduiertenstudium am Institut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der Usbekischen SSR zugelassen wurde, machte den Ukaz nicht weniger erschütternd. Kurz vor der Verteidigung ihrer Dissertation, am 15. Juni 1971, wurde Seitmuratova erneut verhaftet. Bei der Durchsuchung wurden ein Notizbuch mit Gedichten, Dokumente der nationalen Bewegung sowie die Anklageschrift und das Urteil aus dem ersten Prozess bei ihr beschlagnahmt. Ihr Fall wurde mit dem des Lehrers
Der Ukaz hob die Beschlüsse der staatlichen Organe in dem Teil auf, der pauschale Anschuldigungen gegen „auf der Krim lebende Bürger tatarischer Nationalität“ enthielt, behauptete aber, dass diese „auf dem Gebiet der usbekischen und anderer Sowjetrepubliken Wurzeln geschlagen haben“.
244 Ein Land weiblichen Geschlechts Lenur Ibraimov zusammengelegt, der im Mai desselben Jahres in Simferopol’ verhaftet wurde. Beide wurden beschuldigt, Material zur Verleumdung des sowjetischen Staatssystems hergestellt und verbreitet zu haben (Artikel 191-4 des Strafgesetzbuchs der Usbekischen SSR). Ende Juli 1971 verurteilte ein Gericht in Taškent Lenur Ibraimov zu 2 Jahren Haft und Aişe Seitmuratova zu 3 Jahren Haft. Aişe verbüßte ihre Strafe in den Lagern Mordwiniens Baraševo und Javas. Nachdem sie ihre Strafe „von Glockenschlag zu Glockenschlag“ abgesessen hatte, wurde sie am 15. Juni 1974 aus dem Lager entlassen und kehrte nach Samarkand zurück. Nach ihrer Entlassung erhielt Aişe den „Wolfsausweis“1 Unmittelbar nach ihrer Verhaftung im Juni 1971 wurde sie von ihrem Aufbaustudium ausgeschlossen, welches sie nie abschließen konnte: Sie wurde nicht wieder zugelassen. Sie durfte nicht mehr unterrichten. Aişe wurde nicht einmal als Reinigungskraft an der Schule angestellt, obwohl sie einen Universitätsabschluss hatte. Dennoch engagierte sie sich weiterhin in der nationalen Bewegung: Sie flog oft von Usbekistan auf die Krim und sammelte Informationen über die Verfolgung krimtatarischer Familien, die sich auf ihrer Heimathalbinsel registrieren lassen wollten. Diese Berichte dienten als Material für die „Informaciï“, die von „Iniciatyvnyky“ unter der krimtatarischen Bevölkerung verteilt wurden, und wurden auch an Moskauer Dissidenten für die legendäre „Chronik der aktuellen Ereignisse“ weitergegeben, ein Menschenrechtsbulletin, das Fakten über Menschenrechtsverletzungen in der UdSSR festhielt. Mitte der 1970er Jahre stand Aişe bereits vor der Alternative: entweder eine erneute Haftstrafe oder, wie andere „antisowjetische“ Aktivisten, Ausreise in den Westen.
Emigration Im Sommer 1978 gelang es Seitmuratova schließlich, die Erlaubnis zur Ausreise aus der UdSSR zu erhalten. 1
Ein Dokument, nicht vertrauenswürdig zu sein (Anm. d. Übers.).
Aişe Seitmuratova 245 Am 25. Januar 1979 traf sie in den Vereinigten Staaten ein. Ihre Verwandten holten sie am Flughafen in New York ab: Remzije und Abljakim Sarajli, Šefika und Mamut Karačaj, sowie Petro Hryhorovyč und Zinaïda Mychajlivna Hryhorenko. Durch das IRC (International Refugee Comitee) erhielt Seitmuratova eine Wohnung. Im Alter von 42 Jahren musste Seitmuratova ein neues Leben beginnen. Sie begann Englisch zu lernen (in der Schule hatte sie Deutsch studiert). Bald wurde sie eingeladen, mit den Radiosendern „Svoboda“ und „Voice of America“ zusammenzuarbeiten, wo sie Sendungen auf Russisch, Usbekisch und Aserbaidschanisch moderierte. Dabei handelte es sich zumeist um Sendungen über das Schicksal des krimtatarischen Volkes. Während ihrer zehnjährigen Tätigkeit im Ausland hat Seitmuratova als Aktivistin der krimtatarischen Bewegung viel geleistet. Sie berichtete über die Lage der Krimtataren auf drei Foren der Organisation der Islamischen Konferenz: in London (1980), Paris—UNESCO (Dezember 1980) und Kuala Lumpur in Malaysia (November–Dezember 1981). Im April 1980 sprach Seitmuratova im US-Senat, wurde zweimal ins Weiße Haus eingeladen (1982 und 1988) und nahm an
Zur Verteidigung nicht nur des eigenen Volkes, sondern auch anderer Deportierter
246 Ein Land weiblichen Geschlechts einem Empfang bei Präsident Ronald Reagan teil. Im Jahr 1990 traf sie mit dem türkischen Präsidenten Turgut Özal zusammen. Im November 1980 nahm Seitmuratova an der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zur Schlussakte von Helsinki in Madrid teil, und für das KSZE-Treffen in Wien (1986) schrieb und organisierte sie die englischsprachige Ausgabe einer Broschüre, die der Verteidigung von Mustafa Džemiljev gewidmet ist, der damals in Magadan inhaftiert war. Sie überreichte die Broschüre und einen Appell zur raschen Freilassung von Džemiljev an die Außenminister der 35 an der Konferenz teilnehmenden Staaten. Seitmuratova sprach vor den Parlamenten Kanadas, Großbritanniens, Italiens, der Türkei, Frankreichs und dem US-Kongress; außerdem hielt sie Vorträge an Universitäten und Hochschulen in verschiedenen Ländern. Das Thema all ihrer Reden war der Kampf des krimtatarischen Volkes um die Rückkehr in ihre Heimat, die Krim. Seitmuratova war aktives Mitglied zahlreicher internationaler NGOs: von „Amnesty International“ (Londoner Zentrum),
Der General und Verteidiger der Krimtataren Petro Hryhorenko trifft die unbeugsame Aişe in den Vereinigten Staaten.
Aişe Seitmuratova 247
Aişe (links) bei einem der Menschenrechtsforen zur Verteidigung der Verfolgten
der „Internationalen Liga für Menschenrechte“ (New York), der „Amerikanischen Helsinki-Gruppe“ (New York) usw. Im Jahr 1986 organisierte sie das Komitee zur Verteidigung von Mustafa Džemiljev in 12 Ländern und setzte sich für die Freilassung von Jurij Osmanov, Rešat Ablajev und anderen krimtatarischen politischen Gefangenen ein.
Auf der heimatlichen Krim Genau 11 Jahre nach ihrer Ausreise aus der UdSSR, am 20. November 1990, flog Aişe nach Usbekistan, um die Gräber ihrer Mutter, ihres älteren Bruders und ihrer Schwester zu besuchen. Die Landsleute begrüßten sie als Nationalheldin. Bald darauf kehrte Aişe 1992 auf die Krim zurück und stürzte sich mit ihrer gewohnten Energie in ihre Arbeit. Seitmuratova gründete die Wohltätigkeitsstiftung „Merhamet Evi“ (Haus der Güte), um den Krimtataren humanitäre Hilfe zukommen zu lassen. Ihr Ansehen in der krimtatarischen Diaspora war so hoch, dass sie riesige Mengen an Hilfsgütern für ihre auf die Krim zurückgekehrten Landsleute sammelte. In den Jahren 1992–1993 verteilte Seitmuratova Tonnen von Hilfsgütern an Frauen und Kinder und lieferte Kinderkleidung. Im Jahr 1996 flog sie mit einem Flugzeug über New York und Istanbul
248 Ein Land weiblichen Geschlechts zu einem medizinischen Zentrum mit Ausrüstung im Wert von 12 000 US-Dollar. Seit 2001 gibt es auf Aişes Initiative hin eine Pension für Krimtataren, „K’artlar Evi“, für einsame ältere Menschen. Auf die Frage, was sie zu diesem Schritt veranlasste, antwortete Seitmuratova kurz: „Ich habe den älteren Menschen mein Wort gegeben.“ Aişe Seitmuratova hat viele Jahre ihres Lebens dieser Arbeit gewidmet. Und obwohl sie nicht mehr Leiterin des Pflegeheims ist, besucht sie oft ihre ehemaligen Schützlinge, die ihr mit Freude und Dankbarkeit begegnen. Mario Corti, ein italienischer Schriftsteller und Publizist, ehemaliger Leiter des russischen Dienstes von „Radio Liberty“, schrieb Folgendes über sie: „Ein gerechter Mensch ist jemand, der sich für andere Menschen aufopfert. Gerechte werden in allen Nationen geboren, sie können sich zu einer bestimmten Religion bekennen (oder zu keiner), aber sie sind nicht das ausschließliche Eigentum ihres Volkes oder ihrer Glaubensgenossen. Die Gerechten gehören zu uns allen und versöhnen uns mit dem Menschengeschlecht. Aişe Khanum ist eine dieser Gerechten.“
Aişe Khanum (rechts) mit Bewohnern des Altersheims für alleinstehende Krim-Bewohnerinnen
Viktorija Sadova
L’vivs leidenschaftliche Frau. Die Lebensgeschichte von Iryna Kalynec’ Unter den Künstlern der L’viver 60er-Jahre-Bewegung, die alles andere als Staatsverbrecher und „Gefangene“ waren, sondern die ukrainische Kultur studierten, bewahrten und weiterentwickelten, zeichnete sich Iryna Stasiv-Kalynec’ stets durch ihr Temperament aus. Eine feurige Herausforderung geht von ihr aus—energisch, jähzornig, witzig und bissig, nachweislich intellektuell und äußerst sinnlich. Anfang der 1970er Jahre lebte Iryna Stasiv, eine junge Philologin der Slawistik mit Universitätsabschluss und Lehrerberuf, mit ihrem Mann Ihor Kalynec’ und ihrer Tochter Dzvenyslava in der Kutuzova-Straße (heute General-Myron-Tarnavs’kyj-Straße). Hier feierte sie am 6. Dezember 1971 ihren 31. Geburtstag. Und am 21. Dezember unterzeichnete sie gemeinsam mit Vjačeslav Čornovil, Vasyl’ Stus und anderen eine Erklärung zur
Iryna Stasiv-Kalynec’ mit ihrem Ehemann Ihor Kalynec’
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250 Ein Land weiblichen Geschlechts Gründung des Öffentlichen Komitees zur Verteidigung von Nina Strokata-Karavans’ka. Die weiteren Ereignisse entwickelten sich blitzschnell. Am 30. Dezember 1971 beschloss das Politbüro des Zentralkomitees der KPdSU, den Kampf gegen das Netzwerk der Samizdat-Produktion und -Verbreitung aufzunehmen. Am 4. Januar 1972 wurde ein belgischer Tourist, Jaroslaw Dobosch, verhaftet und als Informant benutzt, um die „Objekte“ im Fall „Blok“ zu enttarnen und zu verfolgen.1 Ab dem 12. Januar 1972 wurden in der gesamten Ukraine Tausende von Durchsuchungen und Hunderte von Verhaftungen durchgeführt. Iryna Kalynec’ erzählte, wie im Dezember 1971 Vasyl’ Stus, der damals in einem Sanatorium in Moršyn behandelt wurde, nach L’viv kam: „Wir gingen zusammen Koljady – Weihnachtslieder –singen. Er hat die kleine Dzvinka einfach verzaubert. Wir zeigten Vasyl’ Museen, Kirchen und Friedhöfe. Er litt unter Magengeschwüren, was bis zur Ohnmacht führte. Und abends trug er bei uns zu Hause seine Gedichte mit großer Kunstfertigkeit vor. Seine Stimme floss
1
Die Werke Aleksandr Bloks wurden in den 1960ern in der Ukraine übersetzt und rezipiert (Anm. d. Übers.).
L’vivs leidenschaftliche Frau 251 wie Musik. Man könnte sie mit einer Reinigung vergleichen. Am Abend des 9. Januar kehrte Vasyl’ mit Stefanija nach Kyïv zurück, und Slavko Čornovil und ich verbrachten den Abend mit ihm. Sie brachten ihn zum Flughafen. „Wir fuhren am KGB-Gebäude vorbei, und alle Fenster waren erleuchtet, also dachte ich, sie würden etwas vorbereiten.“ Sie bereiteten diese Massenverhaftungen vor. Die Dokumente im Fall „Blok“ zeigen, wie das „Niedermähen“ 1972 stattfand. Ukrainische Forscher konnten sich Anfang der 1990er Jahre mit ihnen vertraut machen. Auch das Werk von Kalynec’ war einer Art Verhaftung unterworfen. Selbst Wissenschaftlern war es verboten, es zu lesen. Hier ist ein beredtes Dokument. Geheim. Akademie der Wissenschaften der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Nr. 117778 t vom 27. Juli 1973. An die Leiter der Einrichtungen und Organisationen der Akademie der Wissenschaften der Ukrainischen SSR In Übereinstimmung mit der Anordnung der Hauptabteilung für den Schutz von Staatsgeheimnissen in der Presse beim Ministerrat der Ukrainischen SSR Nr. 2-t vom 29. Mai 1973 bitten wir Sie, die Ihrer Zuständigkeit unterstehende Bibliothek anzuweisen, alle Werke der folgenden Autoren aus dem öffentlichen Gebrauch zu nehmen: 1) Bahautdinov Rem Machmudovyč, 2) Dzjuba Ivan Michailovyč, 3) Zacharčenko Vasyl’ Ivanovyč, 4) Kalynec’ Ihor Myronovyč, 5) Kalynec’-Stasiv Iryna Onufriïvna, 6) Kolesnyk Volodymyr Andrijovyč, 7) Moroz Valentyn Jakovlevyč, 8) Osadčyj Mychajlo Hryhorovyč, 9) Sverstjuk Jevhen Oleksandrovyč, 10) Svitlyčnyj Ivan Oleksijovyč, 11) Sokul’s’kyj Ivan Hryhorovyč, 12) Stus Vasyl’ Semenovyč, 13) Čornovil Vjačeslav Maksymovyč. Nach Abschluss dieser Arbeiten ist die Hauptabteilung für den Schutz von Staatsgeheimnissen in der Presse beim Ministerrat der Ukrainischen SSR zu informieren. Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften der Ukrainischen SSR Akademiker I. K. Bilodid Die Werke dieser Autoren wurden in den öffentlichen Bibliotheken ebenso intensiv beschlagnahmt wie bei
252 Ein Land weiblichen Geschlechts
Die Anklage gegen die Dichterin lautete unter anderem auf „antisowjetische“ Gedichte, Selbstveröffentlichung und Beteiligung an der Gründung der ersten Menschenrechtsgruppe in der Ukrainischen SSR. KGB-Sonderbericht über den Verlauf des Prozesses (aus den Dokumenten zum Fall „Blok“ aus dem SBU-Archiv)
Durchsuchungen—Manuskripte, die zwischen den der „Sowjetfeindlichkeit“ Beschuldigten ausgetauscht wurden, als wären sie teure Privatgeschenke. Drei Tage später wurden Stus, Kalynec’ und Šabatura verhaftet. Der Ermittlungsbeamte Oberleutnant Loginov fragte laut dem Vernehmungsbericht des Angeklagten Stus vom 26. April 1972: „Bei Durchsuchungen wurden bei Dzjuba I.M., Seleznenko L.V., Kalynec’ Iryna Onufr. Sammlungen von (selbstverfassten)
L’vivs leidenschaftliche Frau 253
Weihnachten im Hause Sadovs’kyj. Stehend: Ljubomyra Popadjuk, Vasyl’ Stus, Olena Antoniv, Iryna Kalynec’, Marija und Hanna Sadovvs’ka, Mychajlo Horyn’; sitzend: Stefanija Šabatura als Zigeunerin verkleidet, Mar’jan Hatalo, Oleksandr Kuzmenko. L’viv, 9. Januar 1972.
Gedichten ‚Winterbäume‘ und bei Svitlyčnyj I. O. einige Gedichte mit dem Vorwort ‚Zwei Worte an den Leser‘ sichergestellt. Wer von ihnen hat Ihnen gesagt, dass sie ‚Winterbäume‘ ins Ausland geschickt haben und durch wen?“ Zahlreiche Bände von Strafsachen bestehen aus diesen „hat – hat nicht ausgehändigt“, „hat – hat nicht gelesen“, „hat – hat nicht gegeben“, „weiß – weiß nicht“, „war – erinnere mich nicht“. Es gibt neun Bände im Fall von Iryna Kalynec’ und vier Bände im Fall ihres Ehemanns Ihor Kalynec’, der 1972 verhaftet wurde. Die Verurteilung vereinte sie: Nach Artikel 62 des Strafgesetzbuchs wurden sie zu 6 Jahren Haft in einer Strafkolonie mit strengem Regime und 3 Jahren Verbannung verurteilt. Aber auch dort ließen sie sich nicht unterkriegen: Im Gefängnis trat Iryna Stasiv-Kalynec’ zur Unterstützung anderer Gefangener in den Hungerstreik und schickte Protesttelegramme an verschiedene Einrichtungen der UdSSR. Trotz einer solchen Verurteilung verlor Iryna nicht den Mut, obwohl ihre Tochter ohne ihre Eltern in Freiheit blieb.
254 Ein Land weiblichen Geschlechts
Iryna Kalynec’, 1960er Jahre
Dank der unerschütterlichen Unterstützung ihrer Freunde aus dem Künstlerkreis und der Liebe ihrer Familie überstand Iryna (oder, wie ihre Freunde sie liebevoll nannten, Oryška)
L’vivs leidenschaftliche Frau 255 die Repressionen des KGB – Durchsuchungen, Verhaftung, Verurteilung und Verbannung – mit Würde. Der Kalynci-Kreis besteht aus den Absolventen der so genannten „Katakomben-Akademie“ von Karlo Zviryns’kyj und Roman Sel’s’kyj: den Grafikern Roman Petruk und Bohdan Soroka, den Malern Ljubomyr Medved’, Oleh Min’ko, Volodymyr Patyk, Bohdan Sojka, Jaroslav Maceljuch, dem Glaskünstler Andrij Bokotej, der Bildhauerin Marija Savka und der Wandteppichkünstlerin Stefanija Šabatura. Es ist unmöglich, sie alle aufzuzählen. „Iryna und ich waren von der Farbenpracht überwältigt. Vielleicht war diese Wahrnehmung durch unsere Jugend bedingt. Als wir jung waren, liebten wir es, uns zu treffen, die Fülle des Lebens, die Poesie und den Wein zu genießen“, sagte Ihor Kalynec’, als er zum 60. Geburtstag seiner Frau eine Kunstausstellung mit Werken der 60er-Jahre-Bewegung organisierte. Diese experimentelle Ausstellung zeigte das kreative Potenzial ihrer Generation und die originellen Figuren, die ihre Vertreter in der Kunstgeschichte hinterlassen haben. Roman Korohods’kyjs Memoiren „Türen des Lichts. Die 60er-Jahre-Bewegung“ enthält emotionale Beschreibungen: „Mitte der 60er Jahre versammelte der Künstler Oleh Min’ko eine ‚neue Generation‘ … Jung, ungehemmt, gebildet, fröhlich. Ircja Kalynec’, eine Dichterin, Literaturkritikerin, Kunstkritikerin, Historikerin und Kritikerin, beherrschte den Ball … Die Jungs hörten ihr zu, und die Kritiker hatten Angst vor ihr. Wir sangen, führten eine Ziege zu den Koljady (Weihnachtsliedern) … Wir diskutierten heftig, tranken Kaffee, trugen Gedichte vor … Den Ton gab die temperamentvolle Ircja Kalynec’ an, die jeden kannte und ‚talentiert‘ und ‚genial‘ beförderte. Es gab keine anderen unter uns . . . “ Doch Iryna Kalynec’ ist selbst untrennbar mit der Kunst verbunden: Sie schrieb Gedichte (die Sammlungen „Poesie“ – 1991, ein gemeinsames Buch mit Ihor Kalynec’ „Wir sind es, Herr“ – 1993, „Ehe mit Wermut“ – 1995), Kurzgeschichten, historische Romane (den Kriminalroman „Mord vor tausend Jahren“), Märchen für Kinder (in getrennten Ausgaben erschienen und von Lidija Lemyk in der Zeitschrift „Svit ditej“ – Die Welt des Kindes – veröffentlicht).
256 Ein Land weiblichen Geschlechts Iryna Kalynec’ hat auch historische Werke publiziert: „Studien zum Märchen von Ihors Feldzug“ (1999), „Die Rätsel der Taufe“ (2000), „Die Hunnenzeit und ihre Vorgeschichte“ (2007). Professor Jaroslav Daškevyč war ihr Berater und Kritiker in der historischen Forschung. Obwohl Iryna Kalynec’ eine gewisse Nostalgie für ihre Jugendzeit empfindet, ist diese von anderer Natur: „Ich vermisse die Zeit, in der meine Gleichgesinnten innerlich frei waren. Wir konnten es nicht ertragen, dass die wichtigsten Momente unserer Geschichte, Kultur und Religion rücksichtslos verfälscht wurden. Wir glaubten, dass die Ukraine unabhängig werden würde, aber wir wussten nicht, wann genau. Einerseits können wir sagen, dass diese erste Verhaftung unser Leben durchkreuzte, andererseits aber auch nicht, denn sie hatte ein anderes Programm. Ich beneide diejenigen nicht, die sich für die Position eines unbeteiligten Zuschauers entschieden haben, weil sie dadurch gezwungen waren, ihr Gewissen zu kompromittieren und damit dem Bösen zu dienen. Wenn es etwas gibt, das ich bedauere, dann ist es die vergeudete Zeit, die man für eine intensivere Arbeit hätte nutzen können.“ Nach ihrer Rückkehr aus der Verbannung in Transbaikalien nach L’viv engagierte sich Iryna Kalynec’ mit ungebrochener Energie in der sozialen, kreativen und wissenschaftlichen Arbeit. Sie wurde Herausgeberin der im Selbstverlag erscheinenden Kulturzeitschrift „Jevšan-Zillja“ (1988–1990), gehörte zu den Organisatoren von „Memorial“ und der Volksbewegung (Ruch), trat der Wissenschaftlichen Ševčenko-Gesellschaft (NTŠ) bei und schrieb über 300 Artikel. Iryna Kalynec’ war außerdem Mitglied der XII. Verchovna Rada der Ukraine – der „ersten demokratischen“ – die die Unabhängigkeit proklamierte. Roman Korohods’kyj schrieb: „Selbst mit einer dekorativen Präsenz in der Verchovna Rada war die energische Iryna unermüdlich und so jung im Geiste wie in den 1960er Jahren. Sie war die Erste, die darauf aufmerksam machte, dass ukrainische Kinder ins Ausland verkauft wurden und Frauen in Scharen dorthin gingen, um zu arbeiten. Die Kalynci sind eine typisch ukrainische Berufung, Wache zu halten, eine Rolle als Weckrufer für öffentliche Unruhen.
L’vivs leidenschaftliche Frau 257
Einband der selbstverlegten Zeitschrift „Jevšan-Zillja“, deren Redakteurin Iryna Kalynec’ war.
Aber die Kalynci sind in erster Linie Dichter. Und sie sind echte Dichter. Sie leben wie Dichter. Unruhig, wie Quellwasser, brechen sie die Dämme der Konventionen und der an Schreib tischen ausgedachten Konzepte. Sie schaffen Kultur, und dieser Akt nimmt im Laufe der Zeit nicht ab, sondern gewinnt neue Züge, umfasst neue Horizonte der Kulturwissenschaft, der Historio sophie, und ich bin nur froh, dass das Märchen der Kalynec’ als Form und Lebensstil ein glückliches Happy End hat. Viel Glück Euch, meinen lieben Freunden!“ Zu ihrem 70. Geburtstag wurde Iryna Kalynec’ gefeiert, von ihrer Familie, ihren Kindern und ihrer Enkelin, dem Rektor der Nationalen Ivan-Franko-Universität L’viv, Ivan Vakarčuk, all ihren zahlreichen „Patenkindern“ – Studenten verschiedener Universitäten und Studenten des Militärlyzeums „Helden von Kruty“, Historikern des Zentrums für Studien der Befreiungsbewegung und den Mitarbeitern des „Gefängnisses in der Łącki-Straße“ . . .
Vakhtang Kipiani
Lesja—Ukraïnka, Die Mutter von Heorhij.1 Die Lebensgeschichte eines verschwundenen Journalisten Das offene Gespräch mit der Mutter von Gija Gongadze fand kurz nach dem Verschwinden des Redakteurs der Onlinepublikation „Ukraïns’ka Pravda“ am 16. September 2000 statt, als wir weder von den Gesprächen in Kučmas Büro, noch von Mel’nyčenko mit dem „Diktiergerät“, noch von „Kravčenkos Adlern“, noch von den Mördern—Pukač, Kostenko und Protasov—wussten . . . Die „Ukraine ohne Kučma“ und die „Orangene Revolution“ lagen noch vor uns. Die Versprechen von sechs aufeinanderfolgenden Präsidenten, diesen Fall zu untersuchen, wurden noch nicht eingelöst, denn es ist eine Frage der Ehre . . . All das wird noch kommen . . . In der Zwischenzeit sitzen wir mit Frau Lesja Korčak in der von ihrem Sohn Heorhij Gongadze gemieteten Wohnung. An den Wänden hängen Fotos und Gemälde aus dem Leben in Tiflis und L’viv. Die Enkelinnen Nana und Salome, damals 3 Jahre alt, gehen mit einem Kindermädchen spazieren, während ihre Schwiegertochter Myroslava bei der Arbeit ist. Und die Mutter ist Mutter, sie wartet auf ihren Sohn. Er ist verschwunden, seit fast einem Monat hat ihn niemand mehr gesehen.
Gestohlenes Glück Es ist immer eine Tragödie, wenn eine Mutter ihr Kind verliert. Für meine Gesprächspartnerin ist das Verschwinden ihres Sohnes eine 1
V. Kipiani macht hier ein Wortspiel, Lesja – die Ukrainerin – und zugleich erinnert er an die große ukrainische Schriftstellerin Lesja Ukraïnka (Anm. d. Übers.).
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doppelte Tragödie. Schließlich war Heorhij nicht ihr einziger Sohn, den sie verlor. Die Familie von Heorhij. Dieses Foto wurde von Oleksandr Zinčenko, einem Mitglied des Mitarbeiterstabs von „Historische Wahrheit“, bei seiner Arbeit in der Bibliothek in der Zeitung „Holos Ukraïny“ der Verchovna Rada gefunden. Der Artikel bezog sich nicht auf bestimmte Namen. Der Name von Gongadze wurde weder im Text noch in der Bildunterschrift erwähnt. Die Ausgabe von „Stimme der Ukraine“ wurde am 19. Mai 2000 veröffentlicht. Es waren noch 120 Tage bis zur traurigen Nachricht von der Entdeckung in Tarašča. Am 21. Mai 1969 wurde in einer der Entbindungskliniken von Tiflis nicht nur Gija geboren. Es gab noch einen weiteren Jungen,
Lesja—Ukraïnka, Die Mutter von Heorhij 261
einen Zwilling. Der zweite Säugling (oder besser gesagt, der erstgeborene, denn er war zwanzig Minuten älter) wurde . . . seiner Mutter gestohlen. Ich erinnere mich genau an den Moment ihrer Geburt und wie sie in den Armen der Krankenschwester weinten. Die Geburt war sehr schwierig, und als ich aus der Narkose aufwachte, sah ich nur ein Etikett an meinem Handgelenk. Auch in der Krankenakte war nur ein Kind vermerkt. Später fand ich heraus, dass mein Mann erst über die Geburt von Zwillingen informiert wurde und dann erfuhr, dass eines der Kinder gestorben war. Es gab keine Unterlagen, weder über die Geburt noch über den Tod meines zweiten Kindes. Ich verlangte, meinen Sohn zurückzubekommen oder seine Leiche zu sehen, aber ich kam nicht weiter. Die Chefärztin warf mich einfach aus dem Krankenhaus und beschimpfte mich. Ich war kaum noch am Leben . . . Ein Jahr später wurde sie verurteilt, und der Zeitungsartikel über den Prozess trug die Überschrift „Wölfe in weißen Kitteln“. Aber mein Kind wurde mir nie zurückgegeben. 3 Jahre später zeigte mir der neue Chefarzt Dokumente, aus denen hervorging, dass das Kind gestorben war. Aber damals, 1968, gab es in den Unterlagen des Krankenhauses keine Aufzeichnungen über den Tod. Auch in den Unterlagen des Polizeipräsidiums gab
262 Ein Land weiblichen Geschlechts es keine Sterbeurkunde. Einmal ging ich zu einer Wahrsagerin, und sie blickte in meinen Kaffeesatz und sagte: „Sie haben zwei Kinder.“ Ich antwortete: „Eines.“ „Nein, das haben Sie nicht, ich sehe zwei Kerzen . . . “
Eine galizische Frau Ich wurde in L’viv geboren. Am Ende des Zweiten Weltkrieges hätten wir ins Ausland gehen können, aber mein Vater war ein großer Patriot: „Die ersten Sowjets blieben nicht lange, und die zweiten werden nicht lange bleiben.“ Die Kommunisten schickten unsere Familie auf die Straße. Uns haben, um genau zu sein, russische Leute gerettet, die uns in ihrem Keller wohnen ließen. Unsere erste Wohnung bekamen wir erst 1960 – ein Zimmer für fünf Personen. Ich bin dem Schicksal dankbar, dass ich die Chance hatte, Ruslan Gongadze zu treffen. Er war erstaunlich gutaussehend. Irgendjemand war immer in ihn verliebt, aber er gab zu, dass er sich auf den ersten Blick in mich verliebte. Wir heirateten in einer orthodoxen Kirche. Wir feierten unsere Hochzeit in L’viv und in Satschchere, einer Kleinstadt in Georgien. Hunderte von Menschen kamen, um uns zu gratulieren. Damals ist mir aufgefallen, dass die Frauen getrennt von den Männern saßen. Und Sie werden es nicht glauben, die Musiker haben für die Gäste Lieder über Stalin und Bandera gesungen!
Gongadze: Vater und Sohn
Lesja—Ukraïnka, Die Mutter von Heorhij 263 Ruslan schloss sein Studium an der Fakultät für Architektur am Polytechnischen Institut in Tiflis ab. In den späten 1960er Jahren schloss er sich Dissidentenkreisen an und unterhielt Beziehungen zu Merab Kostava und Sviad Gamsachurdia. Ich erinnere mich oft an eine Weihnachtsreise mit Freunden meines Mannes in die Karpaten (nach Paradžanovs „Schatten vergessene Ahnen“ (Feuerpferde) gab es einen regelrechten „Karpaten-Boom“). In einem der huzulischen Dörfer gingen wir in die erste Hütte, deren Besitzer so froh war, dass es Georgier waren, die zu ihm kamen, dass er uns mit Essen und Trinken allein ließ. Gott, was für eine seltsame Familie wir hatten . . .
„Ich habe an der Besetzung teilgenommen . . . “ Im August 1968 arbeitete ich als Zahnärztin in einer Militäreinheit. Eines Tages wurde ich alarmiert. In der Erwartung, dass es sich um ein weiteres „Ausbildungslager“ in der Nähe der Stadt handeln würde, warf ich meine Bücher und meine Badehose in meine Tasche. Ich flog sofort zur Einheit, bekam eine Militäruniform, wurde in einen Lastwagen gesteckt, bekam eine Tüte Kekse für alle und wurde in die Tschechoslowakei geschickt . . . So begann
Lesja Gongadze. Tschechoslowakei, 1968
264 Ein Land weiblichen Geschlechts für mich die Besetzung dieses Landes. Ich erinnere mich sehr gut daran, dass auch das Trinkwasser aus der Sowjetunion gebracht wurde—wir hatten Angst, dass „unsere Brüder“ uns vergiften würden. Die Bedingungen im Feld (ich habe zum Beispiel die Nacht in einem Krankenwagen verbracht) und das Essen der Soldaten machten mich krank. Ich wurde ins Militärkrankenhaus in L’viv evakuiert und dort entlassen. Und dann kam Ruslan und ließ mich nicht mehr gehen. Ende 1968 war ich bereits schwanger und wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Ich dachte, es sei besser zu sterben, als mein Kind zu verlieren.
Die Sportlerin und der Polyglotter In Tiflis wohnten wir in einer ehemaligen Kaserne. Die Bedingungen waren spartanisch. In unserem Haus gab es fast keine Georgier, unsere Nachbarn waren Kurden und Armenier. Im Alter von 3 Jahren ging Gija in den Kindergarten. Interessanterweise war er bis zum Alter von 2 Jahren stumm, und dann sprach er vier Sprachen auf einmal—Georgisch, Ukrainisch, Polnisch und Russisch. Zufälligerweise ließen sich Heorhijs Vater und ich etwa zur gleichen Zeit scheiden. Aber wir blieben noch lange eine Familie. Ich habe nicht versucht, mir ein Privatleben aufzubauen. Die Hauptsache ist, dass ich einen Sohn habe. Und meinen Beruf— ich arbeite seit 21 Jahren am Institut für Traumatologie. Ich habe keine Angst, unbescheiden zu klingen, aber ich habe mich als guter Spezialist für postoperative Rehabilitation erwiesen. Hunderte von Menschen sind durch meine Hände gegangen—von berühmten Künstlern und Geistlichen bis hin zu „Gesetzesbrechern“ und völlig Drogenabhängigen. In der Schule war Gija gut. Außerdem ging er zum Tanz-, Zeichen- und Schwimmunterricht. Und die Leichtathletiktrainerin, die Olympiamedaillengewinnerin Nina Dumbadze, überzeugte mich davon, dass mein Sohn eine große Zukunft im Sport haben könnte. Mein Sohn sah, wie hart ich arbeitete, um die Familie zu unterstützen, und begann, die Gutscheine, die die Sportler im Trainingslager erhielten, gegen Lebensmittel und Bargeld
Lesja—Ukraïnka, Die Mutter von Heorhij 265 einzutauschen und nach Hause zu bringen. Nach der 10. Klasse gab er mir sein Schulabschlusszeugnis: „Es gehört dir.“ Im ersten Jahr nach der Schule besuchte Heorhij das Tifliser Institut für Fremdsprachen in der Abendabteilung, tagsüber arbeitete er als Schlosser in der Heizungsbranche und trieb weiterhin Sport.
Sauberes Wasser aus Tiflis Als er zur Armee eingezogen wurde, habe ich wie jede Mutter alles getan, um sicherzustellen, dass er unter mehr oder weniger normalen Bedingungen dient. Ich verkaufte alles, was ich konnte, sammelte 800 Rubel und brachte sie zum Einberufungsbüro. Man versprach mir, ihn nach L’viv zu schicken, in den Armeesportverein. Aber am Sammelplatz fragte ich den Leutnant, der die Rekruten begleitete, vorsichtshalber, wohin sie gebracht werden sollten. „Eineinhalb Stunden Flug.“ Ich wurde ohnmächtig, denn L’viv liegt viel weiter weg. Der Offizier „beruhigte mich“: „Warum sind Sie so besorgt, ich war auch in Afghanistan und ich lebe noch.“ Und dann nahm er mich zur Seite und flüsterte: „Frau, ich flehe Sie an—verlassen Sie den Kontrollpunkt, der Kommandant des transkaukasischen Militärbezirks Rodionov wird sogleich kommen. Sie werden mir die Schulterklappen nehmen. Ich verspreche, dass ich ein Treffen mit Ihrem Sohn arrangieren werde.“ Der Offizier hat nicht gelogen. Gija wurde in die Wüste bei Aschgabat geschickt. In dieser „Schule“ wurden die Jungen für den Dienst in Afghanistan ausgebildet. Gott, wie habe ich nach ihm gesucht, wie viele Kilometer bin ich in einem Taxi durch die Karakum-Wüste gefahren, um seine Einheit zu finden! Infolgedessen reiste ich elfmal nach Turkmenistan. Heorhij war Feldwebel, Kompaniechef. In seiner Einheit gab es keine so genannten „Schikanen“. Wie mir schien, behandelten die Kommandeure dort die Jungen gut und menschlich. Sie ließen sie mit mir in den Zirkus gehen. Gija sagte einmal zu mir: „Mama, du blamierst mich vor den Jungs—du fütterst mich fast vor der ganzen Truppe mit Möhren!“ Aschgabat hatte damals sehr schlechtes
266 Ein Land weiblichen Geschlechts Wasser, also habe ich ihnen sauberes Wasser mitgebracht, aus Tiflis . . . Was den Krieg angeht, weiß ich nur wenig. Gija ist nicht sehr bereit, darüber zu sprechen, was er gesehen hat.
Von Krieg zu Krieg Im April 1989 brachen in Tiflis große Volksunruhen aus: Die Menschen forderten die Abspaltung der Republik von der UdSSR. Gija hatte zu diesem Zeitpunkt noch etwa einen Monat in der sowjetischen Armee zu dienen, aber er wandte sich an seinen Befehlshaber, Oberst Soldatov, und bat um seine vorzeitige Entlassung. Er sagte, sein Heimatland (also Georgien) sei in Gefahr, und wenn er nicht entlassen würde, würde er „sowieso abhauen“. Der Kommandant dachte darüber nach und . . . stimmte zu. Nach der Rückkehr in seine Heimatstadt begann Gija sich zusammen mit seinem Vater, einem Parlamentsabgeordneten, in der sozialen und politischen Arbeit zu engagieren. Als dann Sviad Gamsachurdia Präsident des Landes wurde, wurde Ruslan Gongadze auf die Liste der unerwünschten Personen gesetzt. Es wurden Listen von „Volksfeinden“ erstellt und in Zeitungen veröffentlicht. Heorhijs Vater stand auf dieser Liste auf Platz 28. Und so ist es nicht verwunderlich, dass im Dezember 1991 in Tiflis ein Aufstand begann—gegen Gamsachurdia. Ich erinnere mich mit Schrecken an diese Tage. Alles stand in Flammen. Es gab keinen Strom. Es gab auch kein Wasser. Es herrschte Hunger. Jeder, der aus der Stadt entkommen konnte, floh. Mein Sohn lebte zu dieser Zeit in L’viv. Plötzlich klopfte es an der Tür. Ich war erschrocken, denn ich hatte mit allem gerechnet. Mein Sohn stand auf der Türschwelle, trug einen weißen Tarnmantel und hatte eine Maschinenpistole bei sich. Er sagte: „Mama, ich bin gekommen, um die Ehre und den Namen meines Vaters zu verteidigen. Ich werde meine Hand nicht gegen einen Georgier erheben. Ich werde Sanitäter sein.“ Ich gehörte auch zur Opposition: Ich kochte für Kitovani und Ioseliani [bekannte Persönlichkeiten in Georgien: Ersterer ist der künftige amtierende Verteidigungsminister, Letzterer ist ein „Dieb
Lesja—Ukraïnka, Die Mutter von Heorhij 267 im Gesetz“2, Dramatiker, Mitglied des Militärrats von Georgien], wischte die Böden und versorgte die Verwundeten. Lesja hält ein Foto von Heorhij in der Hand: Er trägt Tarnkleidung und einen Helm mit einer auffälligen Aufschrift auf Georgisch: „Sviad ist Scheiße.“ Gija hat seinen Vater sehr geliebt. Vor 7 Jahren musste Ruslan aufgrund von Stress nach Kyïv ziehen, er wurde hier in einer onkologischen Klinik behandelt. Als er starb, bezahlte die ukrainische Regierung in Anerkennung seiner Verdienste seinen Flug und seine Beerdigung. Am 40. Tag nach dem Tod seines Vaters fuhr Gija nach Suchumi. Schon lange wollte er einen Dokumentarfilm über den Krieg in Abchasien drehen.
Georgij Gongadze mit seinem Neffen während des Bürgerkrieges. Tiflis, Anfang der 1990er Jahre 2
Die „Diebe im Gesetz“ bilden die Gefängnishierarchie (Anm. d. Übers.).
268 Ein Land weiblichen Geschlechts Ich verkaufte das Sturmgewehr, das sich seit dem Sturz von Gamsachurdia im Haus befand, an einen sehr reichen Geschäftsmann. Mit dem Erlös aus dem Verkauf erwarb der Sohn eine Videokamera und drehte Aufnahmen für den Film „Der Schmerz meines Landes“. Er trug keine Waffe und nahm nicht an Kampfhandlungen teil. Trotzdem geriet er an der Front unter Beschuss. Als sie ihn vollständig verbunden nach Hause brachten, wurde ich ohnmächtig. Die Ärzte zählten 26 Wunden an seinem Körper. Lesja zeigt die Schutzweste, die Gija trug, als er verwundet wurde. Es gab Löcher in der Herzgegend und am Bauch. Braunes Blut befleckte seinen Rücken. Sein linker Arm war nur noch ein nackter Knochen. Ein Schrapnell hatte fast sein Herz getroffen, ein anderes sein Auge. Der Kommandant sagte, Gija habe versucht, zwei Verwundete vom Schlachtfeld zu holen. Und auf dem Flughafen wollte er seinen Platz im Flugzeug einem anderen Verwundeten überlassen. Glücklicherweise wurde er noch rechtzeitig nach Tiflis gebracht. Wie sich herausstellte, war dies das letzte Flugzeug, das Suchumi verließ. Innerhalb weniger Stunden nahmen die Russen und Abchasen die Stadt ein und töteten alle verbliebenen Georgier. Es war sehr schwierig, meinen Sohn aufzupäppeln. Wir hatten kein Verbandszeug, kein Wasser und seit 6 Monaten kein Brot mehr gesehen. Als Kombattant hatte er Anspruch auf Sozialleistungen, die er aber nie in Anspruch nahm.
Ukrainischer Georgier oder georgischer Ukrainer? Ende 1989 trat Gija Gongadze als Vertreter des Informationsdienstes der Volksfront in Černivci (Czernowitz) auf dem ersten Festival „Červona Ruta“ auf. Unter den Tausenden von patriotischen Jugendlichen in nationalen „Trachten“ und Tausenden von „Schaulustigen“ in Zivilkleidung stach ein hochgewachsener Georgier hervor, der klar Ukrainisch sprach und herausfordernd die georgische Nationalflagge noch höher hielt. Interessanterweise traf auch ich Heorhij bei „Červona Ruta“. Einige Tage vor dem Putsch im August 1991 gingen zwei Georgier auf der Hauptallee von Zaporižžja aufeinander zu. Gija trug ein
Lesja—Ukraïnka, Die Mutter von Heorhij 269 ukrainisches besticktes Hemd und eine karmesinrote Hose, und ich trug nur ein besticktes Hemd, aber mit einer georgischen Flagge. Als wir das Kennzeichen, die Flagge, sahen, konnten wir nicht aneinander vorbeigehen, ohne uns kennenzulernen. Seit Ende der 1980er Jahre ist Gongadze ein häufiger Besucher in L’viv. Zunächst als Vertreter des Informationszentrums der Georgischen Volksfront. Im September 1990 verlobte er sich mit einer Frau aus Galizien, Marjana, und wechselte an die Fakultät für Fremdsprachen der hiesigen Universität. Er nahm an allen Aktionen von „Ruch“ und der Studentenbruderschaft teil. Bald darauf nahm er seine „Brüder“ mit nach Tiflis – nachdem die jungen Ukrainer auf dem Platz vor dem Regierungsgebäude eine Rede zur Unterstützung der Unabhängigkeit Georgiens gehalten hatten, trugen die Menschen sie buchstäblich auf Armen … Am Ende eines langen und schwierigen Gesprächs über ihren Sohn erinnerte sich die Mutter von Heorhij an einen bemerkenswerten Moment aus seiner Schulbiografie. In den späten 1970er Jahren begannen georgische Kinder, beeinflusst von der politischen Stimmung in der Gesellschaft (es gab eine hitzige Debatte über den staatlichen Status der georgischen Sprache), in der 3. Klasse Georgisch zu lernen.
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Gija mit seinen Freunden von der Studentenbruderschaft
Sie begannen, Kinder aus russischen Schulen und „Halbblüter“ zu schikanieren. Sie verlangten „Tribut“ für das Recht, „auf georgischem Boden zu leben“. Um zur Schule zu gehen, musste man Geld bezahlen. Ich sagte ihm damals: „Nimm es dir nicht zu Herzen, streite nicht mit ihnen, die Zeit wird kommen—sie werden auf dich noch stolz sein, sowohl in Georgien als auch in der Ukraine.“ Die Schrammen und blauen Flecken, die er damals erlitten hat, sowie drei Kriege und eine lebhafte journalistische Karriere, werden durch die Worte seiner Mutter bestätigt: „Mein Sohn hat fünf Leben gelebt, ich habe ihn oft verloren und wiedergefunden.“ Oleksandra (Lesja) Korčak-Gongadze hat ihren Sohn nicht mehr gesehen. Viele Jahre lang hat sie nicht anerkannt, dass die in der Nähe von Tarašča gefundenen Überreste ihr Kind waren. Sie suchte weiterhin nach Gija. Sie starb am 30. November 2013.
Ihor Hałagida
Die ukrainische Mutter der polnischen „Solidarność“. Die unbekannte Kindheit von Anna Walentynowicz Die ukrainische Herkunft einer der profiliertesten Persönlichkeiten der Solidarność ist für manche in Polen immer noch eine Quelle der Irritation. Sie hat nie öffentlich über ihre Wurzeln gesprochen. Warum eigentlich? 2010, nach der Katastrophe von Smolensk, tauchten in den ukrainischen Medien Informationen über die ukrainische Herkunft von Anna Walentynowicz auf. Die erste Zeitung, die darüber berichtete, war die Regionalzeitung aus dem Bezirkszentrum von Hošča in der Oblast’ Rivne, „Ridnyj Kraj“, am 17. April. Diese Information wurde anschließend von den nationalen Medien, einschließlich der einflussreichen Zeitung „Ukraïns’kyj Tyžden“ und „Radio Svoboda“, wiederholt. Einige Monate später erschien in Polen ein Text zu diesem Thema im „Ukraïns’kyj Al’manach“, einem Jahrbuch der ukrainischen Minderheit.
Anna Walentynowicz und Lech Wałęsa. Gdańsk, August 1980. Die Entlassung von Anna Walentynowicz, die auf einem Kran der Lenin-Werft arbeitete, löste einen Arbeiterprotest und einen Streik aus. Ihre Entlassung war der Beginn der polnischen Solidarność-Bewegung.
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Dennoch wurden solche Enthüllungen jenseits der Weichsel mit Misstrauen, manchmal sogar mit ironischen Kommentaren und Spott aufgenommen. „Seit einiger Zeit kursiert die sensationelle Information, dass Anna Walentynowicz, die in der polnischen Familie Lubczyk in Rivne (Wolhynien) geboren wurde, angeblich ukrainischer Abstammung sei“, kommentierte der Priester Tadeusz Isakowicz-Zaleski in seinem Blog mit der Überschrift „Unsinn über Anna Walentynowicz“.1 Mehr noch, dass nach Walentynowiczs Tod ihre Familie auf „wundersame“ Weise in Wolhynien gefunden wurde. So wie vor 400 Jahren Zarewitsch Dmitrij, der Sohn von Zar Ivan dem Schrecklichen, sich nach dessen Tod auf „wundersame“ Weise (und zweimal) in Moskau wiederfand. […] In diesem Moment wollte ich schreien: Herr, erbarme dich!!! […] Es ist erwähnenswert, dass die beiden Figuren, die behaupteten, der auf wundersame Weise überlebende Zarewitsch Dmitrij zu sein, den Spitznamen Hochstapler trugen. Eine ähnliche Definition passt wie die Faust aufs Auge auf diejenigen, die behaupten, die Geschwister von Anna Walentynowicz zu sein.“ Nach kurzer Zeit geriet dieser Fall fast in Vergessenheit. Fast – denn das Thema wurde immer wieder in Form von Klatsch und Tratsch aufgegriffen. Einigen mag auch aufgefallen sein, dass sich die Biografien der „Mutter der Solidarność“ in der polnischen und der ukrainischen Version von Wikipedia in den Teilen über ihre Kindheit unterscheiden. Ich nutzte meinen Aufenthalt in Rivne (Recherchen in den örtlichen Archiven), um zu versuchen, dieses Rätsel zu lösen. Ich glaube, es ist mir teilweise gelungen.
Familie Einer bekannten Biografie zufolge wurde Anna Walentynowicz am 15. August 1929 in Rivne in der polnischen römisch-katholischen Bauernfamilie von Jan und Oleksandra Lubczyk geboren. Als Kind 1
Der Krakauer Priester ist in den letzten 20 Jahren immer wieder als streitbarer Mann und insbesondere auch durch antiukrainische Thesen aufgefallen (Anm. d. Übers.).
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verlor sie ihre Eltern und ihren Bruder, der nach Sibirien deportiert wurde. Fremde nahmen sie in ihre Familie auf, und so landete sie in der Nähe von Warschau und später in Gdańsk. In dieser Geschichte sind nur das Geburtsdatum und Informationen über ihren älteren Bruder, der sich als ihr einziges Kind herausstellte, von den Sowjets verhaftet und wegen Kollaboration mit der Ukrainischen Aufständischen Armee zu 15 Jahren Lagerhaft verurteilt wurde (er wurde nach Stalins Tod freigelassen und durfte erst nach einigen Jahren in die Ukraine zurückkehren), wahrheitsgemäß. Tatsächlich kam Anna Lubczyk auf einem nicht mehr existierenden Bauernhof zur Welt, der zum Dorf Sienne (heute Sadove) gehörte, in der nicht sehr wohlhabenden ukrainischen Bauernfamilie der Ljubčyks—Nazar und Prys’ka aus der Familie Paškovec’. Das Mädchen wuchs mit fünf Geschwistern auf: den Halbgeschwistern Ol’ha, Petro, Kateryna, Vasyl’ und dem bereits erwähnten Bruder Ivan. Annas Mutter war Witwe mit einem kleinen Kind, ihr erster Ehemann Oleksa Suščuk starb tragischerweise wenige Wochen nach der Geburt ihres Sohnes Ivan. Ihre Namen sucht man jedoch im Kirchenbuch der orthodoxen Gemeinde von Sienne, das heute im Staatlichen Regionalarchiv von Rivne aufbewahrt wird, vergeblich. Die Erklärung dafür ist sehr einfach.
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So äußert Annas Schwester Ol’ha Ljubčyk, die heute mit ihrem jüngsten Bruder in Matiïvka (etwa 15 km von Sadove entfernt) lebt: „Wir waren Štundas.“ Der Stundismus ist eine protestantisch-pietistische religiöse Bewegung, die Mitte des 19. Jahrhunderts in der Ukraine aufkam und allmählich eine gewisse Popularität sowohl unter den deutschen Kolonisten in Wolhynien als auch unter einigen ihrer ukrainischen Arbeiter oder Nachbarn erlangte. In den 1930er Jahren gab es in Wolhynien mehr als 30 000 Gläubige.
Trennung Natürlich gab es ärmere Familien als die Familie Ljubčyk, aber auch in ihrem Haus wurden sie gut ernährt. Trotzdem schaffte es Anna, 4 Klassen der Mittelschule in Sienne abzuschließen. Später konnte sie nicht mehr studieren, weil die Deutschen die örtliche Schule während des Krieges geschlossen hatten. Im September 1937 starb Prys’ka, die Mutter der achtjährigen Anna. 3 Jahre später, im September 1940, heiratete Nazar Ljubčyk Marija Ozarčuk. Sie hatten 5 gemeinsame Kinder. Nach Erzählungen der Familie machte Annas Stiefmutter keinen Unterschied zwischen ihren eigenen und ihren Pflegekindern. Doch mit dem Ausbruch des Krieges verschlechterte sich die finanzielle Situation der Familie erheblich. „Als die Russen kamen, es aber noch keine Kolchosen gab, hatten wir unser eigenes Land, säten und bearbeiteten es selbst: Anna, ich und meine jüngere Schwester. Wir arbeiteten hart, aber wir lebten nicht in Armut, bis die Sowjets uns das Land wegnahmen. Sie nahmen uns auch unser Eigentum und unsere Ausstattung weg, wir hatten nichts zum Anziehen, wir liefen barfuß herum“, erinnert sich Ol’ha Ljubčyk. Diese Bedingungen zwangen die Familie zu einer schwierigen Entscheidung: Die älteren Kinder sollten sich als Arbeitskräfte verdingen (was damals die Regel war). Es schien wie eine Erlösung, für Edmund Teleśnicki zu arbeiten, einen Polen, der als Angestellter einer Zuckerfabrik in Babyn Rüben von den umliegenden Dorfbewohnern kaufte.
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Ol’ha Ljubchyk und ihr Bruder Vasyl’. 2016
Wahrscheinlich holten Teleśnicki und seine Frau Walentyna sie im Jahr 1941, nachdem die Adelsfamilie Pruszyński ihr Anwesen in Pustomyty, das direkt neben Sienne lag, verlassen hatte, auf dieses Anwesen. Edmund Teleśnicki kannte Marija Ozarčuk, die einst für ihn gearbeitet hatte. Er sah die Armut dieser Familie und bot ihr an, eines der Mädchen aufzunehmen. Zunächst entschied er sich für die Älteste, Ol’ha. Sie hielt jedoch die Arbeitsbedingungen nicht aus und kehrte nach 2 Monaten nach Hause zurück.
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Anstelle ihrer Schwester nahmen die Teleśnickis die zwölfjährige Anna auf. „Ich flehte sie an, nicht zu gehen, aber sie sagte, sie würde es schon schaffen“, erinnert sich Ol’ha Ljubčyk. Anna arbeitete hart für ihre ‚Herren‘, ohne irgendeinen Lohn zu erhalten. Ihre einzige Bezahlung war Essen. Eine dramatische Wendung im Leben von Anna Ljubčyk trat 1943 ein. In offiziellen Biografien wird erwähnt, dass das Mädchen Wolhynien 1941 mit seiner Pflegefamilie verließ. Dieses Datum ist unklar. Schließlich ist nicht bekannt, warum die Polen ausgerechnet zu einem Zeitpunkt gehen mussten, als sie die verhasste Sowjetregierung losgeworden waren und die Deutschen noch nicht den wahren Charakter ihres Regimes gezeigt hatten. Tatsächlich verließen die Teleśnickis Wolhynien im Winter 1943, höchstwahrscheinlich aus Angst vor Angriffen des ukrainischen Untergrunds. Ol’ha Ljubčyk erinnert sich auch daran, dass „Jungen aus dem Wald kamen und den Besitzer erschreckten, so dass er weglief—er nahm alles mit und ging weg, unsere Anja nahm er mit.“ Dieses Datum kann auch indirekt durch einen Eintrag in der Mobilisierungskarte von Konstanty Teleśnicki, dem Sohn von Edmund, bestätigt werden. Beim Ausfüllen der Dokumente im Mobilisierungsbüro des Kreises gab er an, dass er von 1941 bis 1942 als Arbeiter in Hošča und von 1942 bis 1943 im Büro in Lyszcze arbeitete. Nicht völlig richtig scheint die Information, dass Anna Walentynowicz bereits seit 1942 in Malcowizna (heute Rudnik) bei Warschau bei Leon und Marianna Teleśnicki, den Verwandten von Edmund und Walentyna, lebte. Warum haben die Teleśnickis Anna mitgenommen? Das ist nicht bekannt. Walentynowicz erinnerte sich später daran, dass ihre Dienstherren sagten, ihr Heimatdorf sei niedergebrannt und ihre Verwandten seien gestorben. War das wahr? Heute wissen wir, dass dies nicht der Fall war. Tatsächlich hatten die Deutschen das nahe gelegene Dorf Pustomyty in Brand gesteckt und dabei mehrere hundert Menschen getötet. Einige Tage zuvor wurde auch das Dorf Sienne teilweise
Die ukrainische Mutter der polnischen „Solidarność“ 277 niedergebrannt, doch die meisten Einwohner, darunter auch die Familie Ljubčyk, überlebten. Die Unaufrichtigkeit von Annas polnischen Herren zeigt sich darin, dass sie nach dem Verlassen von Pustomyty noch einige Tage in Hošča blieben. Nazar Ljubčyk fand sie dort und suchte nach seiner Tochter. Als er fragte, wohin das Mädchen gegangen sei, hörte er die Antwort: „Sie ist irgendwohin gegangen.“ Bald darauf verließen die Teleśnickis Hošča und landeten in dem bereits erwähnten Malcowizna. Es ist wahrscheinlicher, dass die Polen die kleine Anna einfach als kostenlose Arbeitskraft betrachteten. Diese Hypothese wird durch die Tatsache gestützt, dass sie 1945 auf dem Bauernhof am Rande von Gdańsk nicht als Familienmitglied behandelt wurde. Die Teleśnickis verboten ihr nicht nur, die Wahrheit über ihre Nationalität zu sagen („wenn du sagst, dass du Ukrainerin bist, werden sie dich töten“). Die Dienstherren des Mädchens beschimpften und schlugen sie auch.
Jahre später ein Treffen Das Schicksal der späteren Solidarność-Ikone ist wohlbekannt. Die Umstände, wie sie ihre Familie wiederfand, scheinen jedoch ungewöhnlich zu sein. Familienlegenden zufolge war die einzige Person, die jahrelang glaubte, dass Anna noch lebte, ihr Vater Nazar (die Tatsache, dass er seine Tochter vermisste, wird durch den Namen des später geborenen Mädchens belegt—sie hieß ebenfalls Anna). Nach dem Zusammenbruch der UdSSR startete Nazar auf Anraten seiner Nichte eine offizielle Suche, auch über die Presse. Durch Zufall stieß ein lokaler Heimatkundler aus Ternopil’, Jefrem Hasaj, auf eine dieser Anzeigen. Mit seinem Rat und seiner Hilfe begann die Suche in Polen. Sie dauerte lange, aber schließlich, 1996, erfuhr Anna Walentynowicz von der Existenz ihrer nächsten Verwandten in der Ukraine. Da die Informationen über die Verwandten, die nach ihr suchten, aus Ternopil’ stammten, reiste sie zunächst in diese Stadt.
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Beschriftung auf der Rückseite des Fotos: „Zum Gedenken an meinen Bruder Vasja Nazarovyč von seiner Schwester Anna Lubczyk-Walentynowicz. Ukraine, 3.12.1996“
Erst nach einem Treffen mit Jefrem Hasaj und der telefonischen Klärung aller Umstände nahm sie Kontakt zu ihrer Familie auf. „Aus diesem [ersten] Gespräch wurde nichts, weil wir nur unsere Namen ins Telefon sagen konnten: ‚Ol’ha, ‚Anja‘“, erinnert sich Ol’ha Ljubčyk. Am nächsten Tag trafen sich die Schwestern am Busbahnhof in Rivne. Leider erlebte ihr Vater, Nazar Ljubčyk, dieses Ereignis nicht mehr, denn er starb im Dezember 1995. In den nächsten 14 Jahren besuchte Anna Walentynowicz ihre Verwandten in der Ukraine fast jedes Jahr (mit Unterbrechungen, wenn es ihr Gesundheitszustand nicht zuließ). Das letzte Mal war sie im Juli 2009 in Slavuta in der Oblast’ Chmel’nyc’kyj, um an der Beerdigung ihres Bruders Ivan teilzunehmen. Im August 2010 wollte sie nach Volyn’ kommen. Am Vorabend ihres verhängnisvollen Fluges nach Smolensk rief Walentynowicz ihren Cousin Mychajlo Paškovyč aus Kyïv an, dem sie versprach,
Die ukrainische Mutter der polnischen „Solidarność“ 279 ihm die Einzelheiten ihres Lebens zu erzählen. Dazu ist es nie gekommen.
Eine (fast) unbeantwortete Frage Anna Walentynowicz wurde auf dem „Srebrzysko“-Friedhof in Gdańsk beigesetzt. Es ist eine Art Paradoxon, dass sie in der gleichen Grabstätte wie Edmund Teleśnicki (der 1979 starb), seine Frau Walentyna (gestorben 1958) und ihr Sohn Konstanty (gestorben 2004) begraben wurde. Wusste sie zu Lebzeiten, dass die Familie ihrer Herrschaften in Gdańsk lebte? Haben sie sie als ehemalige Dienerin/Hausmädchen erkannt? Das ist nicht bekannt. Sie könnte Konstanty Teleśnicki gekannt haben, der (notabene!) 1950–1953 im Sicherheitsdienst der Woiwodschaft Gdańsk diente (seine Personalakte war unter Verschluss, als ich sie lesen wollte, daher weiß ich nicht, was er über die Kriegszeit seines Lebens geschrieben hat). So oder so, es ist schwer vorstellbar, dass er Anna nie im Fernsehen gesehen hat, als sie berühmt wurde. Eine der wichtigsten Fragen, die sich stellt, ist, warum Anna Walentynowicz ihr ganzes Leben lang Fakten aus ihrer Kindheit verheimlicht hat. Warum hat Anna Walentynowicz ihr ganzes Erwachsenenleben lang Tatsachen aus ihrer Kindheit verschwiegen? Es ist unwahrscheinlich, dass es darauf eine einfache Antwort gibt. Zweifelsohne haben das Trauma ihrer Kindheit und der Verlust ihrer Angehörigen ihre Lebensentscheidungen stark beeinflusst. Das Verschweigen ihrer wahren Herkunft könnte durch die Art und Weise verursacht worden sein, wie die polnisch-ukrainischen Beziehungen in der Volksrepublik Polen dargestellt wurden. Vielleicht ist unter diesen Gründen auch die Entstehung der von ihr erfundenen Legende über ihre eigene Kindheit zu suchen, zumal Anna jahrzehntelang davon überzeugt war, dass sie allein auf der Welt war . . . Es gibt keine einfache Antwort auf die Frage, warum sie nach 1996, als sie ihre Familie gefunden hat, nicht die Wahrheit gesagt
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Anna Walentynowicz, 15. August 1929 – 10. April 2010
hat. Vielleicht entschied sie, dass es zu spät war, dass ihre persönliche Beziehung zu ihrer Familie wichtiger war als Änderungen in ihrer Autobiografie, die ihren Feinden in die Hände gespielt haben könnten. Leider bleibt dies alles spekulativ. Ändert diese Information die Haltung gegenüber Anna Walentynowicz? Ganz im Gegenteil. Ihr Unterwegssein und ihre
Die ukrainische Mutter der polnischen „Solidarność“ 281 harte Arbeit für andere Menschen erklären ihre Verletzlichkeit und ihre Sensibilität für die Probleme der anderen, ihren Wunsch, ihren Lieben zu helfen, die sie ihr ganzes Leben lang begleitet haben. Ihre Biografie ist auch ein perfektes Beispiel für die tragischen Schicksale von Menschen aus dem Grenzgebiet. Es ist nicht verwunderlich, dass die polnisch-ukrainischen Beziehungen auch heute noch von der oft blutigen Vergangenheit überschattet werden. Ohne die tragischsten Ereignisse zu vergessen, lohnt es sich daher, ein Verständnis für das zu entwickeln, was uns eint. Und was uns verbindet, sind vor allem Persönlichkeiten wie Anna Walentynowicz: eine zweifellos polnische Heldin mit ukrainischen Wurzeln. Nach dem Verfassen des Artikels haben polnische Journalisten unser Wissen über die Biografie von Anna Walentynowicz vertieft, einschließlich ihrer Kindheit.2 Während meines Aufenthalts in Rivne hatte ich die Gelegenheit, als Beobachter an einem Arbeitstreffen lokaler Aktivisten der Zivilgesellschaft mit Vertretern der lokalen Regierung teilzunehmen. Einer der Vertreter der lokalen Behörden, Taras Homenjuk, versprach, im Zentrum von Hošča ein Museum zu eröffnen, das seiner Landsfrau und „Mutter der Solidarität“ gewidmet sein soll. Wird diese Erklärung umgesetzt werden? Das wird nur die Zeit zeigen. Der Artikel basiert auf der Arbeit von Mykola Paškovec’ und Jaroslav Pljas „Vohnenna vichola poklykala u bezsmertja, abo perervanyj polit ‚pasionariï‘“ (Ein feuriger Meilenstein rief auf zur Unsterblichkeit, oder die unterbrochene Flucht der „Leidenschaftlichen“), Kyïv, 2013.
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DOROTA KARAŚ, MAREK STERLINGOW: Walentynowicz. Anna szuka raju. Znak, Kraków 2020 (Anm. d. Übers.).
Maksym Majorov
„Populärster ukrainischer Soldat . . . “ – Leutnant und Freiwillige Anna Khraplyva Prototyp der modernen Freiwilligenbewegung waren die Initiativen der ukrainischen Diaspora während des Zweiten Weltkrieges. Dies ist die Geschichte einer charmanten jungen Frau aus Kanada, die durch den Krieg zu einer Aktivistin für ukrainische humanitäre Organisationen wurde. Die ukrainischen Frauen, deren Leben durch den Zweiten Weltkrieg verändert wurde, handelten auf unterschiedliche Weise: Sie litten als Opfer von Brutalität, widmeten sich unter der Besatzung karger Arbeit oder kämpften gleichberechtigt mit den Männern mit der Waffe gegen den Feind. In der Regel wählten sie ihr Schicksal nicht selbst: Der Krieg zog sie in einen blutigen Strudel und zwang sie, verschlungene Pfade voller Risiken und Leid zu gehen. Doch es gibt auch andere Beispiele. Tausende von Kilometern von den Kriegsschauplätzen entfernt meldeten sich ukrainische Frauen in der Diaspora freiwillig auf den Aufruf ihrer kriegführenden Regierungen. In ihrem Krieg ging es nicht um Blut und Tränen, sondern um einen engagierten Dienst zum Wohle ihrer Landsleute. Kanada war eines der ersten Länder, das in den Zweiten Weltkrieg eintrat. Als britisches Herrschaftsgebiet erfüllte es seine Verpflichtung gegenüber der Krone und erklärte Deutschland am 10. September 1939 den Krieg. Im Jahr 1940, in den schwierigsten Zeiten des Widerstands gegen Hitlers Expansion, waren die Briten bereit, den Widerstand vom kanadischen Territorium aus fortzusetzen, falls ihre Inseln vom Dritten Reich besetzt würden.
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284 Ein Land weiblichen Geschlechts Während des Zweiten Weltkrieges dienten mehr als 40 000 Menschen ukrainischer Abstammung in den kanadischen Streitkräften. Anna Khraplyva wurde 1920 in Kanada, in der Stadt Ladywood, Manitoba, geboren. Sie lebte in Winnipeg. Sie schloss die Universität mit einem Diplom in Hauswirtschaft ab und arbeitete nach einer Lehre der Buchhaltung in diesem Bereich. Dies bestimmte später ihre Rolle in ukrainischen Organisationen auf den Britischen Inseln. Im September 1941 war Anna eine der ersten Ukrainerinnen in der Diaspora, die sich freiwillig zum Dienst im „Canadian Women’s Army Corps“ (CWAC) meldete. Es handelte sich um eine neue, sozusagen experimentelle Formation, die geschaffen wurde, um das Potenzial aktiver, patriotischer Frauen zum Wohle des Landes im Krieg zu nutzen. Anders als in der Roten Armee durften kanadische junge Frauen nicht in Kampfeinheiten dienen. Frauen wurden in der Armee nur als Krankenschwestern eingesetzt. Die Massenmobilisierung der Männer stellte alle Länder, die im Zweiten Weltkrieg kämpften, vor ein gemeinsames Problem: Es fehlte an Personal für zivile Berufe und militärische Unterstützung. Daher gründete Kanada am 13. August 1941 das Women’s Corps für Aufgaben außerhalb des Kampfes. Die Frauen des CWAC arbeiteten als Fahrerinnen, Mechanikerinnen, Stenografinnen, Köchinnen, Telefonistinnen und übernahmen andere Aufgaben, um Männer für den Dienst in den Streitkräften freizustellen. Die Rekrutierung für das Corps war freiwillig, doch die Bewerberinnen mussten strenge Anforderungen erfüllen: Alter zwischen 18 und 45 Jahren; ausgezeichnete Gesundheit und Fitness; Größe von mindestens 152 cm und Gewicht von mindestens 48 kg; mindestens 8 Jahre Schule. Nach Bestehen der Normen und der Ausbildung wurden die Frauen in Einheiten aufgenommen, die nach dem militärischen Prinzip organisiert waren. Die Mitglieder des CWAC trugen Uniformen, hatten Dienstgrade und waren eigenen Kommandeuren unterstellt.
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Anna Khraplyva mit der British Empire Medal
Im November 1942 traf Anna Khraplyva zusammen mit dem ersten Kontingent des Corps im Vereinigten Königreich ein, um ihren Dienst anzutreten. Die englischen Städte litten unter den deutschen Luftangriffen. Das British Empire sammelte Kräfte, um eine zweite Front zu eröffnen. Die ukrainische Bevölkerung auf den Inseln war vielfältig. Zu der kleinen Gemeinschaft, die sich seit der Vorkriegszeit hier niedergelassen hatte, kamen neue Emigranten aus der Karpato-Ukraine, die von den Ungarn besiegt worden war. In den englischen Städten gab es viele Ukrainer in kanadischen und amerikanischen Uniformen. Es gab auch Soldaten der vom Festland evakuierten polnischen Armeeeinheiten. London, Manchester und andere Städte wurden zu einem Ort des Austauschs zwischen diesen verschiedenen Gruppen.
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Mitglieder der Union der Ukrainisch-Kanadischen Soldaten beim Zubereiten von Varenyky. Khraplyva ist die zweite von rechts.
Nicht alle Ukrainer besaßen ein ausgeprägtes Nationalbewusstsein. Oft konnten die Männer, die von weit entfernten Ranches in Manitoba oder Alberta eingezogen wurden, nicht einmal Ukrainisch sprechen oder schreiben. Eine Gruppe von Enthusiasten unter der Leitung von Hauptmann Bohdan Panchuk von der kanadischen Luftwaffe beschloss, die Konzentration von Ukrainern im Vereinigten Königreich zu nutzen, um sie zu vereinen und die Stimme ihres Blutes zu wecken. Am 7. Januar 1943 gründeten sie die „Union of Ukrainian Canadian Soldiers“ (UUCS). Bald darauf erhielt die Vereinigung ein ganzes Gebäude in London. Die UUCS wurde zu einem Treffpunkt und einer kulturellen Veranstaltung für Ukrainer bei den kanadischen Streitkräften und andere. Eine kleine Gruppe ständiger Mitarbeiter bildete das Personal der UUCS. Sie unterhielten die Räumlichkeiten. Dank der finanziellen Unterstützung durch das „Ukrainian Canadian Committee“ (UCC) konnte eine anständige Bibliothek mit Literatur und Zeitschriften eingerichtet werden. Tausende von Menschen besuchten zu verschiedenen Zeiten diese Bibliothek. Korporal Anna Khraplyva gehörte zu den freundlichen Gastgebern dieses Verbands. Sie übte die verantwortungsvolle
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Haus der Vereinigung ukrainisch-kanadischer Kämpfer in London. Über der Tür die englische Abkürzung UCSA – Ukrainian Canadian Servicemen’s Association
Funktion der Schatzmeisterin der Organisation aus, verwaltete alle finanziellen Angelegenheiten und war für die Beschaffung zuständig. Offensichtlich verband sie ihre Teilnahme an der UUCS mit ihrem Dienst im Frauenkorps. Zu den Aufgaben des CWAC gehörte auch die Organisation von Freizeitaktivitäten für Soldaten. Die sozialen Aktivitäten der Mitglieder der UUCS waren für die moralische Unterstützung der Truppen äußerst wichtig. So ist beispielsweise bekannt, dass Anna am 21. August 1943 eingeladen wurde, in der beliebten BBC-Sendung „Kitchen Front“ über das Thema „Kanadische Donuts“ zu sprechen. Im Juni 1944 wurde Unteroffizier Khraplyva für ihren engagierten Dienst im Corps mit der „British Empire Medal“
288 Ein Land weiblichen Geschlechts ausgezeichnet. Sie war vielleicht die erste Ukrainerin, der diese hohe Ehre zuteilwurde. Die Medaille wurde im Buckingham Palace überreicht, wo Anna in Begleitung von Hauptmann Semen Savchuk, einem orthodoxen Seelsorger für ukrainische Soldaten in der kanadischen Armee, eintraf. Im August desselben Kriegsjahres wurde Khraplyva in den Rang eines Leutnants befördert. Während des Bestehens des CWAC in den Jahren 1941– 1946 kam keines seiner 22 000 Mitglieder im Kampf ums Leben. Nur vier Frauen wurden während des Krieges während der Bombardierung von Antwerpen mit V-2-Raketen verwundet. Im Juli 1945, nach der Niederlage Deutschlands, wurde Anna nach Europa geschickt, um die Ankunft der Korpseinheiten in der britischen Besatzungszone vorzubereiten. Sie diente in Deutschland bis Anfang 1946. Im August 1946 wurde das CWAC aufgelöst. Die Zeitschrift „Naše Žyttja“ [eine Publikation der ukrainischen Frauenorganisationen in den Vereinigten Staaten] schrieb, dass Korporal Anna Khraplyva „mit Sicherheit als die populärste ukrainische Soldatin bezeichnet werden kann, die dieser Krieg hervorgebracht hat.“
Weihnachtsessen im UUCS. Anna Khraplyva sitzt am Tisch im Vordergrund.
„Populärster ukrainischer Soldat . . . “ 289 In den Zeitschriften jener Zeit und in späteren Erinnerungen ihrer Kollegen wurde Anna als energische, sehr fähige und attraktive junge Frau beschrieben, die die Zuneigung aller gewann, die mit ihr zu tun hatten. Auf Fotos ist sie immer lächelnd zu sehen, oft umgeben von Männern. Noch in Deutschland wurden die UUCS-Vertreter Zeugen eines Dramas: Etwa 2 Millionen Ukrainer wurden aus ihrer Heimat gerissen: Ostarbeiter, Gefangene der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Flüchtlinge und Soldaten in deutschen Uniformen. Nach Abschluss der massiven, oft erzwungenen Repatriierung in die Sowjetunion gab es in Westeuropa noch 220 000 bis 250 000 Ukrainer, die kategorisch nicht in die UdSSR oder andere von der Roten Armee kontrollierte osteuropäische Länder zurückkehren wollten. Zivilisten wurden in Lagern für Displaced Persons (DPs) untergebracht. Militärangehörige, vor allem ehemalige Angehörige der SS-Division Galizien, wurden in Kriegsgefangenenlager gesteckt. Neben vielen sozialen Problemen drohte diesen Menschen auch die Zwangsüberstellung in die Sowjetunion. Die UUCS-Aktivisten entschieden sich für eine neue Mission zur Unterstützung von Vertriebenen und Kriegsgefangenen. Nach ihrer Demobilisierung in Kanada kehrte Anna als Teil einer Gruppe von Aktivisten unter der Schirmherrschaft des UCC nach Europa zurück. Sie landete erneut in London und wurde am 9. Februar 1946 in die Leitung des „Central Ukrainian Relief Bureau“ (CURB) aufgenommen, wiederum als Schatzmeisterin der Organisation. Das Büro, das von führenden Mitgliedern der UUCS gegründet worden war, war seit September 1945 tätig. Da die Mitglieder des Büros meist Angehörige der kanadischen oder amerikanischen Streitkräfte waren, hatten sie relativ freien Zugang zu den DP-Lagern. Das CURB versorgte die Flüchtlinge mit materiellen Hilfsgütern, die es in der Diaspora gesammelt hatte, kämpfte gegen ihre Zwangsrepatriierung in die UdSSR und setzte sich dafür ein,
290 Ein Land weiblichen Geschlechts dass Ukrainer in andere westliche Länder ziehen durften, um sich dort dauerhaft niederzulassen. Im Oktober 1946 kam Khraplyva als Mitglied der „Canadian Relief Mission for Ukrainian Refugees“ in Frankfurt am Main an. Sie koordinierte die Arbeit des CURB in der amerikanischen und französischen Besatzungszone. Nach erfolgreicher Arbeit in Europa kehrte sie am 11. September 1947 für kurze Zeit nach Kanada zurück. 1948 war das Format des CURB erschöpft. Der Ruf des Büros litt unter dem internen Kampf zwischen Bandera- und Mel’nyk-Anhängern; infolgedessen fehlte es der Organisation chronisch an Mitteln für ihre Aktivitäten. Am 11. Dezember schloss Khraplyva als Leiterin der Liquidationskommission (der auch Bohdan Panchuk und Hetman Danylo Skoropadskyj angehörten) das CURB offiziell. Doch damit war ihre ehrenamtliche Arbeit noch nicht beendet. Bereits im Dezember 1947 meldete sich Khraplyva freiwillig zur Arbeit beim „Ukrainian Canadian Relief Fund“ (UCRF) in Europa. Am selben Tag, an dem die Liquidationskommission das CURB auflöste, übernahm Anna Khraplyva die Leitung der UCRF. Im April 1949 wurde Yevstakhiy Vasylyshyn, Veteran des Ersten Weltkrieges und der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) sowie Mitglied der OUN-M, formell zum Leiter des
Ein Gruppenfoto des UCCF. Khraplyva ist die zweite von links. Januar 1944.
„Populärster ukrainischer Soldat . . . “ 291 europäischen Büros der Stiftung ernannt, und Anna arbeitete unter seiner Leitung weiter. In der britischen Besatzungszone Deutschlands war die Niederlassung zunächst in Lemgo und später in Bielefeld tätig. Im September 1950 kehrte Vasylyshyn nach Kanada zurück, und Khraplyva begann erneut, das Büro allein zu leiten. Am 21. Dezember 1951 verließ sie Deutschland. Eine Zeit lang arbeitete Anna in der diplomatischen Vertretung Kanadas im Vereinigten Königreich (Canada House). Als sie George Smith heiratete, nahm sie den Nachnamen ihres Mannes an. Nach ihrer Rückkehr nach Kanada war Anna Smith aktives Mitglied der „Royal Canadian Legion“ (einer Organisation von kanadischen Soldaten und Soldatinnen). Viele Jahre lang arbeitete sie als Freiwillige im „Manitoba Museum of Man and Nature“ (Winnipeg). Anna überlebte ihren Mann um 10 Jahre—sie starb am 18. Februar 2005 in Winnipeg. Die selbstlosen Aktivitäten von Menschen wie Anna Khraplyva trugen einerseits dazu bei, den Status der Frauen im Nachkriegs-Kanada zu verbessern, und andererseits das Ansehen der ukrainischen Gemeinschaft in diesem Land zu steigern. Der Autor dankt Larysa Zarichniak und Lubomyr Luciuk aus Kanada für die Beratung und Unterstützung. Für die Erstellung des Artikels wurde Material aus dem Zentralen Staatsarchiv für ukrainische Studien im Ausland verwendet. Das Video des Interviews mit Anna Khraplyva wurde 1990 gefilmt und befindet sich im Oral History Archive des Ukrainisch-Kanadischen Forschungs- und Dokumentationszentrums.
Stepan Bandera: Lesja Bandera (1947–2011)
„Vater, Du bist ein Symbol für das ganze Land …“ Nach der Ermordung ihres Vaters begann die dreizehnjährige Tochter des OUN-Anführers ein Tagebuch zu führen, in dem sie über alles Angenehme und Schmerzliche schrieb: über Gott, den Platz des Menschen in der Welt, ihre erste Liebe, Kino, Musik, Eiscreme und alle möglichen Mädchen-Abenteuer. Meine Tante Lesja wurde am 27. August 1947 in Deutschland geboren. Sie war 12 Jahre alt, als ihr Vater, Stepan Bandera, von einem Kreml-Agenten getötet wurde. Erst da erfuhr sie ihren richtigen Nachnamen und verstand, wessen Tochter sie war. Im folgenden Jahr wanderte die Familie nach Kanada aus. Das waren Jaroslavas Mutter Oparivs’ka (1919–1979), ihre ältere Schwester Natalija (1941–1985), ihr Bruder und mein Vater Andrij (1946–1984) und Lesja. Wir ließen uns in Toronto nieder. Lesja schloss 1964 das Gymnasium am Humberside Collegiate Institute ab. Danach studierte sie an der Universität von Toronto und belegte Vorlesungen in Philosophie und moderner Geschichte. Sie arbeitete in der Bibliothek, im Archiv der OUN, im Büro von Dr. Mykola Ostafichuk in Oshawa und in einer ukrainischen Keramikwerkstatt unter der Leitung von Iryna Moroz in Toronto und als Übersetzerin für das „Ukrainica Research Institute“. Während ihrer Jugend in Deutschland war sie Mitglied von „Plast“. In Kanada war sie Mitglied der „Ukrainischen Jugendvereinigung“ (SUM) und zeltete in den SUM-Lagern „Veselka“ und „Bilohoršča“ in Sudbury. In den Jahren 1971–1975 kehrte Lesja Bandera nach München zurück, wo sie als Übersetzerin und Lektorin für die Zeitung „Šljach peremohy“ (Weg des Sieges) arbeitete. Ab 1980 arbeitete sie als Übersetzerin für das Menschenrechtskomitee des „World Congress of Free Ukraine“
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294 Ein Land weiblichen Geschlechts (WCU – Weltkongresses der freien Ukraine) unter dem Vorsitz von Christina Isajiw. Tante Lesja sprach Ukrainisch, Englisch und Deutsch und beherrschte fließend Französisch, Spanisch, Italienisch, Russisch und Portugiesisch. Sie zeichnete, stickte und webte gerne und schrieb Gedichte, die in verschiedenen Ausgaben veröffentlicht wurden. Lesja spendete ihre Kunstwerke für verschiedene Wohltätigkeitsorganisationen, unter anderem für den „Ukrainian Canadian Community Service“. In den letzten Jahren kämpfte Lesja mit einer Reihe von Krankheiten. Ende Juli wurde sie von einem Krankenwagen abtransportiert. Sie starb am 15. August 2011 friedlich im St. Joseph’s Hospital in Toronto. Trotz aller Herausforderungen des Lebens war Lesja Bandera den Idealen ihres Vaters treu ergeben, ein sehr bescheidener und fröhlicher Mensch. Lesja wurde auf dem Park Lawn Friedhof neben ihrer Mutter und ihrem Bruder beigesetzt. Das Familienarchiv enthält Briefe, die von der grenzenlosen Liebe zwischen der Tochter und dem Vater zeugen. Im März 1955, als Lesja 7 Jahre alt war, schrieb sie zum Beispiel: „Liebster Papa! Ich bin sehr traurig, dass du nicht hier bist. Das Haus ist sehr leer ohne dich. Warum musstest du so weit weg nach Irland gehen? Schreib mir, wenn du zurückkommst. Bitte komm bald, denn ich vermisse Dich sehr. Ich küsse Dich von ganzem Herzen, Deine Lesja.“ Zu diesem Zeitpunkt wusste sie nicht, dass ihr richtiger Name Bandera war. Die Familie hatte seit dem Krieg unter dem Namen Popel in München gelebt. Der Legende nach war ihr Vater, Stepan Popel, Journalist bei der Zeitung „Ukraïns’kyj samostijnyk“. Nach der Ermordung ihres Vaters begann die dreizehnjährige Lesja ein Tagebuch zu führen, in dem sie über alles Angenehme und Schmerzliche schrieb: Gott, den Platz des Menschen in der Welt, ihre erste Liebe, Kino, Musik, Eiscreme und alle möglichen Mädchen-Abenteuer. In jenen Jahren kehrten Lesjas Gedanken oft zu ihrem Vater zurück . . .
„Vater, Du bist ein Symbol für das ganze Land …“ 295
2. Oktober 1960 [Lesja war 13 Jahre alt]. Der Mensch kann den Willen Gottes erfüllen, er wurde dazu geboren und lebt dafür; aber der Mensch darf sich niemals dem Willen Gottes widersetzen oder ihm entgegen handeln, so dass der Wille Gottes nicht erfüllt wird. Dies ist ein inhärentes geistiges Prinzip dieser Welt, das den Christen sehr wohl bekannt ist und welches auch Nichtchristen unbewusst im Kopf haben. Gottes Wille regiert die ganze Welt, jede Nation, jeden Einzelnen und jede Gemeinschaft von Menschen. Es war der Wille Gottes, das Leben meines Vaters vorzeitig mit einem Heldentod zu beenden, einem Tod für die Ukraine. Und so muss es Gottes Wille sein, uns, Vaters Familie, ohne Vater zu lassen, damit wir für das Leben kämpfen, damit wir unsere Lebensfähigkeit zeigen können, wir drei, Papas Kinder. Aber warum musste meine Mutter einen so schrecklichen Schlag erleiden? Hatte sie nicht schon genug davon in ihrem Leben? Ich kann es nicht sagen, es liegt noch nicht in meiner Macht, es zu verstehen, obwohl meine Gedanken oft in diese Richtung gehen. Aber ich werde mich gerne auf diesen Kampf mit dem Leben einlassen, um ihn zu gewinnen. 29. Juni 1960 Meine Gedanken gingen wieder zu Papa. Ich muss oft an dich denken, ich suche dich in allem, in allem, was
296 Ein Land weiblichen Geschlechts
schön ist, nahe, überhaupt, überall suche ich dich, deine Meinung, dein Wort, deine Liebe, deine Kraft. Wenn ich Antworten auf meine Fragen suche, und wie ich sie finde, ist es, als ob du zu mir sprichst, mir Rat gibst, und wenn ich höre, dass die Antwort richtig ist, weiß ich, dass du sie mir gesagt hast, und durch dich hat es mir der Herrgott gesagt. Und dann bin ich so glücklich, weil ich weiß, wer mich beschützt, wer mir Kraft gibt, wer mir Glauben gibt, und was mir diesen Glauben gibt. Dann weiß ich, dass, solange dieser Beschützer über uns wacht, uns kein Leid geschehen wird. 13. Juli 1960 Heute früh hatten wir die letzte göttliche Liturgie, und dann wurden die Zeugnisse verteilt. Dieses Jahr bekam ich das beste Zeugnis der Klasse, Andrij und Natalka bekamen durchschnittliche Zeugnisse. Diesmal hat sich sogar Mama gefreut, ich war so froh, dass ich den Namen meines Vaters nicht beschmutzt habe, sondern im Gegenteil, ihn richtig präsentiert habe. Dann ging ich in die Bibliothek, und dann gingen wir zum Friedhof. Das Grab Vaters war schon bepflanzt. Erst da fiel mir ein, wie lange es her war, dass wir Vaters Grab besucht hatten, und wie selten ich in letzter Zeit an Vater gedacht hatte . . . Wenn Vater dieses Zeugnis gesehen hätte, hätte er mich geküsst, mich so angesehen,
„Vater, Du bist ein Symbol für das ganze Land …“ 297 dass ich gesehen hätte, wie sehr Vater mich liebte, und wie sehr ich Vater liebte, mit einem Blick, den ich nie vergessen werde, und er hätte sich mit mir gefreut, auch wenn mein Vater sehr wenig Zeit hatte . . . … Jetzt weiß ich, worum es in diesem Tagebuch geht. Egal, wie oft ich hier über Dinge schreibe, die mich wütend machen, verletzen oder verwunden, es hat nicht so viel Einfluss auf meine späteren Gedanken. Aber wenn ich hier über etwas Gutes und Großes schreibe, weckt das in mir ein so großes Gefühl der Dankbarkeit und Liebe, das sonst nicht so groß und wahr wäre, wie ich mit jemandem sprechen oder gut und schön über andere Menschen schreiben kann. 4. September 1960 . . . Wir haben nun begonnen, über das aktuelle Thema zu sprechen, über unsere Abreise nach Kanada. . . . Vor ein paar Tagen haben wir unsere Genehmigung [Einwanderungs erlaubnis] bekommen. Wir müssen Mitte Oktober ausreisen, 2 Tage nach dem Todestag Papas. Liebster Papa! Fast ein Jahr ist seit Deinem Tod vergangen, fast ein Jahr Zeit, es scheint wie eine Ewigkeit, in der man nur in der Gegenwart lebt, es gibt keine Zukunft. Papa, wir lebten als Familie ein glückliches Leben, ein Leben ohne Sorgen und Unglück, bis auf eine kleine, eine unbedeutende, wir hatten eine richtige Familie, wir kannten dieses Glück, wir hatten einen Vater und eine Mutter. Wir hatten Dich als Papa. Ich hatte den Menschen, den ich in meinem Leben am meisten geliebt habe, als Vorbild. Du hast mir jeden Tag aufs Neue den Weg gezeigt, mein Leben gelenkt. Damals war ich mir dessen nicht bewusst, aber manchmal habe ich es unbewusst gespürt. Ich wusste nur, dass ich Dich furchtbar liebte . . . Du hast mein Leben mehr und mehr erfüllt. Du warst oft alles für mich, und wahrscheinlich auch für Andrij und Natalija . . . Ich weiß, dass Du uns auch alle gleichermaßen aus tiefstem Herzen und aus ganzer Seele geliebt hast. Als Du für lange Zeit weg warst, habe ich mich nach Dir gesehnt und oft ungeduldig auf Deine Ankunft gewartet. Eines aber ist mir am meisten im Herzen geblieben, eines
298 Ein Land weiblichen Geschlechts bleibt in meinem Gedächtnis, was mir ganz deutlich vor Augen bleiben wird. Abends, vor dem Schlafengehen, als ich Dir gute Nacht sagte, küsstest Du mich vor dem Einschlafen auf die Stirn. Manchmal konnte ich nicht zu Dir kommen, aber Du hast mich trotzdem mit Deinem Lächeln gerufen. Und egal, ob Du viel zu tun hattest oder nicht, ob Du beschäftigt warst oder nicht, Du hast mich immer mit Deinem väterlichen Blick angesehen und mich angelächelt, und Du hast gewöhnlich ein paar Worte gesprochen. Es war das größte Glück, das ich je erlebt habe, und ich glaube nicht, dass ich jemals wieder ein solches Glück erleben werde, Papa. Und was Du mir mit diesem Kuss, mit Deinem Blick, mit Deinem Lächeln eingepflanzt hast, wird mir für alle Zeiten erhalten bleiben. In Deinem Blick auf mich war alles, Deine Liebe, Dein ganzes Wesen, Deine Mühen und Anstrengungen für uns, Dein Vergnügen an uns, Deine Wünsche und Forderungen an uns. Alles lag in Deinem Blick und Deinem Lächeln. Und wenn ich an diesem Tag etwas Gutes getan hatte, war ich stolz darauf und freute mich, dass ich Dir gefallen hatte. Und wenn ich etwas Böses getan hatte, erinnerte ich mich daran und schämte mich dafür, auch wenn Du es nicht wusstest, und dann erst recht, weil es so war, als hätte ich Dir in Deinem Namen Unrecht getan, weil Du mir vertraut und das Beste von mir gedacht hattest, und ich hatte Dein Vertrauen missbraucht und Dich enttäuscht. Papa, am Abend vor Deinem tragischen Tod hast Du mich noch einmal geküsst, mich angeschaut, gelächelt und noch ein paar Worte mit mir gewechselt. Und an diesem Abend spürte ich dieses große Glück ganz bewusst, als hätte ich eine Vorahnung, dass ich dieses Glück zum letzten Mal in meinem Leben spüren würde. Du saßt in dem großen Zimmer, hast die Zeitung gelesen, mit Mama geredet und gescherzt, und Du warst so ruhig, fröhlich und glücklich, und Mama war es auch. Ich fühle mich jetzt, als hätte ich mich damals von Dir verabschiedet, und dieser Abend blieb unvergesslich und der beste meines bisherigen Lebens. Papa, ich habe schon lange nicht mehr an Dich gedacht, so wie damals, nur ganz kurz, weil ich andere Dinge im Kopf hatte . . .
„Vater, Du bist ein Symbol für das ganze Land …“ 299 Ich hatte es lange Zeit vergessen, und jetzt ist mir unsere Situation wieder bewusst geworden: Dein Grab zu verlassen, Papa, den Ort unseres Lebens mit Dir, und nur Erinnerungen und Bilder werden bleiben. Wir werden selten an Dein Grab zurückkehren können, wir werden den Ort, an dem Du Dich zur Ruhe gelegt hast, nicht mehr sehen können, wir werden nicht zu Dir kommen können, wann immer wir wollen, er wird nur in unseren Gedanken sein. Aber Du wirst immer bei uns sein, Du wirst uns führen, Du wirst uns auf dem richtigen, geraden Weg zum Ziel leiten. Es war Dir nicht bestimmt, Dein Ziel zu erreichen, das Ziel, nach dem Du immer gestrebt hast, welches Du aber nicht erreichen konntest und das Du nicht erreichen konntest, weil Gott, der Herr, andere mit dieser Arbeit beauftragt hat. Du warst dazu bestimmt, Papa, auf dem Feld des Befreiungskampfes der Ukraine zu fallen. Du bist ein Symbol für das ganze Land. Du bist ein Symbol für die ukrainischen Nationalisten und Patrioten. Du bist unser Führer, Papa, denn so sehr ich Dich zu Lebzeiten geliebt habe, so sehr liebe ich Dich jetzt, da Du nicht mehr bei uns bist. Und Papa, bitte gib Mama neue Lust und Kraft zum Leben. Lass Mama das Leben ein wenig mehr lieben und einen Sinn im Leben finden und etwas, das ihr Leben erfüllt.
Kyrylo Stecenko
„Die beste ukrainische Sängerin auf beiden Seiten des Ozeans“ Ein Interview mit Kvitka Cisyk, aufgenommen im Clinton Recording Studio in Manhattan, New York, Anfang Februar 1991.
Amerika Ich kam im Sommer 1990 in den Vereinigten Staaten an. Unerwartet erhielt ich eine private Einladung von Kira Tsarehradska, meiner Tante aus Minneapolis, der Tochter von Petro Stetsenko, dem älteren Bruder meines Großvaters, des berühmten Komponisten Kyrylo Stecenko. Ich war überglücklich! Eine solche Einladung war ein Geschenk des Schicksals! Die UdSSR existierte noch und die Perestroika war in vollem Gange. Ein Jahr zuvor war das erste Festival „Červona Ruta“ in Černivci (Czernowitz) triumphal zu Ende gegangen, die Volksbewegung der Ukraine hatte einen Kongress in Kyïv abgehalten, und die Verchovna Rada hatte das Gesetz über die Sprachen in der Ukrainischen SSR verabschiedet. Zu diesem Zeitpunkt hatte in den baltischen Republiken bereits eine Parade der Souveränitäten stattgefunden. Jeder sah, dass die Sowjetunion auseinanderfiel. Und das war eine Chance für die Ukraine. Die einzigen Fragen waren: „Wann?“ und „Wie?“ Ich hatte großes Glück. Es gelang mir, in Kyïv ohne Zwischenfälle einen Pass ausstellen zu lassen. Dann reiste ich nach Moskau und bekam im ersten Anlauf ein amerikanisches Visum. Und schließlich enthielt ein Brief von meiner Tante Kira in den USA ein Flugticket nach New York. Jetzt musste ich nur noch Geschenke besorgen, meine Koffer packen und einen Plan schmieden: „Was will ich von Amerika?“ Und ich hatte eine Menge Pläne. Ich hatte schon davon geträumt, Sting, Quincy Jones, James Brown, Aretha Franklin . . . Gleichzeitig war ich noch beeindruckt vom letztjährigen „Červona Ruta“-Festival und plante, meine Gespräche in den 301
302 Ein Land weiblichen Geschlechts
Kvitka Cisyk während eines Konzerts
Vereinigten Staaten mit dem Banduraspieler Yulian Kitastyi, der Sängerin Lyuba Bilash aus Edmonton und dem New Yorker Duo Darka und Slavko fortzusetzen. Damals hätte ich mir nie träumen lassen, dass ich eines Tages mit dem legendären Metropoliten Mstyslav sprechen oder mich mit den berühmten ukrainischen Professoren Yuriy Shevelev, Liubomyr Vynar, Svjatoslav Karavans’kyj und anderen austauschen würde. Ich spreche nicht einmal davon, in Minneapolis ein gemeinsames Konzert mit der amerikanischen Country-Ikone, dem Geiger und Mandolinisten Peter Ostroushko, zu geben, von dem ich noch nie gehört hatte . . . Aber mein innigster Wunsch, mein Traum, war es, Kvitka Cisyk zu treffen. Ich wollte meine Bewunderung für sie zum Ausdruck bringen und ihr die Dankbarkeit meiner Musikerkollegen mitteilen. Wir waren überzeugt, dass sie die beste ukrainische Sängerin auf beiden Seiten des Atlantiks ist. Wir wollten sie ermutigen und ihr sagen, dass ihre Lieder eine traumhafte Zukunft schaffen. Und dass ihre Fans in den Konzertsälen der unabhängigen Ukraine auf sie warten werden! Und jetzt sitze ich in einer Aeroflot-Maschine. Ich lese einen englischen Sprachführer und höre über meine Kopfhörer eine Audiokassette mit Liedern der Gadyukin Brothers. Während des neunstündigen Flugs von Moskau nach New York hielten mich die
„Die beste ukrainische Sängerin auf beiden Seiten des Ozeans“ 303 Rhythmen aus dem Album „Vse čotko!“ (Alles klar!) bei Laune. Der Song „America“ war besonders aktuell. Ich habe ihn wieder und wieder gespielt. Ich habe mich über jedes Wort gefreut. Weil sein Inhalt so sehr mit meinen Gefühlen übereinstimmte und die erwartete Zukunft so viel näher rückte: Eigentlich können Sie meine Gefühle selbst erleben, wenn Sie die Musik dieses Liedes hören, denn sie ist online frei verfügbar.
Acht Monate danach . . . Ich warte schon seit Monaten auf dieses Treffen. Ich habe mein Visum bereits zweimal verlängert, um in den Vereinigten Staaten zu bleiben. Ich habe sogar eine Konzertreise nach Kanada unternommen. Ich habe es geschafft, Minneapolis zu besuchen, Chicago, Detroit, Philadelphia, Washington, Jersey City, Urbana-Champaign, und Payne (University of Illinois), Cambridge (Harvard University), Kergonkson (Sojusowka), sowie Montreal, Toronto, Winnipeg, Edmonton . . . Schlussendlich landete ich in Manhattan, New York. Mir wurde sogar eine Green Card angeboten. Aber ich wollte nicht auswandern. Ich hatte ernsthaft Angst, den Moment zu verpassen, in dem die Ukraine wirklich unabhängig werden würde. Ich wollte dieses epochale Ereignis direkt in Kyïv erleben, zusammen mit allen Ukrainern. Gleichzeitig konnte ich New York aber auch nicht verlassen, weil ich eine gewisse innere Schuld hatte. Ich glaube, ich fühlte mich wie der biblische Älteste Simeon, der nicht sterben konnte, bevor er nicht Jesus Christus selbst gesehen hatte. Ohne Hoffnung, aber mit Erwartungen, wartete ich also weiter auf eine Antwort von Kvitka Cisyk. Ich wartete auf Antworten auf meine Anfragen, die ich ihr im Sommer 1990 auf den Anrufbeantworter ihrer Wohnung gesprochen hatte. Anfang Februar 1991 geschah ein Wunder: An diesem Tag hörte ich wie üblich die Nachrichten von Juliana Starosolska am Telefon ab. Diese wunderbare Frau, die von ihren Freunden „Frau Ljasja“ genannt wurde, verbrachte die meiste Zeit in ihrem Landhaus auf dem Lande, und sie erlaubte mir großzügig, bei ihr zu wohnen. So ließ ich mich in Manhattan nieder—in einem gemütlichen Viertel in Downtown, im Zentrum des ukrainischen East Village, nahe der
304 Ein Land weiblichen Geschlechts Kreuzung von Second Avenue und St. Mark’s Place. Und als eine freundliche Frauenstimme aus dem Anrufbeantworter von Frau Ljasja kam, erkannte ich sofort die Sängerin meiner Lieblingslieder „Oj, Vereše, mij Vereše“ (Oh, Liebling), „Oj, chodyt’ son“ (Oh, ich träume), „Ivanka“, „Čueš, brate mij“ (Hörst Du, mein Bruder) . . . Die Stimme von Kvitka Cisyk schlug mir ein Treffen im berühmten Clinton Recording Studio vor. Ich rief sofort zurück und erfuhr die genaue Uhrzeit und Adresse.
Clinton Recording Studio Ich bin quer durch Manhattan gelaufen, von seinem südöstlichen Teil, wo sich das „Ukrainian Village“ befindet, bis zum westlichen Rand von Midtown der Insel. Dort, in der 10th Avenue, in der Nummer 653, befand sich das brandneue Clinton Recording Studio. Dieses Studio wurde mit der neuesten Technologie gebaut. Es war eines der besten der Welt. Michael Jackson, Quincy Jones, Sting, Frank Sinatra, Paul Simon, Madonna, Bob Dylan, Bruce Springsteen, Lenny Kravitz, der Filmschauspieler Woody Allen und viele andere nahmen hier ihre Musikalben und Filmmusiken auf. An der Tür wurde ich von seinem Schöpfer und Besitzer Edward Rak [Edward Rakowicz] begrüßt. Dieser Mann war ein wahrer amerikanischer Perfektionist, Perkussionist und Multiprofi. Er vereinte wirklich viele Kenntnisse und Fähigkeiten—er arbeitete als Schlagzeuger, Tontechniker, Akustikingenieur . . . Und vor allem hat er Kvitka Cisyks Kultalben „Pizni Ukraïny“ (Lieder der Ukraine) und „Dva kol’ory“ (Zwei Farben) aufgenommen und produziert. Einfacher gesagt: Er war ihr Ehemann. Edward erzählte mir also, dass Kvitka sich etwas verspätet hatte, und schlug mir eine kurze Führung durch die Hallen und Geräteräume seines luxuriösen Studios vor. Es erstreckte sich über zwei oder drei Stockwerke. Ich bat um die Erlaubnis, die Geschichte auf meinem tragbaren Tonbandgerät aufnehmen zu dürfen. Ich vergaß jedoch nicht, dass mein Hauptziel darin bestand, Kvitka zu treffen. Die ziemlich lange und faszinierende Führung verging wie im Flug . . . Und Kvitka wartete bereits unten auf mich.
„Die beste ukrainische Sängerin auf beiden Seiten des Ozeans“ 305
Kvitka Sie erwartete mich in einem kleinen, bescheidenen Zimmer. Wie eine Madonna hielt sie sanft ein Baby im Arm—ihren 3 Monate alten Sohn. Sie war freundlich und aufgeregt. Der Junge erhob gelegentlich seine Stimme, aber zum Glück war er gut erzogen. Unter diesen Umständen gelang es mir, die berühmte Sängerin zu treffen und sogar unser Gespräch aufzuzeichnen. Von Anfang an hatte ich diese Aufnahme in Form eines Interviews für das ukrainische Radio geplant. Hier ist also der vollständige und leicht bearbeitete Text dieses Interviews.
Edward-Volodymyr Kyrylo: Viele Menschen in der Ukraine kennen Kvitka Cisyk. Und ich weiß, dass sie viele Fragen an Sie haben. Ich werde Sie zunächst zu den jüngsten Entwicklungen befragen. Bitte sagen Sie mir, Frau Kvitka, was war das Interessanteste und Beste in Ihrem Leben im letzten Jahr? Kvitka: (lacht) Letztes Jahr habe ich einen kleinen Jungen zur Welt gebracht, sein Name ist Edward-Volodymyr. Kyrylo: Oh, wir können ihn sehen! Aber leider können unsere Zuhörer ihn nicht sehen. Kann er überhaupt seine Stimme erheben? Kvitka: Oh ja! (zu ihrem Sohn) Er wird jetzt wahrscheinlich anfangen, etwas für uns zu singen, oder? Er hat schon eine sehr gute Stimme. Und eine starke . . . Kyrylo: Das ist ja toll! Kvitka: . . . wenn er hungrig ist oder wenn er nass ist. Kyrylo: Wann wurde er geboren? Kvitka: Am 14. Oktober, vor 3 Monaten, beinahe . . . Kyrylo: Herzlichen Glückwunsch! Das ist ein großes Ereignis! Kvitka: Danke! Es ist eine große Freude, eine große Freude . . . Das zweite Album Kyrylo: Okay, welche anderen Ereignisse gab es noch? Vielleicht nicht so wichtig, aber trotzdem?
306 Ein Land weiblichen Geschlechts Kvitka: Eigentlich eher vor mehr als einem Jahr. Aber eine weitere Platte ist herausgekommen. Sie heißt „Kvitka. Zwei Farben“. Und ich habe versucht, diese Platte sehr gut zu beenden. Und sie zu veröffentlichen. Und wir sind sehr glücklich damit. Kyrylo: Ich habe es mir angehört. Sie ist wirklich großartig! Und sie wurde auf höchstem Weltniveau aufgenommen! Technisch und künstlerisch ist sie sehr interessant. Sie ist sehr gut aufgenommen. Kvitka: Danke. Kyrylo: Wir können unseren Radiohörern ein Lied [von diesem Album] vorstellen . . . (Hier muss ich den Lesern erklären, dass ich geplant hatte, das Interview im Voraus zu bearbeiten, um Lieder für die Ausstrahlung im Radio einzufügen). Kvitka: Bitte, bitte, bitte . . . Ja, mein Mann war der Techniker, der diese Platte aufgenommen hat . . . Und sie wurde digital aufgenommen . . . Und das war sehr interessant. Der ganze Prozess war sehr interessant . . . Kyrylo: War das das erste Mal, dass Sie das gemacht haben? War das das erste Mal, dass Sie diese digitale Technologie benutzt haben? Und wie wurde Ihr erstes Album aufgenommen? Ich kenne es ein bisschen besser als das zweite . . . Kvitka: Nein. Damals [das erste Album] war noch nicht digital. Es gab keine so ausgefeilte Anlage, wie es sie heute gibt. Also wurde es normal auf Band aufgenommen. Das nennt man analoge Aufnahme. Kyrylo: Wie lange haben Sie für die Aufnahmen gebraucht? Kvitka: Wir haben sehr lange geplant und an der Platte gearbeitet . . . Aber wir waren schon bereit. Denn alle Songs waren bereits arrangiert. Und wir gingen ins Studio und nahmen 3 Monate lang auf . . . Eigentlich haben wir fast alles zusammen [gleichzeitig] gemacht. Das Orchester war in der großen Halle, und ich war beim Orchester . . . Und wir haben alles zusammengemixt. Aber es hat uns viel Zeit gekostet . . . Vor allem, weil wir zum Beispiel einige Instrumente auf eine Art und Weise aufgenommen haben, die man overdub nennt [das Überspielen von neuen Stimmen über bereits aufgenommenes Material]. Wir haben sie später overdubbt. Und dann, am
„Die beste ukrainische Sängerin auf beiden Seiten des Ozeans“ 307 Ende, haben wir gemischt, das heißt, alle aufgenommenen Instrumente und alles wurde zusammengemischt [damit es gleichzeitig klingt]. Das hat ziemlich lange gedauert, denn mein Mann ist ein so genannter Perfektionist. Er wollte, dass es so scheußlich gut, so gut und schön klang . . . Kyrylo: Es war perfekt. Kvitka: Perfekt! Ja! (lacht). Ja, er hat sehr lange daran gearbeitet. Kyrylo: Ich glaube, der Name Ihres Mannes ist Ed Ruck? Kvitka: Ed Ruck. Kyrylo: Sein Name steht da, auf eurer Platte. Und er wird Tontechniker genannt? Das ist der Begriff, den wir hier verwenden . . . Kvitka: Tontechniker, ja.
Mama und Schwester Kyrylo: Wie haben Sie die Lieder ausgewählt? Kvitka: Eigentlich habe ich das mit meiner Mutter und meiner Schwester gemacht . . . Meine Schwester spielt Klavier. Sie ist auch auf der CD mit mir zu hören [sie begleitet mich auf dem Klavier]. Wir haben vier Lieder zusammen gespielt . . . Und wir [meine Schwester, meine Mutter und ich] saßen da mit
Ed Rakowicz bei der Arbeit im Studio. Hinter ihm steht Kvitka
308 Ein Land weiblichen Geschlechts Büchern mit Koljady—Weihnachtsliedern. Und stundenlang saßen wir da und wählten aus den Büchern aus . . . Kyrylo: Aha, das ist die Familie! (Der Sohn erhebt seine Stimme) Oh, der Kleine will für uns singen . . . Kvitka: (zu ihrem Sohn) Sing, sing! Sing, sing, sing! Na ja . . . (lacht) Kyrylo: Er will jetzt nicht . . . Er wollte Aufmerksamkeit erregen. (lacht) Kvitka: Vergesst ihn nicht! – „Ich sitze hier allein, ein kleiner . . . “ Kyrylo: Vielleicht hilft er Ihnen eines Tages auch bei der Songauswahl? Also . . . Kvitka: Und wir saßen einfach ein paar Wochen lang zusammen—vielleicht jeden Abend—und suchten aus . . . Und gingen verschiedene Lieder durch . . . Und suchten eine ganze Gruppe aus, die wir mochten. Dann haben wir . . . Kyrylo: Wie viele waren Sie? Kvitka: Wir waren zu dritt . . . Und dann haben wir uns mit einem Arrangeur zusammengesetzt, sein Name ist Jack Cortner [Komponist, Kvitka Cisyks erster Ehemann]. Und wir gaben ihm alle Lieder, die wir ausgewählt hatten. Und dann wählte
Kvitka spielt begleitet vom Klavier. Ihre Schwester Marija ist für die Tasten zuständig.
„Die beste ukrainische Sängerin auf beiden Seiten des Ozeans“ 309 er die Lieder aus, die er für die musikalisch interessantesten hielt. Kyrylo: Jack Cortner? Oh, ich erinnere mich! Er hat Ihr erstes Album auf die gleiche Weise gemacht . . .
„Höre, mein Bruder . . . “ Kvitka: Ja, genau. Ich wollte dieses Lied, „Čueš, brate mij . . . “ („Žuravli“), unbedingt auf meiner Einspielung haben [für das Album auf Band aufgenommen] . . . Kyrylo: Es ist sehr interessant aufgenommen, arrangiert und gespielt von Ihnen . . . Kvitka: Und tatsächlich gab es einige Leute hier in Amerika, die nicht damit einverstanden waren, dass ich dieses Lied aufführte oder aufnahm . . . Kyrylo: Ich glaube, ich weiß, warum . . . Kvitka: Weil es ein sehr trauriges Lied ist, und wir singen es bei Beerdigungen . . . Aber es ist so ein schönes Lied, und ich denke, dass es in einer Zeit wie dieser—wenn man nicht weiß, was in der ganzen Welt vor sich geht—ein sehr wichtiges Lied ist . . . Kyrylo: Sie haben dieses Album also im vorletzten Jahr aufgenommen, 89? Kvitka: Ja, 89 . . . Zu der Zeit war in der Ukraine noch nichts passiert . . . Kyrylo: Oder es hatte begonnen, aber man wusste noch nichts davon [wir sprechen hier über die Ereignisse, die der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine vorausgingen]. Kvitka: Ja, wir wussten hier in Amerika nichts . . . Aber es war so ein schönes Lied, und ich dachte immer, dass . . . Kyrylo: Ich nehme an, Sie hatten diese Idee schon 87–88. Weil Sie Ihr zweites Album erst im Sommer 89 aufgenommen haben? Kvitka: Ende des . . . Irgendwann im Sommer, im Juli oder August 89. Kyrylo: Sie haben also 88 noch darüber nachgedacht, nehme ich an? Kvitka: Ja, tatsächlich.
310 Ein Land weiblichen Geschlechts Kyrylo: Ja, es ist ein ganz besonderes Lied . . . Wussten Sie, dass mein Großvater auch viel an diesem Lied gearbeitet hat? Sein Arrangement für Chor ist das berühmteste. Kvitka: Oh, das wusste ich gar nicht. Kyrylo: Deshalb war es für mich persönlich sehr interessant und sehr schön zu hören, dass Sie Ihre eigene Version gemacht haben und sie von Jack Cortner arrangiert wurde! Das war sehr interessant . . .
Lieblingslieder der Pfadfinder Kyrylo: Und welche anderen Lieder liegen Ihnen am meisten am Herzen und sind am interessantesten? Nun, ich denke, sie alle! Aber welche sind es im Besonderen, sowohl vom ersten als auch vom zweiten Album? Kvitka: Es gibt noch ein Lied, das wir . . . Ich war Pfadfinder— ich bin immer noch Pfadfinder (!) – und wir haben dieses Lied beim „Plast“ gesungen: „Sirily u sumerku“ (Grau in der Dämmerung). Das war auch unser Lieblingslied. Und ich wollte es auch singen. Es wurde hier (in Amerika) geschrieben, glaube ich. Es war also ein Lied, das ich unbedingt auf dieser Einspielung, in der Sammlung haben wollte . . . Kyrylo: Sollen wir unseren Zuhörern vorschlagen, sich das Lied jetzt anzuhören? Kvitka: Okay. Und was noch? Nun, „Vogelkirsche“ (auch mein Lieblingslied) und „Zwei Farben“ . . . Kyrylo: Oh, gibt es auch Lieder von ukrainischen Komponisten aus der Ukraine auf Ihren Alben? Kvitka: Ja. Ziemlich viele . . . Nun, und Ivasjuk (!) – „Ja pidu v daleki hory“ (ich gehe in die fernen Berge). Das ist interessant! Denn (vorher) hatte ich von diesem Lied nur ein Arrangement in schnellerem Tempo gehört. Und ich mochte dieses Lied so sehr, und als ich meinem Freund Jack Cortner von diesem Lied erzählte, schlug er vor, dass wir es viel langsamer spielen sollten . . . (der Sohn erhebt wieder seine Stimme.) Kyrylo: Oh, Junge (lacht). Kvitka: (wendet sich an ihren Sohn) Die Klänge sind anders, interessant! Fühlst du dich besser? Fühlst du dich jetzt besser? (sie
„Die beste ukrainische Sängerin auf beiden Seiten des Ozeans“ 311 lacht den Jungen an und erzählt weiter.) Er [Jack Cortner] wollte also dieses Lied langsamer spielen, und es ist sehr interessant geworden, finde ich. Anders! Anders, als jeder das Lied kennt . . . Kyrylo: Oh, wir werden es uns auch anhören. Was hältst du von diesem Lied: „Oj, verše, mij verše“ (Oh, Wipfel, mein Wipfel)? Kvitka: Oh, das war das Lieblingslied meiner Großmutter. Kyrylo: Wissen Sie, es ist auch mein Lieblingslied. Von Ihrem zweiten Album. Es hat mich bis ins Mark getroffen. Das ist alles echt. Für mich ist das der erste Platz. Kvitka: Das ist . . . Das war das Lieblingslied meiner Oma. Und das ist auch ein wunderbares Lied! Es war auch mein Lieblingslied. Und das ist auch ein tolles Lied! Es ist auch mein Lieblingslied. Kyrylo: Es gibt so herzerwärmende Stellen darin, so berührend! Selbst jetzt erinnere ich mich daran, ohne es zu hören, und . . . Kvitka: Und es ist sehr lustig. Denn als wir mit dem Lied fertig waren [die Arbeit daran beendeten] und wir alle zusammen in einem Raum mit einer großen Gruppe von Geigern waren, hatte ich große Angst, dass ich nicht in der Lage sein würde, das Lied zu singen, ohne zu weinen . . . Dass ich nicht in der Lage sein würde, das Lied zu beenden . . . Und alle saßen da! Wie kann ich dieses Lied singen, ohne zu weinen? Aber ich habe es geschafft . . . Kyrylo: Oh, ja. Ich wollte selbst weinen, als ich es hörte. Kvitka: Es ist ein sehr berührendes Lied . . . Aber ich habe es geschafft.
Mehr über das Studio und die „verschiedenen Geräte“ Kyrylo: Ihr Aufnahmestudio befindet sich in einem ziemlich großen Gebäude, wie viele Stockwerke gibt es? Kvitka: Es gibt zwei Stockwerke. Aber sie haben die zweite Etage (in der sich der Aufnahmeraum befindet) aufgestockt, so dass es nun drei Stockwerke an einem Ort sind. Das haben sie gemacht, um einen großen, schönen Saal zu schaffen.
312 Ein Land weiblichen Geschlechts Kyrylo: Und das Studio ist in der Mitte? Und drum herum gibt es einen Korridor und Zimmer und Büros? Und das ist das Atelier Ihres Mannes? Kvitka: Ja, meines Mannes. Es war das Atelier meines Mannes, und er hatte jemanden, den er aus dem Tal kannte, er heißt Bruce Marley . . . Kyrylo: Und sie sind Miteigentümer, die beiden? Kvitka: Ja, sie sind Miteigentümer . . . Aber Herr Marley hat beschlossen, alles aufzugeben und eine andere Karriere zu verfolgen . . . Jetzt gehört es also meinem Mann. Kyrylo: Das ist großartig! Oh, mir wurde gesagt, dass dies eines der besten Studios in Manhattan ist! Aber wenn es in Manhattan ist, ist es dann auch das beste der Welt? Kvitka: Oh, es ist auf dem neuesten Stand der Technik – die neuesten Geräte und so weiter … Also danke! Kyrylo: Ich lerne hier seit einem halben Jahr – während ich in Amerika bin – und ich habe sehr sorgfältig verschiedene Kataloge von Profi- und Verbrauchergeräten, Tonbandgeräten, studiert. Wissen Sie, was die neuesten Tonbandgeräte hier sind – Tonbandgeräte, mehrspurige Tonbandgeräte? Kvitka: Wir haben hier multitrack digital & analog tape recorders von „Studer“ … Und einen „Mitsubishi“ digital recorder mit 32 Spuren. Und ein analoges Aufnahmegerät von „Studer“, ein normales analoges Aufnahmegerät … Kyrylo: Wie viele Spuren? Kvitka: 24 Spuren. Aber sie (die Studiomitarbeiter) haben die Möglichkeit, sie hier alle zusammen zu mischen. Sie können also alle drei (Geräteräume) des Studios kombinieren. Es gibt drei Studer-Tonbandgeräte mit je 24 Spuren, und es gibt noch zwei Mitsubishi-32-Spur-Geräte. Und die können alle zusammenarbeiten. Kyrylo: Und das Unmögliche möglich machen? So viele Spuren zu haben, die man fast nie braucht? Aber Sie können das Unmögliche schaffen! Kvitka: Man kann! Ja.
„Die beste ukrainische Sängerin auf beiden Seiten des Ozeans“ 313 Kyrylo: Oh, großartig! Das ist sehr interessant. Viele Fachleute aus der Ukraine würden gerne dieses Studio besuchen und zuschauen, lernen, vielleicht sogar studieren oder einfach nur zuschauen. Denn, wissen Sie, in der Ukraine gibt es jetzt eine Zeit, in der die Ukraine (nun, das weiß jeder) ihre Unabhängigkeit und ihr kulturelles Wiederaufleben erlangt. Und für 50 Millionen Ukrainer reicht es nicht aus, nur ein Studio zu haben, das für die Firma „Melody“ arbeitet, deren Management in Moskau sitzt. Es gibt noch ein weiteres Studio für Fernsehen und Radio in Kyïv. Wir haben also nur zwei echte und professionelle Studios. Der Rest ist klein und amateurhaft . . . Kvitka: Eigentlich, für 50 Millionen, für so viele Menschen! Aber es wird langsam . . . Kyrylo: Nun, das wird langsam werden! Die Leute fangen bereits an, ihre eigenen privaten oder halbprivaten Studios einzurichten. Und unter diesen Leuten gibt es viele Fachleute, die gerne hierherkommen würden. Und um Ihr Studio zu sehen und zu lernen . . . Für mich ist es eine große Überraschung, dass Sie ein so modernes, fantastisches Studio haben.
In Amerika, aber Ukrainerin Kvitka: Wissen Sie, ich arbeite schon sehr lange in der Musikbranche, hier in Amerika, in New York. Und ich, und wir alle hier, in Amerika oder in Kanada, außerhalb der Ukraine, wir alle wollen hier etwas machen. Und obwohl ich hier geboren bin, stammen meine Verwandten aus L’viv, und meine Familie und ich fühlen uns ukrainisch. Ja, in Amerika, aber Ukrainerin! Und wir alle—wir alle—suchen, was wir tun können, wie wir helfen können. Ich hatte die Vorstellung, dass ich nichts tun kann. Aber ich könnte versuchen, ein ukrainisches Lied herauszubringen! Und in der Tat war es mir sehr wichtig, dass ich unser Lied in die Welt schicken konnte! Damit die Leute es hören, damit die Leute wissen, dass es ein ukrainisches Lied ist! Und hier in Amerika, damit Menschen, die von Musik Ahnung haben, wissen, dass dies ein ukrainisches Lied ist. Und obwohl es viele sehr gute
314 Ein Land weiblichen Geschlechts ukrainische Platten gibt, bin ich nicht allein. Aber ich möchte das auf höchstem Niveau machen (eigentlich ist das meine Spezialität) . . . Und ich habe die Möglichkeit, das zu tun! Kyrylo: Sie sind vielleicht eine der wenigen, vielleicht sogar die einzige professionelle Sängerin unter den Ukrainern, die außerhalb der Ukraine leben, wenn es um Popmusik geht . . . Kvitka: Um Popmusik . . . Ja, wir haben Plishka, der ein Opernsänger ist. Er singt an der Metropolitan Opera. Und das ist eine andere Art von Musik. Ich singe, ich lebe im Pop . . . (sie spricht das Kind an: Ja, ja! Sing, sing . . . ) Popmusik ist sozusagen mein Gebiet. Also, es war eigentlich sehr wichtig für mich, dass . . . Kyrylo: Und kennen Sie Petro Ostroshuk? Kennen Sie sich? Kvitka: Nein, unbekannt. . . . Ich kenne ihn nicht . . . Kyrylo: Aber da gibt es noch einen anderen Ukrainer, der ein Profi ist, einen professionellen Musiker, der auch in der Popmusik arbeitet, einen Amerikaner . . . Kvitka: Das war mir also wichtig, das wollte ich. Meine Gabe. Kyrylo: Ich habe den Eindruck, dass Sie sie haben. Ganz und gar! Kvitka: Ja, danke. Kyrylo: Und Sie werden noch viel mehr tun, das weiß ich. Kvitka: Ja, das ist nicht meine letzte Platte . . . Kyrylo: Wissen Sie, ich möchte Ihnen von meinen Erfahrungen in Amerika erzählen. Ich sehe, dass Sie hier jeder kennt. Und Sie unterstützen die Menschen, die eine solche spirituelle Unterstützung brauchen, sehr!
Kvitka „Songs of Ukraine“ Kyrylo: Wissen Sie, was die Leute in der Ukraine über Sie wissen . . . Ich weiß nichts über die zweite Platte (oder ist sie schon so weit verbreitet?), aber die erste! Sie wurde von Ihnen irgendwann im Jahr 82 veröffentlicht? Kvitka: 80. Kyrylo: 80 . . . Ich habe sie zum ersten Mal gehört, ich glaube, ungefähr 82. Und diese Platte verbreitete sich allmählich immer weiter. Und dank Ihrer ersten Platte sind Sie in der Ukraine sehr bekannt. Dank, na ja, zumindest dem Lied
„Die beste ukrainische Sängerin auf beiden Seiten des Ozeans“ 315 „Ivanka, Ivanka“ in diesem wunderbaren Arrangement! Oder für das Wiegenlied „Oh, ein Traum geht durch die Fenster“. Es sind auch noch andere wunderbare Lieder dabei. Mir gefällt sie sehr gut! Und von allen unseren Radiohörern, die Sie kennen, möchte ich Ihnen für dieses Album danken, das in der Ukraine sehr berühmt und bekannt ist. Kvitka: Vielen Dank, vielen Dank. Ich bin sehr überrascht und freue mich riesig, dass die Leute mich kennen und dass sie diese Platte mögen. Ich wollte diese Platte im besten Geiste aufnehmen und weitergeben. Kyrylo: Und wissen Sie, sie kam zu einer Zeit in die Ukraine, als wir keine Hoffnung auf Wiederbelebung hatten? Und sie war eine große geistige Stütze für die Menschen, die schon fast die Hoffnung verloren hatten, dass wir unsere ukrainische Kultur bewahren könnten. Und dann sahen die Leute, dass es auf der anderen Seite des Ozeans Kvitka Cisyk gab, die so wunderschön singt! Und sie pflegt ukrainische Lieder in Amerika, und sie hat sie nicht vergessen, und sie tritt so professionell auf, und auf einem solchen Niveau! Ich habe einmal gesagt, und ich möchte es wiederholen: „Kvitka ist die beste Sängerin auf beiden Seiten des Atlantiks“. Kvitka: Oh, danke. Kyrylo: Es ist wahr! Ich stehe immer noch zu diesen Worten. Natürlich habe ich mich auf das Genre bezogen, in dem Sie singen. In Amerika ist es bekannt, dass Oper, Popmusik und Rock völlig unterschiedlich sind. Von den ukrainischen Rocksängern mag ich zum Beispiel Vika am liebsten. Aber das ist ein ganz anderes Genre! Ich habe von vielen Leuten gehört, dass sie dank deiner ersten Platte ihren Glauben an die Ukraine behalten haben! Kvitka: Danke. Kyrylo: Möge Gott Ihnen viele Jahre eines fruchtbaren Lebens schenken! Aber wenn Sie in Zukunft auf Ihren Weg zurückblicken, können Sie sagen, dass Sie schon viel erreicht haben! Kvitka: Danke.
316 Ein Land weiblichen Geschlechts
Das Festival „Červona Ruta“ Kyrylo: Jetzt möchte ich Sie etwas fragen . . . Nachdem die Leute in den 80er Jahren Ihre Lieder kennengelernt hatten . . . Und als wir mit den Vorbereitungen für das Festival „Červona Ruta“ begannen, wollten viele Leute Sie dort sehen. Und ich habe gehört, dass Sie eingeladen wurden! Und sie waren natürlich sehr enttäuscht, dass sie Sie dort nicht gesehen haben. Könnten Sie uns bitte sagen, wie das passiert ist? Wurden Sie wirklich eingeladen? Kvitka: Sie haben uns angerufen und wirklich gefragt, ob ich kommen möchte. Und ich habe sofort gesagt: „Ja, ich würde wirklich gerne kommen“. Aber dann war das Gespräch zu Ende, weil . . . Ich weiß eigentlich gar nicht, warum das Gespräch zu Ende war . . . Wir hatten noch nicht einmal angefangen, über Geldangelegenheiten zu reden. Plötzlich hörten die Organisatoren auf, mit uns zu reden . . . Und das tat mir sehr leid! Denn ich wollte wirklich kommen. Und ich wusste nicht, was passiert war . . . Ich fragte mich: „Vielleicht wird es nicht stattfinden . . . “ Es schien mir, dass es vielleicht kein Festival geben würde . . . Kyrylo: Und es war immer noch bedroht. Es war vielleicht nicht . . . Wissen Sie, ich war einer der Organisatoren des „Červona Ruta“ Festivals. Ich war der Direktor für Information und Sponsoring. Und ich war einer von denen, die darauf bestanden, Sie einzuladen . . . Und das Festival wurde von einer Gruppe enthusiastischer Menschen organisiert, die so etwas noch nie zuvor gemacht hatten. Es waren vor allem Musiker, Patrioten, junge Leute, die in der Ukraine bekannt sind. Die Initiatoren waren Taras Mel’nyk, Anatolij Kalenyčenko, Oleh Repeck’yj . . . Ich habe anfangs gar nicht daran geglaubt, dass sie Erfolg haben würden. Ich sage „sie“, weil sie es waren, die die Erlaubnis des Kulturministeriums und der Behörden einholen mussten . . . Und ich habe nicht geglaubt, dass unsere Regierung das jemals tun würde . . . Aber sie haben es geschafft, mit der Hilfe und Unterstützung des berühmten Dichters Borys Olijnyk und anderer ukrainischer Schriftsteller, die Erlaubnis für dieses Festival zu
„Die beste ukrainische Sängerin auf beiden Seiten des Ozeans“ 317 bekommen. Und selbst dann beschlossen sie, zusammen mit dem kanadischen Geschäftsmann Mykola Moroz ein Joint Venture zu gründen, das ukrainische Musik aufnehmen sollte. Es wurde „Kobza“ genannt. Er war in der Ukraine sehr bekannt. Das Festival wurde also von einem gemeinsamen Komitee organisiert, das aus einer Gruppe von Enthusiasten bestand . . . (lacht dem Kind zu: „Oh, er lässt uns nicht . . . “) Kvitka: Er will singen! (zu ihrem Sohn: „Oh, wie schön! Sing, sing für Mama! Ja, ja . . . “) Kyrylo: Lassen Sie uns also fortfahren . . . Ich erzähle Ihnen das, damit Sie wissen, wie es wirklich war. Vielleicht möchten auch viele unserer Zuhörer davon hören. Denn dies ist die Geschichte unserer Ukraine. Und ich bin mir sicher, dass, wenn ein wenig Zeit vergeht, man über das „Červona Ruta“-Festival sprechen wird, als wäre es das ukrainische Woodstock. Und es wird für die Ukraine so wichtig sein, wie Woodstock für Amerika ist. Das sagen sie jetzt schon! Kvitka: Ja!!! Und ich wollte eigentlich dabei sein . . . Ich wusste, dass es ein sehr wichtiges Ereignis sein musste! Ein wichtiges Festival. Kyrylo: Und wissen Sie, damals war neben Informellen wie mir auch das Zentralkomitee des Komsomol der Ukraine an diesem Organisationskomitee beteiligt, das sehr aktiv an der Organisation des Festivals mitwirkte. Es stellte die rechtliche Grundlage und die materiellen Mittel für die Organisation und Durchführung des Festivals zur Verfügung. Der zweite wichtige Organisator war „Kobza“, ein ukrainisch-kanadisches Joint Venture. Es war gerade erst gegründet worden und war noch nicht so stark. Und es waren die Leute, die in Amerika und Kanada im Auftrag von „Kobza“ arbeiten, die wir mit der Herstellung von Kontakten zu ukrainischen Künstlern betraut haben. Dank ihnen kamen Lyuba Bilash aus Edmonton, Darka und Slavko zum Festival—jetzt leben sie in New York, vorher waren sie in Detroit. Es scheint, dass Sie auf dieselbe Weise eingeladen wurden. Und dann haben mir die Jungs erzählt, dass Sie 50 000 Dollar verlangen . . . Und das fand ich seltsam. Denn wenn man Ihre Lieder hört,
318 Ein Land weiblichen Geschlechts würde man nie denken, dass diese Person so viel Geld für einen solchen Auftritt verlangen würde. Und ich habe es nicht geglaubt. Aber leider gab es ein Gerücht, dass vielleicht nicht Sie, sondern Ihr Manager das machen wollte. Und das war schon ein bisschen seltsam. Denn für uns ist es leichter, Wasser auf dem Mond zu finden als 50 000 Dollar. Selbst 50 000 Rubel sind schwer zu finden . . . Und viele Leute begannen Fragen zu stellen: „Warum und wie?“ Das ist der Grund, warum ich Ihnen das erzähle. Denn es ist besser, Sie zu fragen, als um Sie herum zu fragen . . . Sagen Sie mir, ist es wahr oder ist es falsch? Das ist der Grund, warum ich Ihnen diese Frage stelle. Kvitka: Nein, es kam noch nicht einmal zu dem Punkt, an dem wir über Geld sprachen. Mein Mann hat mit dieser Person gesprochen. Ich kenne den Namen der Person nicht. Er hat mit jemandem gesprochen, und der sollte sich mit unserem Anwalt in Verbindung setzen, um die Dinge rechtlich (durch einen Vertrag) zu regeln. Denn mein Mann hatte Angst: „Vielleicht komme ich nicht mehr zurück? Vielleicht ist es nicht sicher für mich, dorthin zu gehen?“ Kyrylo: Ich verstehe das . . . Kvitka: Und sie haben mich nicht zurückgerufen. Alles war vorbei . . . Das Gespräch war beendet, und wir haben nicht einmal über Geld gesprochen . . . Damals tat es mir wirklich sehr leid. Denn ich wollte wirklich kommen . . . Und es tat mir auch sehr leid, weil ich hörte, dass die Leute dachten, ich sollte dort sein, und einige Leute kamen, um mich zu hören. Und dann sahen sie, dass ich nicht da war . . . Es ist eine schreckliche Sache, denn man kann die Leute nicht so täuschen . . . Es war also eine sehr unangenehme Sache. Ich weiß nicht, was passiert ist . . . Entweder hatte jemand Angst, weil er nicht über einen Anwalt gehen wollte (über einen rechtlichen Vertrag) . . . Oder die Kommunikation ist tatsächlich zusammengebrochen . . . Kyrylo: Ich kann nur meine eigenen Vermutungen anstellen. Vielleicht hatten die Organisatoren des Festivals nicht die Zeit, alles gleichzeitig zu erledigen, und das Festival war in
„Die beste ukrainische Sängerin auf beiden Seiten des Ozeans“ 319 Gefahr . . . Und man kann sich vorstellen, dass sie, um einige grundlegende Dinge zu retten, wie die Tatsache, dass es überhaupt stattfinden würde, wahrscheinlich nicht die Energie oder die Zeit hatten, die Verhandlungen fortzusetzen. Auf diese Weise können wir dieses Rätsel aufklären. Ich danke Ihnen für die Beantwortung einer so heiklen Frage. Und es tut mir leid, dass ich Sie gefragt habe. Kvitka: Ich war sehr traurig, als ich hörte, dass es so gelaufen ist. Dass ich so viel Geld wollte, und dass die Leute nicht wussten, dass ich nicht da sein würde . . . Und sie kamen zum Konzert . . . Ich war sehr unglücklich! Denn so bin ich nicht. Ich will den Menschen helfen und der Ukraine helfen. Ich will keine Schwierigkeiten machen und dafür sorgen, dass sich die Leute unwohl fühlen . . .
Mit Mama durch die Ukraine Kyrylo: Kvitka, würden Sie gerne in die Ukraine gehen? Kvitka: Ja. Furchtbar gern . . . (lacht.) Ich war mit meiner Mutter vor 8 oder vielleicht 9 Jahren (1983) in der Ukraine. Und wahrscheinlich war es damals ganz anders als heute. Aber es war sehr interessant. Denn wir waren im Sv. Jura, in L’viv, wo meine Großmutter und mein Onkel geheiratet haben. Und als mein Onkel geboren wurde, ist er dort getauft worden. Das ist eine sehr schöne Geschichte unserer Familie. Und alle unsere Freunde aus New York sagten mir, als wir abreisten: „Oh, es ist so schön, dass du mit deiner Mutter fährst!“. Denn mein Vater war bereits verstorben. „ . . . Und du wirst deiner Mutter eine große Hilfe sein. Denn es wäre schade für sie, wenn sie all die Orte sehen müsste, an denen sie und ihr Vater waren, wo sie gelebt und sich kennengelernt haben . . . Und es ist sehr gut, dass du ihr eine Stütze sein wirst . . . “. Und das dachte ich auch . . . Wir gingen zum Sv. Jura und in die Kirche, und die Leute sangen. Und ich war so gerührt! Ich habe in der Kirche so sehr geweint. Und meine Mutter war so glücklich, dass sie zurückkommen konnte. Und ich war . . . ich war furchtbar berührt. Ich habe überall geweint, weil dies
320 Ein Land weiblichen Geschlechts der Ort ist, an dem mein Vater war und meine Mutter und meine Großmutter . . . Kyrylo: Und wo? Mich interessiert, welche Orte? Welche Straßen? Können Sie mir das sagen? Oder erinnern Sie sich nur visuell? Kvitka: Ich erinnere mich visuell. Ich weiß nicht . . . Ich habe die Namen der Straßen vergessen, und wo meine Mutter gewohnt hat . . . Kyrylo: Und woher kommt Ihre Familie? Kvitka: Meine Mutter ist aus L’viv, und mein Vater ist auch aus der Nähe von L’viv, aber . . . aus der Stadt . . . (flüsternd: „Oh, Gott, ich habe es vergessen . . . “) Und mein Vater ist aus Kolomyja! [dem Dorf Lisky, in der Nähe von Kolomyja]. Kyrylo: Оh! Kolomyja ist eine tolle Stadt! Sie haben also Ihren Sohn nach Ihrem Vater benannt? Kvitka: Ja, ja—Volodymyr. Kyrylo: Hören Sie, ich will Sie mit diesem Interview nicht langweilen, oder? Das Kind weint hier, und unsere Radiohörer könnten denken, dass ich Ihnen keine Ruhe gebe . . .
Kvitkas Familie. Von links, stehend: Cousine Chrystyna Lev, Cousine Marija Cysyk, Onkel Vasyl Lev (Bruder von Ivanna Cysyk), Kvitka Cysyk, Cousine Olesia Lev, Mutter Ivanna Cysyk, Cousine Maja Lev. Sitzend, von links: Marija Cisyks Töchter Samantha und Lesia, Großmutter Sofia (Nahirna) Lev, und Professor Dr. Vasyl Lev
„Die beste ukrainische Sängerin auf beiden Seiten des Ozeans“ 321 Kvitka: (lacht) Sie quälen mein Kind!!! (fährt ernst fort) Nein! Er weint nicht—er singt uns etwas vor! Und er spricht, lacht und lächelt uns an! Und er will auch sprechen! Vielleicht wird es ein Sänger? Ich wünsche mir nichts für ihn—nur, dass er in einer Welt lebt, in der es keinen Krieg gibt, in der es keine schrecklichen Ereignisse gibt. Wo es Frieden gibt. Das ist alles, was ich mir für ihn wünsche. Und für uns alle. Kyrylo: Ja, das ist wichtig . . . Leben noch Familienangehörige von Ihnen in der Ukraine? Können Sie Grüße an Ihre Familie schicken? Kvitka: Ich habe sehr wenig Familie in der Ukraine. Aber ich habe meine Tante Vira, die in der Nähe von L’viv oder sogar in L’viv lebt. Und dann gibt es noch die Cisyks, die in der Nähe von L’viv leben und ich weiß nicht, wo sonst noch . . . Kyrylo: Wissen Sie, übrigens muss ich Ihnen noch Grüße von Herrn Cisyk ausrichten, der beim L’viver Fernsehen arbeitet (das habe ich versprochen). Nur kann ich mich jetzt leider nicht mehr an seinen Namen erinnern. Aber bevor ich nach Amerika gegangen bin, haben wir uns mit ihm getroffen. Und er hat mich sehr viel gefragt. Er sagte, er sei Ihr Onkel oder so etwas in der Art . . . Kvitka: (lacht) Das war eine große Familie, die Cisyks! Also grüße ich sie alle und schicke ihnen meine Liebe! Außerdem stammt unsere Familie aus Nahirna. Das ist die Familie meiner Großmutter. Kyrylo: Ihrer Großmutter? Sie meinen, die Mutter Ihrer Mutter . . . Kvitka: Ja, meiner Mutter.
Papa Volodymyr. Kyrylo: Ich habe die Widmung gelesen, die Sie auf das Cover Ihres ersten Albums geschrieben haben: „Ich widme diese Sammlung von Liedern Volodymyr Cisyk, einem virtuosen Geiger und meinem unvergesslichen Vater.“ Und hier in Amerika, in New York und anderswo, treffe ich Menschen, die Ihren Vater kannten, die seine Schüler waren oder seine Kollegen . . . Das ist zum Beispiel Stepan Tanasiychuk—er lebt hier in Manhattan, in Downtown. Er hat studiert und
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Die junge Kvitka und ihr Vater Volodymyr Cisyk
erinnert sich dankbar daran, dass er bei Ihrem Vater studiert hat. Es gibt noch einen anderen Herrn, der in Chicago lebt, er heißt Volodymyr . . . Er kannte Ihren Vater aus Deutschland, aus diesen Lagern für Displaced Persons . . . Und er hat mir sogar Fotos von Ihrem Vater gezeigt . . . Sie haben also dieses Album also Ihrem Vater gewidmet. Können Sie uns ein bisschen mehr über ihn erzählen? Kvitka: Mein Vater war ein Geiger. Und er hat sich sehr für Musik interessiert—für ukrainische Musik. Als meine Familie nach New York kam, gründete mein Vater hier das „Ukrainian Music Institute“. Er war also immer sehr beschäftigt. Und er war immer sehr interessiert an der ukrainischen Sache. Kyrylo: Oh, das ist großartig . . . Kvitka: Und ich war auch Geigerin. Ich habe auch bei ihm studiert. Und er war, das war ein sehr netter Mann! Sanft und sehr freundlich. Und er hat mir tatsächlich gezeigt und beigebracht, die Musik zu lieben. Und ich bin ihm sehr dankbar dafür. Kyrylo: Hat er auch Konzerte gegeben? Kvitka: Ja, er ist aufgetreten! Er spielte für unsere Ukrainer an verschiedenen Akademien. Manchmal wurde er gebeten,
„Die beste ukrainische Sängerin auf beiden Seiten des Ozeans“ 323 nach Kanada zu kommen, und manchmal trat er hier auf, in der Nähe . . . Kyrylo: Hat er in Orchestern gespielt? Oder hat er als Solist gespielt? Kvitka: Als Solist, nicht in Orchestern. Kyrylo: Und welche Art von Musik hat er gespielt? Kvitka: Na ja, klassische Musik. Und auch ukrainische Musik. Lysenko und Stecenko . . .
Kolomyjky-Festival Kyrylo: Ihr Vater und seine Familie stammen also aus Kolomyja? Darf ich Kolomyja grüßen? Wissen Sie, diesen Sommer wird es in Kolomyja ein Fest geben. Es wird der Jahrestag der Stadt sein. Ich weiß nicht mehr, wie viele hundert Jahre es sind. Aber es wird ein Fest geben. Wir können den Menschen in Kolomyja gemeinsam gratulieren! Ich weiß nicht, ob wir jetzt darüber reden können. Ich wollte es dieses Jahr tun. Vielleicht habe ich noch Zeit, mit den städtischen Behörden zu verhandeln? Jetzt gibt es also eine sehr gute Gelegenheit, ein solches Festival zu organisieren, vielleicht sogar ein Weltfestival—ein Festival der Kolomyjkas1 in Kolomyja. Es könnte nicht nur Volkslieder geben, sondern auch Sinfonien, Rock- und Popmusik . . . Das heißt, absolut alle Genres! Und nicht nur Musik, sondern auch Kino, Tanz, Literatur . . . Alles, wo Kolomyjkas verwendet werden. Oder auf der Bühne als Tanz gezeigt werden. Das wäre sehr interessant! Denn die Kolomyjka ist ein Genre, das überall bekannt und anerkannt ist! Kyrylo: Vielleicht ist das eine Gelegenheit, Sie auch dorthin einzuladen? Kvitka: Das wäre sehr interessant! Das ist eine gute Idee!
1
Kolomyjky sind ein eigenes ukrainisches (huzulisches) Musikgenre (Anm. d. Übers.).
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„Zwei Farben“ Kyrylo: Aber lassen Sie uns über Ihre zweite Platte sprechen. Sie ist den Ukrainern gewidmet. Wie schön diese Widmung komponiert wurde! Ich erinnere mich nur an den allgemeinen Inhalt. Sie ist den Menschen gewidmet, die gekämpft haben und immer noch kämpfen, um unsere Kultur und die Ukraine zu bewahren. (Hier der Originaltext vom Albumcover: „Ich widme sie den Impulsen des unbesiegten ukrainischen Geistes und seinem unaufhörlichen Kampf auf beiden Seiten des Ozeans“; „Diese Liedersammlung ist der Wunsch meines ukrainischen Herzens, fröhliche Fäden in die zerrissene Leinwand zu weben, auf die das Schicksal unseres Volkes gestickt ist“). Kvitka: Ja! Ich dachte, dass jetzt die Zeit dafür gekommen ist. Zu schreiben, damit die Menschen wissen, dass wir Ukrainer sind! Dass wir unsere Ukrainer außerhalb der Ukraine nicht vergessen haben. Dass wir immer an euch denken und euch helfen wollen. Und dass wir einfach nicht wissen, wie wir helfen sollen. Aber dass unsere Liebe und unsere Herzen bei euch sind. Und wir alle hier, außerhalb der Ukraine, hoffen, dass wir eines Tages in die Ukraine gehen können, wenn die Ukraine frei und stark ist! Kyrylo: Ich danke Ihnen vielmals. Und wir könnten hier enden. An so einem schönen Ort—mit unserer Hoffnung! Auch wenn wir jetzt wieder harte Zeiten für die Ukraine erleben. In vielerlei Hinsicht. Aber ich glaube nicht, dass sie sehr lange anhalten werden. Denn es ist unmöglich, diejenigen, die bereits wach sind, in den Schlaf zu versetzen.
Studiosängerin Kyrylo: Aber ich wollte Sie auch ein bisschen zu etwas ganz anderem fragen. Wie leben Sie als Sängerin in Amerika? Singen Sie nur ukrainische Musik? Ich denke, es wäre wahrscheinlich unmöglich zu leben, wenn man nur ukrainische Musik singt und nur von der Musik lebt? Kvitka: Ja. Ich bin eine Sängerin. Ich nenne mich Studiosängerin. Ich singe im Fernsehen und im Radio. Ich mache Werbespots
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Cover des Albums „Zwei Farben“, 1989
für verschiedene Produkte. Zum Beispiel für Flugzeuge und für Parfüms, Papier-Klebestifte (lacht) und Kinderspielzeug. Alles, was im Fernsehen und Radio beworben wird. Ich singe auch auf Platten für andere Künstler, amerikanische Rock- und Popstars . . . Kyrylo: Könnten Sie uns vielleicht die Namen dieser Leute nennen? Kvitka: Carly Simon, Patti Austin, Quincy Jones, Michael Franks . . . Jedes Mal, wenn mich jemand fragt, vergesse ich alles (lacht). Kyrylo: Das sind die berühmtesten! Für mich ist Quincy Jones— und nicht nur für mich, sondern für viele unserer Musiker— sehr bekannt. Kvitka: Und dann bin ich auf seiner Platte, die hier „The Dude“ heißt [Quincy Jones „The Dude“]. Ich habe also viel auf dieser Platte gesungen. Ich musste nach Kalifornien gehen, um auf dieser Platte zu singen. Aber ich singe als Backgroundsänger . . . So lebe ich eigentlich. Ich meine, ich singe in Studios. Das ist meine Spezialität. Deshalb wollte ich im Grunde meine eigene Platte herausbringen. Und so habe ich in Amerika Musik gemacht.
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Idole und Ideale Kyrylo: Haben Sie irgendwelche Freunde unter den amerikanischen Sängern? Könnten Sie uns sagen, welche der aktuellen oder früheren Sänger, die hier in Amerika sind, Amerikaner, die amerikanische Popmusik, Rock oder was auch immer singen, welche von ihnen mögen Sie am meisten? Oder welchen von ihnen wollten Sie, als Sie klein waren, imitieren? Wer war für Sie ein Lehrer, den Sie vielleicht nie getroffen haben, dem Sie aber zugehört haben? Kvitka: Ich höre sehr viel Musik . . . Aber ich mag Jazz sehr, ich mag Popmusik, Rock . . . Ich mag wirklich klassische Musik . . . Ich habe also viele so genannte Idole . . . Als ich klein war, habe ich Judy Collins sehr geliebt. Ich habe sie immer gehört . . . Und Joni Mitchell. Heute sind sie nicht mehr so bekannt. Aber damals waren sie es . . . Ich liebe Jazzmusik sehr. Es gibt auch eine wunderbare Sängerin namens Maureen McGovern. Sie hat eine wunderbare Stimme. Sie singt wunderschön. Sie hat eine tolle Technik. Sie macht Pop . . . Auf der klassischen Seite—ich habe ja studiert, habe Gesangsvorlesungen besucht—gab es auch Joan Sutherland und Beverly Sills. Ich mochte die Art, wie sie gesungen haben . . . Ich interessiere mich sehr für Madonna, weil sie eine interessante Person ist. Sie ist keine herausragende (im Sinne von „perfekte“) Sängerin, aber sie ist eine herausragende Geschäftsfrau. Sie versteht es, sich so gut zu verkaufen! Hier in Amerika ist Marketing sehr wichtig. Und sie ist in der Tat phänomenal auf diesem Gebiet. Nicht, dass ich das tun möchte, aber sie ist sehr interessant! Kyrylo: Nur ihr Talent und ihre Energie auf diesem Gebiet . . . Kvitka: Ich weiß nicht, was Talent ist? Aber die Energie ist phänomenal! Kyrylo: Ich meinte geschäftliches Talent, nicht so sehr musikalisches Talent . . . Kvitka: Oh, sie hat großes Geschäftstalent. Kyrylo: Was halten Sie von Mariah Carey? Kvitka: Sie ist auch eine großartige Sängerin. Sie hat eine sehr schöne Stimme. Ich habe kürzlich ihre Platte gehört. Und sie
„Die beste ukrainische Sängerin auf beiden Seiten des Ozeans“ 327 hat jetzt (weil sie eine neue hat, und es ist ihre erste Platte) . . . – man spürt, dass sie sich zeigen muss! Und ich denke, der beste Weg ist, aus dem Herzen zu singen! Und nicht nur ein paar Tricks [Passagen, Ornamente, spektakuläre Techniken], die eine Person singen kann. Sondern es muss ein Lied aus dem Herzen sein! So sehe ich das, dass Singen eigentlich interessant und wichtig ist, weil es aus dem Herzen kommen muss . . . Kyrylo: Ja!!! Und hier, auf dieser, ihrer ersten Platte? Kvitka: Und sie schreibt hier sehr gut! Sie hat ein wunderbares Instrument, und sie singt wunderschön . . . Kyrylo: Sprechen Sie von der Stimme als Instrument? Kvitka: Ja, über die Stimme. Kyrylo: Und die will sie zeigen? Kvitka: Ja, sie will sie zeigen. Und es gibt tatsächlich zwei Lieder auf dieser Platte, die mir sehr gefallen haben. Kyrylo: Und der Rest? Kvitka: Der Rest ist nichts Besonderes . . . Aber vielleicht, weil sie noch sehr jung ist und noch nicht wirklich daran gearbeitet hat, singt sie nicht mit dem Herzen. Kyrylo: Welche Lieder sind das? Die zwei besten? Oder kannst du dich an sie erinnern? Kvitka: „Vision of love“ ist ihr Lied. Und ein anderes Lied, das auch sehr populär war. Ich glaube, dass alle, die sich die Platte angehört haben, diese beiden Lieder für die besten halten. Also, wie ich schon sagte . . . Kyrylo: Darf ich es mir überspielen? (lacht) Kvitka: (schließt sich dem Gelächter an) Nein, nein, nein! Das ist ein sehr wichtiges Thema für mich! Kyrylo: Dann gehe ich vielleicht einfach und haue die Dollars raus, die ich hier gesammelt habe . . . Kvitka: (lachend) . . . ich gebe sie Ihnen! Ich gebe Ihnen diese Platte. Kyrylo: Ich danke Ihnen vielmals! Und wir werden sie mit unseren Zuhörern teilen. Kvitka: Sehr gern geschehen! Kyrylo: Und wer sind die anderen Sängerinnen und Sänger hier? Nun, ich sehe Paula Abdul im Fernsehen . . . Sie ist sehr
328 Ein Land weiblichen Geschlechts beliebt. Wirklich. Aber heutzutage hört man sie ein bisschen weniger . . . Kvitka: Sie ist eigentlich eine Tänzerin. Kyrylo: Ja, mehr, vielleicht . . . Kvitka: Aber irgendjemand hatte die Idee, fand den Song für sie, und auch das Marketing . . . Hier in Amerika braucht man manchmal nicht so viel Talent, sondern jemanden, der eine Menge Geld in die Hand nimmt und einen in Gang bringt. Das ist also das Marketing- und Geschäftstalent.
Basia und Viktoria Kyrylo: Gibt es berühmte Manager, die etwas in Bewegung gesetzt haben? Kvitka: Ich weiß es nicht, denn ich habe keine. Ich bin in diesen Bereich gegangen . . . Das ist ein ganz anderes Leben. Es ist ein völlig anderes Leben. Ich trete nicht auf. Und ich strebe nicht danach. Also brauche ich keinen Manager. Ich kann Ihnen vertrauen . . . Aber ich weiß es nicht. Kyrylo: Vielleicht ist es für mich nicht so wichtig, aber für unsere Zuhörer wäre es interessant . . . Wer weiß, wie das Leben weitergeht? Es gab einmal eine Zeit, da hatten die Polen keinen Erfolg auf dem globalen Popmusikmarkt, und jetzt sind wir hier und hören Basia singen. Sie zog von Warschau nach London und dann hierher nach New York. Und jetzt ist sie eine der berühmtesten Sängerinnen in Amerika und wahrscheinlich in der ganzen Welt . . . Kvitka: Ja. Man nennt sie eine Jazzsängerin. Das ist sehr interessant. Kyrylo: Sie hat kürzlich in einer populären britischen Popband gesungen. Dieses Quintett heißt Matt Bianco. Kvitka: Oh, ich wusste gar nicht, dass sie in dieser Band war. Kyrylo: Ich auch nicht, aber als ich ihre Solosongs hier in New York hörte, erkannte ich den Matt-Bianco-Stil, den Gesangsstil und die Art, wie sie sie arrangierte. Und dann habe ich in den Läden nachgesehen, die CDs oder Platten oder Kassetten verkaufen, und da habe ich die Besetzung von Matt Bianco gelesen. Und da war Basia! Sie hat einen
„Die beste ukrainische Sängerin auf beiden Seiten des Ozeans“ 329 Nachnamen, der so typisch polnisch ist, ziemlich verwirrend und mit vielen Zischlauten [Trzetrzelewska—Barbara Stanisława Trzetrzelewska]. Und wenn man es auf Englisch schreibt, wird es zu einem ziemlich langen Wort. Und es ist sehr schwer zu lesen . . . Aber ich denke, dass auch einige Ukrainer versuchen könnten, hier Karriere zu machen. Und es würde von den Managern abhängen, die sich dafür interessieren könnten. Haben Sie sich Vika (Vira Vradij) angehört? Kvitka: Nein, ich kenne sie nicht, aber ich habe sehr gute Dinge gehört, also . . . Kyrylo: Ich habe ein Video. Ich habe es sogar bei mir. Ich weiß nicht, ob wir es uns hier ansehen können . . . Sie hat kürzlich ein neues Album veröffentlicht. Es ist sehr gut, meiner Meinung nach. Und einige Dinge könnten, denke ich, frei auf diesen Markt kommen. Man würde es nicht einmal bemerken oder sagen: „Оh! Ist das wirklich aus der Ukraine?“ Die Aufnahmequalität ist hier sogar recht gut! Ich will nicht damit prahlen, was es in der Ukraine alles gibt. Aber Vika . . . sie war eine der Entdeckungen, die 1989 auf der „Červona Ruta“ alle beeindruckte. Dort wurden viele neue Talente entdeckt. Und jetzt sollte sich die Ukraine nicht mehr für das schämen, was wir tun. Wir müssen also versuchen, andere Wege zu finden, um uns der ganzen Welt zu zeigen! Und zwar nicht nur für die Ukrainer. Wer weiß, ob es morgen eine ukrainische Basia geben wird, die die Amerikaner bewundern werden? Oder gibt es sie vielleicht schon? Vielleicht ist sie hier nur noch nicht bekannt?
Der neue New Yorker Jazz Kyrylo: Wir haben viel geredet . . . Aber würden Sie nicht gerne selbst ein anderes Thema ansprechen? Oder etwas an die Ukraine weitergeben? Oder etwas mitteilen? Vielleicht gibt es ein paar Probleme, die ich nicht bedacht habe, Sie zu fragen? Kvitka: Nein . . . Ich denke eigentlich . . . Nichts, wir haben schon viel besprochen. Ich muss nachdenken . . . Kyrylo: Nun, ich war daran interessiert, das Thema Ihres Geschmacks und Ihrer Wertschätzung von amerikanischer
330 Ein Land weiblichen Geschlechts Popmusik, Rockmusik, Jazzsängern oder Jazzbands fortzusetzen. Was denken Sie, wer ist heutzutage für Sie interessant, unabhängig vom Genre? Kvitka: Eine ganze Menge Leute. Denn CDs sind sehr beliebt. Kyrylo: Ich übersetze mal für die Zuhörer: CDs sind Compact Discs. Kvitka: Davon gibt es jetzt eine Menge. Plötzlich ist die Jazzmusik in Amerika wiederbelebt worden. Und das ist sehr interessant. Es gibt so viele neue Talente. Wir erfahren gerade von ihnen. Und eine Menge guter Musik ist plötzlich aufgetaucht. Und sie machen viel von dieser Musik hier, in diesem Studio. Denn es gibt hier den sehr schönen großen Saal, und man kann dort viel aufnehmen. Und es gibt auch die Möglichkeit, viel mit Synthesizern zu arbeiten. Kyrylo: Sprechen Sie über Jazz? Kvitka: Ja, über Jazz. Da gibt es jetzt verschiedene . . . Zum Beispiel Rob Mounsey. Er arbeitet hier in New York. Und er arbeitet viel beim Film und schreibt eine Menge Musik für Filme. Und er hat eine Platte veröffentlicht. Und tatsächlich passiert es jetzt, dass Einzelpersonen ihre eigenen Platten herausbringen, auf denen sie alle Instrumente spielen und alles selbst schreiben. Und das ist eine sehr interessante Sache— die Musik verändert sich hier in Amerika ein wenig. Es ist eine interessante Zeit. Es gibt eine Menge neuer Künstler. Kyrylo: Meinen Sie, das liegt an der neuen digitalen Technologie und an den CDs? Kvitka: Ich weiß es nicht. Ich habe den Eindruck, dass sie alle (diese neuen Künstler) auf UN-CD [ohne CD] veröffentlichen. Aber ich glaube, das liegt daran, dass es sehr lange Zeit nur große Firmen gab: CBS, Warner Brothers und so weiter. Und plötzlich war Platz für eine kleine Firma! Eine der bekanntesten ist GRP-Records [das Label der Jazzmusiker Dave Grusin und Larry Rosen, die Jazz, Rock und Popmusik miteinander verbinden]. Und sie dachten tatsächlich, dass es einen Bereich wie Jazz gibt, in dem es nicht genug Platten gibt. Und das ist ein kleines Unternehmen. Sie fingen an, nach diesen neuen Künstlern zu suchen . . .
„Die beste ukrainische Sängerin auf beiden Seiten des Ozeans“ 331 Kyrylo: Speziell Jazz-Künstler? Kvitka: Ja! Es ist also interessant. Kyrylo: Und es muss eine Menge junger Leute gegeben haben, die gesehen haben, dass diese Art von Musik auch gesungen werden kann? Und dass man nicht nur Pop oder Rock singen muss? Kvitka: Ja, genau! Und sagen wir mal, Rob Mounsey singt auf seiner Platte überhaupt keine Lieder. Aber er ist ein berühmter Synthesizer-Provenna [ein Führer in der Synthesizer-Kunst]. Das heißt, nominell gibt es eine ganze Platte nur mit einem Synthesizer, aber man denkt, dass dort ein ganzes Orchester aufgenommen ist, dass es verschiedene Instrumente gibt . . . Kyrylo: Was für einen Synthesizer benutzt er? Kvitka: Ich weiß nicht einmal, welche Art er benutzt. Aber es steht auf der CD, was er benutzt. Kyrylo: Ich habe mir die Platte noch nicht angehört. Aber jetzt bin ich daran interessiert, sie zu hören. Und ich würde unseren Radiohörern gerne die Möglichkeit geben, sie jetzt zu hören. Kann man sie kaufen? Kvitka: Ja, ja. Ich habe sie auch. Kyrylo: Oh, ich werde es von Ihnen kopieren (lacht). Kvitka: Ich schenke sie Ihnen! Ich kaufe mir noch eine und schenke sie Ihnen.
Aufnahmen und Raubkopien Kvitka: Ich lache! Aber ich bin sehr empfindlich bei diesem Thema! Denn meine erste Platte, „Kvitka“ („Lieder der Ukraine“), war sehr teuer. Es hat viel Geld gekostet, sie zu produzieren. Für jemand, der alles selbst macht, ist das sehr teuer . . . Kyrylo: Ich kann das sehr gut verstehen. Denn ich bin jetzt schon seit über 6 Monaten in den USA . . . Kvitka: Ganz genau. Und es kostet eine Menge Geld, eine solche Platte zu produzieren, selbst mit einem kleinen Team. Und deshalb hat es 9 Jahre gedauert, bis ich die nächste Platte herausbringen konnte! Ich musste also wieder Geld auftreiben
332 Ein Land weiblichen Geschlechts und noch etwas mehr Geld aus dem Verkauf der ersten Platte bekommen. Kyrylo: Und wie lange hat es gedauert, bis Sie die Kosten für die erste Platte gedeckt hatten? Kvitka: Noch nicht. Sie sind noch nicht gedeckt! Aber sie sind so gedeckt, dass ich die zweite Platte produzieren kann. Es wird also wieder 10 Jahre dauern. Aber das liegt daran, dass viele Leute hier kaufen und dann kopieren (!). Hier in Amerika ist das nicht legal! Das ist hier in Amerika nicht legal, und das schadet vielen Künstlern und Komponisten . . . Kyrylo: Ich verstehe das. Kvitka: Hier in Amerika kann man Kassetten [Bänder, Kassetten] kaufen, sie sind nicht so teuer. Und hier kann man die Platte kaufen. Aber in der Ukraine ist es anders, da kann man nicht einfach eine Schallplatte kaufen. Und es gibt keine Möglichkeit, eine Kassette zu kaufen. Deshalb bin ich so sehr beeindruckt von diesem Thema hier! Kyrylo: Jetzt verstehe ich. Kvitka: Wenn mehr Leute meine Platte hier kaufen würden, könnte ich meine zweite Platte schneller produzieren. Deshalb bitte ich Sie zu kaufen, nicht zu kopieren! Damit ich weitermachen kann!!! Wenn ihr meine Musik liebt, wenn ihr sie immer wieder hören wollt, dann kauft sie bitte, nicht kopieren! So dass ich meine Kosten decken kann! Kyrylo: Nun, das ist ein wichtiger Appell an die Ukrainer, die in der freien Welt leben! Aber wenn wir über die Ukraine sprechen, sind wir nicht nur geistig daran interessiert, sondern auch real! Denn wenn die Ukraine unabhängig wird, wird das materielle Folgen haben. Denn dann wird die Ukraine Zugang zu einem freien, globalen Markt haben. Und dann wird ukrainisches Geld frei konvertierbar sein. Und dann werden Ihre Schallplatten in der Ukraine für das Geld verkauft, das die Leute dafür bezahlen werden. Es wird einer bestimmten Anzahl von Dollars entsprechen. Dann, denke ich, wird Ihr Geschäft wachsen. Kvitka: So Gott will . . .
„Die beste ukrainische Sängerin auf beiden Seiten des Ozeans“ 333 Kyrylo: Dann müssen wir uns zusammensetzen und darüber nachdenken, wie wir die Ukraine so schnell wie möglich frei machen können. Kvitka: Damit ich mit der Produktion der nächsten Platten beginnen kann. Ich habe einige Ideen … Kyrylo: Denn der ukrainische Markt, wenn Ihre Platten in der Ukraine verkauft würden, ist ziemlich groß. Sie könnten dort drei oder fünf Millionen Exemplare verkaufen … Kvitka: Das wäre toll, dann könnte ich jedes Jahr Platten produzieren. Ich habe noch keinen Fonds für solche Dinge. Aber das war nicht der Zweck dieser Platten …
Ukrainische Musiker in Amerika Kyrylo: Ja, das verstehe ich. Aber wirklich, wenn man jedes Jahr ein paar Millionen verkaufen würde, könnte man das nur tun . . . Wie unerwartet! Solche staatlichen Dinge können sich direkt auf das Privatleben und das Geschäft auswirken . . . Das empfinde ich auch so. Denn wenn es staatliche Unterstützung gäbe, wie viele ukrainische Musiker könnten dann in Amerika eine viel bessere Karriere machen. Ich meine diejenigen, die hier leben oder gerade angekommen sind. Der Geiger Oleh Krysa zum Beispiel hat hier eine sehr erfolgreiche Karriere. Und dann gibt es noch diejenigen, die später gekommen sind . . . Kennen Sie sie? Zum Beispiel den Pianisten Oleksandr Slobodianyk . . . Kvitka: Ja. Kyrylo: Slobodianyk ist in der Carnegie Hall aufgetreten. Ich war bei diesem Konzert! Es war ein großer Erfolg! Auch der Pianist Mykola Suk kam, die Cellistin Maria Tchaikovska kam, der berühmte ukrainische Komponist Leonid Hrabovsky kam . . . Und das sind meist Ukrainer, die zuerst von L’viv oder Kyïv nach Moskau gingen. Und dann kamen sie hier in Amerika zusammen . . . Sie knüpften berufliche Kontakte und begannen ihre musikalischen Karrieren zu machen. Ich wünsche ihnen Glück! Denn wissen Sie, heutzutage ist es in der Ukraine und in der Sowjetunion nicht gerade die beste Zeit, um eine professionelle Karriere zu machen. Im Allgemeinen
334 Ein Land weiblichen Geschlechts gehen heutzutage nicht mehr viele Menschen zu Konzerten. Die Menschen sind zu sehr mit anderen Problemen beschäftigt. Obwohl es Leute gibt, die Musik brauchen . . . Nun, ich habe angefangen zu quatschen . . . Kvitka: Nein, es interessiert mich.
Ed Rak / Edward J. Rakowicz Kyrylo: Ich würde auch gerne ein bisschen mehr über Ihren Mann erfahren. Kvitka: Er wurde in Amerika geboren, in New Jersey. Ich in New York und er in New Jersey. Und er hat vor etwa 12 Jahren angefangen, im Studio zu arbeiten. Kyrylo: Und was hat er vorher gemacht? Kvitka: Er hatte verschiedene Jobs . . . Aber er ist drummer—er spielt Tamburin (Schlagzeug). Es gibt eine Sängerin namens Phoebe Snow, und er hat in ihrer Band gespielt. Und dann dachte er, er wolle dort nicht bleiben. Er wollte nicht mehr Tamburin spielen—er wollte etwas anderes machen. Und dann fing er an, mit einem Produzenten namens Phil Ramone zu arbeiten [Phil Ramone ist einer der erfolgreichsten Produzenten in der Geschichte der Musik]. Damals hatte Phil Ramone ein Studio namens A&R Studio, und er schlug Edward vor dort zu arbeiten . . . Kyrylo: Und in welcher Funktion? Kvitka: Um zu lernen, wie man Tontechniker wird. Er wollte also sehen, ob das ein Beruf für ihn sein könnte. Und er begann zu arbeiten . . . Das war vor 15 oder 16 Jahren. Und es hat ihm sehr gut gefallen. Und dann begann er in anderen Studios zu arbeiten. Und dann, vor 10 Jahren, haben er und sein Freund Bruce Marley beschlossen, ihr eigenes Studio zu eröffnen. Kyrylo: Haben sie es selbst ausgebaut? Kvitka: Das Haus war hier, aber sie haben alles von innen gemacht . . . Es war ein warehouse. Sie haben alles hier aufbewahrt . . . Kyrylo: Ein Lagerhaus?
„Die beste ukrainische Sängerin auf beiden Seiten des Ozeans“ 335 Kvitka: Ja, ja! Da war nichts drin. Und sie bauten drinnen alles wieder auf. Und er begann—ich weiß nicht, wie man es nennt—zu entwerfen . . . Kyrylo: Nun, ja, sie begannen drinnen zu entwerfen. Kvitka: Er hat alles drinnen entworfen und die ganze Ausrüstung gekauft. Kyrylo: Haben Sie drinnen alles neu gebaut? Kvitka: Ja, ja. Kyrylo: Hat das viel gekostet? Muss es viel gewesen sein? Kvitka: (lacht) Ja! Denn zu dieser Zeit gab es in New York eine Menge Studios. Und es hatte keinen Sinn, ein Studio zu eröffnen, das nicht auf dem neuesten Stand der Technik war. Es musste auf dem neuesten Stand der Technik sein. In New York muss man versuchen, der Beste zu sein, denn der Wettbewerb ist sehr streng. Kyrylo: Meinen Sie damit den Wettbewerb oder einen Wettstreit zwischen Menschen? Kvitka: Ja. Und sie mussten sicher sein, dass es das beste Studio in New York sein würde. Es war also eine sehr große Investition! Sie bezahlen also die Banken und werden es auch weiterhin tun. Kyrylo: Das wollte ich gerade fragen. Wer war der Investor? Kvitka: Es gab Geld. Sie hatten beide ihr eigenes Geld. Aber es kam mehr aus Krediten. Sie liehen sich Geld bei Banken, und auch in New York. Damals gab es auch Kredite für kleine Unternehmen, um kleine Unternehmen in New York zu unterstützen. Kyrylo: Was für eine spezielle Bank war das? Kvitka: Keine Bank, das ist eine staatliche Organisation. Sie haben auch Geld geliehen. Es gibt also eine große Schuld. Kyrylo: Ich wünschte, wir hätten so etwas in der Ukraine. Kvitka: Das ist eine große Schuld. Und sie ist noch nicht beglichen. Aber es geht dem Ende zu. Kyrylo: Ich drücke die Daumen! Kvitka: Und sie begannen zu arbeiten. Und es sprach sich schnell in der Geschäftswelt und in der Musikwelt herum, dass ein
336 Ein Land weiblichen Geschlechts neues Studio eröffnet worden war und dass der Klang sehr gut war! Alle waren sehr glücklich! Kyrylo: Welche berühmten Künstler nehmen hier auf? Und wen haben Sie hier aufgenommen? Kvitka: Diana Ross, Madonna, Miles Davis, Wynton Marsalis, Michel Camilo, Julian Lennon (der Sohn von John Lennon) . . . Ja. Und wer noch? Quincy Jones, Cleo Laine, Maureen McGovern . . . Woody Allen ist hier, um seine Filme zu vertonen. Sie haben einen Teil ihres letzten Films hier gedreht. Nicht einmal Musik, sondern einen Film. Kyrylo: Oh, wie interessant. Ein historisches Studio. Wer hat dieses Studio entworfen? Kvitka: Er hat es entworfen. Kyrylo: Ihr Mann? Kvitka: Ja! Er ist kein Architekt, aber er kennt die Theorien darüber, wie Klang in einem Raum funktioniert . . . Kyrylo: Das nennt man also Akustik? Kvitka: Akustik, ja. Er weiß eine Menge darüber, er hat es studiert, er hat diese Dinge studiert. Und er hat einen Entwurf für das Studio gemacht. Kyrylo: Und er kennt sich auch mit Architektur aus? Kvitka: Er hat mit einem Architekten zusammengearbeitet. Denn es war ein sehr großes Projekt. Und hier in New York brauchten sie eine Baugenehmigung. Kyrylo: Warum? Kvitka: Weil sie die Decke anheben und alle möglichen großen Geräte und Kräne installieren mussten. Also mussten sie alle Ideen auf Papier aufschreiben . . . (das Kind erhebt wieder seine Stimme.) Kyrylo: Es waren also alles seine Ideen? Er hat das alles selbst gemacht? Kvitka: Ja. Und der Architekt hat alles zu Papier gebracht . . . (der Junge fordert ganz klar Aufmerksamkeit . . . )
Epilog In diesem Moment betritt Edward Rakowicz den Raum und sagt mir, dass seine Frau ihren Sohn füttern muss. Ich war glücklich!
„Die beste ukrainische Sängerin auf beiden Seiten des Ozeans“ 337 Ich hatte es geschafft, alles zu machen und war erfolgreich! Vielen Dank an Kvitka und Edward! Es war Zeit, in die Ukraine zurückzukehren. Sehr bald, im März 1991, würde mein amerikanisches Visum ablaufen. Ich hatte einige angenehme Aufgaben vor mir. Ich musste Zeit haben, um die mir ausgestellten Bankschecks einzulösen. Schließlich war es an der Zeit, die Früchte meiner Vorträge und Konzerte zu ernten. Die Ukrainer in den USA und in Kanada waren begierig darauf, meine kreativen Pläne zu unterstützen. Und ich musste ihr Vertrauen rechtfertigen. Deshalb suchte ich in Musikkatalogen nach den neuesten elektronischen Instrumenten und Geräten. Er bereitete sich darauf vor, alles nach Kyïv zu verlegen. Er träumte davon, ein eigenes Aufnahmestudio einzurichten. Währenddessen formte sich in der Noosphäre das Bild der zukünftigen Ukraine. Sie wurde unabhängig, breitete schnell ihre Flügel aus und erhob sich auf das Niveau Amerikas. Und es wurde durch den Glauben an das grenzenlose Potenzial unseres Volkes beflügelt. Ich wollte die ukrainische Bevölkerung so schnell wie möglich an der amerikanischen Erfahrung teilhaben lassen und ihr Energie und Optimismus geben. Die Erinnerung an den phänomenalen Erfolg der ersten „Červona Ruta“ wurde
Kvitka und die beiden Eddies—Sohn und Ehemann
338 Ein Land weiblichen Geschlechts wieder wach. Er inspirierte zu noch größeren Projekten. Das Bild von Otto von Bismarck erschien in der aufgewühlten Vorstellungswelt: „Gebt mir zweitausend Lehrer, und ich werde ein großes und starkes Deutschland aufbauen!“ Und das ukrainische kollektive Unterbewusstsein formuliert sofort eine Antwort: „Gebt unserem Lied ukrainisches Fernsehen, und wir werden in einem Jahr eine Nation sein!“ Leider war Kvitka nicht in der Lage, an der Zweiten „Červona Ruta“ teilzunehmen, die 1991 in Zaporižžja stattfand. Auch einer offiziellen Einladung des Regisseurs Borys Šarvarko im folgenden Jahr folgte sie nicht. Deshalb sang sie auch nicht bei dem Regierungskonzert zum zweiten Jahrestag der Unabhängigkeit der Ukraine. Später erhält sie eine beunruhigende Nachricht aus New York. Bei der Sängerin wurde Brustkrebs diagnostiziert . . . Sie arbeitet weiter an einem Programm mit ukrainischen Wiegenliedern und zudem auch an ihrem dritten Album. Aber es war ihr nicht bestimmt, es zu beenden . . . Am 29. März 1998, 5 Tage vor ihrem 45. Geburtstag, starb Kvitka in Frieden. Es geschah in ihrem New Yorker Haus, umgeben von ihrer Familie.
Oksana Levantovyč: Martha Bohachevsky-Chomiak
„Ukrainer, die keine positiven Veränderungen sehen, kennen ihr eigenes Leben nicht“ Martha Bohachevsky-Chomiak ist Amerikanerin ukrainischer Abstammung, Historikerin, sie forscht über die Frauenbewegung und die sozialen Prozesse im Galizien des 19. Jahrhunderts sowie über das intellektuelle Leben im vorrevolutionären Russland. Sie ist eine öffentliche Persönlichkeit und Aktivistin der ukrainischen Frauenbewegung in den Vereinigten Staaten, ehemalige Vizepräsidentin der „Ukrainian Women’s Union of America“, Direktorin des „Fulbright Academic Exchange Program“ in der Ukraine (2000–2006) und Mitglied der „National Science Foundation“. Sowohl mütterlicherseits als auch väterlicherseits stellte die Familie von Martha Bohachevsky-Chomiak Geistliche. Ihr Onkel war der erste Metropolit von Philadelphia der GriechischKatholischen Kirche. Im Jahr 2018 veröffentlichte Martha ein Buch über ihn: „Ukrainian Bishop, American Church: Constantine Bohachevsky and the Ukrainian Catholic Church“ (ukr. 2021). 1940, als Martha Bohachevsky erst 2 Jahre alt war, mussten ihre Eltern die Stadt Rava-Rus’ka (Oblast’ L’viv) aufgrund von Verfolgung verlassen, und die Familie verbrachte die ersten Jahre in Flüchtlingslagern, bevor sie Mitte der 1940er Jahre in die Vereinigten Staaten auswanderte. 1960 schloss Martha ihr Studium an der University of Pennsylvania ab und absolvierte ein Postgraduiertenstudium an der Columbia University. Sie lehrte osteuropäische Geschichte an amerikanischen Spitzen-Universitäten und später als Professorin für Geschichte an den Universitäten von New York, New Jersey, Washington, D.C. und Harvard. Sie hat auch als Gastprofessorin an ukrainischen Universitäten gelehrt und zum Aufbau des 339
340 Ein Land weiblichen Geschlechts Ukrainian American Women’s Studies Center an der Ukrainischen Katholischen Universität (UCU) beigetragen. Was ist die Geschichte Ihrer Familie? Warum mussten Ihre Eltern auswandern? Ich gehöre zu einer Generation von Ukrainern, die sich entweder aus eigenem Antrieb oder unter dem Einfluss der staatlichen Unterdrückung während des Zweiten Weltkrieges zur Auswanderung entschlossen. Mein Vater war Rechtsanwalt, der, obwohl er gegen ultranationalistische Bewegungen war, die OUN so gut er konnte verteidigte. Schließlich war er 1940 gezwungen, mit seiner Familie zu fliehen, weil er von den sowjetischen Behörden verfolgt wurde. Es war eine Zeit der Ungewissheit. Keiner wusste, wohin das Schicksal ihn führen würde. Wäre mein Vater in der Ukraine geblieben, wäre er wahrscheinlich nach Sibirien deportiert worden, genau wie unser Großvater, ein Priester, der auf dem Weg in die Verbannung starb. So landete meine Familie in deutschen Arbeitslagern, dann in Lagern für Displaced Persons, und von dort aus gingen wir 1948 nach Amerika. Damals war ich noch nicht einmal 10 Jahre alt. Die ersten Jahre lebten wir in Stamford, Connecticut.
Martha Bohachevsky-Chomiak
„Ukrainer, die keine positiven Veränderungen sehen” 341 Ich bin in einem spezifischen Amerika aufgewachsen: dem Land der ersten Generation der zweiten Emigrationswelle, der ukrainischen „Ghettos“, die einen bestimmten Typus von Menschen hervorgebracht haben. Einige von uns sind in diesem „Ghetto“ geblieben, ohne die Ukraine oder das wahre Amerika zu kennen. Und viele aus meiner Generation haben sich entweder in der neuen Umgebung aufgelöst oder sind heute im öffentlichen Leben der Ukraine aktiv. Ich habe den Menschen, die mir geholfen haben, viel zu verdanken. Ich bin meiner Mutter dankbar, aber auch meinem Vater, der trotz des Besuchs einer ukrainischen Schule immer versucht hat, mir den Rest der Welt zu zeigen. Nach dem Schulabschluss ging ich an die Universität. Eine Zeit lang schwankte ich zwischen Literatur und Geschichte, entschied mich dann aber für Letzteres. Ich zog nach New York, wo das ukrainische Leben auf einem hohen Niveau war. Dort heiratete ich einen kanadischen Journalisten, Rostyslav Chomiak, der meine akademische Sichtweise unterstützte.
Martha Bohachevska beim Studienabschluss. 1960er Jahre
342 Ein Land weiblichen Geschlechts Danach begann ich ein Postgraduiertenstudium mit Schwerpunkt auf russischer und osteuropäischer Geschichte. Als ich später mit meinem Mann nach Washington umzog, musste ich bei null anfangen. Und die erste Stelle am neuen Ort war bei einer amerikanischen staatlichen Stiftung zur Förderung der Geisteswissenschaften. Die Amerikaner dachten auch über eine Ausweitung des Fulbright-Austauschprogramms nach. Zu dieser Zeit hatte ich gerade begonnen, Kurse über die Geschichte der Ukraine zu geben, und ich war die Person, die das Programm auf die Ukraine ausweiten konnte. So wurde ich 1999 zum Direktor des Fulbright-Programms in Kyïv ernannt und war von 2000 bis 2006 für das Programm in der Ukraine verantwortlich. Ich bin dankbar für die Umstände, die es mir ermöglichten, das Fulbright-Programm zu betreuen, was mich dazu brachte, sehr oft in die Ukraine zu kommen und das ganze Land zu bereisen. Ich habe die Universitäten nicht in bessere und schlechtere eingeteilt, sondern versucht, ganz unterschiedliche Universitäten zu erreichen und die Rektoren davon zu überzeugen, Leute zum Studium ins Ausland zu schicken. Was sind Ihrer Meinung nach die Probleme des ukrainischen Hochschulwesens? Da gibt es viele, aber ich möchte zwei nennen, die mich besonders überraschen: erstens das Fehlen freundlicher Kritik und zweitens die Trennung von Forschung und Lehre an den Universitäten. Ich bin davon überzeugt, dass ein guter Professor irgendwann in die Verwaltung wechseln und zum Beispiel verstehen sollte, dass jemand die Stromrechnung bezahlen muss. Professor zu sein, ist eigentlich sehr gefährlich, weil man oft unter Menschen ist, die weniger wissen. Das ist ganz natürlich. Aber wenn ein Professor 3 Jahre hintereinander eine Einführung in die Geschichte des Russischen Reiches gelehrt hat, sollte er oder sie etwas anderes anfangen oder sich in der Verwaltung versuchen und sich zum Beispiel um eine Stelle als Vizerektor bewerben. Das heißt, ein Gelehrter oder Lehrer ist dann wirklich gut, wenn er es sich nicht in einem bestimmten Bereich bequem macht, sondern ständig auf der Suche nach etwas Neuem
„Ukrainer, die keine positiven Veränderungen sehen” 343 ist. In der Ukraine arbeitet die Ukrainische Katholische Universität in L’viv nach einem ähnlichen Prinzip, und das schafft eine gesunde Atmosphäre. Erzählen Sie uns von Ihren Eindrücken bei Ihrem ersten Besuch in der Ukraine und Ihren Versuchen, die Frauenforschung hier zu entwickeln. Im Gegensatz zu anderen Amerikanern ukrainischer Abstammung, die in die Ukraine gekommen sind, habe ich nie erwartet, dass sich viel ändern würde. Bei meinem ersten Besuch im Jahr 1980 war die Situation in der Ukraine unvergleichlich schlechter als heute. Wenn also jemand sagt, dass es keine positiven Veränderungen gibt, bedeutet das, dass die Leute ihr eigenes Leben und natürlich ihre Geschichte nicht kennen. Während dieser ganzen Zeit habe ich aktiv publiziert, und mein wissenschaftliches Interesse führte mich allmählich zur Forschung. Und als ukrainische Frauen in Amerika mich baten, ein kleines Buch über Frauen zu schreiben, sagte ich schließlich zu. Zu dieser Zeit gab es keine eingehenden Untersuchungen darüber, wie sich die Frauenbewegung in Osteuropa, insbesondere in der Ukraine, im Vergleich zu Westeuropa und Amerika entwickelt hat. Ich kam 1980 zum ersten Mal für 3 Monate in die Ukraine. Damals war es bereits möglich, Zugang zu Kyïver und sogar Moskauer Archiven zu erhalten. Allerdings waren die Archivmitarbeiter davon überzeugt, dass ich das Thema Feminismus als Deckmantel benutzte, da ich mich in Wirklichkeit für Familiengeschichte und Nationalismus interessierte. Besonders in Moskau gab es viele Verdächtigungen. Ich arbeitete auch in einem Kirchenarchiv in Przemyśl, wo ich erfuhr, dass sich unter den Ukrainern des 19. Jahrhunderts Frauenorganisationen ausbreiteten, die meist lokal und wirtschaftlich und nicht intellektuell ausgerichtet waren. Interessant ist, dass die Frauen in diesen Organisationen bis zuletzt leugneten, Feministinnen zu sein. Selbst meine Freundinnen, die sich mit Frauenfragen beschäftigten, sagten, dass das, was ich beschreibe, kein Feminismus sei. Aber sie gaben mir nie eine klare Antwort auf meine Gegenfrage: Wie sollten wir es nennen? Zu dieser Zeit
344 Ein Land weiblichen Geschlechts arbeitete die „Ukrainian Women’s Union of America“ auch aktiv mit internationalen Organisationen zusammen, so dass ich viel mit Hindus und Äthiopierinnen sprach und feststellte, dass sie die gleiche Art von Feminismus wie in der Ukraine hatten—sozusagen einen kooperativen Feminismus. Ich nannte ihn pragmatischen Feminismus, und auf der Grundlage dieser Entdeckung habe ich das Buch „Feminists despite themselves: women in Ukrainian community life, 1884–1939“ begonnen, das ich nach meiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten fertigstellte.1 Dann suchte ich nach Möglichkeiten, zu Forschungszwecken in die damalige Sowjetunion zurückzukehren, und unterrichtete Frauenstudien an der Kyïver Ševčenko-Universität und der KyïvMohyla-Akademie, aber ich stieß auf wenig Interesse. Ich erinnere mich, dass mir sogar eine Frau von der „Ukrainian National Women’s League of America“ (UNWLA) Geld für Frauenstudien gab, aber die Professoren hatten Angst, Kurse zu frauenspezifischen Themen zu geben, um nicht gefeuert zu werden. Viele Jahre später sahen ukrainische Frauen aus den USA, dass es in der Ukraine noch eine gute Universität gab, auf deren Grundlage sie dieses Thema entwickeln konnten. So gründete die Ukrainische Katholische Universität im Jahr 2011 das UNWLA-Zentrum für Frauenstudien, das bis heute aktiv ist. Es war nicht meine Idee, aber ich habe sie gerne angenommen. Würden Sie sich selbst als Feministin bezeichnen? Ich mag keine Etiketten, vor allem nicht solche, die 2018 auf modernen „Ismen“ beruhen. Ich bin kein hermetisch abgeschlossenes Wesen, sondern ein Teil verschiedener Gemeinschaften und immer etwas amorpher Gruppen. Wenn Sie mich fragen, ob ich ein Nationalist bin, antworte ich sowohl nein als auch ja, je nachdem wer mich fragt und wann. Man hat mir sowohl Nationalismus als auch dessen Leugnung vorgeworfen. Für manche bin ich auch ein Amerikaner, für normale Amerikaner ein Washingtoner oder sogar ein Ukrainer.
1
Die englische Ausgabe erschien in Edmonton 1988, die ukrainische in Kyïv 1995.
„Ukrainer, die keine positiven Veränderungen sehen” 345
Buchcover der ukrainischen Ausgabe
Wenn Sie gläubig sind, haben Sie wahrscheinlich bemerkt, dass Christus in Gleichnissen predigt, in Geschichten über bestimmte Menschen, bestimmte Ereignisse, in denen der Nachbar kein statistischer Durchschnittswert ist, sondern eine Person von irgendwoher. So ist es auch mit dem Feminismus. Der Kontext ist wichtig. Der Feminismus ist ebenso notwendig wie der Nationalismus und der Globalismus in toleranten Dimensionen und mit einer Portion gesundem Menschenverstand. Wir müssen uns selbst vollständig kennen, ohne unnötige Beschönigungen. Ich betrachte mich nicht als Feministin, aber auch nicht als Antifeministin. Ich weiß, dass Mädchen ungerechterweise anders erzogen werden als Jungen. Und als ich mich zum ersten Mal
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Martha Bohachevsky-Chomiak
nach meinem Abschluss für ein sehr angesehenes Stipendium bewarb, stellte mir der Ausschuss, der aus vier Männern bestand, eine Frage: „Wie werden Sie Ihr Privatleben mit Ihrem akademischen Leben vereinbaren?“ Ich antwortete: „Ich sehe, dass Sie alle Eheringe haben. Irgendwie schaffen Sie das.“ Letztendlich bekam ich das Stipendium. Bis dahin hatte ich nie über Feminismus nachgedacht, aber meine amerikanischen Freundinnen mussten viel durchmachen, um an die Universität zu kommen. Die meisten von ihnen gingen nicht auf gute Universitäten, denn ihre Brüder wurden dorthin geschickt. In unserer Familie gab es nie einen Zweifel daran, dass ich an die Universität gehen würde, während meine Schwester im Gegenteil darum kämpfen musste, ohne Masterabschluss zu heiraten. Ich habe nie daran gezweifelt, dass ich ein höheres Studium absolvieren und Doktor werden würde. Und wir sahen kein Problem darin, dass mein Mann Rostyslav nicht promovierte, weil er es nicht nötig hatte.
„Ukrainer, die keine positiven Veränderungen sehen” 347 2019 haben Sie Ihr Werk über Metropolit Constantine Bohachevsky veröffentlicht, „Ukrainian Bishop, American Church: Constantine Bohachevsky and the Ukrainian Catholic Church“. Warum haben Sie sich für ein so komplexes Thema entschieden, das nicht zu Ihren Forschungsinteressen gehörte? Hat der Faktor Familie eine Rolle gespielt? Ich habe mich nicht entschieden, ich wurde dazu gezwungen (lacht). In der Einleitung des Buchs schreibe ich, dass ich zu schwach für diese Arbeit war. Mein Vater bestand jedoch darauf, dass ich diese Arbeit aufnehme (und schrieb sogar selbst ein kleines Buch), während ich mich damit herausredete, dass ich nicht über die notwendigen Dokumente verfügte. Dann hat mich Metropolit Lubomyr Husar „gestellt“ und gesagt: „Martha, du musst schreiben, denn wenn du nicht schreibst, wird es niemand tun, du bist die letzte Generation, die Europa noch einigermaßen spüren kann und Amerika kennt.“ Ich beschloss damit anzufangen, aber ich zögerte sehr: Ich hatte mich nie für kirchenorganisatorische Angelegenheiten interessiert, und es war schwierig, über meinen eigenen Onkel zu schreiben, weil die Gefahr einer übermäßigen Subjektivität bestand. Auch in technischer Hinsicht war es schwierig: Es gab keine Archive zu diesem Thema, sondern Stapel von Papieren, durch die ich mich stunden- und tagelang wühlen musste. Außerdem hatte die Kirche Beschränkungen für solche Dokumente, und ich bekam keinen Zugang zu den Archiven der Metropolie von Philadelphia, aber glücklicherweise erhielt ich ihn in Stamford. Ich ging auch nach Rom und fand in den dortigen Archiven eine Menge Material, mit dem ich arbeiten konnte . . . Die Fertigstellung des Buchs dauerte 8 Jahre, und das Ergebnis sind 600 schmerzhafte Seiten. Als ich das Buch las, wurde mir klar, dass es eine gute Arbeit war. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich zufrieden mit dem, was ich geschrieben habe. Ich muss sagen, dass ich ein produktives Leben geführt habe, obwohl ich immer denke, dass ich mehr hätte tun sollen, weil es in Amerika noch große Möglichkeiten gab. Wir haben diese Chancen nicht genutzt, weil unsere Eltern und wir ein falsches und primitives Bild von Amerika hatten. Sie sagten, was für eine Geschichte
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Metropolit Constantine Bohachevsky
hat Amerika – 300 Jahre—was kann man dort studieren, was für eine Kultur, Wissenschaft? Sie können nicht Latein lesen, sie sprechen kaum dieselbe Sprache . . . Stattdessen könnte uns Amerika viel mehr geben—die Kraft, mutig zu sein. Sie kommen aus einer Familie von Einwanderern. Sie haben sicher mehr als einmal Diskussionen über den „ukrainischen Geist“ gehört. Was bedeutet er für Sie? Ich beginne mit etwas anderem . . . Ich erinnere mich, dass in den 1970er Jahren eine der unnötigen Diskussionen begann, ob wir Ukrainer, die in Amerika aufgewachsen sind, die amerikanische
„Ukrainer, die keine positiven Veränderungen sehen” 349 Staatsbürgerschaft haben könnten. Ich beschloss zu lesen, was ich schwören müsste, und fand heraus, dass der Eid der amerikanischen Staatsbürgerschaft derselbe ist wie der des Präsidenten—dem Land, der Verfassung und den Gesetzen Amerikas treu zu sein. Ich bin mit all dem einverstanden und sehe keinen Grund, warum ich nicht ein vollwertiger Bürger des Landes sein sollte, in dem ich lebe. Aber ich habe große Angst vor der doppelten Staatsbürgerschaft, und Amerika hat damit begonnen, sie zu vergeben: zuerst an Israelis und dann an die Iren. Ich halte das für katastrophal, weil das gesamte amerikanische Staatssystem auf Souveränität aufgebaut ist. Was den ukrainischen Geist angeht, nach dem Sie fragen, so können wir nicht „aus dem Ukrainischen herausspringen“, wie Milena Rudnyc’ka schrieb. Der ukrainische Geist sind wir, aber er ist definitiv nicht etwas, das uns einschränkt. Deshalb können wir nicht sagen, dass einige sichtbare Dinge definieren, was der ukrainische Geist ist. Ich spiele keine Bandura, ich singe nicht, ich rezitiere nicht, ich bin allergisch gegen Varenyky, ich weiß nicht, wie man sie kocht, und ich will auch nicht wissen, wie man sie kocht, aber die Ukraine ist mir lieb, ebenso wie ihre Menschen. Nach mehreren Besuchen in der Ukraine wurde mir klar, dass ich zwar hier leben, aber keine Ukrainerin sein kann, auch wenn ich mich in Kyïv und Washington gleichermaßen zu Hause fühle. Und wenn mich Leute fragen, was meine Lieblingsstadt in der Ukraine ist, antworte ich „Süd-Mykolaïv. Alle sind sofort sehr überrascht, wie man das russifizierte Mykolaïv lieben kann. Aber aus irgendeinem Grund mag ich die Menschen, die dort leben, sehr. Was kann die Ukraine von Amerika lernen? Der erste Unterschied zwischen der Ukraine und Amerika besteht darin, dass ich mich in Amerika mit einem Klempner an einen Tisch setzen und ein gutes Gespräch mit ihm führen kann. In der Ukraine ist das immer noch irre—wie kann sich ein Professor mit einem Autofahrer oder einem Klempner an einen Tisch setzen? Zweitens ist Amerika toleranter gegenüber Ausländern, insbesondere gegenüber gebildeten Amerikanern, die das Anderssein offen akzeptieren. Im Gegensatz dazu akzeptieren einige Ukrainer
350 Ein Land weiblichen Geschlechts nicht nur andere nicht, sondern kennen sich auch selbst nicht, da es kaum Binnenreisen gibt. Die zweite Sache, die mich in der Ukraine immer verletzt hat, ist die spöttische Wahrnehmung des Rests der Welt, insbesondere derjenigen, die als minderwertig angesehen werden. Das heißt, eine taube und unnötige Hierarchie, die sich überall manifestiert, zum Beispiel in der Haltung eines Professors gegenüber einem Studenten oder einem Untergebenen. Drittens sind amerikanische Kinder unabhängiger, weniger umsorgt, nicht so anspruchsvoll, sie bekommen nicht alles umsonst. Viertens beschweren sich die Ukrainer viel mehr. Und wenn ich höre, wie sich die Leute beschweren, erzähle ich ihnen von meinen Eltern, von meinem Anwalt, der, als er nach Amerika kam, die Leichen der Toten tragen musste, und von meiner Mutter, die nicht einmal sticken konnte und in einer Kleiderfabrik arbeiten musste. Und schließlich der fünfte Punkt. In Amerika gibt es eine größere Vielfalt an Universitäten. Wenn Sie an einer amerikanischen Universität studieren, entscheiden Sie sich nicht für das ganze Leben und können Ihr Studienfach problemlos wechseln. Und selbst wenn man sein Studium abbricht, wird niemand sagen, dass man verloren hat, denn man hat sein ganzes Leben noch vor sich. Wenn man in der Ukraine etwas gelernt hat, ist das für die Ewigkeit, und wenn man keinen Abschluss macht, ist das das Schlimmste, was passieren kann. Was würden Sie den Ukrainern gerne wünschen? Drei Dinge: politisch aktiver zu werden, über ihre finanzielle Sicherheit nachzudenken und für kurze Zeit ins Ausland zu gehen, um zu lernen, wie man in verschiedenen Ländern und Städten zusammenarbeitet. Auf diese Weise kann man sein eigenes Leben aus einer breiteren Perspektive betrachten.
Olena Bilozers’ka
Drei Treffer in einer Nacht. Eine Frau im Krieg mit den russischen Besatzern Ich sehe, wie die Kämpfer einen Verwundeten abtransportieren. Zwei von ihnen ziehen ihn aus dem Graben, tragen ihn weg. Seine Hände liegen auf ihren Schultern, sein Kopf hängt an ihrer Brust. Drei von ihnen auf einmal, in voller Montur—ein leichtes Ziel, ein verlockendes Ziel . . . Aber ich schieße nicht. Wenn sie einen Verwundeten abtransportieren, darf man nicht schießen. So wurde es mir beigebracht. Die Ethik des Krieges. Ein Tabu. „Man darf die edle Kunst des Krieges nicht in Bestialität verwandeln“, sagt Wolf oft. Im Jahr 2020 stellte die Autorin ihr Buch „Tagebuch eines illegalen Soldaten“1 vor. Darin erzählt sie von den Ereignissen der Jahre 2014–2017, als sie als Scharfschützin für den „Rechten Sektor“ und die Ukrainische Freiwilligen-Armee an der Front war. Dieses Buch ist absolut dokumentarisch. Es enthält echte Namen und Nachnamen, echte militärische Rufnamen. Es beschreibt nur echte Ereignisse, echte Dialoge, die wortwörtlich wiedergegeben werden. Zum Titel des Buchs, „Tagebuch eines illegalen Soldaten“: illegal, weil die Ukrainische Freiwilligen-Armee noch nicht in die offiziellen Strukturen der Streitkräfte des Staates eingegliedert war. In der nächsten Nacht, vom 23. auf den 24. [2017], gehe ich nicht zum Dienst. Wolf sagt mir, ich solle die Schicht wechseln und mich ausruhen, und ich solle in der Nacht zum 25. gehen. Der Feind wird bestimmt eine Überraschung für uns vorbereiten, weil er denkt, dass wir uns am Feiertag betrunken haben. Und so gehe ich am 24. August, dem Unabhängigkeitstag der Ukraine, gegen 8 Uhr abends zum Nachtdienst nach Vegas. Wolf 1
Olena Bilozers’ka, Ščodennyk nelehalnoho soldata. PP „Itek Servis“, Kyïv 22020.
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Buchcover des „Tagebuchs eines illegalen Soldaten“
ist bei mir—er hat beschlossen, diesem Datum zuliebe auch eine Schicht zu übernehmen. „Der Katalane ist nicht da—er ist auf Urlaub.“ Und jetzt gehe ich voraus, zeige den Weg—es ist Wolfs erstes Mal in Vegas. Als wir den Graben betreten, ist es fast dunkel—man kann nichts sehen. „Wo ist der Feind?“, fragt Wolf. „Dort“, zeige ich lakonisch in die Richtung. Fast sogleich kommt einer der Kämpfer zu uns. Tagsüber hatten sie mehrere Säcke mit Erde vollgeschippt, und er bittet Wolf, ihm zu helfen, sie auf den Schutzwall zu werfen. Die beiden werfen den ersten Sack und haben kaum Zeit zu springen, als eine Maschinengewehrsalve den Sack zerfetzt. „Sie sind heute irgendwie wütend“, sagt der Soldat, und das Aufstapeln der weiteren Säcke wird auf unbestimmte Zeit verschoben. Mit leichter Trauer sehe ich, dass mein vorübergehender Posten wieder zerstört wurde. Jedes Mal habe ich mit Hilfe der Jungs die Säcke so gestapelt, dass zwischen den „Wänden“ zweier übereinander liegender Säcke ein Spalt war, in den ich mein Gewehr schieben konnte. Ich musste dafür sorgen, dass das Gewehr nicht
Drei Treffer in einer Nacht 353 über den Schutzwall ragte, damit der Körper wenigstens ein bisschen bedeckt war. So wurden meine Säcke wieder zerschossen, die Soldaten zogen das, was von ihnen übrig war, herunter und warfen andere Säcke an ihre Stelle—so wie es kam, ohne Rücksicht auf die Notwendigkeit, dort ein Gewehr zu platzieren. Ich versuche, „Halja“ auf diese Säcke zu hieven und auf das Ziel zu richten—sie aber hebt den Lauf und rutscht in den Graben, weil die Säcke schräg gestapelt sind. Und sie sind so verdammt dicht gepackt, dass ich mit einem flachen Spaten auf sie haue, aber ich kann sie nicht zusammenpressen. Und da nimmt Wolf auf meine Bitte hin seinen Schlafsack, rollt ihn auf und wirft ihn auf die Säcke. Der Schlafsack ist weich, man kann ihn „in Form bringen“, und ich setze „Halja“ vorsichtig auf das richtige Plätzchen darauf, so dass sie genau auf die feindlichen Stellungen blickt. Ich lasse sie mit dem eingeschalteten Wärmebildsensor oben, während ich unten nachsehe. Es ist etwa 21 Uhr. Um Mitternacht soll ein weiterer Waffenstillstand, ein so genannter „Schulfrieden“, beginnen, den natürlich keine der beiden Seiten einhalten wird, Gott sei Dank. Wir wollen so lange kämpfen, bis einer von uns gewonnen hat. Bitte mischen Sie sich nicht in unsere Arbeit ein. Fast sofort sehe ich ein Leuchten im Graben—der Kopf eines Menschen ragt heraus. In wenigen Sekunden erkenne ich, dass dies nicht die Männer sind, die jede Nacht von den Schützengräben aus für uns arbeiten. Sie verhalten sich ganz anders: Sie rücken aus, arbeiten und verstecken sich. Aus irgendeinem Grund schießen diese Männer nicht, sondern schleppen sich mit etwas ab. Der Kämpfer bewegt sich entlang des Grabens nach rechts und macht etwas. Links von ihm sehe ich einen Lichtschein—dort sind noch mehr Leute. Ich verstehe, dass sie etwas vorhaben, ich fühle eine wilde, unglaubliche Aufregung, ich habe Angst, das Ziel zu verlieren. Aber meine Position ist noch nicht bereit. Soll ich jetzt, in dieser Sekunde, arbeiten? Oder ein wenig später? Jetzt wird er in den Graben tauchen, und ich werde ihn nicht mehr sehen . . .
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Ich versuche, Wolf zu erklären, was los ist, aber er kann nicht sehen, was ich sehe, und er versteht nicht viel! „Schau, schau, schau“, murmle ich. Bleib hier. Da-da-da. Er kommt. Was machen sie da . . . Siehst du den hellen Schein? Jetzt verschwindet er. Siehst du? Er kommt, kommt, kommt. Siehst du es? Er bewegt sich. Und im selben Moment krabbelt der Kämpfer mit seinem ganzen Körper aus dem Graben. Jegliche Selbstbeherrschung geht verloren, wenn man ein solches Ziel sieht—und wenn man begreift, dass sie genau jetzt kommen, um dich zu töten. Es sind mehrere von ihnen (wie sich später herausstellt—sechs), sie reichen sich gegenseitig die Waffen, und wir sind zu zweit an der Position, ein Gewehr und ein Sturmgewehr, und Wolf ist zum ersten Mal hier, wir sind im Dunkeln gekommen, und er kennt nur die Richtung – „dort“. „Ah!“, rufe ich leise. „Siehst du? Er ist rausgekommen! Guck, guck, guck—er kriecht! Du Tier. Er klettert! Wo wollen die denn hin? F*ck, keine Ahnung. Siehst du, was sie machen? Ich verstehe mit meinem Rückenmark: „Jetzt oder nie.“ – Scheiß drauf. Ich muss arbeiten. (Als ich mir das Video später ansah, war ich erstaunt, dass ich geflucht hatte. Ich fluche nie! Und hier so etwas. Und ich habe das Fluchen aus dem Video herausgeschnitten, das mit einem Wärmebildgerät aufgenommen wurde. Ich habe mich geschämt.) Ich springe zu meiner vollen Größe auf, springe auf eine Erdstufe und schnappe „Halja“. „Halja“ liegt auf dem zerknautschten Schlafsack, es gibt nichts zum Anlehnen, die Säcke liegen so, dass ich fast bis zur Taille herausragen muss, um mich darauf zu stützen. Ich beginne, sie ins Visier zu nehmen, in der Dunkelheit richte ich das Visier auf den mehrfach durchschossenen Sack, der Boden ist trocken, Staub steigt auf, das Zielfernrohr ist sofort mit diesem Staub bedeckt, ich kann das Ziel kaum sehen. Und ohne länger zu warten, ohne zu zielen—denn ich stehe ihnen vor Augen—drücke ich ab.
Drei Treffer in einer Nacht 355 „Hats geklappt?“, fragt Wolf. Sein Schlafsack und die Säcke haben das Geräusch für ihn gedämpft, und er war sich nicht einmal sicher, wer geschossen hat. Ich wars. Runter. Abtauchen. Aber gleich nach dem ersten Schuss gebe ich zwei weitere Schüsse ab—sie sollen nicht denken, dass ich sie sehe, sie sollen meinen, es sei eine normale Ballerei! (Nachts schießen wir ab und zu einzelne Schüsse in Richtung des Feindes—damit der Feind nicht zu unseren Stellungen kriechen will). Als ich unten landete, versuchte ich Wolf zu erklären, dass das Zielfernrohr verstaubt war und ich nichts sehen konnte, aber ich dachte, ich hätte getroffen, ich hätte nicht danebengeschossen . . . Das Gewehr war noch oben. Ich wurde von ihm angezogen wie von einem Magneten. Entgegen allen Sicherheitsregeln, gegen die ich schon zweimal verstoßen habe—schieße nie zweimal aus der gleichen Position und forsche nie nach dem Ergebnis eines Schusses, indem du deinen Kopf herausstreckst – tue ich in einer Minute und fünfzig Sekunden genau das. Ich hänge mich ans Visier und ziele mit dem Gewehr auf den Punkt. Das Zielfernrohr ist furchtbar staubig, jeder meiner drei Schüsse hat mehr und mehr Staub aufgewirbelt, und ich kann kaum etwas sehen. Aber ich sehe noch einen Kämpfer über dem Graben! Ich verstehe gar nichts mehr! Selbst wenn wir davon ausgehen, dass ich niemanden getroffen habe, wie kann man zwei Minuten, nachdem drei Kugeln einen Zentimeter entfernt vorbeigezischt sind, aus der Deckung gehen? Sind die besoffen oder was? Aber ich überlege nicht lange—ich schieße, mitten in den Körper der Silhouette, die auf dem Boden sitzt. Der Staub, der durch diesen Schuss aufgewirbelt wird, verdeckt die Sicht völlig, ich kann nichts anderes sehen. (Später, nachdem wir uns das Video mehrmals angesehen haben, stellen wir fest, dass der zweite Kämpfer, der anscheinend glaubte, dass sein Kamerad durch einen versehentlichen Schuss getroffen worden war, herauskletterte und versuchte, seinen Körper in den Graben zu ziehen).
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Ich gehe hinunter in den Graben, ziehe „Halja“ hoch. Ich sage zu Wolf: „Ich glaube, ich habe den anderen auch getroffen.“ Ich ziehe das Zielfernrohr von „Halja“ ab. Ich ändere meine Position— ich gehe zum Unterstand, dort gibt es einen kleines Durchguck, wir haben ihn vorher nicht benutzt, weil er niedrig lag, durch das Gras war nichts zu sehen, und jetzt ist das ganze Gras ausgebrannt. Ich beobachte. Ich kann gut sehen, sehr gut . . . Und ich sehe, wie die Kämpfer den Verwundeten abtransportieren. Zwei von ihnen ziehen ihn aus dem Graben, bringen ihn weg. Seine Hände liegen auf ihren Schultern, sein Kopf hängt an ihrer Brust. Drei von ihnen auf einmal, in voller Größe—ein leichtes Ziel, ein verlockendes Ziel . . . Aber ich schieße nicht. Wenn sie einen Verwundeten abtransportieren, darf man nicht schießen. So wurde es mir beigebracht. Ethik des Krieges. Tabu. „Man darf die edle Kunst des Krieges nicht in Bestialität verwandeln“, sagt Wolf oft. Zwei der Kämpfer ziehen den dritten hinter die Sandsäcke und kehren nach einer Weile zurück, einer trägt so etwas wie einen langen, dünnen Stock. Ich verstehe nicht, was es ist, und erst viel später errate ich es—wahrscheinlich eine Armeetrage in gefalteter Form. Die Kämpfer tauchen in den Graben. Ich warte und einer von ihnen kommt heraus. Seiner Körperhaltung nach zu urteilen, wollte er wahrscheinlich den Körper des Ersten aus dem Graben holen. Ich überprüfe, ob das stimmt, vielleicht gibt es ja keinen Ärger. Diesmal habe ich eine gute Position, einen guten Handgriff, und ich hatte mehr als genug Zeit—zwischen den ersten beiden und dem dritten Ziel waren mehr als vierzig Minuten vergangen. Ich bin am Arbeiten. Das Bild ruckelt ein wenig. Ich sehe mit äußerster Klarheit, wie der Körper des „Zweihunderters“2 schön in den Graben fällt. Dann ist Ruhe. Niemand sonst kommt aus dem Nichts. Keiner schießt auf uns. Keine Reaktion, bis auf einen kurzen Schuss zwei Stunden später. Stopp, warum haben die Erfahrenen, unsere ständigen „Partner“ im Graben, diese Neuankömmlinge nicht zugeballert, als sie krochen? 2
Zweihunderter sind Getötete, Dreihunderter Verletzte (Anm. d. Übers.).
Drei Treffer in einer Nacht 357 Es war klar, dass sie kamen. Nach den später erhaltenen Informationen handelte es sich um eine subversive Gruppe, bestehend aus Jungs aus dem Kuban’. Sie hatten seit 2014 im Donbass gekämpft. Sie galten als fast die erfahrenste subversive Aufklärungsgruppe in diesem Sektor. Offenbar wurden sie nachlässig. Das passiert denen, die schon lange im Krieg sind. Nervöse Anspannung und Aufregung lassen nicht nach. Es sind nicht meine ersten Zweihunderter, aber es ist das erste Mal, dass ich in einer Nacht dreimal getroffen habe (ich weiß es noch nicht, aber ich weiß es!), das erste Mal, dass sie kommen, um Wolf und mich zu töten, und das erste Mal mit Video. Das, wovor ich am meisten Angst habe, ist, dass die Aufnahme nicht funktioniert hat. Wir werden sie erst überprüfen können, wenn wir zur Ausgangsbasis zurückkehren. Bis zum Morgen weiß ich nichts. Ich wechsle mich einfach mit Wolf in der Schicht ab und schlafe dann im Unterstand. Um 8 Uhr morgens beginnen wir wieder mit unserer Schicht—und da kommt ein fröhlicher, bis über beide Ohren lachender Aufklärer hereingelaufen. Er sagt, er sei gekommen, um seine umgehende Pflicht zu erfüllen: Meldung über Zweihunderter. Wolf und ich fangen an zu buddeln, und ich richte mir weiterhin eine normale Position ein, damit ich nicht wieder so ein Risiko eingehe wie letzte Nacht. Ich schaufele drei 40-Kilogramm-Säcke mit Erde voll. Dann kommt Iraklij Jr. mit A., die endlich ihre
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Position eingenommen haben, und jemand anderes, und sie nehmen die Koordinaten der feindlichen Positionen mit einem Bussola-Kompass auf. Alle beglückwünschen mich. Wir haben eine überarbeitete Abfangmeldung erhalten: zwei Zweihunderter, ein Dreihunderter. Als wir zum Stützpunkt zurückkehrten, sahen wir, dass das Video veröffentlicht worden war. Das halbe Dorf von Soldaten und Freiwilligen kam, um es zu sehen, alle waren glücklich und gratulierten mir. Sie brachten mir zwei Zielfernrohre, genau wie meins (bis jetzt war ich sicher, dass es in Vodjane keine mehr gab), und baten mich, ihnen zu zeigen, wie man sie benutzt . . . *** Es gibt nicht mehr viel zu erzählen. Nach dieser Nacht sammelten wir die Patronenhülsen ein, und mein Freund, der Juwelier Dima Župikov, der auch ein Freund von Wolf ist, machte mir einen silbernen Ring, in den der Boden der Patronenhülse eingesetzt war— eine alte Scharfschützentradition aus dem Ersten Weltkrieg. Die Scharfschützen des OLPZ—der Infanterie-Einheit „Wolf“3—erzielten in einer Einsatzschicht 21 bestätigte Treffer in Vodjane, ohne Verluste unter ihren Leuten. Nur Niko, ein weiterer Georgier, der vor Kurzem zu uns gestoßen ist, ein sehr guter Scharfschütze, hat bei Sotka einen Teil seines Fingers verloren—da flog ein großes Ding rein – und hat dann weitergekämpft und einen Rekord für die Entfernung in diesem Krieg aufgestellt – 1647 Meter. Insgesamt haben die Kämpfer von Wolfs Gruppe in den dreieinhalb Jahren des Krieges etwa hundert feindliche Einheiten vernichtet, während unsere Verluste wie folgt lauteten: ein Gefallener (Seva), zwei Schwerverwundete (Viper und Centurion) und vier Leichtverwundete. Ich habe nie wieder in Vodjane gearbeitet, obwohl ich bis zum 23. September an der Front blieb. Man begann die Jagd auf mich—schon am nächsten Tag kamen Kerle in 3
Die OLPZ (Separate leichte Infanterie-Einheit) „Wolf“ hat auch eine eigene Seite im Internet, https://www.facebook.com/OLPZWolf/about?locale=ru _RU (Anm. d. Übers.).
Drei Treffer in einer Nacht 359 Kikimora-Poltergeist-Klamotten4 mit großen Koffern nach „Derzky“ und „Lysyi“ – und das Hauptquartier des Sektors verbot mir eine Zeit lang, in die Stellungen zu gehen. Ich bewachte das Haus, während die anderen arbeiteten, und studierte mit Miša Artillerie. Und dann bekam ich plötzlich einen Anruf vom Hauptquartier der UDA (Ukrainischen Freiwilligen-Armee) in Kyïv, wo man mir mitteilte, dass man mit einem Hochschulabschluss spezielle Kurse an der Universität für Verteidigung der Ukraine absolvieren und Offizier werden könne. Ich kehrte also nach Kyïv zurück, besuchte diese Kurse und wurde Artillerieoffizier . . .
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Kikimora ist ein slawischer Poltergeist (Anm. d. Übers.).
Literatur Martha Bohachevsky-Chomiak, Feminists despite themselves: women in Ukrainian community life, 1884–1939. Canadian Institute of Ukrainian Studies. Edmonton 1988. Valentyna Borysenko, Ukraïnky v istoriï. Lybid’, Kyïv 2004. Dies., Ukraïnky v istoriï. Novi storinky. Lybid’, Kyïv 2010. Dies., Ukraïnky v istoriï. XX –XXI stolittja. Lybid’, Kyïv 2012. Oksana Kis’, Žinka v tradycijnij ukrai¨nskij kultury: druha polovina XIX - počatok XX st. Inst. Narodoznavstva NAN Ukraïny. L’viv 22012. Mar’jana Savka (Hrsg.), 12 nejmovirnych žinok. pro cinnosti, jaki tvorjat’ ljudynu. VSL, L’viv 2017. Dies., Survival as Victory: Ukrainian Women in the Gulag. Harvard University Press, Cambridge 2022. Aurélie Bros (Hrsg.), „Wie ein Lichtstrahl in der Finsternis“. Briefe von Frauen aus der Ukraine an die freie Welt. Elisabeth Sandmann Verlag, München 2023.
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Autorinnen und Autoren Bandera, Stepan, Journalist, Enkel des Anführers der OUN Stepan Bandera (Winnipeg, Kanada) Bekirova, Gulnara, promovierte Historikerin, Mitglied des ukrainischen PEN-Clubs (Kyïv) Bilozers’k ka, Olena, Scharfschützin der Freiwilligenverbandes des „Rechten Sektors“ und der Ukrainischen Freiwilligen-Armee, seither Offizierin der Meeresinfanterie der Streitkräfte der Ukraine (Kyïv) Bondarenko, Olena, Journalistin, Schriftstellerin, 1998–2002 Volksabgeordnete der Ukraine (Luhans’k – Kyïv) Bondaruk, Lesja, promovierte Historikerin, Journalistin, Mitarbeiterin des Ukrainisches Instituts für nationales Gedächtnis (Luc’k) V’jatrovyč, Volodymyr, promovierter Historiker, Volksabgeordneter der Ukraine (Kyïv) Havryško, Marta, promovierte Historikerin (L’viv) Halahida, Ihor, habilitierter Historiker, Professor, er forscht zu den polnisch-ukrainischen Beziehungen im 20. Jahrhundert (Gdańsk, Polen) Hnatjuk, Ola, habilitierte Literaturwissenschaftlerin, Professorin an der Nationalen Kyïvo-Mohyla-Universität und am Institut für Slawistik der Polnischen Akademie der Wissenschaften (Warschau, Polen – Kyïv) Zajcev, Jurij, (1941–2020), promovierter Historiker, Mitarbeiter der Abteilung für Neueste Geschichte des Instituts für Ukrainistik der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine (L’viv) Zinčenko, Oleksandr, Historiker, Publizist (Kyïv) Kipiani, Vakhtang, Journalist, Leitender Redakteur der Seite „Istoryčna Pravda“, Dozent an der Ukrainischen Katholischen Universität (Kyïv-L’viv) Kis’, Oksana, Präsidentin der Ukrainischen Assoziation zur Erforschung der Frauengeschichte, habilitierte Historikerin (L’viv) Kučeruk, Oleksandr, Historiker, Leiter des Museums der Ukrainischen Revolution 1917–1921 (Kyïv) Levantovyč, Oksana, Journalistin (L’viv) Majorov, Maksym, Politologe, Mitarbeiter des Ukrainischen Instituts für Nationales Gedächtnis (Kyïv) Mirzajeva, Maryna, Historikerin, Gründerin Organisation „Val’kirija Bojarka“
der
nationalistischen
Ol’chovs’kyj, Ivan, Schriftsteller, er forscht zum Zweiten Weltkrieg in Wolhynien (Kyïv)
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364 Ein Land weiblichen Geschlechts Pančenko, Oleksandr, Rechtsanwalt, Landeskundler, habilitiert und Privatdozent an der Ukrainischen Freien Universität in München (Lochvycja) Pan’kova, Svitlana, habilitierte Historikerin, Leiterin des Historischen Mychajlo-Hruševs’kyj-Memorial-Museums (Kyïv) Rohačuk, Daryna, Journalistin (Kyïv) Sadova, Viktorija, Journalistin (L’viv) Stępień, Stanisław, Professor, habilitierter Historiker, Direktor des Süd-Ost-Instituts in Przemyśl, Leiter des Lehrstuhls für Geschichte der höheren staatlichen Osteuropäischen Schule in Przemyśl (Polen) Stecenko, Kyrylo, Geiger, Komponist, Volkskünstler der Ukraine (Kyïv) Taïrova-Jakovlava, Tetjana, habilitierte Historikerin, Professorin am Lehrstuhl für Geschichte der Völker der GUS des Instituts für Geschichte der Sankt-Petersburger Staats-Universität (Sankt-Peterburg, Russland) Červak, Bohdan, Leiter der OUN, Erster Stellvertreter des Leiters des Staatskomitees für Fernsehen und Radioübertragung der Ukraine (Kyïv)
Die im Buch porträtierten oder zitierten Frauen Bandera, Lesja, 27.8.47 München – 15.8.2011 Toronto Bartnicka, Zofia Bil’s’ka-Petljura, Ol’ha 23.12.1884/85 Mala Divycja – 23.11.1959 Paris Bilozers’ka, Olena * 5.8.1979 Kyïv Blavac’ka, Oleksandra * 10.5.1925 Berežany Bogdańska, Renata / Irena Jarosevyč 12.5.1920 Bruntál – 29.11.2010 London Bohachevsky-Chomiak, Martha, * 24.6.1938 Sokal Bondarenko, Ol’ha,? Orichivka – 19.3.2021 Chraščevs’ka, Oksana 10.10.1925 Vinnyzcja – 29.10.2017 Bojarka Cisyk, Kvitka 4.4.1953 Queens – 29.3.1998 Manhattan Dydyk, Halyna 17.4.1912 Šybalyn – 23.12.1979 Chrystynivka Jaskiv, Nadija Kalynec’, Iryna 6.12.1940 L’viv – 31.7.2012 L’viv Kamins’ka-Jurčuk, Oksana * 9.3.1922 Ostriv Khraplyva, Anna 1920 Lilywood – 18.2.2005 Winnipeg Korčak-Gongadze, Oleksandra (Lesja) 2.7.1943 – 13.11.2013 L’viv Kostjuk, Stefanija Kotelko, Jevdokija
Autorinnen und Autoren 365 Koval’, Stefanija † 2005 L’viv Lifšyc’-Vynnyčenko, Rozalija 26.7.1886 – 6.2.1959 Mougins Maščak, Ivanna * 11.7.1925 Krupec’ Matešuk-Hrycyna, Iryna * 22.1.1929 Terebež Mazepa-Kučma, Hanna * 1928 Nič, Marija 1922 Poljuchiv Opochenska, Anna? – 14.11.1943 bei Trostjanec’ Petroščuk-Hačkevyč, Angelina * 26.2.25 Torčyn Poljuha, Darija Rohačuk, Marija * 1926 Lanivci Rudnyc’ka, Milena 15.7.1892 Sboriv – 29.3.1976 München Seitmuratova, Aişe * 11.2.1937 Acı–Eli Skarga, Barbara 25.10.1919 Warschau – 18.9.2009 Olsztyn Smetonienė-Martinkutė, Irena * 1933 Požeriūnai Strokata-Karavans’ka, Nina 31.1.1926 Odesa – 2.8.1998 Denton Surovcova, Nadija 17.3.1896 Kyïv – 13.4.1985 Uman’ Teliha, Olena 21.7.2007 Iljinskoe – 22.2.1942 Babyn Yar Tofri, Asta * Leningrad Tymočko, Iryna 8.7.1923 Jaksmanyč –21.5.2010 Ukraine Vintoniv, Oksana Viter, Olena (Sr. Josyfa), 11.1.1904 Myklašiv – 15.11.1988 L’viv Vojakovs’ka-Hruševs’ka, Marija, 8.11.1868 Pidhajci –12.9.1948 Kyïv Walentynowicz, Anna 15. August 1929 Rivne – 10. April 2010 Smolensk Zelens’ka, Lesja * 1928 Pustomyty Žoldak, Josyfa
Zusammenfassung Die bedeutenden ukrainischen Frauen des 20. Jahrhunderts bleiben oft unbemerkt. Über das Schicksal einiger Heldinnen hört die eine oder der andere vermutlich zum ersten Mal, obgleich ihre Rolle in der ukrainischen Geschichte kaum hoch genug einzuschätzen ist. Es sind dies Ärztinnen, Lehrerinnen, Teilnehmerinnen an der nationalen Befreiungsbewegung, Politgefangene, Journalistinnen, Kämpferinnen, Kulturträgerinnen . . . Ohne sie, die stark, aktiv, herausragend waren, sähen die Seiten unseres Volkes völlig anders aus.
366 Ein Land weiblichen Geschlechts In dem vorliegenden Buch sind Interviews, Zeugnisse, Archivdokumente und Berichte über bedeutende Frauen der Ukraine zusammengetragen. Die Beiträge erschienen zunächst auf der Webseite „Istoryčna Pravda“ (Historische Wahrheit). Unter ihnen finden sich das einzigartige Interview mit Kvitka Cisyk, das Gespräch mit Martha Bohachevsky-Chomiak sowie Aufsätze über Dr. med. Rozalija Lifšyc’, über das Untergrundmitglied Iryna Tymočko—Tarnname „Chrystja“, über die Schriftstellerin Olena Teliha und auch über Lesja—die Ukrainerin, die Mutter Heorhij Gongadzes. Der Herausgeber des Buchs ist der ukrainische Journalist, Historiker und Hauptredakteur der Internetseite „Istorycna Pravda“, bekannt insbesondere durch den umfangreichen Band „Die Strafsache Vasyl’ Stus“, Vakhtang Kipiani.
Vakhtang Kipiani Vakhtang Kipiani, 1971 in Tiflis geboren, ist ein prominenter ukrainischer politischer Publizist sowie Redakteur der populären Kyïver Internetzeitschrift „Istoryčna Pravda“ (Historische Wahrheit). Er war 1990 als Student aktiver Teilnehmer der „Revolution auf dem Granit“ – so benannt nach dem Stein auf dem Kyïver Majdan Nezaležnosti –, deren Nachwirkungen schließlich zur Unabhängigkeit der Ukraine im August 1991 führten. Nach einem Geschichtsstudium arbeitete er für mehrere ukrainische Zeitungen und Fernsehsender sowie als Dozent für Journalistik an der Ukrainischen Katholischen Universität. Kipiani erforscht die illegale Presse sowie die Dissidenten bewegung der Sowjetzeit und Ausprägungen von Extremismus in den heutigen Medien. Zu seinen weiteren Anthologien gehören unter anderem „Der Fall Vasyl’ Stus“ (Vivat 2019) zum sowjetischen Prozess gegen den bedeutenden ostukrainischen Dichter und „Ukraine. Frauenschicksale“ (Vivat 2021) mit Zeugnissen wichtiger ukrainischer Frauen des 20. Jahrhunderts. Sein letzter Band „Zu großer Stunde sind wir geboren … OUN und UPA“ (Vivat) erschien 2023. Auf Deutsch liegt vor: „Der Zweite Weltkrieg in der Ukraine. Geschichte und Lebensgeschichten“ (ibidem 2021).
Autorinnen und Autoren 367 Christian Weise, 1960 in Berlin geboren, beschäftigt sich nach dem Studium der Philosophie und Theologie lesend, schreibend und übersetzend seit 1993 mit einem breiten Spektrum theologischer, historischer, biografischer und literarischer Seiten der Ukraine.
Ukrainian Voices Collected by Andreas Umland 1
Mychailo Wynnyckyj Ukraine’s Maidan, Russia’s War
A Chronicle and Analysis of the Revolution of Dignity With a foreword by Serhii Plokhy ISBN 978-3-8382-1327-9
2
Olexander Hryb Understanding Contemporary Ukrainian and Russian Nationalism
The Post-Soviet Cossack Revival and Ukraine’s National Security With a foreword by Vitali Vitaliev ISBN 978-3-8382-1377-4
3
Marko Bojcun Towards a Political Economy of Ukraine Selected Essays 1990–2015 With a foreword by John-Paul Himka ISBN 978-3-8382-1368-2
4
Volodymyr Yermolenko (ed.) Ukraine in Histories and Stories
Essays by Ukrainian Intellectuals With a preface by Peter Pomerantsev ISBN 978-3-8382-1456-6
5
Mykola Riabchuk At the Fence of Metternich’s Garden
Essays on Europe, Ukraine, and Europeanization ISBN 978-3-8382-1484-9
6
Marta Dyczok Ukraine Calling
A Kaleidoscope from Hromadske Radio 2016–2019 With a foreword by Andriy Kulykov ISBN 978-3-8382-1472-6
7
Olexander Scherba Ukraine vs. Darkness
Undiplomatic Thoughts With a foreword by Adrian Karatnycky ISBN 978-3-8382-1501-3
8
Olesya Yaremchuk Our Others
Stories of Ukrainian Diversity With a foreword by Ostap Slyvynsky Translated from the Ukrainian by Zenia Tompkins and Hanna Leliv ISBN 978-3-8382-1475-7
9
Nataliya Gumenyuk Die verlorene Insel
Geschichten von der besetzten Krim Mit einem Vorwort von Alice Bota Aus dem Ukrainischen übersetzt von Johann Zajaczkowski ISBN 978-3-8382-1499-3
10
Olena Stiazhkina Zero Point Ukraine
Four Essays on World War II Translated from the Ukrainian by Svitlana Kulinska ISBN 978-3-8382-1550-1
11
Oleksii Sinchenko, Dmytro Stus, Leonid Finberg (compilers) Ukrainian Dissidents An Anthology of Texts ISBN 978-3-8382-1551-8
12
John-Paul Himka Ukrainian Nationalists and the Holocaust
OUN and UPA’s Participation in the Destruction of Ukrainian Jewry, 1941–1944 ISBN 978-3-8382-1548-8
13
Andrey Demartino False Mirrors
The Weaponization of Social Media in Russia’s Operation to Annex Crimea With a foreword by Oleksiy Danilov ISBN 978-3-8382-1533-4
14
Svitlana Biedarieva (ed.) Contemporary Ukrainian and Baltic Art
Political and Social Perspectives, 1991–2021 ISBN 978-3-8382-1526-6
15
Olesya Khromeychuk A Loss
The Story of a Dead Soldier Told by His Sister With a foreword by Andrey Kurkov ISBN 978-3-8382-1570-9
16
Marieluise Beck (Hg.) Ukraine verstehen
Auf den Spuren von Terror und Gewalt Mit einem Vorwort von Dmytro Kuleba ISBN 978-3-8382-1653-9
17
Stanislav Aseyev Heller Weg
Geschichte eines Konzentrationslagers im Donbass 2017–2019 Aus dem Russischen übersetzt von Martina Steis und Charis Haska ISBN 978-3-8382-1620-1
18
Mykola Davydiuk Wie funktioniert Putins Propaganda?
Anmerkungen zum Informationskrieg des Kremls Aus dem Ukrainischen übersetzt von Christian Weise ISBN 978-3-8382-1628-7
19
Olesya Yaremchuk Unsere Anderen Geschichten ukrainischer Vielfalt
Aus dem Ukrainischen übersetzt von Christian Weise ISBN 978-3-8382-1635-5
20
Oleksandr Mykhed „Dein Blut wird die Kohle tränken“
Über die Ostukraine Aus dem Ukrainischen übersetzt von Simon Muschick und Dario Planert ISBN 978-3-8382-1648-5
21
Vakhtang Kipiani (Hg.) Der Zweite Weltkrieg in der Ukraine
Geschichte und Lebensgeschichten Aus dem Ukrainischen übersetzt von Margarita Grinko ISBN 978-3-8382-1622-5
22
Vakhtang Kipiani (ed.) World War II, Uncontrived and Unredacted
Testimonies from Ukraine Translated from the Ukrainian by Zenia Tompkins and Daisy Gibbons ISBN 978-3-8382-1621-8
23
Dmytro Stus Vasyl Stus
Life in Creativity Translated from the Ukrainian by Ludmila Bachurina ISBN 978-3-8382-1631-7
24
Vitalii Ogiienko (ed.) The Holodomor and the Origins of the Soviet Man
Reading the Testimony of Anastasia Lysyvets With forewords by Natalka Bilotserkivets and Serhy Yekelchyk Translated from the Ukrainian by Alla Parkhomenko and Alexander J. Motyl ISBN 978-3-8382-1616-4
25
Vladislav Davidzon Jewish-Ukrainian Relations and the Birth of a Political Nation Selected Writings 2013-2021 With a foreword by Bernard-Henri Lévy ISBN 978-3-8382-1509-9
26
Serhy Yekelchyk Writing the Nation
The Ukrainian Historical Profession in Independent Ukraine and the Diaspora ISBN 978-3-8382-1695-9
27
Ildi Eperjesi, Oleksandr Kachura Shreds of War
Fates from the Donbas Frontline 2014-2019 With a foreword by Olexiy Haran ISBN 978-3-8382-1680-5
28
Oleksandr Melnyk World War II as an Identity Project
Historicism, Legitimacy Contests, and the (Re-)Construction of Political Communities in Ukraine, 1939–1946 With a foreword by David R. Marples ISBN 978-3-8382-1704-8
29
Olesya Khromeychuk Ein Verlust
Die Geschichte eines gefallenen ukrainischen Soldaten, erzählt von seiner Schwester Mit einem Vorwort von Andrej Kurkow Aus dem Englischen übersetzt von Lily Sophie ISBN 978-3-8382-1770-3
30
Tamara Martsenyuk, Tetiana Kostiuchenko (eds.) Russia’s War in Ukraine 2022 Personal Experiences of Ukrainian Scholars ISBN 978-3-8382-1757-4
31
Ildikó Eperjesi, Oleksandr Kachura Shreds of War. Vol. 2 Fates from Crimea 2015–2022 With an interview of Oleh Sentsov ISBN 978-3-8382-1780-2
32
Yuriy Lukanov, Tetiana Pechonchik (eds.) The Press: How Russia destroyed Media Freedom in Crimea With a foreword by Taras Kuzio ISBN 978-3-8382-1784-0
33
Megan Buskey Ukraine Is Not Dead Yet
A Family Story of Exile and Return ISBN 978-3-8382-1691-1
34
Vira Ageyeva Behind the Scenes of the Empire
Essays on Cultural Relationships between Ukraine and Russia With a foreword by Oksana Zabuzhko ISBN 978-3-8382-1748-2
35
Marieluise Beck (ed.) Understanding Ukraine
Tracing the Roots of Terror and Violence With a foreword by Dmytro Kuleba ISBN 978-3-8382-1773-4
36
Olesya Khromeychuk A Loss
The Story of a Dead Soldier Told by His Sister, 2nd edn. With a foreword by Philippe Sands With a preface by Andrii Kurkov ISBN 978-3-8382-1870-0
37
Taras Kuzio, Stefan Jajecznyk-Kelman Fascism and Genocide Russia’s War Against Ukrainians ISBN 978-3-8382-1791-8
38
Alina Nychyk Ukraine Vis-à-Vis Russia and the EU
Misperceptions of Foreign Challenges in Times of War, 2014–2015 With a foreword by Paul D’Anieri ISBN 978-3-8382-1767-3
39
Sasha Dovzhyk (ed.) Ukraine Lab
Global Security, Environment, Disinformation Through the Prism of Ukraine With a foreword by Rory Finnin ISBN 978-3-8382-1805-2
40
Serhiy Kvit Media, History, and Education
Three Ways to Ukrainian Independence With a preface by Diane Francis ISBN 978-3-8382-1807-6
41
Anna Romandash Women of Ukraine
Reportages from the War and Beyond ISBN 978-3-8382-1819-9
42
Dominika Rank Matzewe in meinem Garten
Abenteuer eines jüdischen Heritage-Touristen in der Ukraine ISBN 978-3-8382-1810-6
43
Myroslaw Marynowytsch Das Universum hinter dem Stacheldraht
Memoiren eines sowjet-ukrainischen Dissidenten Mit einem Vorwort von Timothy Snyder und einem Nachwort von Max Hartmann ISBN 978-3-8382-1806-9
44
Konstantin Sigow Für Deine und meine Freiheit
Europäische Revolutions- und Kriegserfahrungen im heutigen Kyjiw Mit einem Vorwort von Karl Schlögel Herausgegeben von Regula M. Zwahlen ISBN 978-3-8382-1755-0
45
Kateryna Pylypchuk The War that Changed Us
Ukrainian Novellas, Poems, and Essays from 2022 With a foreword by Victor Yushchenko Paperback ISBN 978-3-8382-1859-5 Hardcover ISBN 978-3-8382-1860-1
46
Kyrylo Tkachenko Rechte Tür Links
Radikale Linke in Deutschland, die Revolution und der Krieg in der Ukraine, 2013-2018 ISBN 978-3-8382-1711-6
47
Alexander Strashny The Ukrainian Mentality
An Ethno-Psychological, Historical and Comparative Exploration With a foreword by Antonina Lovochkina ISBN 978-3-8382-1886-1
48
Alona Shestopalova Pandora’s TV Box
How Russian TV Turned Ukraine into an Enemy Which has to be Fought ISBN 978-3-8382-1884-7
49
Iaroslav Petik Politics and Society in the Ukrainian People’s Republic (1917–1921) and Contemporary Ukraine (2013–2022) A Comparative Analysis With a foreword by Oleksiy Tolochko ISBN 978-3-8382-1817-5
50
Serhii Plokhii Der Mann mit der Giftpistole ISBN 978-3-8382-1789-5
51
Vakhtang Kipiani Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Im Kampf um Wahrheit und Freiheit ISBN 978-3-8382-1890-8
52
Dmytro Shestakov When Businesses Test Hypotheses
A Four-Step Approach to Risk Management for Innovative Startups With a foreword by Anthony J. Tether ISBN 978-3-8382-1883-0
53
Larissa Babij A Kind of Refugee
The Story of an American Who Refused to Leave Ukraine With a foreword by Vladislav Davidzon ISBN 978-3-8382-1898-4
54
Julia Davis In Their Own Words
How Russian Propagandists Reveal Putin’s Intentions ISBN 978-3-8382-1909-7
55
Sonya Atlanova, Oleksandr Klymenko Icons on Ammo Boxes
Painting Life on the Remnants of Russia’s War in Donbas, 2014-21 Translated by Anastasya Knyazhytska ISBN 978-3-8382-1892-2
56
Leonid Ushkalov Catching an Elusive Bird
The Life of Hryhorii Skovoroda ISBN 978-3-8382-1894-6
57
Vakhtang Kipiani Ein Land weiblichen Geschlechts
Ukrainische Frauenschicksale im 20. und 21. Jahrhundert ISBN 978-3-8382-1891-5
58
Petro Rychlo „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe ...“ Deutschjüdische Dichter der Bukowina ISBN 978-3-8382-1893-9
Book series “Ukrainian Voices” Collector Andreas Umland, National University of Kyiv-Mohyla Academy Editorial Board Lesia Bidochko, National University of Kyiv-Mohyla Academy Svitlana Biedarieva, George Washington University, DC, USA Ivan Gomza, Kyiv School of Economics, Ukraine Natalie Jaresko, Aspen Institute, Kyiv/Washington Olena Lennon, University of New Haven, West Haven, USA Kateryna Yushchenko, First Lady of Ukraine 2005-2010, Kyiv Oleksandr Zabirko, University of Regensburg, Germany Advisory Board Iuliia Bentia, National Academy of Arts of Ukraine, Kyiv Natalya Belitser, Pylyp Orlyk Institute for Democracy, Kyiv Oleksandra Bienert, Humboldt University of Berlin, Germany Sergiy Bilenky, Canadian Institute of Ukrainian Studies, Toronto Tymofii Brik, Kyiv School of Economics, Ukraine Olga Brusylovska, Mechnikov National University, Odesa Mariana Budjeryn, Harvard University, Cambridge, USA Volodymyr Bugrov, Shevchenko National University, Kyiv Olga Burlyuk, University of Amsterdam, The Netherlands Yevhen Bystrytsky, NAS Institute of Philosophy, Kyiv Andrii Danylenko, Pace University, New York, USA Vladislav Davidzon, Atlantic Council, Washington/Paris Mykola Davydiuk, Think Tank “Polityka,” Kyiv Andrii Demartino, National Security and Defense Council, Kyiv Vadym Denisenko, Ukrainian Institute for the Future, Kyiv Oleksandr Donii, Center for Political Values Studies, Kyiv Volodymyr Dubovyk, Mechnikov National University, Odesa Volodymyr Dubrovskiy, CASE Ukraine, Kyiv Diana Dutsyk, National University of Kyiv-Mohyla Academy Marta Dyczok, Western University, Ontario, Canada Yevhen Fedchenko, National University of Kyiv-Mohyla Academy Sofiya Filonenko, State Pedagogical University of Berdyansk Oleksandr Fisun, Karazin National University, Kharkiv
Oksana Forostyna, Webjournal “Ukraina Moderna,” Kyiv Roman Goncharenko, Broadcaster “Deutsche Welle,” Bonn George Grabowicz, Harvard University, Cambridge, USA Gelinada Grinchenko, Karazin National University, Kharkiv Kateryna Härtel, Federal Union of European Nationalities, Brussels Nataliia Hendel, University of Geneva, Switzerland Anton Herashchenko, Kyiv School of Public Administration John-Paul Himka, University of Alberta, Edmonton Ola Hnatiuk, National University of Kyiv-Mohyla Academy Oleksandr Holubov, Broadcaster “Deutsche Welle,” Bonn Yaroslav Hrytsak, Ukrainian Catholic University, Lviv Oleksandra Humenna, National University of Kyiv-Mohyla Academy Tamara Hundorova, NAS Institute of Literature, Kyiv Oksana Huss, University of Bologna, Italy Oleksandra Iwaniuk, University of Warsaw, Poland Mykola Kapitonenko, Shevchenko National University, Kyiv Georgiy Kasianov, Marie CurieSkłodowska University, Lublin Vakhtang Kebuladze, Shevchenko National University, Kyiv Natalia Khanenko-Friesen, University of Alberta, Edmonton Victoria Khiterer, Millersville University of Pennsylvania, USA Oksana Kis, NAS Institute of Ethnology, Lviv Pavlo Klimkin, Center for National Resilience and Development, Kyiv Oleksandra Kolomiiets, Center for Economic Strategy, Kyiv Sergiy Korsunsky, Kobe Gakuin University, Japan
Nadiia Koval, Kyiv School of Economics, Ukraine Volodymyr Kravchenko, University of Alberta, Edmonton Oleksiy Kresin, NAS Koretskiy Institute of State and Law, Kyiv Anatoliy Kruglashov, Fedkovych National University, Chernivtsi Andrey Kurkov, PEN Ukraine, Kyiv Ostap Kushnir, Lazarski University, Warsaw Taras Kuzio, National University of Kyiv-Mohyla Academy Serhii Kvit, National University of Kyiv-Mohyla Academy Yuliya Ladygina, The Pennsylvania State University, USA Yevhen Mahda, Institute of World Policy, Kyiv Victoria Malko, California State University, Fresno, USA Yulia Marushevska, Security and Defense Center (SAND), Kyiv Myroslav Marynovych, Ukrainian Catholic University, Lviv Oleksandra Matviichuk, Center for Civil Liberties, Kyiv Mykhailo Minakov, Kennan Institute, Washington, USA Anton Moiseienko, The Australian National University, Canberra Alexander Motyl, Rutgers University-Newark, USA Vlad Mykhnenko, University of Oxford, United Kingdom Vitalii Ogiienko, Ukrainian Institute of National Remembrance, Kyiv Olga Onuch, University of Manchester, United Kingdom Olesya Ostrovska, Museum “Mystetskyi Arsenal,” Kyiv Anna Osypchuk, National University of Kyiv-Mohyla Academy Oleksandr Pankieiev, University of Alberta, Edmonton Oleksiy Panych, Publishing House “Dukh i Litera,” Kyiv Valerii Pekar, Kyiv-Mohyla Business School, Ukraine Yohanan Petrovsky-Shtern, Northwestern University, Chicago Serhii Plokhy, Harvard University, Cambridge, USA Andrii Portnov, Viadrina University, Frankfurt-Oder, Germany Maryna Rabinovych, Kyiv School of Economics, Ukraine Valentyna Romanova, Institute of Developing Economies, Tokyo Natalya Ryabinska, Collegium Civitas, Warsaw, Poland Darya Tsymbalyk, University of Oxford, United Kingdom
Vsevolod Samokhvalov, University of Liege, Belgium Orest Semotiuk, Franko National University, Lviv Viktoriya Sereda, NAS Institute of Ethnology, Lviv Anton Shekhovtsov, University of Vienna, Austria Andriy Shevchenko, Media Center Ukraine, Kyiv Oxana Shevel, Tufts University, Medford, USA Pavlo Shopin, National Pedagogical Dragomanov University, Kyiv Karina Shyrokykh, Stockholm University, Sweden Nadja Simon, freelance interpreter, Cologne, Germany Olena Snigova, NAS Institute for Economics and Forecasting, Kyiv Ilona Solohub, Analytical Platform “VoxUkraine,” Kyiv Iryna Solonenko, LibMod - Center for Liberal Modernity, Berlin Galyna Solovei, National University of Kyiv-Mohyla Academy Sergiy Stelmakh, NAS Institute of World History, Kyiv Olena Stiazhkina, NAS Institute of the History of Ukraine, Kyiv Dmitri Stratievski, Osteuropa Zentrum (OEZB), Berlin Dmytro Stus, National Taras Shevchenko Museum, Kyiv Frank Sysyn, University of Toronto, Canada Olha Tokariuk, Center for European Policy Analysis, Washington Olena Tregub, Independent AntiCorruption Commission, Kyiv Hlib Vyshlinsky, Centre for Economic Strategy, Kyiv Mychailo Wynnyckyj, National University of Kyiv-Mohyla Academy Yelyzaveta Yasko, NGO “Yellow Blue Strategy,” Kyiv Serhy Yekelchyk, University of Victoria, Canada Victor Yushchenko, President of Ukraine 2005-2010, Kyiv Oleksandr Zaitsev, Ukrainian Catholic University, Lviv Kateryna Zarembo, National University of Kyiv-Mohyla Academy Yaroslav Zhalilo, National Institute for Strategic Studies, Kyiv Sergei Zhuk, Ball State University at Muncie, USA Alina Zubkovych, Nordic Ukraine Forum, Stockholm Liudmyla Zubrytska, National University of Kyiv-Mohyla Academy
Friends of the Series Ana Maria Abulescu, University of Bucharest, Romania Łukasz Adamski, Centrum Mieroszewskiego, Warsaw Marieluise Beck, LibMod—Center for Liberal Modernity, Berlin Marc Berensen, King’s College London, United Kingdom Johannes Bohnen, BOHNEN Public Affairs, Berlin Karsten Brüggemann, University of Tallinn, Estonia Ulf Brunnbauer, Leibniz Institute (IOS), Regensburg Martin Dietze, German-Ukrainian Culture Society, Hamburg Gergana Dimova, Florida State University, Tallahassee/London Caroline von Gall, Goethe University, Frankfurt-Main Zaur Gasimov, Rhenish Friedrich Wilhelm University, Bonn Armand Gosu, University of Bucharest, Romania Thomas Grant, University of Cambridge, United Kingdom Gustav Gressel, European Council on Foreign Relations, Berlin Rebecca Harms, European Centre for Press & Media Freedom, Leipzig André Härtel, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin/Brussels Marcel Van Herpen, The Cicero Foundation, Maastricht Richard Herzinger, freelance analyst, Berlin Mieste Hotopp-Riecke, ICATAT, Magdeburg Nico Lange, Munich Security Conference, Berlin Martin Malek, freelance analyst, Vienna Ingo Mannteufel, Broadcaster “Deutsche Welle,” Bonn Carlo Masala, Bundeswehr University, Munich Wolfgang Mueller, University of Vienna, Austria Dietmar Neutatz, Albert Ludwigs University, Freiburg Torsten Oppelland, Friedrich Schiller University, Jena Niccolò Pianciola, University of Padua, Italy Gerald Praschl, German-Ukrainian Forum (DUF), Berlin Felix Riefer, Think Tank IdeenagenturOst, Düsseldorf Stefan Rohdewald, University of Leipzig, Germany Sebastian Schäffer, Institute for the Danube Region (IDM), Vienna Felix Schimansky-Geier, Friedrich Schiller University, Jena Ulrich Schneckener, University of Osnabrück, Germany
Winfried Schneider-Deters, freelance analyst, Heidelberg/Kyiv Gerhard Simon, University of Cologne, Germany Kai Struve, Martin Luther University, Halle/Wittenberg David Stulik, European Values Center for Security Policy, Prague Andrzej Szeptycki, University of Warsaw, Poland Philipp Ther, University of Vienna, Austria Stefan Troebst, University of Leipzig, Germany
[Please send address requests for changes, corrections, and additions to this list to andreas.umland@stanforalumni.org.]
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