Petro Rychlo
„Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe … “ Deutschjüdische Dichter der Bukowina
Ukrainian Voices Collected by Andreas Umland 53
Larissa Babij
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Julia Davis
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Sofia Atlanova, Oleksandr Klymenko
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Leonid Ushkalov
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Vakhtang Kipiani
A Kind of Refugee The Story of an American Who Refused to Leave Ukraine With a foreword by Vladislav Davidzon ISBN 978-3-8382-1898-4
In Their Own Words How Russian Propagandists Reveal Putin’s Intentions ISBN 978-3-8382-1909-7
Icons on Ammo Boxes Painting Life on the Remnants of Russia’s War in Donbas, 2014-21 Translated by Anastasya Knyazhytska ISBN 978-3-8382-1892-2
Catching an Elusive Bird The Life of Hryhorii Skovoroda ISBN 978-3-8382-1894-6
Ein Land weiblichen Geschlechts Ukrainische Frauenschicksale im 20. und 21. Jahrhundert ISBN 978-3-8382-1891-5
The book series “Ukrainian Voices” publishes English- and German-language monographs, edited volumes, document collections, and anthologies of articles authored and composed by Ukrainian politicians, intellectuals, activists, officials, researchers, and diplomats. The series’ aim is to introduce Western and other audiences to Ukrainian explorations, deliberations and interpretations of historic and current, domestic, and international affairs. The purpose of these books is to make non-Ukrainian readers familiar with how some prominent Ukrainians approach, view and assess their country’s development and position in the world. The series was founded, and the volumes are collected by Andreas Umland, Dr. phil. (FU Berlin), Ph. D. (Cambridge), Associate Professor of Politics at the Kyiv-Mohyla Academy and an Analyst in the Stockholm Centre for Eastern European Studies at the Swedish Institute of International Affairs.
Petro Rychlo
„Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe … “ Deutschjüdische Dichter der Bukowina
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the Internet at http://dnb.d-nb.de. Bei der Gestaltung des Buchumschlags wurde das Bild von Helga von Loewenich "Der Brunnen II. Zum Gedicht von Rose Ausländer" (Aquarell mit Farbpigmenten auf handgeschöpftem französischen Torchon-Papier, 2013) mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin verwendet..
Dieses Buch wurde mit Unterstützung des Translate Ukraine Translation Program veröffentlicht. This book has been published with the support of the Translate Ukraine Translation Program.
ISBN-13: 978-3-8382-1893-9 © ibidem-Verlag, Stuttgart 2024 Die ukrainische Erstveröffentlichung unter dem Titel: “‘Урвані струни прегучної ліри ...’: Німецько-єврейські поети Буковини” erschien 2023 im Verlag Dukh i Litera, Kyjiw, Ukraine. Die Übersetzung ins Deutsche wurde vom Autor selbst vorgenommen. Alle Rechte vorbehalten Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und elektronische Speicherformen sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. All rights reserved. No part of this publication may be reproduced, stored in or introduced into a retrieval system, or transmitted, in any form, or by any means (electronical, mechanical, photocopying, recording or otherwise) without the prior written permission of the publisher. Any person who does any unauthorized act in relation to this publication may be liable to criminal prosecution and civil claims for damages. Printed in the EU
Inhalt Poetisches Atlantis der Bukowina....................................................... 7 „Margul, der gute Riese“..................................................................... 17 „Die schwarze Sappho unserer östlichen Landschaft“................... 41 „Gestrichenem im Lebensbuch / versagt die Welt die Wiederkehr“......................................................................................... 65 „Vergeßner Gast am Niemandstisch“................................................ 95 „Im Niemandsland des Lieds verloren“.......................................... 125 „Robinson auf dem Eiland Manhattan“.......................................... 149 „Zähle mich zu den Mandeln …“..................................................... 167 „Ich möchte den Himmel mit Händen fassen …“......................... 193
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Poetisches Atlantis der Bukowina Der 4. Oktober 1875 war einer der glorreichsten und denkwürdigsten Tage in der Geschichte der Stadt Czernowitz und der ganzen Bukowina: An diesem Tage feierte man das Fest der hundertjährigen Vereinigung des Herzogtums Bukowina mit dem österreichischen Kaiserstaat, welches in der weihevollen Eröffnung der deutschen Franz-Joseph-Universität zu Czernowitz gipfelte. Dass an dieser neugegründeten Universität auch Lehrkanzeln für die ukrainische und rumänische Sprache und Literatur funktionieren sollten, bedeutete einen Triumph der liberalen Politik der Donaumonarchie. Die Feierlichkeiten in Czernowitz versammelten damals die vornehmsten Vertreter der politischen Elite und die prominentesten Intellektuellen aus ganz Europa. Die Universität Czernowitz sollte das östlichste deutschsprachige Kulturbollwerk sein, zu dem aus der Metropole Wien sowie aus anderen westeuropäischen Kulturzentren ein recht langer Weg führte. Diesen Weg beschreibt im September 1875, kurz vor der Czernowitzer Jubiläumsfeier, ein junger Wiener Journalist, Mitarbeiter der Zeitung „Neue Freie Presse“ und Absolvent des Czernowitzer Gymnasiums Karl Emil Franzos in der Skizze „Von Wien nach Czernowitz“, die später in seine Sammlung „Aus Halbasien: Kulturbilder aus Galizien, der Bukowina, Südrußland und Rumänien“ (1876) aufgenommen wurde. Obwohl der Autor für die Bezeichnung dieser Region Südosteuropas zu einer kaum schmeichelhaften lexikalischen Neuprägung griff, hat die Bukowina in diesen „Reisebildern“ einen besonderen Status, der sie von anderen „halbasiatischen“ Landstrichen vorteilhaft unterscheidet. Dies geht deutlich aus der abschließenden Passage der Skizze „Von Wien nach Czernowitz“ hervor, in der der Autor, nach einer langen, erschöpfenden Fahrt durch die eintönige, freudlose galizische Ödnis, endlich die Grenze der Bukowina überquert: Die Heide bleibt hinter uns, den Vorbergen der Karpaten braust der Zug entgegen und über den schäumenden Pruth in das gesegnete Gelände der Bukowina. Der Boden ist besser angebaut und die Hütten sind freundlicher und reiner. Nach einer Stunde hält der Zug im Bahnhofe zu Czernowitz. Prächtig liegt die Stadt auf ragender Höhe. Wer da einfährt, dem ist seltsam
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„Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ zu Mute: er ist plötzlich wieder im Westen, wo Bildung, Gesittung und weißes Tischzeug zu finden sind. Und will er wissen, wer dies Wunder vollbracht, so lausche er der Sprache der Bewohner: sie ist die deutsche. Und er sehe zu, zu welchem Feste sie rüsten; zu einem Feste des deutschen Geistes. Der deutsche Geist, dieser gütigste und mächtigste Zauberer unter der Sonne, er – und er allein – hat dies blühende Stücklein Europa hingestellt, mitten in die halbasiatische Kulturwüste! Ihm sei Preis und Dank.1
„Der deutsche Geist“, von dem Franzos so begeistert spricht, war Urheber und Inspirator des europäischen Wesens der Stadt Czernowitz sowie jener einzigartigen multinationalen Bukowiner Kultur, die uns heute als ein versunkenes Atlantis, als ein Czernowitzer Mythos vorschwebt, in dem sich das Reale mit dem Phantastischen, das Alltägliche mit dem Utopischen und das Ernste mit dem Anekdotischen vermischt hat. Dieser Mythos umhüllte das alte Czernowitz mit der Aura einer ungewöhnlichen Stadt von Schwärmern und Anhängern, Wundertätern und Heiligen, Propheten und Genies. Czernowitz, das waren Sonntage, die mit Schubert begannen und mit Pistolenduellen endeten. Czernowitz, auf halbem Weg zwischen Kiew und Bukarest, Krakau und Odessa, war die heimliche Hauptstadt Europas, in der die Metzgertöchter Koloratur sangen und die Fiakerkutscher über Karl Kraus stritten. Wo die Bürgersteige mit Rosensträußen gefegt wurden und es mehr Buchhandlungen gab als Bäckereien. Czernowitz, das war ein immerwährender intellektueller Diskurs, der jeden Morgen eine neue ästhetische Theorie erfand, die am Abend schon wieder verworfen war. Wo die Hunde die Namen olympischer Götter trugen und die Hühner Hölderlin-Verse in den Boden kratzten. Czernowitz, das war ein Vergnügungsdampfer, der mit ukrainischer Mannschaft, deutschen Offizieren und jüdischen Passagieren unter österreichischer Flagge zwischen West und Ost kreuzte2 –
so subsummierte der zeitgenössische deutsche Publizist Georg Heinzen einige wesentliche Züge des Czernowitzer Mythos. Czernowitz, die Hauptstadt des ehemaligen habsburgischen Kronlandes Bukowina, „einer Gegend, wo Menschen und Bücher lebten“3, wie Paul Celan in seiner Bremer Rede diese Landschaft 1 2 3
Karl Emil Franzos. Von Wien nach Czernowitz. In: Europa erlesen: Czernowitz. Herausgegeben von Peter Rychlo. Klagenfurt: Wieser Verlag 2004, S. 32. Georg Heinzen. Wo die Hunde die Namen olympischer Götter trugen. In: Rheinischer Merkur, Nr. 5 vom 1. Februar 1991, S. 17 [Christ und Welt]. Paul Celan. Der Meridian und andere Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1990, S. 37.
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nennt, war der „fliegende Holländer“ der Geschichte. In den letzten 250 bis 300 Jahren wechselte diese Stadt ihre Herrscher, staatliche Regime und Nationalfahnen wie Handschuhe. Sie war fürstlich-moldauisch, sultanisch-osmanisch, k.-u.-k.-österreichisch-ungarisch, königlich-rumänisch, kommunistisch-sowjetisch. Heute ist sie ukrainisch. Dementsprechend wechselte auch ihr Name: Czernowitz – Cernăuţi – Černovicy – Černivci – bis zu dem von der Phantasie eines ihrer ironischsten Söhne Gregor von Rezzori geprägten, auf der geographischen Mappe kaum existierenden, auf der Literaturkarte durchaus realen Tschernopol („Ein Hermelin in Tschernopol“). Eine schier phantastische Stadt, deren Periphrasen eine geistreiche poetische Amplifikation bilden: „Babylon des südöstlichen Europas“, „das zweite Kanaan“, „Jerusalem am Pruth“, „Alexandrien Europas“, „Klein-Wien“ usw. Die Stadt, in der etwa ein Dutzend verschiedener Nationalitäten lebte und wo jeden Tag ein halbes Dutzend Sprachen erklang, wo eine einzigartige Symbiose germano-romano-slawisch-jüdischer Kultur mit ihrer polyethnischen Buntheit und ihrem kosmopolitischen Geist entstand. Der Spiegelkarpfen, in Pfeffer versulzt, schwieg in fünf Sprachen4 –
behauptet eine der eindringlichsten Dichterinnen dieses Landes Rose Ausländer („Czernowitz I“). Jede der nationalen Literaturen hat in diesem Landstrich ihre Leistungen hervorgebracht, die sie stolz der Welt präsentieren kann. In Czernowitz verbrachte der große rumänische Dichter, „der letzte Romantiker der Weltliteratur“, Mihai Eminescu seine Jugend. Hier lebten und wirkten die Klassiker des ukrainischen Schrifttums Jurij Fedkowicz und Olga Kobyljanska. In dieser Stadt entfaltete sich das Schaffen bedeutender jiddischer Autoren, solch virtuoser Sprachmeister des Jiddischen wie Elieser Steinbarg, Itzig Manger, Mosche Altmann und Joseph Burg.
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Rose Ausländer. Wir pflanzen Zedern. Gedichte. Herausgegeben von Helmut Braun. – Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1993, S. 10.
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Ein selbstverständlicher Teil dieser bunten Kultursymbiose war auch die deutsche Literatur der Bukowina. Heute ist sie wie ein abgebrochener Zweig eines blühenden Baumes, eine verlorene Harfe, deren Saiten noch vor kurzem, in den 20er und 30er Jahren, melodisch klangen. Mit ihren Wurzeln reicht diese Literatur bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Damals lebten und wirkten in der Bukowina die Schriftsteller, die als Vertreter der „ukrainischen Dichterschule“ in der österreichischen Literatur bekannt sind – Ernst Rudolf Neubauer (1822-1890), Moritz Amster (1831-1903), Ludwig Adolf Simiginowicz-Staufe (1832-1897), Viktor Umlauff Ritter von Frankwell (1836-1887), Johann Obrist (1843-1901), der bereits erwähnte Karl Emil Franzos (1848-1904). Sie dichteten alle in deutscher Sprache und besangen einfühlsam die Bukowina, ihre wunderbare Natur, ihre fleißigen Menschen, ihre Sitten und Gebräuche. Sie sammelten und popularisierten im deutschen Sprachraum Perlen ukrainischer und rumänischer Folklore und Literatur und schufen demokratische Grundlagen des deutschen Schrifttums in der Bukowina, zu deren Entwicklung auch die ukrainischen Autoren Jurij Fedkowicz, Isidor Worobkiewicz, Jewgenija Jaroschynska, Osyp Makowej und Olga Kobylanska beitrugen, die ihren Weg in der Literatur als deutschsprachige Autoren begannen. Solch eine reiche Saat brachte auch gute Ernte: Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierte sich in der Bukowina eine deutschsprachige Literatur, die ein Teil des allgemeinen österreichischen Literaturprozesses war; es erschienen hier literarische Jahrbücher und Almanache („Buchenblätter“, „Bukowiner Hauskalender“), Zeitschriften und Kulturbeilagen zu deutschsprachigen Zeitungen („Im Buchwald“, „Familienblätter“, „Sonntagsblatt der Bukowina“), Gedicht- und Prosabände sowie Theaterstücke Bukowiner Autoren. Freilich hatten die meisten Werke ein nur durchschnittliches Niveau und einen unüberbrückbaren provinziellen Charakter, was auf das kulturelle Neuland, welches die Bukowiner Autoren zu bearbeiten hatten, auf die Entfernung von Kulturmetropolen und den Mangel tiefer und dauernder Traditionen zurückzuführen ist. Aber nach dem Ersten Weltkrieg, als die Bukowina 1918 an Rumänien fiel, und man begonnen hatte infolge intensiver Rumänisierung Deutsch aus allen
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Sphären des Lebens zu verdrängen, tauchte hier (und darin liegt ja eines der größten Paradoxe) ein Gestirn junger Talente auf, welche die deutschsprachige Literatur rasch modernisierten, indem sie sie in Berührung und Resonanz mit dominierenden Trends in anderen westeuropäischen Ländern, vor allem mit der Literatur Österreichs und Deutschlands, brachten. Die Träger des „deutschen Geistes“ waren hier nicht lokale deutsche Einsiedler-Kolonisten, sondern Vertreter assimilierter jüdischer Familien. Ihre Urgroßväter wanderten seinerzeit unter dem liberalen und judenfreundlichen Kaiser Joseph II. in die Bukowina ein und ließen sich hier nieder. Sie strebten aber die deutsche Kultur an und erzogen auch ihre Kinder im Sinne der deutsch-jüdischen Symbiose, wie es später der Vater von Karl Emil Franzos seinem Sohn beizubringen versuchte: „Du bist ein Deutscher – pflegte er ihm zu sagen –, freilich jüdischen Glaubens. Aber auch dessen hast du dich nicht zu schämen.“5 Unter dem Kaiser Franz-Joseph I. erreichte die jüdische Gemeinde in Czernowitz ihre Blütezeit. Zur Jahrhundertwende machte sie etwa ein Drittel der gesamten Bevölkerung der Stadt aus, die damals über 100.000 Einwohner zählte. Obwohl die jüdische Gemeinde von Czernowitz nie sehr einheitlich war und es von Zeit zu Zeit zu heftigen, freilich recht harmlosen, inneren Konflikten zwischen den Orthodoxen und Chassiden, Liberalen und Zionisten kam, dominierte hier immer die assimilierte Schicht der gebildeten Juden, die als Industrielle, Bankiers, Kaufleute, Rechtsanwälte, Ärzte, Gymnasial- und Universitätsprofessoren tonangebend sowohl im Alltag als auch im gesellschaftlichen Leben waren. Ihre Umgangssprache war weder Jiddisch noch Hebräisch, sondern Deutsch, und als solche waren sie glühende Anhänger der deutschen Bildung und Kultur. Aus diesem bürgerlichen Stand gingen hauptsächlich auch die deutsch-jüdischen Dichter der Bukowina hervor, die mit den großen Vorbildern der deutschen Klassik – von Goethe, Schiller, Hölderlin und Heine bis Rilke, Trakl, Stefan George und Gottfried Benn – aufwuchsen. Dabei wohnen ihren Werken fast immer – bewusst oder unbewusst 5
Karl Emil Franzos. Vorwort zu: Der Pojaz. Eine Geschichte aus dem Osten. Hamburg: Rotbuch Verlag / EVA Europäische Verlagsanstalt 2005, S. 6.
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– auch wichtige Elemente der jüdischen Kultur inne – mythologische Vorstellungen, die mit ihren Wurzeln noch an biblische Zeiten reichen, historische Reminiszenzen, in denen das Echo tragischer Kollisionen und nationaler Katastrophen mitklingt, moralische Imperative, welche die Besonderheiten des Sittenkodex und Lebensrealien des Alltags der Juden im Laufe ihrer tausendjährigen Geschichte widerspiegeln. Hier verflochten sich dicht miteinander schmerzerfüllte Klagelieder Jeremias und militante Aufrufe des Bar Kochba, Salomos Gesänge und Davids Psalmen, chassidische Legenden und mystische Vorsehungen der Kabbala. Zugleich erhielt diese Dichtung recht spürbare Impulse seitens ukrainischer oder rumänischer Folklore und wurde auch von diesen Kulturen sehr positiv befruchtet. Der Zahl ausgeprägter Talente, der Einmaligkeit schöpferischer Schreibweisen und der Vielfalt ästhetischer Programme nach gehörte die deutschsprachige Lyrik der Bukowina in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen zu den markantesten Erscheinungen der europäischen Dichtung. Hier erfolgte damals eine mächtige Explosion poetischer Substanz, einem Gewitter gleich, die aus den tiefen Schichten des Bewusstseins und Kulturgedächtnisses der jungen Generation Czernowitzer Intellektuellen blendende Funken hervorschlug. Die Namen von Alfred Margul-Sperber, Georg Drozdowski, Rose Ausländer, Klara Blum, Moses Rosenkranz, Alfred Kittner und anderen Dichtern, deren Werke zum ersten Mal in den Czernowitzer Verlagen, Zeitschriften, Zeitungen und Almanachen der 20er und 30er Jahre erschienen, sind heute im deutschsprachigen Raum bekannt. Der zweiten Generation der Czernowitzer Dichter, die Ende der 30er – Anfang der 40er Jahre den literarischen Schauplatz betraten, und der Immanuel Weißglas, Alfred Gong, Paul Celan angehörten, war es nicht mehr beschieden, dichterischen Ruhm in ihrer Heimatstadt zu genießen – Ghetto, Deportationen und Arbeitslager, die mit dem Beginn des II. Weltkrieges in ihr Leben hereinbrachen, waren für sie Etappen ihrer literarischen Ausformung. In einem solcher Arbeitslager Transnistriens, im Dorf Mychajliwka in der Nähe von Hajsyn, sind die Eltern Paul Celans vernichtet worden. Der Dichter wird nie diesen unersetzlichen Verlust verwinden, er wird ihn ständig
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schmerzen, wie eine nie verheilende Wunde. Immer wieder wird er sich die ewige Frage stellen, auf die ihm niemand je eine Antwort geben wird – warum ausgerechnet er überlebt hat, während seine geliebte Mutter von einem SS-Offizier mit einem Nackenschuss brutal getötet wurde, und ob es nicht besser wäre, wenn er ihr tragisches Schicksal mit ihr geteilt hätte. Im Gedicht „Winter“, das nach dem Erhalt der Nachricht von dem Tod der Mutter in einem rumänischen „Arbeitsbataillon“ geschrieben wurde, wo er während des Zweiten Weltkrieges „schaufeln“ musste, wird diese Frage für ihn zu einer existenziellen Herausforderung, die er mit einer erschütternden Offenzeit formuliert: Es fällt nun, Mutter, Schnee in der Ukraine: Des Heilands Kranz aus tausend Körnchen Kummer. Von meinen Tränen hier erreicht dich keine. Von frühern Winken nur ein stolzer stummer … Wir sterben schon: was schläfst du nicht, Baracke? Auch dieser Wind geht um wie ein Verscheuchter … Sind sie es denn, die frieren in der Schlacke – die Herzen Fahnen und die Arme Leuchter? Ich blieb derselbe in den Finsternissen: erlöst das Linde und entblößt das Scharfe? Von meinen Sternen nur wehn noch zerrissen die Saiten einer überlauten Harfe … Dran hängt zuweilen eine Rosenstunde. Verlöschend. Eine. Immer eine … Was wär es, Mutter: Wachstum oder Wunde – versänk ich mit im Schneewehn der Ukraine?6
In demselben „Arbeitslager“ von Mychajliwka, in dem Paul Celans Eltern umgebracht wurden, starb an Flecktyphus und Erschöpfung auch Celans Kusine mütterlicherseits, die 18-jährige Dichterin Selma Meerbaum-Eisinger, die Bukowiner Schwester von Anne Frank. Ihre letzten Gedichtzeilen, die eine einzige Strophe unter
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Paul Celan. Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Mit den zugehörigen Radierungen von Gisèle Celan-Lestrange. Herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann. Berlin: Suhrkamp Verlag 2018, S. 351.
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dem Titel „Tragik“ bilden, klingen wie eine gehobene Elegie der Selbstaufopferung: Das ist das Schwerste – sich verschenken, und wissen, daß man überflüssig ist. Sich ganz zu geben und zu denken, daß man wie Rauch ins Nichts verfließt …7
Sucht man Analogien zum Czernowitzer literarischen Phänomen, so taucht hier am häufigsten eine typologisch verwandte und fast gleichzeitige Erscheinung auf – die deutsche Literatur Prags. Natürlich sind hier künstlerische Maßstäbe, ästhetische Präferenzen und axiologische Dimensionen kaum vergleichbar, wie unvergleichbar auch die Gattungsdominanten sind (für die Prager deutsche Literatur war die Prosa charakteristisch, für die Literatur der Bukowina die Lyrik), doch sind sie vielleicht in einem wichtigen Punkt verwandt – es war eine deutsche Inselkultur, die in einem ethnisch fremden Milieu entstand und in einem engen geographischen Raum existierte. Daraus resultieren ihre Dichte, ihre sprachliche Intensität und nicht selten auch das gemeinsame Arsenal künstlerischer Mittel – von Themen, Motiven, Bildern – bis zur Verwendung gleicher Metaphern durch verschiedene Dichter, die unglaublich kompakte, genetisch verwandte, aber im Grunde unabhängliche Implikationen poetischer Tropen in ihren dichterischen Texten bilden. Es geht hier natürlich nicht um das Epigonentum, auch nicht um gegenseitige schöpferische Entlehnungen. Es geht darum, daß selbst die Atmosphäre des dichten Zusammenlebens, gemeinsame Erziehungs- und Ausbildungsbedingungen, der gleiche soziale und kulturelle Hintergrund der Czernowitzer Dichter sowie die gemeinsame Tragödie des Holocaust diese typologischen Kongruenzen hervorriefen. Manche von ihnen wurden später in der berühmten „Todesfuge“ Paul Celans sublimiert. So taucht das Celan’sche Motiv „Grab in den Lüften“ bereits in Gedichten von Alfred Margul-Sperber, Moses Rosenkranz und Immanuel Weißglas 7
Selma Meerbaum-Eisinger. Ich bin in Sehnsucht eingehüllt. Gedichte eines jüdischen Mädchens für seinen Freund. Herausgegeben. von Jürgen Serke. Hamburg: Hoffmann und Campe Verlag 1980, S. 93.
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auf. Das Celan’sche Oxymoron „schwarze Milch“ verwendete vor ihm schon Rose Ausländer. In demselben Jahr 1944, als Celans „Todesfuge“ entstand (sie war damals noch „Todestango“ überschrieben), wurde auch ein Gedicht unter dem Titel „Die Blutfuge“ von Moses Rosenkranz verfasst. Das Motiv des Brunnens, der so natürlich für die Landschaft und die Lebensordnung der Bukowina war, taucht mehrfach in der Dichtung der Czernowitzer Autoren auf – in den Gedichten von Alfred Margul-Sperber, Rose Ausländer, David Goldfeld (der diesen Begriff sogar auf die Titelseite seiner einzigen Gedichtsammlung bringt), Alfred Kittner, Immanuel Weißglas und Paul Celan, der die Bukowina als ein „Brunnenland“ bezeichnet. Im verbrannten Hof steht noch der Brunnen voll Tränen Wer weinte sie Wer trinkt seinen Durst leer8 –
fragt Rose Ausländer in ihrer poetischen Miniatur aus dem Band „Andere Zeichen“ (1975). Der Brunnen, der laut den symbolischen Deutungen das weibliche Element, den Mutterleib, die Befreiung und Säuberung von der Sünde verkörpert, zugleich aber auch die mystische Vereinigung mit dem Jenseits, war ein tiefgehendes Bild, das eine breite Skala gegensätzlicher Gefühle in sich tragen konnte – den brennenden Schmerz der Opferbereitschaft, die unstillbare Heimatsehnsucht, den geistigen Durst und die physische Qual.
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Rose Ausländer. Wir wohnen in Babylon. Gedichte. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1992, S. 113.
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„Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ Erzähl von den Brunnen, erzähl von Brunnenkranz, Brunnenrad, von Brunnenstuben – erzähl – […] Wasser: welch ein Wort. Wir verstehen dich, Leben.9
So beschwört Paul Celan dieses Symbol im Gedicht „Oben, geräuschlos“ aus dem Band „Sprachgitter“ (1959). Führt man sich das weitere Schicksal der deutschsprachigen Dichtung der Bukowina vor Augen, do kann man sagen, dass sie diesem traurigen, verlassenen Brunnen ähnlich ist, der das ganze Leid und die ganze Trauer der leidvollen Welt in sich aufgenommen hat. Die grausamen Stürme der Geschichte, die im 20. Jahrhundert über die Bukowina tobten, fegten die üppige Blüte dieses poetischen Gartens hinweg. Nach den Hetzereien und Verfolgungen durch totalitäre Regime nationalsozialistischer sowie kommunistischer Prägung wurden die Vertreter der Czernowitzer Dichterschule in der ganzen Welt verstreut – von Bukarest bis New York und von Düsseldorf bis Jerusalem. Dort versuchten sie eine neue Heimat für sich zu finden, aber wirklich zu Hause fühlten sie sich, gleich Rose Ausländer, nur im Schoß ihrer Muttersprache: Mein Vaterland ist tot Sie haben es begraben im Feuer Ich lebe in meinem Mutterland Wort10
Das Wort ist eine unzerstörbare Substanz. Es vibriert auch dann noch, wenn die letzte Saite zerreißt.
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Paul Celan. Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe in einem Band, S. 113-114. Rose Ausländer. Sanduhrschritt. Gedichte. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1994, S. 94.
„Margul, der gute Riese“ Alfred Margul-Sperber In den entferntesten Ecken der Welt wird die Stadt Czernowitz nicht selten als die Stadt der Dichter bezeichnet. Das bezieht sich vor allem auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, als hier eine einmalige und in mancher Hinsicht recht rätselhafte Explosion poetischer Energie zustande kam, deren Parallelen in der Weltliteratur nur schwer zu finden sind. An den Quellen dieses poetischen Phänomens in seiner deutschsprachigen Ausprägung stand Alfred Margul-Sperber (1898-1967), der bereits seiner physischen Statur nach im buchstäblichen Sinne die markanteste Figur der Czernowitzer Kulturszene in der Zwischenkriegszeit war, da er den durchschnittlichen Menschenwuchs um zwei Köpfe übertraf. Den Schock von seiner ersten Begegnung mit ihm im Nachkriegs-Bukarest beschrieb später der deutschsprachige Schriftsteller aus Rumänien Hans Bergel: Beim Druck auf den Klingelkopf in der Bukarester Strada Maria Rosetti ahnte ich nicht, dass mir in mehrfachem Sinn eine beziehungsreiche Überraschung bevorstand: Ich blickte, als sich die Tür öffnete, nicht einem Menschen ins Gesicht, sondern erblickte den Knopf einer handgestrickten grauen Wolljacke. Erst als ich den Kopf in den Nacken gelegt hatte, erkannte ich über mir ein Paar dunkle Augen und einen weißen Haarschopf. In meine Verblüffung hinein sagte der riesenhafte Mensch, vor dem ich stand: „Jaja, ich bin nur wenige Zentimeter kleiner als Friedrich von Schiller. Der war über zwei Meter groß. Wussten Sie das?1
Diese ungewöhnliche Erscheinung hielt nicht ohne Humor in seinem noch im Czernowitz der Zwischenkriegszeit geschriebenen Gedicht „Margul, der gute Riese“ ein anderer ansehnlicher Vertreter der deutschjüdischen Dichtung der Bukowina, Moses Rosenzweig, fest, den mit Sperber eine langjährige enge Freundschaft verband. Margul ist ein Riesenfürste, Sichtbar in dem ganzen Land, Und sein Haar ist eine Bürste, Eine Schaufel seine Hand.2 1 2
Hans Bergel. Aus Bukarester Tagen nach dem Zweiten Weltkrieg. Erinnerungen an Alfred Margul-Sperber. In: Hans Bergel. Bukowiner Spuren. Von Dichtern und bildenden Künstlern. Aachen: Rimbaud Verlag 2002, S. 8. Moses Rosenkranz. Die Tafeln. Cernauţi: Verlag Literaria 1940, S. 20.
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Die Rolle Margul-Sperbers im Bukowiner Literaturprozess der Zwischenkriegszeit ist schwer zu überschätzen. Er war der geistige Führer und Mentor des schöpferischen Kreises deutschsprachiger Dichter der Bukowina, eine Triebkraft aller seiner Initiativen. Mit Blick auf die westeuropäische Moderne – lesen wir im Literaturlexikon von Walther Killy – leistete Margul-Sperber einen bedeutenden Beitrag, den Dilettantismus provinzieller Erbauungsliteratur zu überwinden. Seine programmatischen Aussagen zur Literatur und seine Lyrik ermöglichten den nachfolgenden Autoren die gesamteuropäische Entwicklung in ihrer Literatur mitzureflektieren.3
Als Alfred Sperber am 23. September 1898 im bukowinischen Städtchen Strožynetz am Sereth in der jüdischen Familie von Isidor Sperber und seiner Ehefrau Margarethe geboren (die biblische Form des Vornamens seiner Mutter „Margula“ fügte er später seinem Namen hinzu und bildete auf diese Weise sein literarisches Pseudonym), wuchs er in kleinbürgerlichen Verhältnissen in malerischen Landschaften an Vorbergen der Karpaten auf. Sein Vater war Gutsverwalter der Ländereien des wohlhabenden Bukowiner Gutsbesitzers und Politikers, später des ersten rumänischen Ministers für die Bukowina Jancu Flondor, die Mutter Privatmusiklehrerin, eine musische Natur, mit unverhülltem Hang zum Schönen. Nach dem Abschluss der Grundschule in seinem Geburtsort schickte man den wissbegierigen und begabten Jungen in das Zweite Staatsgymnasium nach Czernowitz, wo er seine Lehrer und Klassenkameraden mit seinen glänzenden Erfolgen sowie mit seinen ersten, bereits mit eigener dichterischer Sicht gezeichneten Gedichten ins Staunen brachte. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges flüchtete die Familie Sperber nach Wien. Dort setzte Alfred seinen Gymnasialunterricht fort und vertiefte sich in das facettenreiche geistige Leben der österreichischen Metropole. Auf diese Zeit fallen eine nähere Bekanntschaft des Jungen mit den Erscheinungen der literarische Moderne, vor allem mit dem Expressionismus, sowie persönliche Kontakte mit Felix Braun, Georg Kulka und anderen jungen Wiener Dichtern. 1916, nach dem 3
Literatur-Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Herausgegeben. von Walther Killy. München; Gütersloh: Bertelsmann Lexikon Verlag, Bd. 7, 1990, S. 485.
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bestandenen Abitur und einer kurzen Offiziersausbildung, wurde er zum Leutnant der k. u. k.-Armee erhoben und bald darauf an die Ostfront geschickt, zuerst nach Galizien, später in die Südukraine. Eine eindrucksvolle dichterische Reminiszenz aus dieser Periode stellt seine poetische Miniatur „Ukrainische Steppe“ dar, die ihrem Lakonismus, ihrer Bilddichte und Suggestion nach die traditionellen Kurzformen japanischer Lyrik Tanka oder Haiku nachahmt: Endlose Weite der Wiesen. Entfernter Abend-Kirchen-Laut, Und das uralte, ewig traurige Hirtenlied. Einsamer Vogel zieht. Und die Felder duften so süß wie zu Hause.4
Revolutionäre und pazifistische Parolen, Aufrufe zur Soldatenverbrüderung lassen ihn nicht gleichgültig – er wird zum glühenden Anhänger der russischen Revolution, betreibt propagandistische Arbeit unter den Soldaten seines Regiments und schreibt eine Reihe von Antikriegsgedichten, die er in einer Frontzeitung publiziert (den poetischen Zyklus „Schmerzliche Zeit“, der sich, leider, nur teilweise erhalten hat). Ein Beispiel ist hier sein Gedicht „Eine ganz kleine Geschichte“: Es war in einer Mondnacht, da Hauptmann X der Gedanke kam, Einen kleinen Strich Kornfeldes niederzulegen, der vorne die Aussicht gegen den Feind benahm. Ein hagerer Bosniake meldete sich herzhaft Zu diesem Werk; eine Sense hatte man im Dorfe rückwärts beschafft. Bald sah man seine sehnige Gestalt dunkel gegen den silbernen Himmel im Felde stehn Und, bedächtig schreitend, Schwade um Schwade mähn. Hauptmann X, der eben einem Leutnant die Rumflasche bot, Grölte plötzlich auf: „Du, der sieht beinahe aus wie der Tod.“ Aber viel hundert Soldaten, die hüben und drüben in den Gräben saßen,
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Alfred Margul-Sperber. Gleichnisse der Landschaft. Storojineţi: Im Selbstverlag des Verfassers, 1934, S. 17.
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„Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ Lähmte der Schrecken so in dieser Nacht, dass sie an Trinken und Kartenspiel vergaßen …5
Die wachsame Militärobrigkeit erfährt bald von der subversiven Tätigkeit des jungen Offiziers, ihm droht das Feldgericht, und nur das Kriegsende und der Zerfall des Habsburgerreichs retten ihn vor der gnadenlosen Abrechnung. Nachdem der junge Dichter 1919 in die Bukowina zurückkehrte, die nach dem Vertrag von Saint-Germain dem Königtum Rumänien zugeschlagen wurde, beginnt er mit Jura-Studien an der Universität Czernowitz, doch das Unterrichtsniveau an diesem entscheidenden Wendepunkt, als alte österreichische Professoren das Land bereits verlassen hatten und die neuen rumänischen Lehrkräfte hier noch nicht ausgeformt waren, erwies sich als recht niedrig. Daher wurde er sehr bald von seinem Studium tief enttäuscht und bereits nach wenigen Wochen gab er es auf. Die wirtschaftliche Nachkriegsruine, materielle Not und der Wunsch, sich von der elterlichen Bevormundung zu befreien, regten ihn an, das Land zu verlassen. Angelockt von der Romantik ferner Reisen kam der junge Sperber zuerst nach Frankreich. Aber das alte Nachkriegseuropa, das seine Wunden ableckte, rechtfertigte nicht seine Erwartungen, so dass er sich bald entschied, nach Übersee zu gehen. Ohne Beruf, der ihm eine stabile Existenz und wirtschaftliche Unabhängigkeit sichern könnte, war er gezwungen, eine beliebige Arbeit zu übernehmen. „War Leiter einer Emigrationsstation in Paris, Metallarbeiter, Straßenhändler, Geschirrwäscher, Beamter und zuletzt Prokurist einer Großbank in New York“6 – erinnerte er sich später. In Amerika heiratete Sperber eine aus Galizien gebürtige Modistin, Berta Treibitsch, die ihm zwei Söhne gebar, doch diese Ehe erwies sich als recht kurzfristig: Bereits nach einigen Jahren gingen ihre Lebenswege für immer auseinander, was tiefe Narben in seiner Seele lassen sollte, die auch nach Jahren nicht heilen wollten, wovon ein 1958 geschriebener Traum-Vierzeiler aus 5 6
Alfred Margul-Sperber. Das verzauberte Wort. Der poetische Nachlaß 19141965, von Alfred Kittner besorgt. Bukarest: Jugendverlag 1969, S. 55. Alfred Kittner. Alfred Sperber – der Mensch und das Werk. In: Geheimnis und Verzicht. Das lyrische Werk in Auswahl. Bukarest: Kriterion Verlag, 1975, S. 594.
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dem Nachlass des Dichters zeugt, in dem seine in Amerika verbliebenen Kinder mit verschwiegenen poetischen Worten assoziiert werden: Ich habe Kinder, die ich nicht kenne, Nur mein Herz hat sie nächtlich erschaut. Ich habe Worte, die ich nicht nenne: Einst, wenn ich schweige, reden sie laut.7
Noch vor seiner Emigration begann Sperber seine Gedichte und Prosa in der von Albert Maurüber gegründeten Czernowitzer expressionistischen Zeitschrift „Der Nerv“ sowie in den Zeitschriften „Das Ziel“, „Das neue Ziel“, „Klingsor“ (Kronstadt/Braşov), „Zenit“ (Agram/Zagreb) und anderen deutschsprachigen Presseorganen zu publizieren. Während seiner Pariser und New Yorker Zeit knüpfte er freundschaftliche Beziehungen zu solchen Dichtern wie Yvan Goll, Henri Michaud, Waldo Frank an, las begeistert das Werk von Max Jacob, Guillaume Apollinaire, Paul Valery, Henri David Thoreau, Robert Frost, Carl Sundberg, Edward Estlin Cummings, Walles Stevens, Thomas Sterns Elliot, übersetzte ihre Gedichte (so gehören ihm z.B. die ersten deutschsprachigen Übertragungen von Apollinaires „Calligrammes“ und Eliots „The Wast Land“). Zugleich arbeitete er mit linken deutschsprachigen Presseorganen Amerikas („New Yorker Volkszeitung“) zusammen und schrieb avantgardistische, mit expressionistisch-aktivistischen Bildern geladene Gedichte, die später zu dem umfangreichen poetischen Zyklus „Elf große Psalmen“ vereinigt wurden, der durch seinen Raumschwung, die Kühnheit seiner dichterischen Visionen, das Pathos revolutionärer Verwandlungen der Welt und durch Dithyramben an den Menschen als Krone der Schöpfung beeindruckt: O Mensch! Sanft, groß, himmlisch, strahlenbeglänzt, Augen: Sterne und Regenbogen darüber gewölbt, Mund: erwachende Blume Und das unirdische Geschenk des Lächelns! O Mensch, wie vergäßen wir deiner Im letzten Atemzug unserer Verworfenheit?!8
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Alfred Margul-Sperber. Das verzauberte Wort, S. 344. Alfred Margul-Sperber. Das verzauberte Wort, S. 19.
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Expressionistische Gedichte Sperbers Anfang der 1920er Jahre kann man im Kontext der Ästhetik und Poetologie dieser avantgardistischen Richtung betrachten, insbesondere ihres aktivistischen Flügels, der durch Ludwig Rubiner und Franz Pfemfert repräsentiert ist, oder in solch emphatischen expressionistischen Werken wie „Der Panama-Kanal“ von Yvan Goll oder „Der Weltfreund“ von Franz Werfel zum Ausdruck kommt. Den jungen Dichter verschlangen das unruhige Element der Großstädte, der rasante Rhythmus ihres Lebens, der Wirbel ihrer Verlockungen und Laster, die Wunder der Technokratie und das wilde Blühen abstoßender Seiten des sozialen Bodens. Dabei zieht er eine Maske des Zynikers an, der durch nichts mehr berührt werden kann, obwohl er in seiner Seele feinfühlig und zart bleibt. Eine eindrucksvolle Selbstcharakteristik gibt er in seinem Gedicht „Letzte Folgerung“ aus dem Zyklus „Elf große Psalmen“: Ich heiße Alfred Sperber, bin 23 Jahre alt, verkrachter Jurist, in Storožynetz geboren, kleiner Stadt der Bukowina inmitten roter Buchenwälder und wilder Bauern, von denen Europa nichts weiß; schon in frühester Jugend war in mir eine Sehnsucht heiß, unendliches Heimweh nach der Stadt, die nirgends ist, und ich habe nachher alle Städte Europas wie bacchantisch rasende Mädchen geküßt, den Zauber der Industrien getrunken, die Meetings geliebt und um Bombenanschläge gewußt, alle tausend goldenen Glockentürme Moskaus läuten in meiner Brust, Eiffelturm, strotzender Phallus Europas, ich kenne deine stählerne Musik, ich ergab mich bis zum Wahnsinn den Martern der Hurenkünste und dem Kartenglück, ich habe mit russischen Dienstmädchen unsagbar süße Nächte verbracht, kenne die Prostitution Wiener Bürgerfamilien und die Jungfräulichkeit des Paris bei Nacht.9
1924 wurden bei Sperber die ersten Anzeichen der Tuberkulose diagnostiziert, und er war gezwungen, in seine Heimat zurückzukehren. Es begannen lange Monate der Heilung, während der er sich mit Henriette (Jetti, Jessika), Tochter des Storožynetzer Kaufmanns 9
Alfred Margul-Sperber. Das verzauberte Wort, S. 141.
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und des Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde des Städtchens annäherte, die zu seiner zweiten Frau und treuen Gefährtin in allen Lebensperipetien wurde. Bald siedelte er nach Czernowitz um, wo es eine weit verzweigte vielsprachige Presse gab, und in den Jahren 1926 bis 1932 bekleidete er die Stelle des Kulturredakteurs in der liberalen Tageszeitung „Czernowitzer Morgenblatt“. In diese Periode fällt der höchste Schwung seiner journalistischen Karriere. Dank ihm erschienen in diesem Blatt unzählige polemische Artikel, spannende Reportagen, satirische Pamphlete, inhaltsreiche Übersichten des kulturellen Lebens sowie Rezensionen der Bücher ausländischer, rumänischer und bukowinischer Autoren. Unter ihnen sei vor allem eine Sequenz von Artikeln unter dem Titel „Der unsichtbare Chor. Entwurf eines Grundrisses des deutschen Schrifttums in der Bukowina“ (1928) hervorgehoben in dem der Dichter den Versuch unternahm, einen Querschnitt über die Entwicklung der deutschsprachigen Literatur der Bukowina zu geben, indem er die Schwierigkeiten ihrer Existenz in der Situation der Abgerissenheit vom deutschsprachigen Literaturprozess, die Abwesenheit von Verlagen und Lesern betont, die Spezifik und Tragik ihres Bestehens als deutschjüdischen Schrifttums umreißt, das unter rumänischer Vorherrschaft zu einem Dahinvegetieren verurteilt war. Die Präferenzen seiner Redakteursstelle ausnutzend, entdeckte und förderte Sperber jüngere literarische Talente des Landes, z.B. solche Bukowiner Dichter wie Moses Rosenkranz, Rose Ausländer, Alfred Kittner, David Goldfeld, Robert Flinker u.a., und in der Literaturbeilage des Blattes, die den Titel „Junge Stimmen“ trug, veröffentlichte er Gedichte und Prosatexte der Bukowiner Literaten, organisierte poetische Wettbewerbe und schuf eine schöpferische, geistige Atmosphäre um sich (unter seinen Fittichen brüteten hier solch junge deutschjüdische Dichter wie Kubi Wohl und Jona Gruber). In der Mitte der 1920er Jahre entstand auch der poetische Zyklus Sperbers „Kikiritzer Sonette“, der im Stil der damals in der deutschen Literatur verbreiteten „neuen Sachlichkeit“ mit ihrem Interesse für Dokumentarsphäre, Fakten der sozialen Wirklichkeit und Ereignisse des Alltagslebens geschrieben ist. Der fiktive Ortsname „Kikeritz“, der bereits durch seinen Klang
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ironisch anstimmt, stellt in der Tat ein Substitut seines Geburtsortes Storožynetz dar. Hier kommt ganz unerwartet das satirische Talent Sperbers zutage, wenn er in vollkommener Sonettenform die selbstzufriedene Hochnäsigkeit, Kleinkrämerei und geistige Anspruchslosigkeit des provinziellen Milieus von Storožynetz brandmarkt. Die Beschreibung eines Kinobesuchs und bürgerlichen Balls, eines Leichenzugs und Frauenbads, Sonntagsspaziergänge und Liebesabenteuer, Porträts eines städtischen Casanovas und einer „uneigennützigen“ Kupplerin, farbige Darstellungen des provinziellen Alltags mit endlosem Klatsch, Taschendieben, dem Gerede über die Launen der Mode – dies ist der bei weitem unvollständige Katalog der Kikeritzer Realität, die in diesen Sonetten in einer grotesken Umrahmung ersteht: Oh, wer verdammt ist, unter euch zu leben, Verflucht die Stunde oft, die ihn geboren; Und hätt’ er nicht den Geist an euch verloren, Er wünschte stündlich wohl ihn aufzugeben.10
Manchmal konnten die unerschöpfliche Energie und der Enthusiasmus Sperbers böse Scherze mit ihm treiben. So inspirierte er Ende der 1920er Jahre die berüchtigte „Piehowicz-Affäre“ – eine Geschichte des geistig behinderten Patienten der Czernowitzer Irrenanstalt, eines seltsamen, kaum des Schreibens kundigen Schlossers Karl Piehowicz, der angeblich geniale Gedichte schrieb. Von den damals verbreiteten Thesen des italienischen Psychiaters Cesare Lombroso ausgehend, nach denen Wahnsinn und Genialität miteinander verwandt und sozusagen nur Seiten derselben Medaille sind, publizierte Sperber diese Gedichte zuerst in seiner Zeitung, später schickte er sie dem berühmten Wiener Satiriker Karl Kraus. Für Kraus wurden diese Gedichte ein richtiges Schicksalsgeschenk, da sie die in den europäischen intellektuellen Kreisen vertretene Theorie über die Untrennbarkeit dieser beiden Sphären des menschlichen Seele und seine eigene These von der totalen Erschöpfung des europäischen Geistes bestätigten. Daher publizierte er sie in seiner berühmten Zeitschrift „Die Fackel“, 10
Alfred Margul-Sperber. Aus der Vorgeschichte. Mythen, Mären, Moritaten. Bukarest: Literaturverlag 1964, S. 184.
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indem er sie mit einem umfangreichen Artikel unter dem für Kraus so typischen Titel „Aus Redaktion und Irrenanstalt“ begleitete und mit allem Ernst wortwörtlich behauptete: Der größte heute in deutscher Sprache denkende, vielleicht der einzige große Dichter, und einer der größten, die je gelebt haben, ist ein Schlosser, der in der Irrenanstalt von Czernowitz lebt.11
Zuerst hatte diese Publikation eine starke Resonanz gehabt, doch nach einigen Wochen brach ein riesiger Skandal aus – empörte deutsche und österreichische Dichter, die, wie sich herausgestellt hatte, die wahren Autoren dieser Gedichte waren, klagten Kraus des literarischen Diebstals an, so dass er sich rechtfertigen musste. Wie sich später erwies, hatte der irrsinnige Piehowicz vor Jahren als Soldat in einer Fremdenlegion in Nordafrika gedient, wo er vor Langeweile oder einfach zum Spaß Dutzende Gedichte auswendig gelernt hatte und sie jetzt als eigene Produkte freigab. Für eine kurze Zeit machte diese Literaturaffäre Czernowitz zum Zentrum des europäischen öffentlichen Interesses, darüber berichteten mehrere europäische Zeitungen, und der Bukowiner Journalist Erast Cara verfasste sogar nach den Motiven dieser Affäre einen Fortsetzungsroman, mit dem das „Czernowitzer Morgenblatt“ wochenlang seine Leser unterhielt.12 Tatendurstig und unermüdlich in seinen schöpferischen Bestrebungen, gründete Sperber 1931 in seinem Geburtsort Storožynetz die lokale Zeitung „Bukowiner Provinzboten“, die jedoch wegen finanzieller Probleme und der geringen Zahl der Abonnenten nur einige Monate lang herauskommen konnte. Der Dichter knüpfte aber rege Kontakte mit Presseorganen und Verlagen der deutschsprachigen Welt, schickte ihnen literarische Texte der Bukowiner Autoren zu, stand ihnen mit seinen Begleitartikeln bei und trug sich mit der Absicht, eine größere Anthologie deutschjüdischer Dichtung der Bukowina unter dem Titel „Die Buche“
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Karl Kraus. Aus Redaktion und Irrenhaus. In: Die Fackel (Wien). Herausgegeben von Karl Kraus, XXX. Jg., Nr. 778-780, Anfang Juni 1928, S. 84-104, hier S. 91. Legion Cayenne und Narrenhaus. Erlebnisse und Schicksale von Karl Piehowicz, wie er ins Irrenhaus kam und ein großer Dichter wurde. Zusammengestellt von Erast Cara. In: Czernowitzer Morgenblatt, 1928, Nr. 3045-3097.
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herauszugeben, die das Beste auf dem Gebiet der Lyrik aus der Bukowina zusammenbringen könnte. Diese vielfältige und fruchtbare Tätigkeit brachte dem Dichter jedoch weder materiellen Gewinn noch literarische Lorbeeren. Mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland begann sich auch in Rumänien das politische Klima zu ändern – hier aktivierten sich chauvinistische und profaschistische Elemente. Das „Czernowitzer Morgenblatt“ war eine konservativ-liberale deutschsprachige Zeitung, die von jüdischen Redakteuren geführt wurde, so dass die Folgen der neuen Ideologie nicht lange auf sich warten ließen – es verstärkte sich der Druck rumänischer Zensur, der nicht selten in eine offene Hetzjagd ihrer Mitarbeiter überging. Aus diesem Grund, aber auch wegen seines winzigen Gehalts, das er als freier Journalist erhielt, musste sich Sperber im Frühjahr 1933 von der Zeitung verabschieden. Bald verließ er Czernowitz und zog in das Städtchen Burdujeni, das an der Grenze der Bukowina und der rumänischen Moldau liegt, wo sich eine große Selchwarenfabrik befand. Da sie ihre Produktion weit über die Grenzen des damaligen Rumäniens lieferte und eine rege Korrespondenz mit ihren Handelspartnern in anderen Ländern führte, bekam Sperber, als guter Kenner mehrerer Fremdsprachen, dort eine Stelle als Fremdsprachenkorrespondent, der für internationale Verbindungen der Firma zuständig war. Das war eine gut bezahlte Arbeit, obwohl es schwerfällt, sich einen so feinen und zarten Lyriker unter hunderten von geschlachteten Tieren vorzustellen. Zugleich gab er seine publizistische Tätigkeit nicht auf und sammelte weiter literarische Kräfte des Landes zusammen. Seine unermüdliche Energie und geistige Vitalität brachten ihm Anerkennung solcher Persönlichkeiten wie Thomas Mann, Hermann Hesse, Martin Buber, Knut Hamsun, George Duhamel, Egon Erwin Kisch, Stefan Zweig, Thomas Sterns Eliot, Alfred Polgar, Felix Braun und Josef Weinheber, mit denen er in lebhaftem Briefwechsel stand. Das bescheidene Postamt des Städtchens Burdujeni hatte noch nie so viele Briefe erhalten, die aus dem Ausland, von den weltberühmten Schriftstellern kamen. Ein
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lebendiges Bild dieser weltweiten Verbindungen Sperbers schilderte später aus seiner Erinnerung sein Dichterfreund Moses Rosenkranz: Durch den Gedichte schreibenden Sekretär der Schlachtfabrik wurde der rote röchelnde Todesplatz die Sammelstelle edler lebhafter Geister. Wann immer ein Fremder erschien, zogen sich die Schlächterei-Vögte verdrossen zurück, denn man war nicht eingekehrt, ihre Schlagringe und Schweine, sondern den Korrespondenten und seine Manuskripte zu bewundern.13
Nach kurzer Zeit wurde Sperber in den Augen seiner Landsleute zu einer lebendigen Legende und zum unbestreitbaren Maître der Bukowiner Literatur. Derselbe Karl Kraus charakterisierte ihn in seiner „Fackel“ als „jenen Alfred Sperber, der aus Storožynetz bei Czernowitz gewissenhafter die Interessen der deutschen Kultur betreut, als es im Raum zwischen Berlin und Wien geschieht.“14 In den 1930er Jahren veröffentlichte A. Margul-Sperber im Selbstverlag zwei Gedichtbände: „Gleichnisse der Landschaft“ (1934) und „Geheimnis und Verzicht“ (1939). Diese Gedichtsammlungen bezeugen wesentliche ästhetische Wandlungen, die an der Schwelle der 1920er bis 1930er Jahre im Bewusstsein des Dichters stattfanden und durch spürbare Veränderungen in der politischen Entwicklung Rumäniens und ganz Europas verursacht waren. Vor allem war es das Gefühl der Unstabilität und Bedrohung, die die jüdische Minderheit des Landes beim wachsenden Chauvinismus und Rassenhass gegen die Juden immer mehr erfasste. In etwa zehn bis fünfzehn Jahren der rumänischen Herrschaft waren hier der Einfluss der jüdischen Gemeinde im politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben des Landes demontiert und ihre führende Vertreter in die Randgebiete weggedrängt worden. Zugleich hat auch Deutsch, das für das assimilierte Czernowitzer Judentum in der altösterreichischen Zeit als Muttersprache galt, seine Positionen im Land stark eingebüßt. Aus diesem Standpunkt aus ist jene Wehrreaktion der deutschjüdischen Dichter des Landes, die 13 14
Zit. nach Alfred Kittner. Alfred Sperber – der Mensch und das Werk (wie Anm. 6), S. 596. Karl Kraus. Aus Redaktion und Irrenhaus oder Eine Riesenblamage des Karl Kraus. In: Die Fackel (Wien). Herausgegeben von Karl Kraus. XXX. Jg., Nr. 800805. Anfang Februar 1929, S. 90.
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im Versuch der Rettung ihrer traditionellen Kulturwerte bestand, durchaus verständlich. Dieses Rezidiv des Konservatismus betraf auch Sperber. Seine frühen avantgardistischen, vor allem expressionistischen Experimente mit uferlosen bildlichen Amplifikationen, gigantischen Strophen in freien Rhythmen und komplizierten syntaktischen Strukturen waren jetzt nicht mehr adäquat. Man musste die eigene nationale und kulturelle Identität retten, die aufgrund klassischer Muster gepflegt wurde, und somit zu den überlieferten Themen, Motiven, Gattungen und Formen der Dichtung zurückkehren, die eigentlich auch ihr Fundament bildeten. Dies alles deklariert der Dichter im Vorwort zu seinem Gedichtband „Gleichnisse der Landschaft“, wenn er nicht ohne eine Prise poetologische Provokation schreibt: Mit seinem Werke bekennt sich […] der Verfasser ausschließlich zur Bukowina, deren Landschaft – von wenigen Ausnahmen abgesehen – den unablässig variierten Gegenstand seiner Dichtung bildet und für die im eigentlichen Sinne diese Gedichte geschrieben und bestimmt sind. Der Verfasser bekennt sich weiters freimütig zu allem Veralteten und Herkömmlichen in Form, Wahl und Behandlung seiner dichterischen Gegenstände und erklärt vorweg, dass er gerne darauf Verzicht leistet, den modernen Dichtern zugezählt zu werden. Er hat in bewußter Absicht seinen Stoffkreis abgegrenzt und zuweilen die Wahl des gleichen Themas bis zur ermüdenden Einförmigkeit getrieben, weil er aus der tragischen Erkenntnis der Unmöglichkeit, das Urbild zu erreichen, nicht genug den Versuch unternehmen zu müssen glaubte, diesem Urbilde wenigstens näherzukommen. Ein Gedicht kann niemals den großen Gegenstand ersetzen, der es hervorruft, und Maßstab der Künstlerschaft sind und bleiben einzig: die Echtheit und Stärke des Erlebnisses an diesem Gegenstande, und die Fähigkeit, in der Seele des empfänglichen Lesers eine Wiederholung dieses Erlebnisses zu bewirken. Aus diesem Grunde kann ein und derselbe Baum Anlaß zu hundert großen Gedichten werden […] Durch solche selbstgewählte Beschränkung in seiner Wirkung ohnehin geschmälert, nimmt dies Gedichtbuch seinen Weg in die Welt, die dem Gedichte entfremdeter ist als je, und in eine Zeit, die das Werden eines neuen Lebensstils verkündigend, durch Wirren und Leidenschaften den Sinn und die Empfänglichkeit für alles Schöne und Stille beirrt und verdunkelt. Aber allen Wahn und Haß, Kampf und Krampf der Zeit überdauert die ewige Landschaft, lächelnd und erhaben, feierlich und schweigend, und auch über völlig veränderten Formen der menschlichen Gemeinschaft wird sich das gleiche Rätsel des gestirnten Nachthimmels wölben, das sich seit uralten Zeiten im betränten Auge des Dichters spiegelt.15 15
Alfred Margul-Sperber. Gleichnisse der Landschaft. Storojineţi: Im Selbstverlag des Verfassers 1934, S. 5-6.
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Selbstverständlich entsprach diese poetische Konzeption nicht mehr den Vorstellungen über die literarische Avantgarde. Aber Sperber vollzieht ganz bewusst diesen Rückzug auf gut vorbereitete ästhetische Positionen, denn sie bieten mehrere Chancen, jene Schlacht zu gewinnen, in die die deutsche Kultur der Bukowina hineingezogen wurde. Sehr trefflich äußerte sich aus diesem Grund sein langjähriger Freund und poetischer Mitkämpfer Alfred Kittner, als er später retrospektiv feststellte: So ist er eigentlich – ein seltener, ja vielleicht einzigartiger Fall – den umgekehrten Weg gegangen als die meisten seiner dichtenden Altersgenossen: den Weg von der poetischen Fronde zum klassisch-geläuterten Ausdruck, von Neuerertum zur bewußten Hingabe an das Herkömmliche im Sinne von Rilkes: „Alles Vollendete fällt/ heim zum Uralten“.16
Wie der rumänische Dichter Alexandru Philippide betont, geht es hier über die Bestrebung zur absoluten Poesie, denn das „Urbild“, an das sich Sperber annähern versucht, ist nichts anderes als das poetisch Absolute.17 Gedichte dieser Periode thematisieren Natur-, Heimat-, Kindheits- und Liebesbilder, Symbole prähistorischer Archaik und Mythologie. Bereits der Titel des Gedichtbandes „Gleichnisse der Landschaft“ enthält ein gewisses poetologisches Programm. Es besteht in der symbolischen Recodierung der Realien der umgebenden Welt, besonders der ihm so lieben und von Kindheit an vertrauten Bukowiner Landschaften, ihrer Überführung in metaphorisch-parabolisches Register, wo jedes Bild und jede poetische Reflexion einen Schlüssel zu den anderen, ontologischen Dimensionen darstellen. Die Natur und der Mensch vereinigen sich hier zu einer untrennbaren Einheit. Hier dominiert ein zurückhaltender, gedämpfter Ton, in dem die Noten der Sehnsucht nach etwas unwiederbringlich Verlorenem klingen, wie z.B. im Gedichte „Elegie“:
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Alfred Kittner. Alfred Sperber – der Mensch und das Werk, S. 600. Alexandru Philippide. Die Dichtung Alfred Margul-Sperbers. In: Alfred Margul-Sperber. Geheimnis und Verzicht. Das lyrische Werk in Auswahl. Bukarest: Kriterion Verlag 1975, S. 5.
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„Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ O die trauernde Herde der welkenden Wälder! Hirte Berg, laß dein silbernes Mondhorn ertönen! Und die Flöte des Bächleins durchströmte die Landschaft Mit sibyllinischem Schluchzen. Doch um Mitternacht gellte entsetzlich das Heulen Des Wolfes der Welt, des Grauens. Liebe, wie schön war die Erde Als wir sie neulich erschufen im Sonnengesange des Frühlings, und wie trüb ist sie jetzt!18
In solchen Gedichten bewertet Margul-Sperber aufs Neue jene Prinzipien seiner Poetik, die mit der neuromantischen und symbolistischen Ästhetik verwandt ist. Die Grundpostulate dieser Poetik bestehen darin, dass die Gegenstände und Erscheinungen der objektiven Welt prinzipiell unerkennbar sind, man kann sich ihnen nur etwas annähern durch die Aufdeckung ihres inneren Wesens (Rilkes Ding-Gedichte). Daher besteht die Aufgabe des Dichters im Eindringen in die verborgene, geheimnisvolle Natur der Wirklichkeit, in ihre tiefere, nicht selten mystische Sphäre. Der Dichter realisiert diese Aufgaben mit Hilfe eines Systems poetischer Chiffren, unter denen solche Symbole hervorzuheben sind wie Baum, Brunnen, Wolke, Mond, Spiegel, Zeit, Traum. Sie entfalten sich in seinen Gedichten in vergeistigten Allegorien, werden transformiert und bekommen fast übernatürliche Eigenschaften, die imstande sind, uns die unfassbaren existenziellen Rätsel aufzudecken, wie z.B. im mit klassischen Terzinen geschriebenen Gedicht „Die Brücke“ aus dem Gedichtband „Geheimnis und Verzicht“: Mit zweien Händen faßt der Baum das Sein: Die eine, groß geöffnet, greift das Licht, die andre gräbt sich tief ins Dunkel ein. Der Leib dazwischen hält das Gleichgewicht, ist: Ruhn im Raum und Wiegen durch die Zeit, und folgt des Wachstums strenger Lust und Pflicht. Und wie er willig sich den Winden leiht, so stemmt er in die Erde sich mit Macht, zum Bleiben und zur Wanderschaft bereit. 18
Alfred Margul-Sperber. Gleichnisse der Landschaft, S. 24.
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O Baum, du Brücke zwischen Licht und Nacht, so rauschend in den blauen Raum gehängt, geheimnisvoll zum Gleichnis mir erdacht: Was wär’ ich, wär’ ich nicht von Lust getränkt, und wie ertrüg’ ich Lust, verschlöss’ sich mir das tiefe Wunder, das die Trauer schenkt? Mir: armer Brücke zwischen Gott und Tier!19
Das Baumsymbol, das eines der wichtigsten Leitmotive in Sperbers Werk ist („Die Birne“, „Der Baum, der hier in meiner Herdstatt loht …“, „Die Linde“, „Der krumme Baum“, „Der letzte Baum“, „Mein Baum“, „An meinen Baum“ u.a.), hat in seiner Dichtung einen recht breiten Assoziationskreis. Ein Baum (oder ein Wald, ein Garten) ruft in seiner Dichtung philosophische Überlegungen über Probleme des Seins hervor, er ist ein magisches Medium der Kindheit, Verkörperung der Heimat, des organischen Lebens in enger Beziehung mit der Natur, Allegorie der Verborgenheit usw.20 Das ist zweifellos mit der Bukowiner Herkunft des Dichters verbunden, der unter den Buchenwäldern aufgewachsen war und in seinem Herzen für immer die Liebe zu diesem malerischen Land bewahrt hatte. Die Natur – betont in dieser Hinsicht der deutsche Literaturwissenschaftler Peter Motzan – ist in Sperbers Gedichten einerseits Rahmen einer suggestiven Erlebnispoesie, andererseits mit sinnbildlicher Bedeutung durchtränkt, sie ist ein magischer Raum glückhaft-erfüllter Liebesbegegnungen, doch wird auch zum Gleichnis existenzieller Notsituationen geformt. Sie tritt als poetisch-stimmiger Wirklichkeitsausschnitt oder als Einzelgegenstand – Rose, Linde, Brunnen, Quelle – ins Gedicht. Der Baum – Dingsymbol der Dauer, des Gleichgewichts, der geglückten Lebensbewältigung – „wächst“ sozusagen durch Sperbers lyrisches Gesamtwerk.21 19 20 21
Alfred Margul-Sperber. Geheimnis und Verzicht. Gedichte. Cernăuţi: Literaria 1939, S. 37. Siehe Elisabeth Axmann. Fünf Dichter aus der Bukowina. Aachen: Rimbaud Verlag 2007, S. 19-20. Peter Motzan. Alfred Margul-Sperber (1898-1967). Eine Portraitskizze. In: Stundenwechsel. Neue Perspektiven zu Alfred Margul-Sperber, Rose Ausländer, Paul Celan, Immanuel Weißglas. Herausgegeben von Andrei
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Trotz ungünstiger politischer Umstände publizierte Sperber aktiv auch in verschiedenen deutschen Medien außerhalb der Bukowina, nicht selten unter Pseudonymen und Kryptonymen, was manchmal zu kuriosen Fällen führte, wenn z.B. das nazistische Literaturblatt „Das deutsche Wort“ ihn in seiner Rezension des Gedichtbandes „Geheimnis und Verzicht“ als einen „urdeutschen Volksbruder aus Rumänien“ lobte, dessen lyrische Stücke „einem Menschen zum Schicksal, vielleicht sogar zum Verhängnis werden können“22. Sein Gedicht „Der Fackelläufer“, das die von den Nazis organisierte Brandstiftung des Reichstags zu seinem Thema hatte, oder „Ein Neger erringt den Olympiarekord für die USA“, das dem Triumph des schwarzen amerikanischen Sprinters Jessy Owens bei den Olympischen Sommerspielen 1936 in Berlin gewidmet war, machten damals einen Rundgang durch fast alle Emigrantenzeitungen, indem sie die Eroberungspläne Hitlers und seine Rassengesetze gebrandmarkt hatten. Das letzte dieser Gedichte, das von einer Zeitungsmitteilung über das Erringen einer olympischen Goldmedaille im 100-Meter-Lauf durch Jessy Owens inspiriert wurde, ist ein bedeutendes antirassistisches Werk, das sowohl gegen die Rassensegregation amerikanischer Schwarzen als auch gegen den Rassenwahn der Hitlerclique gerichtet war. Sein Finale, das die furchtbare Vision eines Lynch-Gerichts über den schwarzen Vorfahren des lyrischen Helden darstellt, erinnert an die Finalszenen von Novellen amerikanischer Romantiker wie E. A. Poe, W. Irving oder A. Bierce: Der schwarze Panther stand im Riesenkreis Der Hunderttausend, deren Atem stockte; Er sah: ein Meer, und dieses Meer war weiß Und fern das Ziel, das wie der Urwald lockte. Und als der Startschuß fiel und er entsprang, Leicht wie ein Tänzer durch den Sturm der Fahnen, Da barst es als ein Rausch in ihm, da sang Sein Blut den fernen Todesschrei der Ahnen:
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Corbea-Hoisie, George Guţu, A. Martin A. Hainz. Bucureşti: Editura Paideia; Jaşi: Editura Universităţi „Al. I. Cuza“; Konstanz: Hartung-Gorre Verlag 2002, S. 30. Zit. nach Alfred Kittner. Alfred Sperber – der Mensch und das Werk, S. 607.
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Der Bluthund heult, sie sind dir auf der Spur, Sie hetzen fluchend hinter dir in Haufen! Vorwärts! Dein Leben gilt’s! Jetzt hilft dir nur, Entlaufner schwarzer Mann, dein schnelles Laufen! Und da ins Ziel er einbrach aus dem Raum Und fühlte sich im Sturm emporgetragen Von tosendem Geschrei –: sah er den Baum, Dran einst sein Vater hing, gespenstisch ragen.23
Als die jüdische Abstammung des Autors bekannt wurde, veranstaltete die Presse des Dritten Reichs aus diesem Anlass einen richtigen Hexensabbat. Zwar schreibe dieser osteuropäische Jude namens Sperber wohl passable Gedichte – übereiferte sich das Mitglied der Reichsschrifttumskammer und langjähriger Herausgeber der Zeitschrift „Neue Literatur“ Will Vesper –, doch dürfe nicht übersehen werden, dass er dabei „versteckt im deutschen Wald die deutsche Nachtigall täuschend“ nachahme.24 Das Ende der 1930er bis Anfang der 1940er Jahre war für Sperber mit spürbaren persönlichen Verlusten verbunden. Im Sommer 1940 wurde die Nordbukowina ultimativ an die UdSSR angegliedert. Nach den am 8. August 1940 von der profaschistischen Regierung des Generals Antonescu verabschiedeten antisemitischen Gesetzen musste er auf seine Stelle des Fremdsprachenkorrespondenten in Burdujeni verzichten und mit seiner Frau nach Bukarest ziehen. Nach der deutschen Okkupation der Bukowina wurde sein Schwiegervater erschossen, und in einem der „Arbeitslager“ sein Schwager mit dessen Frau ermordet. Der Dichter selbst wurde mehrmals zu Zwangsarbeiten herangezogen, ihm drohte die Deportation nach Transnistrien. Nur dank dem Beistand der Bukarester Schriftstellerkollegen, vor allem Ion Pillat und Oskar Walter Cisek, gelang es ihm die schreckliche Zeit zu überleben, indem er sich mit Privatstunden der Fremdsprachen über Wasser hielt. 23 24
Alfred Margul-Sperber. Geheimnis und Verzicht, S. 86. Siehe Hans Bergel. Erinnerungen an Alfred Margul-Sperber. Aus den Bukarester Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Die Bukowina. Studien zu einer versunkenen Literaturlandschaft. Herausgegeben von Dietmar Goltschnigg und Anton Schwob unter Mitarbeit von Gerhard Fuchs. Tübingen: Franke Verlag 1990, S. 190.
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Nach der Befreiung Rumäniens von der faschistischen Diktatur gerieten mehrere Czernowitzer deutschjüdische Dichter nach Bukarest, denen es gelungen war, den Holocaust zu überleben – Moses Rosenkranz, Alfred Kittner, Immanuel Weißglas, Paul Celan, Alfred Gong u.a. In ihrer Schutzlosigkeit und Obdachlosigkeit fühlten sie sich zu Sperber hingezogen, der sich in der rumänischen Metropole seit Jahren eingelebt hatte. Seine Freundlichkeit und Güte, die Fähigkeit, sogar in extremen Situationen den Menschen Hoffnung einzuflößen, sicherten ihm Autorität und Achtung nicht nur im Kreise der Bukowiner Autoren, sondern in der ganzen intellektuellen Elite von Bukarest. Dieser Dichter, der, nach Moses Rosenkranz, „die innigsten und leisesten Gedichte schrieb, die nach Rilke auf Deutsch und nach Heine aus einer jüdischen Seele vernommen wurden“25, musste einen besonderen Eindruck auf den jungen Paul Antschel, den zukünftigen weltberühmten Dichter Paul Celan, gemacht haben, den Sperber väterlich unterstützte und dem er auch den Weg zur Anerkennung ebnete. Als Celan im Frühjahr 1945 das wieder sowjetisch gewordene Czernowitz verlassen hatte, war seine erste Adresse in Bukarest die Wohnung von Margul-Sperber. „Sperber stellte in jenen Jahren in der rumänischen Hauptstadt eine zentrale Instanz für alles dar, was sich literarisch der deutschen Sprache bediente“26 – erinnert sich Hans Bergel. Die ersten Nachkriegsjahre Margul-Sperbers in Bukarest waren nicht leicht. Tief traumatisiert von den durchgemachten Leiden und der ständigen Angst, verhaftet und deportiert zu werden, kehrte der Dichter nur langsam zu seinem üblichen Lebensstil zurück. Um diese Zeit wirkte er als Übersetzer in den englischsprachigen rumänischen Ausgaben von „International News“ und „Rumanian Review“, als Sprecher im Programm des rumänischen Rundfunks für das Ausland und schrieb Artikel für die neu gegründete deutschsprachige Zeitung „Neuer Weg“. Im Jahre 1947 brachte der rumänische Schriftsteller Ion Caraion das erste und einzige Heft der internationalen literarischen Zeitschrift „Agora“ heraus, in dem Texte in mehreren Sprachen publiziert wurden (in diesem Heft trat zum ersten Mal auch der junge Paul 25 26
Zit. nach Alfred Kittner. Alfred Sperber – der Mensch und das Werk, S. 596. Hans Bergel. Erinnerungen an Alfred Margul-Sperber, S. 188.
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Celan mit seinen Gedichten auf). Unter dem Titel „Ars poetica“ veröffentlichte hier Sperber seine Überlegungen über das Wesen der Dichtung, eine Art poetologisches Credo, das er viele Jahre in sich trug und das ganz weit von den durch die offiziellen Herolden des kommunistischen Regimes deklarierten Postulaten des sozialistischen Realismus entfernt war: Das Gedicht ist die Kunst, das Unsägliche zu sagen. Es ist ein Schweigen, in dem das Stumme gerade noch hörbar zu werden scheint: denn das dünkt mir das wahre Wesen großer Dichtung zu sein; dass der Empfänger der dichterischen Mitteilung in ihr zu hören glaubt, was der Dichter eigentlich verschweigt, verschweigen muss. Der Dichter scheint in fremden Bildern, Schicksalen und Begebenheiten von seinem Leben auszusagen, aber das allein wäre ebenso gut Prosa. Das Gedicht ist ein langsamer, lautloser Tanz des Heimwehs mit geschlossenem Augen und tiefem, sehnsüchtigem Atemholen durch die gläserne Helle der Einsamkeit, die dem Dichter Welt, Leben und Schicksal ist. Der zuckende Glanz des Jenseits liegt – wie ein Reif auf Pfade des Dichters; und er durchschreitet ihn, ohne eine Spur zu hinterlassen. Das Gedicht ist die Erinnerung an ein nie Gewesenes, die Hoffnung auf die Verwirklichung des Unerfüllbaren, das Lächeln eines Kindes über die Verworrenheit des Lebens, den Schauer der Vergänglichkeit und das Rätsel des Todes. Es ist die Gestaltung des Geheimnisses durch das Wort, das aus dem Brunnen der Stille tönt, der Duft einer unsichtbaren Blume, die Stimme des Traums, die erlösende Hingabe einer Wolke an die Sehnsucht des Ungestillten, die kühle Zärtlichkeit einer Schneeflocke, die im Kusse vergeht. Die Sprache des ersten Menschen tönt im Gedicht, der zum ersten Mal die Dinge benannte, und das große kindliche Erstaunen seiner Augen leuchtet darin auf, die diese Dinge zum ersten Mal sahen. Darum erkennen die Liebenden sich immer im Gedicht, denn die Liebenden fühlen mit dem Herzen des ersten Menschen. Und die Kinder, die noch nicht die Sprache der Menschen gelernt haben, sprechen die Sprache der Dichter. Ein Gedicht darf von der Wirklichkeit nicht mehr behalten, als eine Wolke von der Pfütze behält, aus der sie verdunstet ist. Eigentlich: nicht mehr, als der Schatten noch davon behält, den diese Wolke auf eine Sommerlandschaft wirft.27
Im Grunde umreißt hier der Autor ein poetologisches Programm der Flucht von der platten Wirklichkeit, von der „realistischen“ Darstellung in die Sphäre des Wackeligen, Schwerfassbaren, Magischen. Er plädiert für jene imaginäre Realität, in der die Symbolisten ihr Ideal sahen, zu der Stefan George in
27
Alfred Sperber. Ars poetica. In: Agora. Colecţie internaţională de artă şi literatură. Ingrijită de Ion Caraion şi Virgil Ierunca. Bucureşti: Sisiph, 1947, S. 221-222.
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seinen poetischen Visionen neigte. Dazu bemerkt der deutsche Literaturwissenschaftler Klaus Werner: Die auf dieser Poetologie fußende Dichtung strebte die Verwandlung des elementaren Sichtbaren in existentiell Sinnhaftes an, ja tendierte prinzipiell zu Symbol und Gleichnis. Landschaft, nicht Gesellschaft, schien ihr des Aufsehens wert, weil sich dort das Schöne, Rätselhafte, Dauernde versammele …28
Während Sperber diese poetologischen Prinzipien noch in seinen Gedichtbänden „Gleichnisse der Landschaft“ und „Geheimnis und Verzicht“ ausgearbeitet hatte (das Paradigma des Verzichts von der aufdringlichen Wirklichkeit zugunsten des ewigen Geheimnisses der Natur), dachte er, dass er sie auch im kommunistischen Rumänien weiter praktizieren kann. Er konnte aber nicht voraussehen, welch katastrophale Folgen der freiwillige Verzicht von dieser ästhetischen Position zugunsten der von dem kommunistischen Totalitarismus deklarierten Doktrin des „sozialistischen Realismus“, dessen Richtlinien er annehmen musste, für sein Werk haben würde. Großes Vertrauen des neuen Regimes genoss Sperber nie, da er seinerzeit im Westen lebte, als Kosmopolit galt, Verwandte im Ausland hatte. Aber eine offene Konfrontation mit der kommunistischen Macht wollte er ebenfalls nicht, umso mehr als er schon immer links war und in dieser Hinsicht sich selbst treu geblieben war. Deswegen versucht er unter den neuen Umständen sich einen gewissen Freiraum zu bewahren. Und als es ihm im Jahre 1952 gelingt, ein freier Schriftsteller zu werden, hofft er darauf, seine schöpferische Souveränität beizubehalten. Doch all diese Hoffnungen erwiesen sich als Illusion – der ideologisch-propagandistische Druck des kommunistischen Regimes war so stark, dass es die Standhaftesten leicht zermalmte. Von Sperber werden immer neuere Versicherungen seiner politischen Loyalität verlangt, daher ist er gezwungen, optimistische Oden und gereimte Dithyramben auf kommunistische Führer, die Rolle der Sowjetunion und Erfolge des sozialistischen Aufbaus in den Ländern der „Volksdemokratie“ 28
Klaus Werner. Zum „Wunder“ von Zwischenkriegslyrik. In: Stundenwechsel, S. 48.
Alfred
Margul-Sperbers
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usw. zu schreiben. Diese Thematik bestimmt zweifellos das Profil seiner Gedichtbände der 1950er Jahre wie „Zeuge der Zeit“ (1951), „Ausblick und Rückschau“ (1955), „Mit geöffneten Augen“ (1956), „Unsterblicher August“ (1959) sowie „Taten und Träume“ (1959)29. Und obwohl diese Gedichtbände in staatlichen Verlagen und mit größeren Auflagen erschienen, konnten sie seine schöpferischen Ambitionen kaum befriedigen. Wahrscheinlich verstand er auch selbst den echten Preis solcher literarischen Produkte, denn noch vor kurzem notierte er nicht ohne beißende Ironie in seiner „Ars poetica“ (1945): Kommandierte Poesie – mein Gott, man könnte ja schließlich auch einer Blume vorschreiben, wie sie blühen, einem Vogel, wie er singen, und einem Schmetterling, welchen Farbenstaub er auf den Schwingen tragen soll. Warum soll man da einem Menschen nicht auch vorschreiben dürfen, was und wie er träumen soll?30
Selbstverständlich dürfen diese Gedichte aus seinem Werk nicht einfach entfernt werden. Sie müssen aber als Tribut an die Zeit, als ein erzwungenes Nachgeben jenen historischen Umständen betrachtet werden, die ihn immer wieder zu unterwerfen und zu instrumentalisieren versuchten. In einem gewissen Sinne war es ein verstecktes Spiel – in Gedichtbänden aus dieser Zeit stehen ideologisch-propagandistische Strophen neben den Gedichten, die noch vor 1945 entstanden sind und zu den normativen Kanonen des „sozialistischen Realismus“ gar nicht passen. Auf diese Weise rettete der Dichter sie vor dem Vergessen, vielleicht im guten Glauben, dass eine Zeit kommt, da die Nachkommen sie sieben und Spreu vom Weizen trennen werden. Anfang der 1960er Jahre, in der kurzen Periode des ideologischen Tauwetters, versuchte Sperber, sich von seinem erzwungenen politischen Engagement zu distanzieren und zu den Richtlinien seines Vorkriegsschaffens zurückzukehren. Er erweitert thematische Horizonte seiner Gedichtbände „Sternstunden der Liebe“ (1963) und „Aus der Vorgeschichte“ (1964) durch manche Texte des intimen und abstrakt-humanistischen Charakters. Dabei tritt 29 30
Siehe Markus Bauer. Verzicht und Geheimnis? Alfred Margul-Sperbers sozialistische Lyrik. In: Stundenwechsel, op. cit., S. 68-78. Alfred Margul-Sperber. Ars poetica, op. cit., S. 224.
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er wieder als feiner und eindringlicher Lyriker, Autor mythologischer Exkurse, satirisch-didaktischer Balladen und „moralischer Moritaten“ auf, die im Fahrwasser solcher Vertreter der „neuen Sachlichkeit“ wie Erich Kästner oder Bertolt Brecht geschrieben sind. Das wahre Maßstab seiner dichterischen Individualität zeigte sich nur in dem umfangreichen, von seinem Dichterfreund Alfred Kittner postum herausgegebenen, fast 400 Seiten zählenden Band unter dem Titel „Das verzauberte Wort“31, in dem das beste von Sperber im Laufe seines dichterischen Weges Geschaffene gesammelt wurde. In diese Ausgabe gelangte kein einziges der auf Bestellung oder nach dem parteiideologischen Reglement geschriebenen Gedichte. Deswegen sind die Vorwürfe mancher Kritiker des Dichters, die ihn für einen bewussten und überzeugten Sänger des kommunistischen Regimes halten, nicht ganz gerecht. Während einer Diskussion über die rumäniendeutsche Literatur führte Alfred Kittner einige konkrete Fakten auf, die das Leben von Margul-Sperber im kommunistischen Rumänien äußerst erschwerten: Ihm drohte Arrest, er war Objekt eines unglaublichen, furchtbaren Verdachts. Noch vor der kommunistischen Machtergreifung veröffentlichte er in der Czernowitzer Zeitung „Morgenblatt“ eine humoristische Glosse gegen die Sowjetunion. Das hatte man ihm nicht verziehen. Er wurde sofort von allen Posten entlassen – und er war Redakteur der Zeitung „Neuer Weg“, Übersetzer des Verbandes der Gewerkschaften, Übersetzer im Rundfunk – und später stellte man ihm gewisse Forderungen, denen er sich unterwerfen musste. Es war, sozusagen, ein Kapitel aus jenem großen Buch, das Diktatur heißt.32
Aber sogar unter diesen ungünstigen Umständen gelang es dem Dichter ein facettenreiches und überzeugendes Werk zu schaffen. Viele schöpferische Kräfte und Inspiration widmete er der Sphäre der literarischen Übersetzung, in der er ein unübertroffener Meister war. Er brachte in seinen Interpretationen einige Bände rumänischer Volkspoesie heraus (wofür er 1954 den rumänischen 31 32
Alfred Margul-Sperber. Das verzauberte Wort. Der poetische Nachlaß 19141965, von Alfred Kittner besorgt. Bukarest: Jugendverlag 1969. Diskussionsbeitrag Alfred Kittner. In: Nachruf auf die rumäniendeutsche Literatur. Herausgegeben von Wilhelm Solms. Marburg: Hitzenroth 1990, S. 117.
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Staatspreis erhielt), übersetzte ins Deutsche Werke zeitgenössischer rumänischer Autoren wie Tudor Arghezi, Maria Banuş, Mihai Beniuc, Wladimir Colin u.a. 1968 erschien eine umfangreiche Anthologie poetischer Nachdichtungen Sperbers unter dem Titel „Weltstimmen“, in die seine Interpretationen der Gedichte von französischen (Victor Hugo, Gerard de Nerval, Charles Baudelaire, Paul Verlaine, Stefan Mallarme, Paul Valery, Jules Romains), englischen (John Donne, William Butler Yeats, Tomas Sterns Eliot, Dylan Thomas), amerikanischen (Walt Whitman, Emily Dickinson, Robert Frost, Carl Sandburg, Wallace Stevens, Edward Estlin Cummings), ungarischer (Attila József), russischen (Sergej Jessenin), jiddischen (Itzig Manger), chinesischen u.a. Dichtern aufgenommen wurden33. Er gab mit seinen Vorworten Werke von H. Heine, Th. Mann, M. Eminescu sowie die Anthologien für Kinder „Mein schönstes Buch“ (1957) und „Mein Tierbuch“ (1958) heraus. Ihm gehören auch inhaltsreiche Essays und Artikel über Goethe, Schiller, Lenau, Gogol, Eminescu, Walt Whitman, Bernard Shaw, Henry Barbusse, Reiner Maria Rilke, Ion Luca Caragiale, Tudor Arghezi, Mihail Sadoveanu u.a. Viele Jahre stand der Name Alfred Margul-Sperbers im Schatten seiner berühmteren Bukowiner Dichterkollegen wie Paul Celan oder Rose Ausländer. Dem breiteren deutschen Lesepublikum war er längere Zeit kaum bekannt. Nur in der ehemaligen DDR, wo 1973 eine von Günther Deicke und Joachim Schreck herausgegebene kleine Gedichtauswahl des Dichters erschien34, war dieser Name einigermaßen ein Begriff. Erst dreißig Jahre später fand ein wesentlicher Durchbruch statt, nachdem der Aachener Rimbaud Verlag drei Lyrikbände seiner ausgewählten Gedichte herausgebracht hatte, vor allem den musterhaft zusammengestellten und mit einem kenntnisreichen wissenschaftlichen Apparat ausgestatteten Band „Ins Leere gesprochen“35. Das Buch erhielt seinen 33 34 35
Weltstimmen. Nachdichtungen von Alfred Margul-Sperber. Bukarest: Literaturverlag 1968. Alfred Margul-Sperber. Verzaubertes Wort. Auswahl: Günther Deicke und Joachim Schreck. Nachwort von Joachim Schreck. Berlin: Verlag der Nation 1973. Alfred Margul-Sperber. Ins Leere gesprochen. Ausgewählte Gedichte 1914-1966. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Peter Motzan.
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Titel nach einem gleichnamigen Gedicht, in dem es um ein ewiges Problem geht, das bereits den altrömischen Dichter Horaz in seiner berühmten Ode „An Melpomene“ („Exegi monumentum“) befasste – wie lange dauert das poetische Wort, ob es nicht spurlos in der Leere der Zeit verschwindet, ob es einen Widerhall bei den nächsten Generationen noch findet? Hoffen wir, dass die schönsten Gedichte Alfred Margul-Sperbers jene „Flaschenpost“ sein können, die, ins Ungewisse abgeschickt, einmal doch an Land, vielleicht, wie Paul Celan in seiner Bremer Rede sagt, „an Herzland“ gespült werden36.
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Aachen: Rimbaud, 2002; zwei weitere Gedichtbände: Alfred MargulSperber. Sinnloser Sang. Frühe Gedichte 1914-1928. Mit einem Nachwort von Erich Rückleben. Aachen: Rimbaud, 2002; Alfred Margul-Sperber. Jahreszeiten. Ausgewählte Gedichte. Herausgegeben von Bernhard Albers. Aachen: Rimbaud, 2002. Paul Celan. Der Meridian und andere Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1990, S. 39.
„Die schwarze Sappho unserer östlichen Landschaft“ Rose Ausländer Was bewegt einen Menschen zum Schreiben? Welche Triebkräfte veranlassen ihn, zur Feder zu greifen? In ihrem autobiographischen Essay „Alles kann Motiv sein“ (1971) versucht R. Ausländer diese Frage zu beantworten: Warum schreibe ich? Vielleicht weil ich in Czernowitz zur Welt kam, weil die Welt in Czernowitz zu mir kam. Jene besondere Landschaft. Märchen und Mythen lagen in der Luft, man atmete sie ein. Das viersprachige Czernowitz war eine musische Stadt, die viele Künstler, Dichter, Kunst-, Literatur- und Philosophieliebhaber beherbergte. Sie war die Wahlstadt des großartigen jiddischen Fabeldichters Elieser Steinbarg. Sie hat den bedeutendsten jiddischen Lyriker Itzig Manger und zwei Generationen deutschsprachiger Dichter hervorgebracht. Der jüngste und wichtigste war Paul Celan, der älteste Alfred Margul-Sperber.1
Zu der älteren Generation der deutschsprachigen Dichter, die in der multinationalen und multikulturellen Atmosphäre der Stadt Czernowitz aufgewachsen sind, gehörte auch Rose Ausländer. Wenn man ihre Gedichte zum ersten Mal liest, entsteht der Eindruck, dass diese Frau aus einem fernen Märchenland zu uns gekommen und aus lauter poetischer Materie gewoben ist. Es scheint, als ob in ihren Gedichten die üblichen irdischen Gesetze abgeschafft sind, hier finden unglaubliche Metamorphosen statt. Das lyrische Ich, das in den meisten Fällen mit der Autorin identisch ist, kann eine biblische Gestalt (Eva), eine Biene oder eine Koralle sein, es kann „im Atemhaus wohnen“, „mit den Delphinen tanzen“ oder „einen Drachen reiten“. Zweifellos steht hinter diesen wundervollen Verwandlungen eine bestimmte Tradition, die einen Bezug zur Herkunft der Dichterin aus einem Land hat, wo Märchen und Mythen „in der Luft schwebten“, man „atmete sie ein“. Dieses
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Rose Ausländer. Die Nacht hat zahllose Augen: Prosa. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1995, S. 92 [Rose Ausländer – Werke. Hrsg von Helmut Braun].
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Land hieß Bukowina und gehörte einst als das östlichste Kronland zur alten Donaumonarchie. Rose Ausländer (eigentlich Rosalie Beatriсе Ruth Scherzer), die heute zu den bekanntesten deutsch-jüdischen Dichterinnen des 20. Jahrhunderts zählt, stammte aus einer beinahe exemplarischen jüdischen Familie, in der sich ost- und westeuropäische Wurzeln verflochten. Ihr Vater Sigmund (Süssi) Scherzer (1871-1920), der in Sadagora, einem kleinen Städtchen in der Nähe von Czernowitz, das Licht der Welt erblickte, welches zugleich eines der wichtigsten chassidischen Zentren der Bukowina war, wurde am Hofe des Sadagorer „Wunderrabbi“ jüdisch-orthodox erzogen. Obwohl er sich später einem kaufmännischen Beruf als Prokurist in einer Import-Export-Firma widmen sollte und sogar als liberaler Freidenker galt, gab er doch sein traditionsverpflichtetes Judentum nie völlig auf. Die Mutter, Kathi Etie Rifke Binder (1873-1947), wurde in Czernowitz geboren, ihre Familie war aber aus Berlin in die Bukowina gekommen. Als die Tochter Rosalie Beatrice, die später auch noch den hebräischen Vornamen Ruth erhielt, am 11. Mai 1901 geboren wurde, betrachtete man sie als ein „Ersatzkind“. Denn vor einigen Monaten, im Februar 1901, wurde das Kindermädchen der Familie von einem durchgehenden Pferdegespann niedergerannt und zusammen mit dem 18 Monate alten Sohn des Ehepaars von dem schweren Fuhrwagen überrollt. Das Kindermädchen erlitt schwere körperliche Schäden, das Kind starb. Dies alles verursachte bei der Mutter eine schwere und dauernde Depression, und nur die Geburt des kleinen Töchterchens war imstande, sie wieder zum Leben zu erwecken. „Da habe ich/ meine Mutter geboren“2 – schrieb die Dichterin später in einem ihrer Gedichte. Die bunte, schillernde Welt des Chassidismus, die Martin Buber mit seinen „Chassidischen Büchern“ für die deutschsprachige Leserschaft entdeckte und deren künstlerische Darstellung die Bilder Marc Chagalls anbieten, gibt Rose Ausländer in ihrem Gedicht „Der Vater“ wieder:
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Rose Ausländer, Mutterlicht. In: Rose Ausländer. Gelassen atmet der Tag. Gedichte 1976. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1992, S. 144.
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Am Hof des Wunderrabbi von Sadagora lernte der Vater die schwierigen Geheimnisse Seine Ohrlocken läuteten Legenden in den Händen hielt er den hebräischen Wald Bäume aus heiligen Buchstaben streckten Wurzeln von Sadagora bis Czernowitz Der Jordan mündete damals in den Pruth – magische Melodien im Wasser Der Vater sang sie lernte und sang das Erbe der Ahnen verwuchs mit Wald und Gewässern Hinter den Weiden neben der Mühle stand die geträumte Leiter an den Himmel gelehnt Jakob nahm auf den Kampf mit den Engeln immer siegte sein Wille Von Sadagora nach Czernowitz und zurück zum Heiligen Hof gingen die Wunder nisteten sich ein im Gefühl Der Knabe erlernte den Himmel kannte die Ausmaße der Engel ihre Distanzen und Zahl war bewandert im Labyrinth der Kabbala. Einmal wollte der Siebzehnjährige die andere Seite sehn ging in die weltliche Stadt verliebte sich in sie blieb an ihr haften3
Die Kindheitserinnerungen verflechten sich hier mit alttestamentarischen Sagen und den mystischen Vorstellungen des Chassidismus. Biographisches verbindet sich mit dem Mythischen, und der durchschimmernde phantastische Hintergrund ruft eine märchenhafte Atmosphäre von Tausendundeiner Nacht ins Gedächtnis. In Czernowitz besuchte Rose Ausländer die sechsklassige Mädchenschule und das Mädchenlyzeum. Durch kriegsbedingte Vertreibung setzt sie ihre Mittelschulbildung in Budapest (1915) und Wien (1916) fort. Danach besucht sie die GerminalHandelsschule der Wiener Kaufmannschaft (dort erlernt sie die 3
Rose Ausländer. Wir pflanzen Zedern: Gedichte 1957-1963. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1993, S. 98.
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Gabelsberger Stenoschrift, die sie später in ihrem Beruf als Sekretärin und auch für die Erstfassungen ihrer Gedichte verwenden wird) und vermutlich für ein Semester die Universität Czernowitz, wo sie als freie Hörerin Literatur- und Philosophievorlesungen besucht. Die klassische Literatur war ihr von Kindheit an vertraut. Goethe, Schiller und Heine galten als „Dreigestirn“ der deutschen Dichtung, Heines „Rabbi von Bacharach“ las Sigmund Scherzer seiner Tochter öfters vor. Aber schon früh, im Alter von 15 bis 16 Jahren, geriet R. Ausländer unter den Einfluss der Philosophie, und eine Zeitlang bedeuteten ihr die Philosophen mehr als die Dichter. Zusammen mit anderen jungen Leuten, die sich außerhalb von Schule und Universität im sogenannten „Ethischen Seminar“ trafen, bekannte sie sich zu Platon, zu dem Berliner Philosophen Constantin Brunner und zu Spinoza. Insbesondere die Werke des Holländers Baruch (Benedikt) Spinoza, die sie in jungen Jahren studierte, beeindruckten sie nachhaltig. Noch in den späten Gedichten finden sich Spuren der Lektüre des Philosophen, der sich seinen Lebensunterhalt als Brillenschleifer verdient hatte: Mein Heiliger heißt Benedikt. Er hat das Weltall klargeschliffen. Unendlicher Kristall aus dessen Herz das Licht dringt4
Aus jener Zeit stammen auch etliche Essays über Spinoza, Brunner und Sigmund Freud – sie alle sind in den Wirren des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegszeit verloren gegangen, abgesehen von „Phaidros“, wo sie sich mit der Philosophie Platons auseinandersetzt. Erst Mitte bis Ende der 1920er Jahre entdeckt sie für sich Friedrich Hölderlin, Franz Kafka, Georg Trakl, Rainer Maria Rilke, Else Lasker-Schüler und Gottfried Benn.
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Rose Ausländer. Spinoza II. In: Rose Ausländer. Treffpunkt der Winde: Gedichte 1979. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1991, S. 109.
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Im April 1921 verlässt die junge Rosalie Scherzer Czernowitz und wandert in Begleitung ihres Studienfreundes Ignaz Ausländer in die USA aus. Die Mutter hat sie dazu wegen bitterster Not der Familie bewogen. Nach dem Tod des Vaters 1920 konnte die Mutter die Familie nicht mehr erhalten, und so musste die Tochter schon sehr früh „abgenabelt“ werden. Das war für sie äußerst traumatisch – sie sehnte sich nach Mutterbindung. In vielen Gedichten verrät sie ihre Liebe zur Mutter, enthüllt jene unsichtbaren Fäden, die beide verbinden, z.B. in „Immer die Mutter“: Mein Stern hängt an ihrer Nabelschnur Ich trinke ihre Milch Bald werde ich geboren Hinter meinem Tod wächst sie mir zu5
Rosalie Scherzer und Ignaz Ausländer hielten sich zunächst in dem kleinen Ort Winona in Minnesota und in Minneapolis/St. Paul auf. Hier fand Rosalie eine Stelle als Hilfsredakteurin bei der deutschsprachigen Wochenzeitung „Westlicher Herold“. Nach kurzer Zeit wird ihr auch die Betreuung der Anthologie „America-Herold Kalender“ anvertraut, wo sie ihre ersten Gedichte veröffentlicht. Diese Arbeit leistet sie neben ihrer Tätigkeit als Sekretärin in einer Bank. Im Sommer 1923 übersiedelten beide nach New York, wo sie heirateten. Doch bald geriet die Ehe in eine tiefe Krise – beide waren wahrscheinlich zu verschieden, um lange Zeit zusammenleben zu können. Bei einem Besuch in Czernowitz im Jahre 1926 lernte Rosalie den 14 Jahre älteren Kulturjournalisten und Graphologen Helios Hecht kennen. Sie verliebte sich leidenschaftlich in ihn und trennte sich von Ignaz Ausländer, von dem sie sich einige Jahre später auch scheiden ließ. „Ich langweilte mich in der Ehe – erinnerte sie sich später. – Man kann nicht mit der Langeweile leben.“ Ende 5
Rose Ausländer. Sanduhrschritt: Gedichte 1977-1978. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1994, S. 62.
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1928 kehrte sie gemeinsam mit Helios Hecht in die USA zurück, um sich dort von Ignaz Ausländer scheiden zu lassen. Den Namen „Ausländer“ behielt sie aber, da sie unter ihm schon Gedichte veröffentlicht hatte. Als sie Anfang 1931 wegen des sich verschlechterten Gesundheitszustands ihrer Mutter, die eine dauernde Pflege benötigt, erneut nach Czernowitz zurückkehrt, wird sie von Helios Hecht begleitet, der für die nächsten Jahre ihr Lebensgefährte und die größte Liebe ihres Lebens wird. Er wird für viele Jahre zur Quelle ihrer dichterischen Inspiration, ihm widmet sie ihre schönsten Liebesgedichte, wie dieses Sonett, das durch seine biblischen Anspielungen ihr Liebesgefühl ins Kosmische und Ewige rückt: Wir reichen uns der Liebe rote Beeren, gereift am Glühen unsrer Leidenschaft. Ich will mit Inbrunst deinen Leib verzehren, und iß du mich mit aller Liebeskraft. Nun haben wir Ambrosisches genossen, und unsrer Seele quoll des Nektars Saft. Der träge Raum ist unter uns zerflossen und hält nicht länger uns in seiner Haft. Du bist mein angetrauter Sterngefährte. Wir nehmen alles, was uns einst gehörte: des Lebens Lust, der Lust Unsterblichkeit. Wir werden uns unendlich noch genießen auf Erden und in fernen Paradiesen, wie wir uns liebten vor Beginn der Zeit.6
Doch 1935 brach sie diese Beziehung plötzlich ab, da Helios Hecht, der inzwischen eine neue Zeitschrift in Bukarest gründete, darin ohne ihr Mitwissen ihre intimsten Gedichte veröffentlichte, die nur für ihn bestimmt waren. In ihren Augen war es ein unerhörter Vertrauensbruch, den sie ihm nicht verzeihen konnte. Sie hörte
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Rose Ausländer. Wir ziehen mit den dunklen Flüssen. Gedichte. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1993, S. 101.
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aber nie auf, ihn weiter zu lieben, und noch als 80-jährige Frau widmete sie ihm Liebesgedichte, als er schon viele Jahre tot war. *** Bereits mit 17 Jahren begann Rosalie Scherzer ein Tagebuch zu führen, wo sie ihre Einfälle, Gedanken, Verse notierte. Bald stand für sie fest, dass Lyrik ihr Lebenselement war – in Gedichtform konnte sie ihre Träume und Sehnsüchte am besten äußern. Die gelegentlichen Publikationen in verschiedenen deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften Europas und der Neuen Welt konnten sie aber nicht befriedigen. Alfred Margul-Sperber, der Entdecker und Förderer vieler Talente (u.a. auch Paul Celans), ermutigte sie zu ihrer ersten Buchpublikation. In der Zwischenkriegszeit war Margul-Sperber eine Art Integrationsfigur der deutschsprachigen Dichtung der Bukowina. Als Dichter, Übersetzer und Redakteur der Zeitung „Czernowitzer Morgenblatt“ korrespondierte er beinahe mit allen literarischen Berühmtheiten Europas. Er stand im regen Briefwechsel z.B. mit Karl Kraus, Thomas Mann und Hermann Hesse. Als Erster – noch vor Ernst Robert Curtius – hatte er etwa T. S. Eliots „The Waste Land“ ins Deutsche übertragen. Eliot nannte diese deutsche Fassung „admirable“. In seiner Zeitung stellte Margul-Sperber Feuilletons, Satiren, Kritiken und neue Dichter vor, darunter auch Rose Ausländer, von deren Gedichten er begeistert war. Er traf eine Auswahl und interessierte dafür auch einen Verleger. 1939 erschien Rose Ausländers erster Gedichtband unter dem Titel „Der Regenbogen“ im Verlag „Literaria“ in Czernowitz. Die frühe Lyrik R. Ausländers zeichnet sich durch hohe formale Qualitäten aus: erlesene Reime, strenge metrische Verse, kunstvolle strophische Architektonik, welche an eine gute „Vorschule der Ästhetik“ (Jean Paul) gemahnen. Der Band „Der Regenbogen“ wird von einem kurzen Gedicht unter dem Titel „Ins Leben“ eingeleitet: Nur aus der Trauer Mutterinnigkeit strömt mir das Vollmaß des Erlebens ein. Sie speist mich eine lange, trübe Zeit mit schwarzer Milch und schwerem Wermutwein.7 7
Rose Ausländer. Wir ziehen mit den dunklen Flüssen, S. 52.
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Zum ersten Mal taucht hier jenes merkwürdige Oxymoron „schwarze Milch“ auf, welches etwas später die Anfangszeilen der berühmten „Todesfuge“ Paul Celans bilden wird. Obwohl der thematische Fächer dieses Bandes recht breit ist, kristallisieren sich hier bereits einige großen Themen ihres späteren Werkes heraus. „Der Regenbogen“ – so Jürgen P. Wallmann – enthält schmerzlich-melancholische Erinnerungen an das verlorene Paradies der Kindheit, Bilder der Trauer und der Hoffnung, Dichterbildnisse und immer wieder Verse der Liebe: Leidenschaft und Glücksempfinden, Verzweiflung und Enthusiasmus, Beschwörung und Verzicht.8
Romantische und spätromantische Anklänge sind hier unübersehbar, wie z.B. im kurzen zweistrophigen Gedicht unter dem Titel „In den Traum“: Komm, laß uns lautlos in den Abend gehen und immer tiefer in den Wald der Nacht, wo Sterne hoch und weiß wie Lilien stehn und noch ein Märchenmund im Monde wacht. Hier sind wir nicht daheim. Es ist kein Raum so groß, dass unsre Sehnsucht ihn erfüllt. Wir steigen tausend Treppen in den Traum, wo Gott das Licht in tausend Farben hüllt.9
Man sieht, dass dieses Gedicht Rose Ausländers noch in den „Schnürleib der Tradition“ (Walter Hinck) eingezwängt ist. Abend und Nacht, Wald, Sterne und Mond, Sehnsucht und Traum bildeten schon immer eine beliebte Kulisse der romantischen Dichtung, aber auch die allgemeine Stimmung dieser Verse, ihre schimmernde märchenhafte Melancholie, der Versuch, aus dem Irdischen in die Sphäre des Transzendenten zu fliehen, machen dieses frühe Gedicht der jungen Dichterin mit dem romantischen Weltbild verwandt. Auch Rainer Maria Rilkes Töne erkennt man hier unschwer in der Art der Metaphorisierung, wenn man z.B. an seine Zeilen denkt:
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Jürgen P. Wallmann. Nachwort. In: Rose Ausländer. Wir ziehen mit den dunklen Flüssen, S. 179. Rose Ausländer. Wir ziehen mit den dunklen Flüssen, S. 53.
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Traumselige Vigilie! Jetzt wallt die Nacht durchs Land; der Mond, die weiße Lilie, blüht auf in ihrer Hand.10
So wächst diese Lyrik aus traditionellen Vorstellungen von Dichtung auf, die als eine „himmlische Gnade“ verstanden wird, als eine Substanz, deren Entstehung dem höheren Willen verpflichtet ist. Lied und Gedicht müssen Flügel sein, Vögel einer Sternensphäre – schrieb Rose Ausländer in einem Brief an ihren Czernowitzer Förderer Alfred Margul-Sperber am 16. März 1935. – Der Typus des ‚modernen‘ Dichters ist kein Lyriker, sondern so etwas wie ein sprachlicher Ingenieur, ein Maschinenmensch, dessen Worte Hammerschläge statt gelöster Klänge sind. Der wahre Lyriker muss heute ‚altmodisch‘ erscheinen.11
In einem anderen frühen Versuch mit dem Titel „Das vollendete Gedicht“, der in ihrem Nachlass gefunden wurde, entwickelt sie ihre Poetologie in völliger Übereinstimmung mit diesem ästhetischen Konzept: Wir brauchen das vollendete Gedicht, den keuschen Klang, das klare, reine Licht, um wieder Kind zu sein und still zu beten.12
Das Buch einer Jüdin wird jedoch in Nazideutschland nicht mehr zur Kenntnis genommen. Die deutschsprachige Presse der Bukowina, aber auch rumänische Presseorgane sowie Zeitungen in der Schweiz finden für den Gedichtband „Der Regenbogen“ viele Lobesworte. Schriftsteller wie Hans Carossa, Arnold Zweig, Hermann Hesse oder Thomas Mann ermutigen die junge Dichterin. Ein Erfolg beim breiteren Publikum bleibt der Autorin jedoch versagt. Rumänien und Deutschland verbünden sich, der nationalsozialistische Terror gegen die Juden in Rumänien beginnt. Die Auflage des Buches verschwindet fast vollständig in den Wirren des Krieges, man kann es 10 11 12
Rainer Maria Rilke. Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Band 1, Gedichte 1895 bis 1910. Herausgegeben von Manfred Engel und Ulrich Fülleborn, Frankfurt am Mein und Leipzig: Insel Verlag 1996, S. 45. Neue Literatur (Bukarest), 1988, H. 9, S. 53. Rose Ausländer. Denn wo ist Heimat: Gedichte 1927-1947. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1994, S. 38.
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heute sogar in den großen Bibliotheken nicht finden. Doch einige Exemplare haben sich in Privatsammlungen erhalten, auch die Dichterin selbst hatte immer ihren ersten Debütband auf ihren weiten Reisen mitgetragen, obwohl sie später auch behauptete, es habe kein einziges Exemplar überlebt. Dies war aber eher der Wunsch, sich von ihrer frühen dichterischen Etappe abzuschirmen. Nachdem Ende Juni 1940 im Zuge des sogenannten Hitler-Stalin-Paktes die Rote Armee in Czernowitz kampflos einmarschiert war und die Nordbukowina samt Bessarabien der Sowjetunion zugeschlagen worden war, erlebte Rose Ausländer eine der größten Erschütterungen ihres Lebens. „Bis die Bomben fielen“, also die Hölle begann, gab es eine Vorhölle. Davon zeugen die neu entdeckten Unterlagen, die sich im Archiv des Ukrainischen Sicherheitsdienstes in Czernowitz befinden. Es geht um eine bis heute in den Lebensbeschreibungen der Dichterin unbekannte Episode: Am 5. November 1940 wurde Rose Scherzer-Ausländer „wegen des Spionageverdachts zugunsten eines der ausländischen Staaten“ vom sowjetischen Geheimdienst NKWD verhaftet. Gegen sie wurde ein Untersuchungsverfahren begonnen, das etwa dreieinhalb Monate dauerte. Die Dichterin hielt man die gesamte Zeit über im Gefängnis des NKWD in Czernowitz inhaftiert, was für sie ein psychologisches Trauma auslösen sollte. Die Anklage erwies sich schließlich als unhaltbar, und die Dichterin wurde am 17. Februar 1941 entlassen, doch dieser Fall half ihr, das Wesen des neuen Regimes ohne jegliche romantischen Illusionen zu durchschauen13. Lebenslang verheimlichte Rose Ausländer diese Episode und verriet sie niemandem. Vielleicht verpflichtete sie sich dem sowjetischen Geheimdienst gegenüber, darüber zu schweigen. Nur ihren Gedichten vertraute sie diesen Alpdruck an, ohne ihn jedenfalls biographisch oder politisch weiter zu präzisieren. Und so lesen wir unter dem Titel „Im Kerker“ aus dem Band „Ein Stück weiter“ (1979) diese fast protokollarisch fixierten und mit gedämpfter Wut
13
Siehe Petro Rychlo. „Es ist so dunkel, wie dein Herz es will“ – Rose Ausländer und Paul Celan in Czernowitz. In: Michael Gans / Harald Vogel (Hrsg.). „Immer zurück zum Pruth“: Dokumentation des Czernowitzer Symposiums „100 Jahre Rose Ausländer“. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren 2002, S. 75-84.
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geladenen Zeilen, die den paranoischen Verdächtigungswahn der neuen „Befreier“ mit einfachsten Worten bloßlegen: Man brachte mich ins Verlies ich weiß nicht warum Was sind Sie ein Dichter ist nichts was sind Sie in Wahrheit In meiner Zelle erzählte ich der jungen Frau Märchen Gedichte sie lernte sie leicht Aus lehmigem Brot machten wir Schachfiguren spielten bis Auge im Guckloch erschien Spielen verboten Lesen und Schreiben verboten Zehn Minuten im Hof der Himmel eine blaue Legende Weiß winkte die Wolke deine Mutter wartet14
Nach dem „roten Schachspiel“, dem kurzen sowjetischen Besatzungsjahr, in dem viele Czernowitzer Juden als „Bourgeois“ angeprangert und nach Sibirien verschickt worden waren (am 13. Juni 1941, kurz vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, wurden aus Czernowitz ungefähr 4000 Personen deportiert), kamen Anfang Juli 1941 die deutschen SS-Truppen in die Bukowina. Die große Synagoge („Templ“) wurde in Brand gesetzt, etwa 300 führende Funktionäre der jüdischen Gemeinde wurden am Ufer des Pruth erschossen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Stadt entstand in Czernowitz ein jüdisches Ghetto. Die Wohnung in der Dreifaltigkeitsgasse, wo Rose Ausländer, ihre Mutter und Schwiegertochter Bertha mit ihrem kleinen Sohn lebten (Bruder Max wurde von den Sowjets zwangsrekrutiert), gehörte 14
Rose Ausländer. Treffpunkt der Winde, S. 22.
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zum Ghettoviertel. Von da an muss R. Ausländer den gelben Davidstern tragen, wird zu schweren Zwangsarbeiten herangezogen und von rumänischen Gendarmen brutal misshandelt. Die Familie lebte von heimlich geschmuggelten Nahrungsmitteln, die sie aus dem Erlös von Schmuck und anderen wertvollen Dingen finanzierte, oder war auf die Hilfe einiger in materieller Hinsicht besser versorgten Freunde angewiesen. Jeder Tag bedeutete einen harten Lebenskampf. Daran erinnert sie sich in ihrem Essay „Alles kann Motiv sein“: Getto, Elend, Horror, Todestransporte. In jenen Jahren trafen wir Freunde uns zuweilen heimlich, oft unter Lebensgefahr, um Gedichte zu lesen. Der unerträglichen Realität gegenüber gab es zwei Verhaltensweisen: entweder man gab sich der Verzweiflung preis, oder man übersiedelte in eine andere Wirklichkeit, die geistige. Wir zum Tode verurteilten Juden waren unsagbar trostbedürftig. Und während wir den Tod erwarteten, wohnten manche von uns in Traumworten – unser traumatisches Heim in der Heimatlosigkeit. Schreiben war Leben. Überleben.15
Es gibt in der Welt aber nichts, was einen Dichter mundtot machen würde. Auch unter diesen unerträglichen Umständen schrieb Rose Ausländer Gedichte, die sie erst Jahrzehnte später publizieren konnte, wie z.B. die folgenden freirhythmischen Zeilen aus dem Zyklus „Gettomotive“: Sie kamen mit giftblauem Feuer versengten unsere Kleider und Haut. Der Blitz ihres Lachens schlug an unsre Schläfe unsere Antwort war der Donner Jehovas. Wir stiegen in den Keller, er roch nach Gruft. Treue Ratten tanzten mit unseren Nerven. Sie kamen mit giftblauem Feuer unser Blut zu verbrennen. Wir waren die Scheiterhaufen unsrer Zeit.16
Obwohl Rose Ausländer und ihre Familie den entsetzlichen Zwängen unterworfen waren, muss es doch als großes Glück für sie bezeichnet werden, dass sie nicht sofort nach Transnistrien 15 16
Rose Ausländer. Die Nacht hat zahllose Augen. Prosa, S. 93. Rose Ausländer. Wir ziehen mit den dunklen Flüssen, S. 143.
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(so nannte man das unter deutscher Oberhand und rumänischer Verwaltung stehende Territorium zwischen Dnjester und dem südlichen Bug) transportiert wurden. Dort wurden in verlassenen Viehställen, Steinbrüchen oder überhaupt unter freiem Himmel die von rumänischer Soldateska bewachten „Arbeitslager“ für die Bukowiner Juden eingerichtet, wohin in den Jahren 1941 bis 1944 rund 45.000 Czernowitzer jüdische Bürger verschleppt worden waren, von denen nur wenige Hunger, Kälte und Flecktyphus überlebten. Auch Paul Celans Eltern kamen dort um. Ein Nachlassgedicht Rose Ausländers mit dem Titel „In memoriam Chane Rauchwerger“, als ein exakter, trockener Bericht verfasst, findet für die Tragik jener Zeit eine adäquate Form: Getto Hungermarsch Bei 30 Grad unter Null schlief meine fromme Tante (immer betete sie / glaubte inbrünstig an Gerechtigkeit) schlief meine sündlose Tante ihre Tochter ihr Enkel nach vielen Hungermarschtagen auf dem Eisfeld in Transnistrien unwiderruflich schliefen sie ein Der Glaube der Berge versetzt o weiser Wunderrabbi von Sadagora Chane Rauchwerger glaubte an dich wo warst du damals wo war dein Wunder17
Als im Frühjahr 1944 sowjetische Truppen die Bukowina befreiten und die Schrecken des Krieges für Czernowitzer Juden zu Ende waren, ist Rose Ausländer eine gewisse Zeit unentschlossen, wo sie endgültig bleiben soll. Sie arbeitet eine kurze Zeitlang in der Stadtbibliothek. Jener noch am Leben gebliebenen jüdischen Bevölkerung wird die Ausreise nach Rumänien und in andere Länder angeboten, da sie für das sowjetische Regime ein unerwünschtes Element ist. 17
Rose Ausländer. Schweigen auf deine Lippen. Späte Gedichte aus dem Nachlass. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1994, S. 120.
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Schließlich stellt auch R. Ausländer einen Ausreiseantrag. Anfang Juni 1946 verlässt sie mit der Eisenbahn die Stadt via Rumänien. Unmittelbar nach der Ankunft in Bukarest bekommt sie das Angebot ihrer amerikanischen Freunde, wieder in die USA zu kommen. Sie muss sich sofort entscheiden, da die Papiere nur für kurze Zeit gültig sind, und sie sagt zu – in der Hoffnung, dass sie später auch ihre Mutter mitnehmen kann. Vor ihrer Abreise veranstalten ihre Bukowiner Freunde, die sich inzwischen in der rumänischen Hauptstadt niedergelassen haben, im Bukarester Dalles-Saal einen poetischen Abschiedsabend, an dem Alfred Margul-Sperber einen Vortrag über ihr lyrisches Werk hält. Diesmal kommt sie nach New York und arbeitet dort als Fremdsprachenkorrespondentin bei einer New Yorker Speditionsfirma. *** Die während der deutsch-rumänischen Okkupation erlebten Erniedrigungen und Leiden, die die Dichterin erfuhr, indem sie sich im Czernowitzer Ghetto vor der Deportation nach Transnistrien verstecken musste, blieben für Rose Ausländer nicht ohne Folgen. Bereits nach dem Zweiten Weltkrieg, als sie wieder in den USA lebt, holt sie der aufgeschobene Schock einer Überlebenden der Katastrophe ein, dabei in einer durchaus unerwarteten Weise – ihr ganzes Wesen lehnt sich plötzlich gegen ihre deutsche Muttersprache, die „Sprache der Mörder“, auf. Von 1948 bis 1956 hat R. Ausländer ihre Gedichte ausschließlich in englischer Sprache verfasst: „Nach mehrjährigem Schweigen“ – erinnert sie sich – „überraschte ich mich eines Abends beim Schreiben englischer Lyrik.“18 Ihre englischen Dichtungen (es sind über 200 Texte) sind heutzutage in ihren Gesammelten Werken im Band „The Forbidden Tree. Englische Gedichte“19 veröffentlicht. Von Kennern wird ihnen ein hoher Rang zugebilligt. Die englischsprachige Dichtung R. Ausländers ist nicht nur als recht seltenes Phänomen des lyrischen Bilinguismus von Interesse, sondern auch als die „Vorschule der Ästhetik“ (Jean 18 19
Rose Ausländer. Die Nacht hat zahllose Augen. Prosa, S. 94. Rose Ausländer. The Forbidden Tree: Englische Gedichte. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1995.
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Paul) im Sinne ihrer dichterischen Umorientierung auf neue poetologische Prinzipien. In New York lernte Rose Ausländer modernistische Poetik zeitgenössischer amerikanischer Autoren wie Robert Frost, E. E., Cummings und Marianne Moore kennen, was sie dazu brachte, ihre Vorkriegsgedichte zu revidieren. In diesen Jahren findet sie Anschluss an das moderne Gedicht, das sich von ihren frühen Arbeiten grundsätzlich unterscheidet. Es sind keine gebundenen Strophen mehr, sondern freie Verse mit unregelmäßigem Rhythmus, assoziativen Zusammenhängen der Bilder und suggestiver Wirkung. Ihrem Themenkreis bleibt sie jedoch treu, doch erscheinen jetzt ihre Lieblingsworte wie Mond, Stern, Baum, Vogel, Traum, Erde, Atem u.a. in einer anderen Konstellation. Die amerikanische Lyrikerin Marianne Moore war es auch, die Rose Ausländer anregte, wieder in deutscher Sprache zu dichten. Denn man müsse Gedichte in der Muttersprache schreiben. „Mysteriös, wie sie erschienen war, verschwand die englische Muse. Kein äußerer Anlass bewirkte die Rückkehr zur Muttersprache. Geheimnis des Unterbewusstseins“, sagt Ausländer dazu20. 1957, während ihrer längeren Europareise, besuchte sie in Paris ihren Bukowiner Landsmann Paul Celan, den sie noch aus der Czernowitzer Ghetto-Zeit kannte: „Geschmückt/ mit dem gelben Stern/ lief ich zu Freunden/ um Celans Gedichte/ zu zeigen“ – erinnerte sie sich an jene dunkle Zeit im Gedicht „Eine Stunde Vergessen“21. Einige ausführliche Gespräche mit ihm, dem damals bereits anerkannten Dichter, bestätigten ihr die Richtigkeit ihrer thematischen und stilistischen Wandlung. Von nun an beginnt eine neue Phase ihres lyrischen Schaffens. Sie hat wieder die Muttersprache als eine unzerstörbare geistige Heimat für sich entdeckt: Mein Vaterland ist tot sie haben es begraben im Feuer Ich lebe in meinem Mutterland Wort.22
20 21 22
Rose Ausländer. Die Nacht hat zahllose Augen. Prosa, S. 94. Rose Ausländer. Treffpunkt der Winde, S. 59. Rose Ausländer. Sanduhrschritt, S. 94.
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1965 erscheint im Wiener „Bergland-Verlag“ – nach einer Pause von einem Vierteljahrhundert – ihr zweiter Gedichtband „Blinder Sommer“. „Nach allem, was sie hinter sich gebracht hat, ist es eine literarische Auferstehung“23 – meint Helmut Braun. Das Buch findet noch wenig Widerhall, hat aber für die Autorin eine wichtige „Werbefunktion“ bei den Medien und den Verlagen. Im gleichen Jahr verlässt sie die USA und übersiedelt zuerst nach Wien und später in die Bundesrepublik Deutschland, um sich von dem Element ihrer Muttersprache umgeben zu fühlen. Hier bekommt sie Entschädigungsrente als Verfolgte des Naziregimes und kann ihren langjährigen Traum vom Reisen verwirklichen. Sie besucht Frankreich, Italien, Holland, Israel und andere Länder. Eine Fülle von herrlichen Gedichten entsteht auf diesen Reisen. Doch immer noch lebt sie auf gepackten Koffern in einer Pension. Diesen Modus Vivendi hat sie sich in vielen Jahrzehnten des unruhigen Wanderlebens angeeignet („Fliegend / auf einer Luftschaukel / Europa Amerika Europa // ich wohne nicht / ich lebe“24 – schreibt sie in ihrem Gedicht „Biographische Notiz“. Bei einem Sturz zieht sie sich einen Oberschenkelbruch zu und ist viele Monate lang ans Bett gefesselt. Sie braucht dauernde Pflege und entscheidet sich für das Altersheim der jüdischen Gemeinde in Düsseldorf, das sogenannte Nelly-Sachs-Haus. Hier beginnt diese nicht mehr ganz junge Frau, die damals eigentlich noch keinen Namen in der Literatur hat, ein neues Leben, das sich durch intensivste schöpferische Arbeit kennzeichnet. Etwa zwei Dutzend neue Gedichtbände erscheinen während dieser Zeit: „36 Gerechte“ (1967), „Inventar“ (1972), „Ohne Visum“ (1974), „Andere Zeichen“ (1975), „Noch ist Raum“ (1976), „Doppelspiel“ (1977), „Aschensommer“ (1978), „Mutterland“ (1978), „Es bleibt noch viel zu sagen“ (1978), „Ein Stück weiter“ (1979), „Einverständnis“ (1980), „Mein Atem heißt jetzt“, „Im Atemhaus wohnen“, „Einen Drachen reiten“ (alle 1981), „Mein Venedig versinkt nicht“, „Südlich wartet ein wärmeres Land“ (beide 1982), „So sicher atmet nur Tod“ (1983), „Ich zähl die Sterne meiner Worte“ (1985), „Ich spiele noch“, „Der Traum 23 24
Helmut Braun. „Ich bin fünftausend Jahre jung“: Zur Biographie von Rose Ausländer. Stuttgart: Radius Verlag 1999, S. 110. Rose Ausländer. Gelassen atmet der Tag, S. 204.
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hat offene Augen“ (beide 1987) u.a. In manchen Jahren publiziert sie zwei bis drei Bände im Jahr. Die stärkste Resonanz hatte der 1976 von Helmut Braun in seinem „Literarischen Verlag“ Köln herausgebrachte umfangreiche Band „Gesammelte Gedichte“ mit Graphiken des bekannten deutschen Künstlers HAP Grieshaber. Dieser Band bedeutete für sie einen entscheidenden Durchbruch. Nach seinem Erscheinen geriet Rose Ausländer in den Fokus der Medien und der Literaturkritik, die sie bis dahin nur wenig beachtet hatten. Sie beeilt sich, arbeitet geradezu fieberhaft, um alle poetischen Bilder und Visionen, die sie bedrängen, noch dem Papier anvertrauen zu können. Dabei hält sie sich aber an das lateinische Prinzip „festina lente!“, indem sie zugleich an sich selbst höchste Ansprüche stellt. Mein Arbeitstempo – sagt sie – ist sehr schnell und sehr langsam: Die erste Fassung eines Textes – Lyrik oder Kurzprosa – erfolgt meistens in wenigen Minuten. Dann beginnt die tagelange, wochen- und manchmal jahrelange Arbeit, das Be- und Umarbeiten. Von manchen Gedichten mache ich zwanzig Fassungen, bis eine mich befriedigt – oder keine.25
Erst im hohen Alter, in ihrer letzten Lebensphase, erreicht Rose Ausländer ein breiteres Leserpublikum und die ihr gebührende Popularität. Tausende enthusiastische Leserbriefe stapeln sich in ihrem kleinen Zimmer im Nelly-Sachs-Haus. Zahlreiche Literaturpreise werden ihr zugesprochen: Silberner Heine-Taler des Hoffmann & Campe Verlages (1966), Droste-Preis der Stadt Meersburg (1967), Ida Dehmel-Preis der CEDOK und Andreas Gryphius-Preis (1977), Roswitha-Medaille der Stadt Bad Gandersheim (1988), Literaturpreis der Bayrischen Akademie der Schönen Künste (1984) und der Literaturpreis des Verbandes der Evangelischen Büchereien für „Mein Atem heißt jetzt“ (1986). Im Jahre 1984 wird sie mit dem Großen Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. Ab 1984 erscheinen im S. Fischer Verlag unter der editorischen Obhut Helmut Brauns ihre „Gesammelten Werke“ (insgesamt 7 Bände mit zwei zusätzlichen
25
Rose Ausländer. Die Nacht hat zahllose Augen, S. 104.
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Bänden aus dem Nachlass), eine 16-bändige Taschenbuchausgabe folgt darauf26. Nach dem Tod von Nelly Sachs und Marie Luise Kaschnitz – meint Jürgen P. Wallmann – galt sie als die bedeutendste deutschsprachige Lyrikerin der älteren Generation. Sie erwarb sich diesen Ruhm mit Versen, in denen Spätromantik und Moderne eine eigentümliche Verbindung eingegangen sind. In dieser Poesie, der Lautes und Schrilles ebenso fremd sind wie Larmoyanz, verbinden sich Sensibilität und Intellektualität, Phantasie und Ratio. Bei aller Tendenz zu Einfachheit, zu lapidarer Aussage, zu Reduktion, Verknappung und bisweilen epigrammatischer Kürze sind ihre Verse doch getragen von Musikalität. Unter der aufgerauhten Oberfläche freirhythmischer Gedichte mit scharfen Konturen wird bei genauem Hinhören melodiöse Liedhaftigkeit erkennbar.27
Franz Norbert Mennemeier bezeichnet Rose Ausländers Lyrik als eine Dichtung, die „ohne falsche Scham ‚schön‘ zu sein versucht“28. Die Dichterin hatte ein merkwürdig feines Gefühl für die Ästhetisierung ganz gewöhnlicher, zuweilen sogar banaler Dinge oder Vorgänge. In ihren Gedichten erscheint die Wirklichkeit auf eine wundersame Weise verwandelt, sie befindet sich nahezu in einem schwebenden Zustand. „Ich habe, was man Wirklichkeit nennt – sagt die Dichterin – auf meine Weise geträumt, das Geträumte in Worte verwandelt und meine geträumte Wortwirklichkeit in die Wirklichkeit der Welt hinausgeschickt. Und die Welt ist zu mir zurückgekommen.“29 Dabei ist ihre Aufnahme der realen Welt durch ihre jüdische Abstammung, ihre chassidischen Wurzeln sowie ihr unorthodoxes Verständnis der Natur und des Universums bedingt. 26
27 28 29
Rose Ausländer. Gesammelte Werke in sieben Bänden und einem Nachtragsband mit dem Gesamtregister. Herausgegeben von Helmut Braun. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag 1984-1990; Rose Ausländer. Deiner Stimme Schatten. Gedichte, kleine Prosa und Materialien aus dem Nachlaß. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag 2007; Rose Ausländer. Werke [in 16 Bänden]. Herausgegeben von Helmut Braun. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1991-1996. Jürgen P. Wallmann. Nachwort. In: Rose Ausländer: Wir ziehen mit den dunklen Flüssen, S. 175. Zit. nach Jürgen P. Wallmann. Nachwort. In: Rose Ausländer. Wir ziehen mit den dunklen Flüssen, S. 175. Lore Schaumann. Besuch bei Rose Ausländer. Materialien zu Leben und Werk. Hrsg. von Helmut Braun. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1991, S. 85.
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Alle Beziehungen, die Rose Ausländer zu ihrer jüdischen Herkunft entfaltet – bemerkt dazu Gerhart Baumann – wirken gleichermaßen dicht wie frei, undogmatisch, von einer Gläubigkeit, die zahlreiche Bekenntnisse umspannt: Religion im Ursprungsinn als Bindung verstanden, nie jedoch als Zwang. Sie schreibt keine ‚Hebräischen Balladen‘ wie Else Lasker-Schüler, in denen sich alttestamentarische Vorwürfe mit orientalischen vereinigen; biblische Gestalten dienen ihr nicht zu Masken für eine Selbstaussprache. Sie weiß sich auch nicht mit jener Strenge auf den Spuren der Propheten und Psalmisten wie Nelly Sachs; die Erlösung der Schöpfung bildet nicht ihren wegweisenden Vorwurf. Das Bekenntnis, welches Rose Ausländer zu ihrer jüdischen Herkunft, zu ihrem Wesen ablegt, wahrt jenen innigen Abstand, der eine ferne Nähe ermöglicht – eine Nähe, die an Marc Chagall gemahnt, mit dem sie zahlreiche Entsprechungen verbindet.30
Diese Entsprechungen sind aber nicht okkasionell, nicht oberflächlich, sie betreffen die Substanz, die Denkart der Dichterin. In ihren Gedichten schafft Rose Ausländer eine autonome literarische Parallele zu Chagalls Bildern, wie es natürlicher und adäquater kaum vorstellbar ist, wovon z.B. das Gedicht „Im Chagall-Dorf“ zeugt: Schiefe Giebel hängen am Horizont Der Brunnen schlummert beleuchtet von Katzenaugen Die Bäuerin melkt die Ziege im Traumstall Blau der Kirschbaum am Dach wo der bärtige Greis geigt Die Braut schaut ins Blumenaug schwebt auf dem Schleier über der Nachtsteppe Im Chagall-Dorf weidet die Kuh
30
Gerhart Baumann. Aufbruch in das „Land Anfang“. In: Rose Ausländer. Materialien zu Leben und Werk, S. 142.
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„Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ auf der Mondwiese goldne Wölfe beschützen die Lämmer31
Hinter ihren Texten steht die reiche Entwicklungsgeschichte der deutschen Dichtung romantisch-symbolistischer Prägung, die heutzutage schon etwas „archaisch“ und „altmodisch“ klingen mag. Was heute an der Romantik als nicht mehr zeitgemäß erscheinen mag, weil es allzu blumig oder allzu pathetisch wirkt, bekommt bei ihr eine organische und überzeugende Kraft des unmittelbaren Erlebnisses. Die einfachsten Worte erhalten dadurch einen neuen Glanz. Die sparsamsten dichterischen Mittel wie Rhythmus, Wort- und Lautwiederholung, Alliteration und Assonanz, syntaktische Gliederung und Parallelismus bewirken eine Suggestion von unvergleichbarem ästhetischem Reiz: WEIL du ein Mensch bist weil ein Mensch eine Muschel ist die manchmal tönt weil du in mir tönst als wär ich eine Muschel weil wir uns kennen ohne Namen und Samen weil das Wort Welle ist weil du Wort und Welle bist weil wir strömen weil wir manchmal zusammenströmen Wort Welle Muschel Mensch32
Dieses Gedicht, das eine geradezu hypnotische Wirkung auf den Leser ausübt, gehört zu jenen Beispielen der subtilen dichterischen
31 32
Rose Ausländer. Wir pflanzen Zedern. Gedichte 1957-1969. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1993, S. 119. Rose Ausländer. Wir pflanzen Zedern, S. 183.
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Wortkunst, die man eben mit dem Begriff „magisch“ bezeichnen könnte. Dieser Eindruck entsteht vor allem infolge eines gewissen „Irrationalismus“ bei der Zusammenfügung einzelner Bilder und Begriffe, ihrer kontextuellen „metaphysischen“ Beziehung, bei der aus einer Bedeutung ganz unerwartet, zuweilen nur aufgrund der klanglichen Ähnlichkeit, eine neue Bedeutung auftaucht. Ganze Traditionen des modernen Gedichts von Benn bis Brecht – meint zu dem späten Werk der Dichterin Franz Norbert Mennemeier – sind von Rose Ausländer übersprungen worden, und es ist keine Frage, dass die unleugbare Faszination ihrer Lyrik sich eben diesem Überspringen verdankt. Nicht nur Klänge aus der entschwundenen Bukowiner Heimat sind es, die hier unwiderstehlich ertönen. Es sind zugleich Klänge aus der verlorenen Heimat des spätromantischen Gedichts, die hier zu Sinn und Geist des modernen Lesers so sprechen, als wären sie von heute.33
Diese Synthese der Spätromantik mit der modernen poetischen Technik der Bilderentfaltung und der freien rhythmischen Struktur verwirklicht R. Ausländer mit außerordentlicher künstlerischer Eleganz und Akribie. *** Das letzte Jahrzehnt des Lebens von Rose Ausländer steht unter dem Zeichen einer fast völligen Isolation und Abgeschnittenheit von der Welt. Lange Zeit leidet die Dichterin an einer Reihe organischer Krankheiten, die aktive Formen der öffentlichen Betätigung einschränken. Der wirkliche Grund für diese Isolierung lag aber wohl darin, dass sie sich jetzt ausnahmslos nur ihrem dichterischen Schaffen widmen wollte. Sie erklärte sich für bettlägerig, um die Zeit zum Schreiben zu gewinnen. Besuche, das Briefeschreiben und Telefongespräche wurden auf ein Minimum reduziert. Nur ganz wenige Leute hatten von nun an Zutritt zu ihr: ihre Pflegeschwester, der Bruder Max, der jährlich aus New York zu Besuch kam, und der Herausgeber ihrer Werke Helmut Braun. Allmählich verwandelte sie sich in den Häftling ihres etwa 16 Quadratmeter großen Zimmers im Nelly-Sachs-Haus. Auch ihr Bett wurde ihr, gleich 33
Franz Norbert Mennemeier. Klänge aus der romantischen Heimat des Gedichts. In: Neues Rheinland. Zeitschrift für Landschaft und Kultur (Köln), 19. Jg., Nr. 6, Juni 1976, S. 44.
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Heinrich Heine in seiner Pariser Zeit, zu einer „Matratzengruft“, in der sie, vollgestopft mit Tabletten, sich aufrecht hielt und Gedichte schrieb. Dichtung war ihre einzige existenzielle Rettung: Noch ist Raum für ein Gedicht Noch ist das Gedicht ein Raum wo man atmen kann.34
Man spricht von „ätherischen Gedichten“ der späten Rose Ausländer, da sie jeder Spur der sogenannten „Aktualität“ entbehren und sich nur aus den Erinnerungen, aus dem Erlebten und Erlittenen nähren. Diese Traumpoesie hat eine geradezu metaphysische, oder sagen wir besser diaphysische Dimension – schreibt Paul Konrad Kurz. – Große Substantive besetzen den Wortraum. Satz und rhythmischer Duktus bleiben ‚demütig‘. Die Brechung in Kurzzeilen und Einwortzeilen darf man öfter als poetisch problematisch empfinden. Unzweifelhaft bleibt: Diese deutschsprachige Frau vom rumänischen Pruth spricht ihre unverwechselbare, in den gegenwärtigen Poetiken nicht gehandelte Stimme.35
Die „schwarze Sappho unserer östlichen Landschaft“, hat A. Margul-Sperber die Dichterin einmal genannt, indem er auf den dunklen Teint ihres Gesichts anspielte: „Jüdische Zigeunerin / deutschsprachig / unter schwarzgelber Fahne erzogen“36 – so bezeichnete sie sich selbst, ihr zigeunerähnliches Wanderschicksal und ihre Heimatlosigkeit hervorhebend. Ein Gedicht aus dem Band „36 Gerechte“ ist mit „Vermächtnis“ überschrieben und ruft noch einmal die wichtigsten Stationen dieses unruhigen, leidvollen und schöpferischen Lebens ins Gedächtnis, das sich als Leben einer jüdischen Frau und einer großen Dichterin deutscher Sprache so typisch und zugleich ganz einzigartig gestaltete:
34 35 36
Rose Ausländer. Gelassen atmet der Tag, S. 213. Paul Konrad Kurz. Letzte Möglichkeit des Hierseins: Rose Ausländers Gedichte aus den Jahren 1985 und 1986. In: Süddeutsche Zeitung vom 30.05.1987. Rose Ausländer. Treffpunkt der Winde, S. 49.
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Aus der Wiege fiel mein Augenaufschlag in den Pruth Ich zähle meine Besitztümer 7 Romhügel 50 abstrakte Sterne aus Amerika ein umstrittenes Jerusalem mein Grab in der Bukowina Gestern Eisrosen im Gettofenster heute sind mir die Dornen gut Meine Zukunft vermach ich den Zigeunern den goldäugigen verachteten Wanderern die aus der Zukunft leben aus der Hand in den Mund aus dem Mund in die Zukunft37
Im Juli 1986 spürte die Dichterin, dass sie der Welt eigentlich alles gesagt hatte, was sie sagen wollte. „Es ist genug. Es ist mir kein Bedürfnis mehr“38– meinte sie. Seitdem erwartete sie, mit dem Gefühl einer erfüllten Mission, ruhig den Tod. Sie verstarb am 3. Januar 1988 in Düsseldorf im Alter von fast 87 Jahren. „Die letzte jüdische Psalmistin deutscher Zunge“39 hauchte ihre Seele aus. Sie wurde auf dem Jüdischen Friedhof innerhalb des Nordfriedhofes der Stadt Düsseldorf beigesetzt, wo später eine schlichte granitene Stele ohne jegliches poetisches Epitaph aufgestellt wurde – nur der Name und ihre Lebensdaten: „Rose Ausländer 11.5.1901-3.1.1988“. Später ließ der Bruder Max diese lakonischen Daten auch noch in hebräischen Lettern eingravieren. „Mit ihrem Tod ist eine große Stimme unserer Zeit verstummt.“40 37 38 39 40
Rose Ausländer. Wir pflanzen Zedern, S. 165. Helmut Braun. „Ich bin fünftausend Jahre jung“, S. 179. Helmut Braun. „Ich bin fünftausend Jahre jung“, S. 184. Helmut Braun. „Ich bin fünftausend Jahre jung“, S. 184.
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Im Jahre 2001, zum 100. Geburtstag der Dichterin, der weit und breit in mehreren Ländern begangen wurde, brachte man an ihrem Geburtshaus in der ehemaligen Morariugasse von Czernowitz eine Gedenktafel an. Und am 11. Mai 2018 wurde nicht weit von ihrem ehemaligen Elternhaus im Rahmen des deutsch-ukrainischen Kulturprojekts „Bukowinisch-Galizische Literaturstraße“41 ein ausdruckvolles Denkmal von dem Bildhauer Wolodymyr Cisaryk aufgestellt, das die Dichterin als schöne junge Frau zeigt, die stolz und zuversichtlich auf ihre Geburtsstadt schaut. Auf dem grauem Granitsockel ist in beiden Sprachen – Deutsch und Ukrainisch – ihr Gedicht „Heimatstadt“ eingraviert worden: Eine goldene Kette fesselt mich an meine urliebe Stadt wo die Sonne aufgeht wo sie untergegangen ist für mich42
41 42
Siehe Helga von Loewenich, Petro Rychlo. Bukowinisch-Galizische Literaturstraße. Dokumentation zu einem deutsch-ukrainischen Kulturprojekt. Czernowitz: Books – XXI, 2022, S. 59. Rose Ausländer. Und nenne dich Glück. Gedichte. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1994, S. 9.
„Gestrichenem im Lebensbuch/ versagt die Welt die Wiederkehr“ Moses Rosenkranz Wollte man das Leben und das dichterische Werk von Moses Rosenkranz mit einem einzigen Wort charakterisieren, so wäre es das Wort „Paradoxie“. Denn seine einmalige Persönlichkeit, seine Gedichte und Prosa weichen von den üblichen Vorstellungen von einer stabilen, geordneten menschlichen Existenz und dem geregelten Rhythmus eines literarischen Wirkens so stark ab, dass sie nicht anders als eine absolute Paradoxie erfasst werden können. Die erste von diesen Paradoxien ist bereits seine für einen deutschjüdischen Dichter der Bukowina ungewöhnliche dörfliche Herkunft. Die meisten deutschjüdischen Dichter des Landes sind in Czernowitz oder in kleineren Städtchen der Bukowina zur Welt gekommen. Moses Rosenkranz wurde am 20. Juni 1904 als Edmund Rosenkranz im ukrainischen Dorf Berhomet am Pruth geboren, wo sein Vater Isak Rosenkranz, der aus dem galizischen Städtchen Tlumacz stammte, damals ein jüdischer Gutspächter und kleiner Landwirt war. Die Mutter Fanny, geborene Hefter, kam aus dem galizischen Stanislau. In der mehrköpfigen Familie war Edmund das siebte von neun Kindern und das vierte männlichen Geschlechts. Das Bauernhaus der Familie, das an der sogenannten „Kaiserstraße“ stand, die sich von Wien bis zur russischen Grenze zog, „barg unter einem Dach die Wohnung, den Viehstall und eine Gaststube mit Ausschank alkoholischer Getränke“.1 Zur Bauernwirtschaft der Familie gehörten vier Kühe, zwei Pferde, ein Geflügelhof, ein Gemüsegarten und vierzig Pflaumenbäume. Trotz dieser äußeren Merkmale eines gewissen „Wohlstandes“ lebte die Familie in ständiger Not. In seinem biographischen Gedicht „Geburtspunkt“ reflektierte später der Bukowiner Lyriker über 1
Moses Rosenkranz. Kindheit. Fragment einer Autobiographie. Herausgegeben von George Guţu und Doris Rosenkranz mit einem Essay von Matthias Huff. Aachen: Rimbaud 2001, S. 5.
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sein Elternhaus, in dem immer eine furchtbare Enge herrschte, sowie über seine jüdische Herkunft, die ihn sehr früh in die Lage eines Ausgestoßenen versetzte: Ich kam zur Welt in einem Stamme der mich in seine Hut nicht nahm daß ich sehr unwillkommen kam es sagte mirs der Blick der Amme Ich kam zur Welt in einer Kate in der kein Platz für mich bestand ich kam zur Welt in einem Land darin ich nichts zu suchen hatte In eine Welt verschloßner Türen kam ich und mußte draußen stehn: ich fühlte wie die Winde gehn und wurde ohne mich zu rühren2
Dieses frühe Gefühl der Abgeschnittenheit und Isoliertheit von seiner Dorfgemeinde, ja sogar von seiner eigenen Familie, illustriert ein Vorfall, von dem der Dichter in seinem autobiographischen Buch „Kindheit“ erzählt. Als er drei Jahre alt war, stießen ihn die älteren Geschwister in ein Loch mit glühendem Feuer, auf dem die Mutter vorher die Pflaumenmarmelade gekocht hatte. Er erhielt dabei starke Brandwunden, die dann monatelang heilen mussten, vor allem aber verlor er infolge des erlittenen Schocks die Sprache. Aus diesem Zustand befreite ihn nur der nächste Schock, als er am Ende des Ersten Weltkrieges zufällig im Keller des Elternhauses die Leiche eines Selbstmörders, eines noch ganz jungen österreichischen Soldaten, entdeckte. Paradox waren auch Rosenkranz’sche Wanderungen durch mehrere Sprachen, die er im Laufe seines Lebens sprechen musste. Es war eine unglaubliche Sprachmischung, in der verschiedene Idiome, wie Steinchen im Kaleidoskop, ständig wechselten. Im Gespräch mit Stefan Sienerth erinnert sich der Dichter an
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Moses Rosenkranz. Bukowina. Gedichte 1920-1997. Zusammengestellt vom Verfasser unter Mitwirkung von Doris Rosenkranz und George Guţu. Mit einem Interview von Stefan Sienerth und einem Essay von Hans Bergel. Mit sechs Gouachen von K. O. Götz. Aachen: Rimbaud Verlag 1998, S. 37.
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seine sprachlichen Herausforderungen, die er seit seinem frühen Kindesalter überwinden musste: Eigentlich habe ich keine Muttersprache, weder Deutsch noch Ruthenisch (Ukrainisch), noch Rumänisch würde ich als solche bezeichnen. In meinem Elternhaus wurde durcheinander ruthenisch, judendeutsch und polnisch geredet. Dann schickte mich meine Mutter zu ihren Eltern nach Stanislau. Hier wurde ich, erst fünf Jahre alt, in die polnische Volksschule eingeschrieben. Wieder bei den Eltern, die inzwischen nach Berbeşti am Czeremosch übersiedelt waren, besuchte ich dort vier Jahre lang die ruthenische Volksschule, wo Deutsch ein vernachlässigtes Wahlfach war. Später, als wir durch die Ereignisse des Ersten Weltkrieges nach Westgalizien und Mähren flüchten mussten und ich in ein Konvikt nach Prag kam, erlernte ich auch Tschechisch. Hinzu kam freilich noch Rumänisch, das seit 1919, nachdem meine Heimat an Rumänien angegliedert worden war, auch Staatssprache wurde. Meine Mutter und meine älteste Schwester, die sich um meine Erziehung und berufliche Ausbildung kümmerten, bestanden darauf, dass ich ordentlich Deutsch lerne, weil erst die Kenntnis dieser Sprache mir reale Zukunftsaussichten eröffnete.3
Er fühlte sich immer fremd und aus dem menschlichen Kreis ausgestoßen, daher begann er schon recht früh in die Natur zu flüchten, die ihn auch zu seinen ersten Gedichten inspirierte. Im bereits erwähnten Gespräch mit Stefan Sienerth erzählt er über seine frühe poetische Berufung, die durch die enge Verbindung mit der Natur der Bukowina motiviert wurde. Bei mir war es das Gefühl, fremd und verlassen zu sein, selbst in der eignen vielköpfigen Familie und in der Dorfgemeinde, das mich zur Dichtung führte. So isoliert, zog ich es vor, im Wald umherzustreifen und mich an den Flüssen Pruth und Czeremosch aufzuhalten. Hier führte ich Gespräche mit Bäumen und Wellen und stellte fest, dass jeder ihrer Bewegungen ein bestimmter Rhythmus innewohnt. Als ich Gedichte zu schreiben begann, versuchte ich, diesen Rhythmus durch die Melodien meiner Verse wiederzugeben.4
Der Erste Weltkrieg war ein scharfer biographischer Schnitt für viele Bukowiner Dichter, die bereits als Kinder oder Jugendliche nach der Besatzung des Landes durch russische Truppen gezwungen waren, mit ihren Familien nach Westen zu flüchten. Für die 3 4
Zit. nach Stefan Sienerth. „Alles Erlebte übertrug ich in die Bilderwelt meiner Verse“. Ein Gespräch mit Moses Rosenkranz. In: Moses Rosenkranz. Bukowina. Gedichte 1920-1997, S. 150. Stefan Sienerth. „Alles Erlebte übertrug ich in die Bilderwelt meiner Verse“, S. 147.
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vielköpfige Familie Rosenkranz, die im dörflichen Milieu verwurzelt war und keine verwandtschaftlichen Beziehung in der österreichischen Metropole hatte, um dort, wie viele jüdische Familien aus der Bukowina, die Schrecken des Krieges vorübergehen zu lassen, begann die schwierigste Zeit, die die Zerstörung ihres ganzen bisherigen Lebensstils bedeutete. Für den Kopf des Vaters, der ein österreichischer Patriot war, setzten die Russen eine Belohnung aus, und verbrannten sein Haus und seine Wirtschaft. Zusammen mit einem Teil der Familie gelang es ihm, sich bei einem orthodoxen rumänischen Pfarrer hoch in den Karpaten zu verstecken. Doch sein Sohn Edmund wurde von den Eroberern gefangengenommen und eine Zeitlang von ihnen als Geisel gehalten. Nach der Vertreibung der Russen konnte die Familie nicht mehr ihrer landwirtschaftlichen Beschäftigung nachgehen und floh in die inneren Kronländer der Habsburgermonarchie. In der oberschlesischen Stadt Bielitz (heute polnisches Bielsko-Biala) begann Edmund das deutsche Gymnasium zu besuchen, wo er aus Protest gegen einen antisemitischen Lehrer den selbstredenden jüdischen Vornamen Moses annahm. Die erste Gymnasialklasse absolvierte er später in Prag. Nach der Beendigung des Krieges und der Auflösung der Monarchie ließ sich die Familie in Czernowitz nieder, wo Moses seine Gymnasialausbildung fortsetzte. Er brachte es aber nur bis zur vierten Klasse: Nach drei Jahren Gymnasialunterricht wurde ihm das Gymnasium so verhasst, dass er es nicht mehr aushalten konnte, dort weiter zu bleiben. Das strenge Reglement, überhebliche Lehrer, ein erstickendes Klassenzimmer – alles erregte bei ihm Ekel. Als Kind der Natur, das unter freiem Himmel aufgewachsen war, zog er sich heimlich statt des Gymnasiums in Feld und Wald zurück. Der unerwartete Tod des Vaters, der auf einem Leiterwagen an Herzversagen starb, in dem er von der Hochzeit seines Freundes Baron Flondor zurückkehrte, hat ihm die Hände frei gemacht: Er beschloss, nie mehr die Schwelle des Gymnasiums zu überschreiten. Es entsprach gewissermaßen auch dem Willen des verstorbenen Vaters, der keine hohe Meinung von der Schulbildung hatte. Die Mutter gelang es ihm kurz darauf zu überzeugen, dass es eine richtige Entscheidung war: Er habe ja seine Hände, die geschickt
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genug seien, um ihn zu ernähren. Seitdem blieb Moses Rosenkranz ein Autodidakt, der sich selbständig notwendige Kenntnisse aneignete. Danach begann für ihn ein wechselreiches Jahrzehnt, während dessen er sich mit verschiedenen zufälligen Arbeiten über Wasser hielt: Er war Privatlehrer deutscher Sprache für russische Emigrantenkreise, Lastenträger, Druckereilehrling, Fabrikarbeiter, Graphologe, Übersetzer. Der Versuch, über Triest nach Amerika zu gelangen, scheiterte, da er nicht genug Geld für eine Schiffskarte aufbringen konnte. Als unterbezahlter Gelegenheitsarbeiter schlug er sich bis nach Strasbourg, Blois und Paris durch, doch nicht selten musste er hungrig zu Bett gehen, da das miserable Gehalt für die Unterkunft und Verpflegung kaum ausreichte. Besonders unerträglich wurde seine Lage, nachdem seine Jugendfreundin aus Czernowitz Marka Frank zu ihm nach Südfrankreich gekommen war, die ihm bald darauf eine Tochter schenkte. Die Erhaltung des Kindes verlangte zusätzliche Kosten, die die finanziellen Möglichkeiten des jungen Paars bei weitem übertrafen. In dieser Situation blieb ihnen nur ein einziger Ausweg – wieder nach Czernowitz zurückzukehren, wo man wenigstens mit der Unterstützung der Verwandten rechnen konnte. Doch kaum traf er in Czernowitz ein, wurde er ohne viel Federlesens für drei Jahre in die rumänische Armee einberufen – zuerst als Soldat eines Jägerbataillons, das in Kronstadt (heute Braşov) stationiert war, später als Sachbearbeiter des Kriegsministeriums in Bukarest. Hier befasste er sich viel mit handschriftlichen Dokumenten, die seine graphologische Begabung schärften. Bald begann er als Graphologe und Übersetzer für verschiedene Zeitungen und für die Pressedirektion des Außenministeriums zu arbeiten. Bereits auf der Schulbank notierte sich Rosenkranz gereimte Zeilen oder kurze Prosafragmente, die er dann in der Regel vernichtete oder an Freunde verschenkte, ohne Kopien davon für sich zu behalten, so dass diese Texte spurlos verschwanden. Doch einige von ihnen gerieten in die Hände eines Literaturkenners wie Alfred Margul-Sperber, der damals Kulturredakteur bei der Zeitung „Czernowitzer Morgenblatt“ und Mentor junger Talente war. Er sammelte Gedichte von Moses Rosenkranz und
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initiierte die Ausgabe eines Gedichtbandes, der dank der finanziellen Unterstützung des Czernowitzer Arztes Dr. Rammler und der Buchhandlung Heinrich Pardinis 1930 unter dem Titel „Leben in Versen“ veröffentlicht wurde. Nach der Erscheinung dieses poetischen Erstlings des jungen Dichters publizierte Margul-Sperber in seiner Zeitung eine begeisterte Rezension auf diesen Gedichtband in Form eines offenen Briefes an den jungen Dichter, in dem er voller Verwunderung fragte, woher der Autor, nach Jahren der Zugehörigkeit der Bukowina zum rumänischen Königtum und dem vollständigen Verschwinden der deutschen Sprache aus dem offiziellen Gebrauch, Worte für seine Gedichte nahm: Welche ist ihre Muttersprache? Doch nicht etwa Deutsch? Denn die hierzulande gesprochene Sprache kann schwerlich so geheißen werden. Bildungsstätten, in welchen die Sprache gelehrt wird, die Sie für Ihre Dichtungen gewählt haben, gibt es hier längst nicht mehr – aus welchem Kulturboden also haben Sie die Kraft und Mark gezogen, die vielen Ihrer Dichtungen in so außerordentlichem Maße eigen sind? Muß man da nicht an Wunder glauben, dass in der Bukowina, selbständig und losgelöst von jedem Zusammenhange mit dem Ursprungsgebiete, erst jetzt, im Herzen eines mit aller Macht assimilierenden Großrumäniens, ein Zweig der deutschen Sprache schöpferisch rege zu werden beginnt, in dem so vollendete Dinge geschaffen werden können, wie es ihre Gedichte sind?5
Der Rosenkranz’sche Gedichtband war die erste Schwalbe, die eine kurze Blüte der deutschsprachigen Dichtung in der Bukowina der Zwischenkriegszeit ankündigte. Nach seiner Publikation sind dann weitere Gedichtbände von Czernowitzer Autoren wie Alfred Margul-Sperber, Georg Drozdowski, Alfred Kittner, David Goldfeld und Rose Ausländer erschienen, die diese poetische Landschaft unter höchst ungünstigen politischen Bedingungen des aufwachenden rumänischen Antisemitismus erstmal hörbar machten. In dieser Hinsicht ist K. N. Widbergers Bezeichnung von Moses Rosenkranz als „Vater der Bukowina-Dichtung“6 nicht ganz grundlos, obwohl der Dichter selbst den Begriff der „Bukowiner Dichtung“ im Sinne einer geschlossenen dichterischen Gruppe mit 5 6
Alfred Margul-Sperber. Brief an einen Dichter. In: Czernowitzer Morgenblatt, Jg. 13, 1930, Nr. 3699 vom 21.12.1930, S. 12. Kaspar Niklaus Wildberger. Moses Rosenkranz – der Vater der BukowinaDichtung. In: Südostdeutsche Vierteljahresblätter (München), 38/1989, Folge 3, S. 177-185.
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einem gemeinsamen poetologischen Programm und gemeinsamen ästhetischen Zielen bestritt: „Es gab nur einzelne Schreibende, und jeder hat auf seine Weise zur Literatur gefunden“.7 Der erste Gedichtband von Moses Rosenkranz zeigt noch manche dichterischen Unzulänglichkeiten auf – sein Textkorpus, aufgeteilt in acht Abschnitte mit nicht immer überzeugenden Zwischentiteln, wirkt zu divers, es ist kein strukturelles und konzeptuelles Ganzes, sondern eine recht willkürliche und amorphe Sammlung poetischer Texte. Auch thematisch sind diese Texte fern von irgendeiner verbindenden Idee – Gedichte mit ausgeprägten autobiographischen Zügen („An Frau Marka“, „Tiefer Zug“, „Mein Kind“, „Fernes Kind“) stehen neben den visionären Bildern („Himmelfahrt“, „Prophetie“, „Mein Traumland“), Natur- und Landschaftsgedichte („Nacht im Garten“, „Landschaft im Fensterrahmen“) neben poetologischen Reflexionen („Schöpferischer Augenblick“, „Meine Lieder“, „Poetischer Rat“, „Der Dichter“), Texte mit christlich-religiös gefärbten Motiven („Abends im Dom“, „Vor Gott“, „Gebet“, „Maria Magdalena“) neben Liebesgedichten (der Sonettenzyklus aus dem Abschnitt „Die Gattung reimt“). Trotz der oft verwendeten strengen Sonettenform stechen zuweilen auch manche rhythmischen und metrischen Unregelmäßigkeiten ins Auge, die bei einem jungen Dichter fast unvermeidlich sind. Man muss aber das poetische Können eines Dichters nach den besten Exempeln bewerten, die der Autor darbietet, wie z.B. nach dem Gedicht „Bildnis einer Alten“, welches Matthias Huff für das stärkste von Rosenkranz hält – „Starker Tobak: Extrem verdichtet, ein hoher Ton, jede Zeile bedeutungsschwer“8: Ein Leib, aus dem zehn Leben gekommen waren, Ein Antlitz, das vier Tode empfangen hat. Ein Schädel, in dessen spärlichen Haaren sich Menschseins ein Sturm verfangen hat.
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Stefan Sienerth. „Alles Erlebte übertrug ich in die Bilderwelt meiner Verse“, S. 147. Matthias Huff. „Sicher war nur das holprige Pflaster unter den naßkalten Füßen“. In: Moses Rosenkranz. Jugend. Fragment einer Autobiographie. Aachen: Rimbaud 2014, S. 144.
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„Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ Alte Frau, ich schaue dein Stehen und manchmal fühl ich: du bist ein Haus, in das die Juden beten gehen. Du bist eine alte, lehmige Klaus. Du hast gegen Jahves Zorn geborgen die Leben, die du dem Leben geschenkt; du locktest für sie durch das Fenster den Morgen, du hast dich für sie in das Erdreich gesenkt. Nun du, die Füße umklammert von Erde, den Rumpf voll Strahl, in die Gäßchen dachst, schau ich, wie du mit Lehmgebärde dich abhebst Ziegel um Ziegel und lachst. Was lachst du mit deinen zerbrochenen Blicken? Es ist doch nicht Samstag, der Herr ist noch weit! Indessen hat sie in ihren Stücken sich hingeordnet – empfängnisbereit.9
In formaler Hinsicht ist auch dieses Gedicht nicht einwandfrei – vor allem seine Reimelemente mit verbalem und partizipialem Gleichklang (empfangen hat – verfangen hat, Stehen – gehen, geschenkt – gesenkt, dachst – lachst) sind zu anspruchslos. Doch diese Versifikationsnachteile werden reichlich durch eindrucksvolle, überwältigende Bilder und eine derbe, urwüchsige Sprache kompensiert, die von der Unverwechselbarkeit des poetischen Denkens des jungen Autors zeugen. Die alte Frau wirkt hier als Verkörperung des permanenten urmütterlichen Instinkts, der stärker als alle äußeren ungünstigen Umstände ist. Ein Urbild dafür könnte die eigene Mutter des Dichters sein, die neun Kinder geboren und einige Tode erlebt hatte. Auch die explizite jüdische Komponente hilft hier, die Authentizität und Wahrhaftigkeit der Darstellung glaubhaft zu machen. Doch das wichtigste Element der packenden Ausdruckskraft dieses Gedichts liegt im Sprachlichen. Der sprachliche Aspekt der Rosenkranz’schen Gedichte muss hier besonders hervorgehoben werden, denn es geht hier um einen exterritorialisierten Dichter, um einen Dichter in der sprachlichen Isolation, der sich seine Sprache nicht aus dem lebendigen Austausch von Mund zu Mund formt, sondern aus dem Lesen und 9
Moses Rosenkranz. Leben in Versen. Czernowitz: Heinrich Pardini 1930, S. 14.
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Nachlesen der deutschen Klassiker schöpft. Das ist eine Sprache, die durch die bäuerlich-archaische Psychologie und Mentalität des dörflichen Milieus, in dem der Dichter aufwuchs, durchgesiebt ist – eine klobige, etwas schwerfällige, beinahe alttestamentarisch anmutende Sprache, die sehr konkret die Erscheinungen und Dinge der realen Welt nennt, keine stilistischen Schnörkel zulässt und ursprünglich, geradezu chthonisch wirkt. Das betonte in einer früheren Besprechung des Bandes bereits Alfred Margul-Sperber, der im „Czernowitzer Morgenblatt“ dazu schrieb: Der Ursprung seiner Sprache ist die Welt eines „beiwortlosen Lebens“: eine brutale, ganz unsentimentale, oft schmerzhaft grelle Welt. Aber die Quelle dieser Sprache ist lauter, und ihr letztes Ziel: die Wahrheit, der zuliebe ein unvermittelter Ausdruck buchstäblich die Dinge aufspringt. […] Manche Soße bei diesem Dichter, die ganz bestimmt im sprachlosen Schrifttum der deutschen Gegenwart ihresgleichen suchen, bezeugen unabweislich, daß endlich dem armen und dürren Boden dieses halbdeutschen Grenzlandes, der Bukowina, eine schöpferische Begabung entsprungen ist, der sehr bald der Durchbruch in die europäische Dichtung gelingen wird.10
War diese Vermutung Margul-Sperbers genügend begründet oder nur ein wohlwollender Vertrauenskredit für die Zukunft? Für den jungen Dichter bedeutete sein erster Gedichtband immerhin ein Sprungbrett für seine weitere literarische Karriere in Bukarest, wo er sich nach seinem Militärdienst niederließ. Hier lernte er bedeutende rumänische und rumäniendeutsche Schriftsteller wie Oscar Walter Cisek, Heinrich Zillich, Vasile Voiculescu, Stefan Nenifescu, Zaharia Stancu oder den Dichter und Politiker Ion Pillat kennen, bei dem er dann einige Jahre als Privatsekretär wirkte. Diese Autoren halfen ihm den Anschluss an die rumänische Sprache und Kultur zu finden und lehrten ihn sie zu schätzen. Unter ihrem Einfluss begann er Ende der 1930er Jahre mit der Übersetzung rumänischer Volkspoesie und plante eine größere Anthologie zur „Volksdichtung der Rumänen“ herauszubringen. Das Buch wurde bereits vorannonciert, konnte jedoch wegen der jüdischen Herkunft des Übersetzers im faschistischen Rumänien nicht mehr erscheinen. 1940 veröffentlichte Johannes R. Becher einige charakteristische 10
Alfred Margul-Sperber. Für einen unbekannten Dichter. In: Czernowitzer Morgenblatt, Nr. 3565 vom 18.07.1930, S. 11.
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Beispiele daraus in seiner Moskauer Emigrantenzeitschrift „Internationale Literatur. Deutsche Blätter“11. Nicht weniger wichtig waren auch Kontakte zu den deutschen Schriftstellern Siebenbürgens, wie Harald Krasser, Herman Roth, Erwin Wittstock und Erwin Reisner, mit denen Rosenkranz freundliche Beziehungen verband. Noch Jahrzehnte nach der Begegnung mit dem Czernowitzer Dichter blieb er für den siebenbürgischen Literaturwissenschaftler Harald Krasser „einer der interessantesten Menschen, die ich in meinem Leben kennengelernt habe, neben Celan wohl der begabteste Jude aus der Bukowina“.12 Die Zeit im Bukarest der 1930er Jahre gestaltete sich zuerst für Rosenkranz erstaunlich günstig. Die Verlagsbuchhandlung Hertz beauftragte ihn, seine graphologischen Erkenntnisse in der Verlagszeitung zu publizieren, und so begann für ihn eine Tätigkeit, die weitführende Folgen haben sollte. Eine Hofdame (vermutlich seine ältere Schwester Susi, die damals in dieser Funktion beim Hof weilte und unter dem Namen Dusza Czara Rosenkranz ebenfalls Gedichte schrieb) stellte der Redaktion anonym ein Handschriftmuster der rumänischen Königsmutter Maria zwecks graphologischer Analyse zur Verfügung. Rosenkranz deutete die Handschrift und wurde danach zum königlichen Hof eingeladen. Die Königin fand seine Analyse zutreffend und machte ihm den Vorschlag, aufgrund ihrer persönlichen Auskünfte und Notizen ihre Biographie zu verfassen. So entstand das unter ihrem Namen im Jahre 1935 beim Leipziger Paul Liszt Verlag veröffentlichte Buch „Traum und Leben einer Königin“. Der Name des jüdischen Textverfassers durfte im Nazideutschland nicht mehr erwähnt werden.13 Dank seinen guten Beziehungen zum königlichen Hof und der Bekanntschaft mit einigen einflussreichen rumänischen 11 12
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Moldauische und walachische Volkslieder. In: Internationale Literatur. Deutsche Blätter (Moskau). Jg. II, 1941, Heft 2, S. 24-25. Siehe Joachim Wittstock. Bedrängnis und Fürsprache. Aus SchriftstellerErfahrung im Karpatenraum während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Die Bukowina. Studien zu einer versunkenen Literaturlandschaft. Hrsg. von Dietmar Goltschnigg, Anton Schwob unter Mitarbeit von Gerhard Fuchs. Tübingen: Francke Verlag 1990, S. 152. Siehe Stefan Sienerth. „Alles Erlebte übertrug ich in die Bilderwelt meiner Verse“, S. 157.
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Kulturschaffenden und Politikern gelang es Rosenkranz, eine würdevolle und gut bezahlte Stelle des Referenten und Übersetzers im rumänischen Ministerium für auswärtige Angelegenheiten zu bekommen, die er bis zum politischen Umbruch Ende der 1930er Jahre innehatte, bevor in Rumänien profaschistische Kräfte Oberhand errangen. Für den Dichter waren diese Jahre in Bukarest die glücklichste Zeit seines Lebens, auch schöpferisch konnte er produktiv arbeiten, vor allem an seiner Anthologie „Die Volksdichtung der Rumänen“ sowie an einem anderen vom rumänischen Kulturministerium geförderten Projekt der Anthologie der rumänischen Literatur von Iancu Văcărescu bis Aron Cotruş, die unter dem Pseudonym Fritz Thunn zum Druck vorbereitet wurde, doch aus politischen Gründen ebenfalls nicht mehr erscheinen durfte.14 Inzwischen kam 1936 in Czernowitz, im Selbstverlag des Autors, der zweite Gedichtband von Moses Rosenkranz’ „Gemalte Fensterscheiben“ heraus, dessen Titel auf Goethes Zeile „Gedichte sind gemalte Fensterscheiben“ zurückgeht, die als Symbol für den verborgenen Sinn der Poesie betrachtet werden kann. Der Dichter hat diesen Gedichtband seinem damaligen Schirmherren, dem bekannten rumänischen Schriftsteller, Übersetzer und Politiker Ion Pillat gewidmet. Die kleine Gedichtsammlung mit ziegelrotem Bucheinband enthielt 42 vorwiegend gebundene Gedichte und einen in freien Rhythmen verfassten Zyklus von 5 Liebesgedichten „Strophen an eine Frau“. Er hatte eine winzige Auflage von 250 Exemplaren und gilt heute als eine echte bibliographische Rarität. Thematisch gesehen hat der Gedichtband „Gemalte Fensterscheiben“ im Vergleich zu „Leben in Versen“ ein etwas engeres, sozusagen intimeres Spektrum. Außer einigen schönen Natur- und Landschaftsgedichten („Frühlingsreime“, „Auf eine 14
Fritz Thunn. Die Volksdichtung der Rumänen. Nachdichtungen. Manuskript [1938]; Rumänien im schönen Gedicht. Eine Auslese der rumänischen Volks und Gebildeten-Lyrik von ihren Anfängen bis in unsere Tage. Besorgt und verdeutscht von Fritz Thunn. Manuskript 1938. Siehe Moses Rosenkranz. Briefe an Alfred Margul-Sperber (1930-1963) mit autobiographischen sowie literaturkritischen Dokumenten. Herausgegeben. von George Guţu. Aachen: Rimbaud 2015, S. 209.
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welkende Knospe“, „Auf dem Meer“) und etlichen Genrebildern („Rumänischer Sonntag“, „Das Kind des Toten“, „Der Winter“) sind hier vor allem Gedichte mit Tierthematik („Der Adler“, „Die Kuh“, „Der sterbende Büffel“, „Das junge Reh“, „Der Löwe“) hervorzuheben, die Rosenkranz als einen guten Kenner der Tierwelt ausweisen. Manche Gedichttexte geben das innere Porträt des Autors („Selbstschau“) oder die verwirrten seelischen Zustände des lyrischen Ich wieder („Seele, mit Feuergetöse“, „Dunkles Lied“). Als einer der besten kann hier jedoch das Gedicht „Des Bauern Tod“ betrachtet werden (später auch unter dem Titel „Der Tod im Acker“ abgedruckt): Er ging ins Land hinein, zu sterben. Am Feld begegnet’ ihm der Tod, Ein Querkopfbauer: wie wächst dein Brot? Und denke noch an deine Erben. Er legte immer gut den Samen, Den Stengel brach die reife Frucht. Er flüsterte die Knabennamen, Und noch ein Wort, das war geflucht. Er schlug die Arme um die Erde, Wie um die jüngste Magd, im Krampf; Und fühlte: Rinder, Knechte, Pferde, Und starken Schweiß, der Scholle Dampf. Der Andre rollt’ ihn auf den Rücken Und ließ ihn so. Sein schwer Gesicht Lag wie ein Stein im Flurenlicht, Ein weicher Stein aus grauen Stücken.15
Das Gedicht ist ein authentisches Stück erdhafter, geradezu zeitloser Poesie: Solch eine Szene könnte sich in der Bukowina oder woanders auch vor Jahrhunderten abgespielt haben. Der Tod des Bauern hat beinahe mythische Züge – da stirbt ein Mensch, der mit seinem Acker eins war, der sein Leben lang ihn mit Liebe bearbeitet hatte, und nun kommt die Zeit, von ihm schmerzhaften Abschied zu nehmen. Auch in diesem Moment verlassen ihn nicht die Sorgen um die Fruchtbarkeit dieses urbaren Stücks Scholle, um 15
Moses Rosenkranz. Gemalte Fensterscheiben. Cernăuţi: Körner & Rosenblatt 1936, S. 7.
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die neue Ernte, um die Nachkommen, die sie erben und mit neuen Samen besäen werden. Für ihn ist die Erde wie eine geliebte Frau – er schlägt im Krampf seine Arme um sie, als ob er seine „jüngste Magd“ umarmt. Und noch im Tod bleibt er ungebrochen, wie er es im Leben war, denn die nahe Verbindung mit der Erde spendete ihm immer, gleich dem altgriechischen mythologischen Helden Atlas, neue Kräfte und Energie. Der deutsche Liedermacher und Balladendichter Wolf Biermann würdigte in der Zeitung „Die Welt“ noch zu Lebzeiten des Autors diese Verse als ein großes Gedicht der deutschen Sprache und betonte dabei die „erotische Eskapade“ des sterbenden Bauern als Ausdruck seiner urwüchsigen Stärke. „Liebe und Tod sind hier im Kunstwerk so nahe beieinander wie im richtigen Leben. Schwer rauszukriegen, wo nun der Krampf größer war: im Geschlechtsakt oder im Sterben.“16 Eros und Thanatos, diese ursprünglichen, archetypischen Instinkte des Menschen verquicken sich hier zu einer Einheit, und schließlich erlebt der sterbende Bauer seine letzte Metamorphose: Er vereinigt sich mit der Erde, wird ein ununterscheidbarer Teil von ihr – „ein weicher Stein aus grauen Stücken“. Als nationalistische und antisemitische Ausschreitungen in Rumänien hohe Wellen zu schlagen begannen, wurde Rosenkranz aus rassistischen Gründen von allen seinen Stellen im Außenamt entlassen und kehrte nach Czernowitz zurück. Hier leitete er die Herausgabe seines dritten Gedichtbandes „Die Tafeln“ in die Wege. Das dünne Bändchen mit 43 Gedichten erschien 1940 im Czernowitzer Verlag Literaria dank dem Mut des Czernowitzer Buchhändlers Niedermayer, der von der ursprünglich auf 100 Exemplare festgelegten Auflage etwa die Hälfte, trotz der wachsamen Zensur, publizieren konnte17. Die thematische Palette des Gedichtbandes unterscheidet sich von den früheren poetischen Präferenzen und bildlichen Konstellationen des Dichters recht spürbar. Zuweilen bekommt man den Eindruck, als ob „Die Tafeln“ von einem ganz anderen 16 17
Wolf Biermann. Harter Brocken, weicher Stein. Anmerkungen zu acht großen Versen des Dichters Moses Rosenkranz. In: Die Welt vom 23. März 2002, S. 7. Siehe Stefan Sienerth. „Alles Erlebte übertrug ich in die Bilderwelt meiner Verse“, S. 159.
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Autor verfasst worden wären. Der Titel dieser Gedichtsammlung erweckt biblische Assoziationen mit den alttestamentarischen Gesetzestafeln Moses, auch der Vorname des Autors auf dem Buchumschlag weist darauf hin. Noch mehr verstärken diesen Eindruck die in den Band aufgenommenen Gedichte. Bisher dominierten bei Rosenkranz konkrete, empirische Darstellungen, seine Bilder haben immer Fleisch und Blut gehabt. In den „Tafeln“ stechen vor allem viele abstrakte Denkmodelle philosophischen Charakters ins Auge. So thematisieren die Verse dieses Gedichtbandes das Motiv der Gottsuche („Ich fühle mich allein“, „In der Wüste“, „Altchristliches Grab“, „Der Jünger“), greifen zu philosophischen Meditationen über Dinge und Erscheinungen der Welt („Der Himmelstrom“, „Lied von der Zeit“, „Der Mensch“), beschwören das Motiv poetischer Berufung („Der ewige Dichter“, „Die vergessene Meisterweise“, „Zu singen gedacht ich“). Frühere Themen sind hier nur als ein Echo vorhanden – so in der Darstellung der bäuerlichen Sitten und Bräuche („Einem Bauern auf den Weg in die Stadt“, „Bauernsonntag in der Stadt“), wobei auch hier eine gewisse Verschiebung sichtbar ist – die Bauern sind aus ihrem organischen Dorfmilieu herausgerissen, sie geraten in eine urbane Welt, in der sie sich fremd und unbehaglich fühlen. Auch biographische Züge verschwinden nicht ganz, sie zeichnen sich jedoch durch eine Abschiedsstimmung oder Molltöne aus („Ein Abschied“, „Vision“). Dagegen tauchen glorifizierende oder nostalgisch gefärbte Heimatklänge auf („Preis der Heimat“, „An einen heiligen Gipfel“, „Tiefe Heimkehr“). Diese Umorientierung sollte wahrscheinlich damit verbunden sein, dass die Gedichte der „Tafel“-Sammlung nicht mehr in der ländlich geprägten Bukowina, sondern in der Großstadt Bukarest geschrieben wurden, wo die vertrauten Orte der Kindheit weit entrückt und im Gedächtnis des Autors etwas verblasst sind. Unter anderen charakteristischen Motiven finden sich wieder schöne Landschafts- und Jahreszeitengedichte („An einen Tag im April“, „Der schöne Sommer“, „Heidnische Wetterlitanei“, „Der trockene Sommer“), obwohl ihnen eher der Hang zum Transzendenten eigen ist – so heißt eines der Gedichte dieser Gruppe „Geisterlandschaft“ und beschreibt ein gespenstisches, quasi unirdisches Naturbild. Zwei Gedichte dieser
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thematischen Gruppe wurden allerdings aus dem vorhergehenden Gedichtband „Gemalte Fensterscheiben“ übernommen („An eine welkende Knospe“, „Herbstliche Landschaft“). „Die Tafeln“ zeigen auch Merkmale stilistischer Entwicklung des Autors auf – der Versfluss ist elastischer geworden, die Sprache orientiert sich grundsätzlich auf die klassischen Muster der deutschen Literatur, obwohl sie manchmal, wegen syntaktischer Überlastung, zahlreicher Inversionen und häufiger Verwendung von Archaismen wie Horst, Fährde, Forst, Nachen, Phantasei, Ranft usw., etwas schwerfällig wirkt. In metrischer Hinsicht dominiert hier fast durchgängig die vom Dichter neu entdeckte Strophenform der Terzine, die nach Dante Alighieris „Commedia Divina“ eine große Verbreitung in der europäischen Dichtung fand. Auch strukturell bezeugen die „Tafeln“ eine strengere Auswahl und zielbewusstere Komposition, was A. Margul-Sperber nach dem Erscheinen des Gedichtbandes in seiner im Czernowitzer Morgenblatt veröffentlichten Rezension hervorhob: Sein lapidarer Stil, die dichte Substanz und klobige Struktur seiner Sprache, die scharfgeprägte, geradezu heraldische Kontur seiner Bilder, und die Sprödigkeit, Wucht und Kühnheit seiner Aussage über eine primitiv geschaute Welt, deren Dinge er gleichsam zum ersten Mal benennt. Es ist kein Maler, sondern ein Steinhauer, der diese Verse formt: man glaubt aus jeder ihrer Zäsuren den starken Atemstoß des Mannes zu hören, der ausholt und zuschaut. […] Man erkennt bald, daß dieser Gedichtband nicht eine willkürliche Zusammenstellung von Gedichten ist, sondern das Ergebnis einer in allen Einzelheiten sorgfältig entworfenen und ausgeführten einheitlichen Planung, die jedem Gedichte seinen bestimmten Zweck und Platz im Buche bestimmt und zugewiesen hat.18
Dass ein Buch des jüdischen Autors im Jahre 1940 im rumänischen Czernowitz noch erscheinen und in der Presse besprochen werden konnte, erscheint wie ein richtiges Wunder. Das war wohl das letzte Zeichen demokratischer Publikations- und Pressefreiheit vor dem großen historischen Erdbeben, das bald nicht nur die Bukowina, sondern die ganze Welt erschüttern sollte.
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Alfred Margul-Sperber. „Die Tafeln“ von Moses Rosenkranz. In: Czernowitzer Morgenblatt, Nr. 6417 vom 3. April 1940, S. 7.
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Als Ende Juni 1940, nach dem Ultimatum Stalins an die rumänische Regierung, die Rote Armee „friedlich zu Tank“19, wie Alfred Gong es in einem seiner Gedichte formulierte, in Czernowitz einmarschierte, haben viele linksorientierte Einwohner der Stadt sie mit Blumensträußen begrüßt. Rosenkranz wirkte eine Zeitlang als Deutschlehrer für Funktionäre des neuen Regimes, fühlte sich aber als Dichter der deutschen Sprache in der neuen politischen Situation bedrängt und ohne weitere Perspektiven. Doch bereits nach einem knappen Jahr wechselten die Farben – nach den „Roten“ kamen die „Braunen“. Der Dichter erinnerte sich später an diese Ereignisse als eine Höllenzeit: Nun wurde es apokalyptisch, ich verlor viele teure Menschen, nicht nur unter den Juden. Ich organisierte vordatierte Judentaufen, geriet darüber ins Gefängnis. Damit ich der Deportation entgehe, steckten mich rumänische Freunde in ein moldauisches Arbeitslager. Danach lernte ich auch andere Arbeitslager in der Moldau und in der Walachei kennen.20
In einem solchen Arbeitslager (Tăbăreşti bei Buzău) lernte er den jungen Paul Celan kennen, aber der Altersunterschied, Unverträglichkeit der Temperamente sowie stark abweichende ästhetische Vorstellungen vereitelten jede weitere Annäherung. Die Versuche einiger Literaturwissenschaftler, das Gedicht von Rosenkranz „Die Blutfuge“ (vermutlich 1942 geschrieben) als Vorlage für Celans „Todesfuge“ zu begründen, sind kaum überzeugend, denn weder thematisch noch konzeptuell oder metrisch stimmen sie überein. In einer Anmerkung zu seiner Gedichtsammlung „Das Lied davon. Ein Jahrhundertbuch“, die bis heute nur in Typoskript-Form existiert, behauptet Rosenkranz, dieses Gedicht sei 1942 „aufgrund einer Begebenheit in einem Lager der Endlösung, im Arbeitsdetachement Bentu, Rumänien, wo sich auch Paul Antschel befand“21 geschrieben. Aus dieser Anmerkung lässt sich nicht ergründen, von welchem konkreten Vorfall hier die 19 20 21
Alfred Gong. Gnadenfrist. Gedichte, Baden bei Wien: Verlag G. Grasl, S. 14. Zit. nach Stefan Sienerth. „Alles Erlebte übertrug ich in die Bilderwelt meiner Verse“, S. 159. Siehe Johann Adam Stupp. „Die Blutfuge“ und die „Todesfuge“. Zu Gedichten von Moses Rosenkranz und Paul Celan. In: Südostdeutsche Vierteljahresblätter, Jg. 34/1985, Folge 4, S. 287.
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Rede ist, was den Raum für verschiedene Spekulationen lässt. Das Einzige, was außer dem verwandten Titel beide Gedichte einigermaßen verbindet, ist die gemeinsame Empfindung der brutalen Gewalttätigkeit, die bei Rosenkranz allerdings ohne jegliche historische Konkretisierung bleibt: DIE BLUTFUGE O Bach von Blut! auf gelbe Bernsteintasten ergießend sich aus offnen Fingerstummen so muß ein Herz zu seinem Grabe hasten durch starkes feierliches Orgelsummen So muß ein junges Leben Partituren erfülln mit seinem vollen Herzensschlag beseelt ertönt durch rote Abendfluren was stumm im Staube welker Blätter lag Was laut im Feuer keuscher Jünglingslieder gerauscht verebbt und geht gemach zur Neige am Sterbenden vergehn mit ihm die Lieder ein Celloruf und eine letzte Geige Tot auf den Tasten ruhn die Fingerstummen die Seele zittert in den Pfeifen nach durch hohles Grabes tiefes Orgelbrummen tropft wieder Jesu Blut: O Blut von Bach!22
Wenn man von irgendwelchen Parallelen zwischen Celan und Rosenkranz sprechen darf, so wäre hier eher ein anderes Gedicht Rosenkranz’ von Interesse, das ein explizites Motiv (Grab in den Wolken) mit der „Todesfuge“ gemeinsam hat und den Titel „Klage“ führt. Es existiert in zwei Fassungen – einer vier- und einer dreistrophigen. Die erste, längere Fassung sollte früher entstanden sein, die zweite, kürzere ist das Ergebnis einer späteren Bearbeitung, die im Vergleich mit der ersten Variante metrisch und bildlich stark gestrafft wurde. Ihre Entstehungsdaten sind unbekannt, denn Rosenkranz ließ seine Gedichte fast nie datieren. Alfred Kittner erinnert sich, dass er die „Klage“ bereits in den ersten Nachkriegsjahren kannte und sie im Geiste – wegen ihrer Wortkargheit und Monumentalität – der Celan’schen „Todesfuge“ 22
Moses Rosenkranz. Bukowina. Gedichte 1920-1997, S. 76.
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entgegenhielt23. Hier sei die spätere Fassung angeführt, die in ihrem Lakonismus und Lapidarstil ihresgleichen sucht: KLAGE So leichenweiß war kein Schnee wie die Not kein Ofen so heiß mein Volk wie dein Tod Flogst heißer als Brand stobst bleicher als Schnee o Wolke von Weh mein Volk überm Land Kamst nimmer herab wo soll ich hinknien ist oben dein Grab in den Wolken die fliehn24
Die unglaubliche Dichte, konzeptuelle Tiefe und Tragik dieses kleinen Gedichts sind beispiellos. Gaskammer und Schornsteine der Krematorien, die mit den Wolken ziehende Asche der Verbrannten, „Gräber in der Luft“ drängen durch diese knappen Zeilen durch. Dabei wird dieser suggestive Eindruck mit minimalistischen Stilmitteln erreicht, vor allem durch die Sprache, in der Worte so fest wie gut angepasste Ziegel in einer Mauer sitzen. Schlichtheit und Strenge im Denken und Ausdruck, nichts Überflüssiges, keine Silbe zu viel, kein abwegiger oder falscher Ton, keine leere Zeile, eine erstaunliche innere Würde des lyrischen Ich, das der unzähligen Opfer der Shoa schweigend gedenkt und gegen die „Pest“ steht. Diese kennzeichnenden Züge seiner eigenen Poetik charakterisiert der Dichter als einen Hang zur Selbstdisziplin und zum Widerstand: „Meine Gedichte sind geschlossen, im Sinne einer marschierenden Gruppe, sie haben einen Gleichschritt (Rhythmus) und
23 24
Alfred Kittner. Erinnerungen an den jungen Paul Celan. In: Zeitschrift für Kulturaustausch 3, 32. Jg.,1982, S. 218. Moses Rosenkranz. Visionen. Gedichte. Hrsg. und mit einem Nachwort von Doris Rosenkranz. Aachen: Rimbaud 2007, S. 79.
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sind diszipliniert. Sie zeigen Zustände auf mit einem Hintersinn von Rebellion.“25 Die Motivähnlichkeit mit Celans „Todesfuge“ hat hier, aller Wahrscheinlichkeit nach, einen typologischen Charakter und konnte infolge der nach 1944 bekannt gewordenen Berichte und Zeugnisse über nazistische KZ-Lager, Gaskammern und Krematorien entstehen. Daher wäre es überaus unproduktiv, hier irgendwelche Abhängigkeiten zu suchen – bei deutschjüdischen Autoren, die sie beide waren und die das tragische Schicksal ihres Volkes in ihren Gedichten schmerzhaft reflektierten, die fernerhin auch noch ähnliche Erfahrungen der Zwangsarbeit in den rumänischen Lagern hatten, waren manchmal auch ähnliche poetische Einfälle durchaus gegeben. Im Mai 1944, als das Schicksal des Dritten Reiches und somit seines Verbündeten Rumänien schon beinahe entschieden war, flüchtete Rosenkranz aus dem rumänischen Arbeitslager nach Bukarest, wo er im Untergrund lebte. Die erfolgreiche Offensive der Roten Armee im August 1944 führte zum Sturz der Militärdiktatur des Marschalls Antonescu und zum Frontwechsel Rumäniens. Rosenkranz betätigte sich um diese Zeit aktiv beim Roten Kreuz, was ihm bald zum Verhängnis werden sollte. In seinem Gespräch mit Stefan Sienerth beschreibt der Dichter diese umstürzenden Ereignisse wie folgt: Laut den damaligen Bestimmungen durften die Hilfeleistungen des Internationalen Roten Kreuzes den Deutschen in Rumänien nicht zugutekommen. Ich setzte mich eigenmächtig über diese Verfügung hinweg und ließ Teile einer irländischen Schenkung (insgesamt 40 Waggons Lebensmittel und Kleidung) sächsischen Kinder- und Altersheimen zukommen. Ich wurde angezeigt. Der damalige rumänische Justizminister Lucreţiu Pătrăşkanu weigerte sich, mich zu verhaften. Auch die sowjetische Kommandantur, die meinen Fall übernahm, sprach mich zunächst frei. Das war Anfang 1947. Im April desselben Jahres wurde ich von der Straße entführt und über die rumänische Grenze – zur Täuschung der rumänischen Behörden hatte man mich in die Uniform eines russischen Majors gesteckt – nach Moskau geschafft, wo ich zunächst verhört und danach in den berüchtigten Gulag abgeschoben
25
Zit. nach Stefan Sienerth. „Alles Erlebte übertrug ich in die Bilderwelt meiner Verse“, S. 148.
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„Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ wurde. Dort mußte ich rund zehn Jahre unter den durch die Literatur hinlänglich bekannt gewordenen Bedingungen verbringen.26
Rosenkranz wurde vom sowjetischen Geheimdienst NKWD, wie es zur stalinistischen Zeit gang und gäbe war, einer volksfeindlichen antisowjetischen Tätigkeit bezichtigt – man hatte gegen ihn eine absurde Anklage erhoben, indem man ihn als „Anführer einer antikommunistischen Widerstandsgruppe“ klassifizierte, infolgedessen er zuerst in verschiedene sowjetische Gefängnisse (Lubjanka, Lefortovo, Butyrka) gesteckt wurde und später in den Gulag nach Norilsk am nördlichen Eismeer (die Halbinsel Taimyr) verschleppt, wo er in den Uranberggruben fast zehn Jahre lang schuften musste. „Das ist ein Schreckenswort für die Kenner – schreibt über diese Gegend Wolf Biermann. – Endlose Winter. Ewiges Eis. Uranbergbau. Hunger. Der gefürchtete Kältesturm Purga. Ein besonders brutales Lager-Reglement. Grausame Schikanen. Wahnwitzige Disziplinarstrafen.“27 In all diesen Jahren war es dem Dichter streng verboten, ein Fetzen Papier oder einen Stift zu haben, so dass er seine Gedichte, die auch dort unter menschenwidrigen Bedingungen entstanden, nur im Gedächtnis behalten konnte, wie z.B. diese beeindruckenden Verse, die er erst nach seiner Befreiung schriftlich fixieren und Jahrzehnte später publizieren konnte: DER KUSS Das weiße Licht vom Wächterturm fließt über die da hocken auf dem Brett im Schwarzen Sturm und fallen lassen Brocken Die Wachen nah daneben stehn im Anschlag ihre Flinten sie können so auch dienstlich sehn wohl die Verrichtung hinten Daß zwei Gesichter unbedacht sich zueinander trauen
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Zit. nach Stefan Sienerth, „Alles Erlebte übertrug ich in die Bilderwelt meiner Verse“, S. 160. Wolf Biermann. Die Füße des Dichters. Zum Tod des jüdischen Dichters Moses Rosenkranz. In: Der Spiegel, Nr. 22 vom 26.05.2003, S. 151.
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veranlasst einen von der Wacht von vorne hinzuschauen Und als er löste seinen Schuß ein Mundpaar zu erzielen blieb lange noch im Frost der Kuß nur die Gesichter fielen28
Nach der Verhaftung von Rosenkranz gaben im Sommer 1947 seine Freunde Hermann Roth und Immanuel Weißglas in Bukarest seinen vierten Lyrikband „Gedichte“ als Privatdruck unter dem Pseudonym Martin Brant heraus. Das Bändchen hatte den Untertitel „Das deutliche Leben“, zählte 93 Seiten und war mit einem Motto aus Friedrich Hölderlins „Lebenslauf“ ausgestattet: „Größeres wolltest auch du, aber die Liebe zwingt / all uns nieder, das Leid beuget gewaltiger, / doch es kehret umsonst nicht / unser Bogen, woher er kommt!“29. Nach diesem Buch trat dann eine unendliche Publikationspause ein, die, abgesehen von der Veröffentlichung von 27 Gedichten in der Bukarester Zeitschrift Neue Literatur im Jahre 197130, rund 40 Jahre dauerte. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Dichter nach all den im Gulag erlittenen Entbehrungen verstummte. Es war gerade umgekehrt: Als er nach Stalins Tod wieder unter strenger Bewachung nach Bukarest zurückgebracht wurde, erwarteten ihn – als einen in den Augen der kommunistischen Macht Rumäniens politisch unzuverlässigen, verdächtigen „Schädling“ – noch etliche rumänische Gefängnisse wie die berüchtigten Zuchthäuser Jilava und Gherla. Erst 1957 wurde er endgültig entlassen und begann fieberhaft all seine im Kopf gespeicherten älteren Gedichte dem Papier anzuvertrauen und neue Texte zu schreiben. Es war die Zeit seiner intensivsten dichterischen Tätigkeit. Außer den neuverfassten Gedichten, die er im nächsten Gedichtband „Aurora“ zu veröffentlichen beabsichtigte, sind in den Jahren 1957 bis 1961 weit 28 29 30
Moses Rosenkranz. Im Untergang. Ein Jahrhundertbuch. München: Südostdeutsches Kulturwerk 1986, S. 96. Siehe auch in: Visionen, S. 60. Friedrich Hölderlin. Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. von Günther Mieth. Berlin; Weimar: Aufbau-Verlag 1970, Bd. 1: Gedichte, S. 387. Moses Rosenkranz. Gedichte. Hrsg von Paul Schuster. In: Neue Literatur (Bukarest), Nr. 1, 1971.
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gediehene Romanentwürfe „Der Hund“, „Die Leiden der Eltern“, Erinnerungsfragmente „Kindheit“ und „Jugend“ sowie das Versepos über die Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion „Der Rote Strom“ entstanden. Doch alle Versuche, diese Manuskripte im kommunistischen Rumänien zu publizieren, scheiterten: Auf dem Namen des Dichters lag das Brandmal eines ehemaligen Gulag-Häftlings, kein rumänischer Verlag wagte es, ein Buch von ihm herauszubringen. Dieses beklemmende Gefühl einer unsichtbaren, aber immer präsenten und beinahe mit der Haut spürbaren Verfolgung, die auf den Dichter hinter jeder Ecke lauerte, das Empfinden einer absoluten Einsamkeit und Verlassenheit im Nachkriegsbukarest unter der kommunistischen Diktatur drückt am besten sein 1958 geschriebenes Gedicht „Der Erledigte“ aus: DER ERLEDIGTE Zu mir kommt niemand zu Besuch und mich erwartet niemand mehr: Gestrichenem im Lebensbuch versagt die Welt die Wiederkehr. Sie hat auf mir schon ausgeweint und letztes Wort auf mich gelegt; wer sieht schon gern, wenn Sonne scheint, daß sich ein Toter herbewegt? Und das bin ich. Sie will es nicht, daß ich entstiegen bin dem Grab und nahm verfloßnes Angesicht und wiederkomm den Berg herab. Gestrichenem im Lebensbuch versagt die Welt die Wiederkehr: Zu mir kommt niemand zu Besuch Und mich erwartet niemand mehr.31
Im Sommer 1961, nachdem Rosenkranz durch Freunde vorgewarnt worden war, dass der rumänische Geheimdienst Securitate einen neuen Gerichtsprozess gegen ihn vorbereitet, entschied er sich für die illegale Flucht aus Rumänien. Über Ungarn, Österreich und 31
Rosenkranz. Bukowina, Gedichte 1920-1997, S. 117.
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die Schweiz traf er am 2. August 1961 in einem Lager für politische Flüchtlinge im bayerischen Piding ein und ließ sich später mit seiner dritten Frau, der Schweizer Fotografin Doris Rosenfeld, im Schwarzwälder Dorf Lenzkirch-Kappel nieder, wo er sich ein Haus bauen ließ und dann über 40 Jahre lang bis zu seinem Tode einsam lebte. Zuerst erhoffte sich Rosenkranz einen schnellen dichterischen Aufstieg in der Bundesrepublik Deutschland. Doch die literarische Konjunktur erwies sich für ihn höchst ungünstig. Anfang der 1960er herrschten im Nachkriegsdeutschland ganz andere literarische Trends als jene, zu denen er selbst sich bekannte. Die traditionsgebundene, in ihrer Bildlichkeit und ihrem Vokabular an der deutschen Klassik orientierte, manchmal auch regional gefärbte poetische Sprache seiner Gedichte wurde als unangemessen, anachronistisch empfunden. Auch die jahrzehntelange Abgerissenheit des Dichters von dem deutschsprachigen literarischen Betrieb infolge seiner zehnjährigen Haft im Gulag und die nachfolgende Isolierung in der Schwarzwälder Einöde, das Fehlen jeglicher Kontakte zu deutschen Verlagen, Literaturkritikern und Medien stellten ihn, im Unterschied zu anderen deutschjüdischen Dichtem aus der Bukowina, in die Position eines absoluten Außenseiters Im oben erwähnten Interview mit Stefan Sienerth erklärt er die Gründe dieser fatalen Situation: Jüngere Dichter, die die Bukowina bedeutend früher als ich verlassen konnten, hatten das Glück, von den Wellen einer bestimmten Konjunktur hochgespielt zu werden. Mir fehlte diese Lobby, und ich habe sie auch nicht gesucht. Ich war immer ein „Alleinläufer“ und bin auch heute noch einer. So blieb ich „unbehandelt“, aber auch „unverhandelt“.32
Sein literarisches Gesamtwerk lag somit lange Zeit nur in Form von Manuskripten und Typoskripten vor – so die auf einer Druckmaschine geschriebene Gedichtsammlung in acht Teilen sowie manche prosaische Projekte. Erst in den 1980er Jahren erschien in kleineren deutschen Verlagen eine zweibändige Gedichtausgabe
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Stefan Sienerth. „Alles Erlebte übertrug ich in die Bilderwelt meiner Verse“, S. 148.
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unter den Titeln „Im Untergang“ und „Im Untergang II“33. Ihnen folgten dann die beim Aachener „Rimbaud Verlag“ herausgebrachten Gedichtbände „Bukowina“ und „Visionen“34. Aber auch diese Publikationen konnten an der Ignorierung des Dichters seitens der deutschen literarischen Instanzen grundsätzlich nichts ändern – er blieb unbekannt und unerkannt, in einem gewissen Sinne aus der Zeit herausgefallen. Seine Gedichte, die die neueren poetologischen Trends völlig ignorierten und statt ihnen eigenwillige Bilder und sprachliche Konstruktionen anboten, kamen auch Literaturhistorikern und Kritikern als Rudimente des 19. Jahrhunderts vor, man stand ihnen etwas ratlos gegenüber. Deswegen müssen sich die Rosenkranz-Forscher zuerst ein entsprechendes Instrumentarium aneignen, mit dem sie an diesen Dichter und seine poetischen Produkte herantreten können, denn die übliche, allgemeingültige Optik versagt hier. Die Gedichte von Moses Rosenkranz – schreibt einer der frühen Entdecker des Bukowiner Dichters, der Schweizer Literaturkritiker Kaspar Niklaus Wildberger – zwingen den Literaturwissenschaftler, eingefahrene Geleise der Literaturbetrachtung und -kritik zu verlassen. Denn daß jemand nach diesem Schicksal noch schreiben kann und nicht verstummt – allen möglichen Dieta zum Trotz! –, das zeigt allen interessierten Lesern deutlich, dass Worte noch etwas zu sagen haben.35
Der ersehnte Durchbruch kam erst nach der Publikation des autobiographischen Fragments „Kindheit“ (2001)36 – „einer Mischung
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Moses Rosenkranz. Im Untergang. Ein Jahrhundertbuch. München: Südostdeutsches Kulturwerk 1986, 112 S.; Moses Rosenkranz. Im Untergang II. Ein Jahrhundertbuch. Thaur/Innsbruck: Wort und Welt Verlag 1988, 102 S. Moses Rosenkranz. Bukowina. Gedichte 1920-1997. Zusammengestellt vom Verfasser unter Mitwirkung von Doris Rosenkranz und George Guţu. Mit einem Interview von Stefan Sienerth und einem Essay von Hans Bergel. Mit sechs Gouachen von K. O. Götz. Aachen: Rimbaud 1998, 192 S.; Moses Rosenkranz. Visionen. Gedichte. Hrsg. und mit einem Nachwort von Doris Rosenkranz. Aachen: Rimbaud 2007, 160 S. Kaspar Niklaus Wildberger. Moses Rosenkranz – der Vater der BukowinaDichtung, S. 181. Moses Rosenkranz. Kindheit. Fragment einer Autobiographie. Hrsg. von George Guţu und Doris Rosenkranz mit einem Essay von Mattias Huff. Aachen: Rimbaud 2001, 256 S.
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aus Autobiographie und pikareskem Roman“37, die er noch 1957, nach seiner Entlassung aus dem Gulag, in Bukarest zu schreiben begann und dann in Deutschland immer wieder verarbeitete. Darin schilderte er die ersten fünfzehn Jahre seines Lebens – von der Geburt im bukowinischen Dorf Berhomet und den frühen Kindheitserfahrungen in anderen kleinen Orten der Bukowina bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, dem Zerfall des Habsburgischen Kaiserreiches und dem Austritt aus dem Gymnasium. Man definiert diese sehr intime, unglaublich verdichtete Darstellung einer Persönlichkeitswerdung auch als „Bildungs- und Erziehungsroman“38. Wie auf einer magischen Leinwand entfalten sich vor uns beeindruckende Episoden und Szenen der erbärmlichen dörflichen Existenz der Eltern, die Beziehungen mit Geschwistern, Kriegs- und Fluchtleiden der Familie, pubertäres Erwachen und erste literarische Versuche des Autors. Das Buch erhielt eine gute Presse in überregionalen und internationalen Medien, manche Rezensionen waren euphorisch, DER SPIEGEL nahm es auf seine Bestsellerliste. Doch diese Welle der verspäteten Anerkennung konnte den Dichter kaum mehr erreichen – 1996 erblindete Rosenkranz, kurz darauf wurde er taub und verlor auch wieder die Sprache. Die letzten Lebensjahre war er bettlägerig und bewusstlos. Seine Frau Doris pflegte ihn hingebungsvoll, aber seine Kommunikationsfähigkeit ging für immer verloren. Etwa ein Jahrzehnt nach dem Tod des Dichters erschien der zweite Teil dieser Autobiographie – das ebenfalls fragmentarische Buch „Jugend“39, das hauptsächlich seine Erlebnisse auf der Wanderschaft in den 1920er Jahren über die Stationen Krakau, Triest, Bukarest, Wien, Passau, München, Straßburg, Paris bis Blois an der Loire beschreibt, wo er sich als Gepäckträger, Tagelöhner, landwirtschaftlicher Saisonarbeiter, Packer bei einer Schuhfabrik etc. über Wasser hielt. Die Erzählung bricht mit der Herstellung 37 38 39
Edward Kanterian. Im Wort versteckt. In: Neue Zürcher Zeitung vom 02.06.2001. Thomas Rietzschel. Dunkler Zauberwald der Sprache. In. Frankfurter Allgemeine Zeitung von 28.08.2002, Nr. 199, S. 34. Moses Rosenkranz. Jugend. Fragment einer Autobiographie. Teil II. Hrsg. von Doris Rosenkranz mit einem Essay von Matthias Huff. Aachen: Rimbaud 1914,160 S.
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und Drucklegung seines ersten Gedichtbandes „Leben in Versen“ ab, der den Anfang seiner literarischen Laufbahn signalisierte. Diese postume Publikation aus dem Nachlass, die strukturell recht kaleidoskopisch, stilistisch etwas schwerfällig wirkt, konnte nicht mehr den Erfolg des „Kindheit“-Fragments erreichen, obwohl es als seine Fortsetzung für die Rekonstruktion einer bestimmten Lebensetappe des Autors unersetzlich bleibt. Das 2021 ebenfalls aus dem Nachlass erschienene Romanfragment „Der Hund“, das den Untertitel „Franz Dubas Bericht“40 hat, war als erster Teil einer Romantrilogie gedacht, deren andere Teile nie geschrieben wurden. Sein Typoskript wurde nach dem Tode des Dichters von dem damaligen Mitarbeiter des Rimbaud Verlags Walter Hörner zufällig bei der Aufräumung des Hauses in einem Haufen alter Papiere aufgefunden. Der Roman, inzwischen von den Literaturhistorikern als ein „Unikum der Weltliteratur“ bezeichnet41, ergänzt die Galerie wichtiger Holocaustwerke, die diesen schmerzhaften Stoff in belletristischer Form thematisieren. Die sich erhaltene einzige Fassung wurde Anfang 1958 in Bukarest begonnen, später einige Male umgearbeitet. Für den Autor selbst sollte es eine wesentliche Umstellung gewesen sein – bis dahin verfasste er nur lyrische Texte. Aber vielleicht hatte er gespürt, dass die lyrische Gattung den brutalen Stoff, den er literarisch darzubieten vorhatte, nicht mehr tragen konnte. Auch die reine Faktographie schien ihm unzulänglich zu sein, er wollte sie durch künstlerische Mittel wie Groteske, Sarkasmus, Ironie und schwarzen Humor verstärken. „Der ganze Text ist in mehrfacher Hinsicht artifiziell: Er ist künstlerisch intensiv durchgearbeitet, sprachlich dicht, und er ist in seiner Fiktionalität jederzeit erkennbar“42 – betont in seinem Vorwort zum Buch der deutsche Literaturwissenschaftler Sascha Feuchert. Der Roman ist eine groteske Geschichte eines Hundes, den die nationalsozialistischen Schergen in einer alten Festung auf dem 40 41 42
Moses Rosenkranz. Der Hund. Franz Dubas Bericht. Hrsg. von Sascha Feuchert und Andrea Löw. Mit zwei biografischen Essays von Burkhard Baltzer. Unter Mitarbeit von Elisabeth Turvold. Aachen: Rimbaud 2021, 216 S. Sascha Feuchert. Hinführung zu einem Unikum. In: Moses Rosenkranz. Der Hund, S. 5. Sascha Feuchert. Hinführung zu einem Unikum, S. 7.
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Territorium des besetzten Polens zu einer reißenden Bestie und einem schrecklichen Werkzeug gegen KZ-Häftlinge abzurichten versuchen. Im Laufe der Handlung verflechten und kreuzen sich mehrmals die Schicksale der Protagonisten – des Mittelschullehrers Franz Duba, der wegen seines stillen Widerstands dem nazifreundlichen Schuldirektor gegenüber ein Opfer sadistischer Repressalien und Torturen wird, seiner ehemaliger Zöglinge, des vormals leistungsschwachen Schülers Hubala, der unter den Nazis eine steile Kariere macht und zum Sturmführer avanciert, des Mädchens Julia Paschkes, die später als Prostituierte in den nazistischen Bordellen eingesetzt wird, und des Hundes Nero, der seinerzeit im Hause Paschkes zur Welt kam und als Welpe von Julia zärtlich betreut und verwöhnt wurde. Nun wird er zum aggressiven Dressurobjekt der SS-Leute in der nazistischen „Strafkolonie“, der sogenannten „Gemischten Reichsoberausbildungsanstalt für Vernichtungslageroberwachtmannschaften und Hunde“ (ein markantes Beispiel nationalsozialistischer Sprachverzerrung!). Und obwohl diese Geschichte vom Autor frei erfunden ist, beruht sie auf realen Begebenheiten, denn nicht selten haben verbrecherische diktatorische Regime in ihren Strafanstalten speziell abgerichtete Hunde zur Verfolgung der Regimegegner verwendet. So beschreibt der Insasse des KZ-Lagers Mauthausen Dura Bernhard, wie im November 1943 ein versteckter Lagerhäftling mit Hilfe dressierter Hunde entdeckt und lebendig zerfleischt wurde: „Die Hunde mit Begleitung der SS haben den Häftling buchstäblich zerrissen, so, dass die Eingeweide in allen Richtungen liegen geblieben sind.“43 Im Rosenkranz’schen „Hadesreich“, in dem sich die Ereignisse dieses Romans abspielen, werden die Häftlinge zu Schweinestall- und Erdlochbewohnern degradiert. Aber auch in diesem Zustand verlieren sie nicht ganz ihre menschlichen Züge und moralischen Grundsätze, so der verkrüppelte Lehrer Franz Duba, seine Schülerin Julia Paschkes oder der junge russische Gefangene, der Sanitäter Scharikin, die allesamt das von den Nazis in der Hunde-Ausbildungsanstalt geplante höllische Schauspiel zum Scheitern bringen. 43
Zit. nach Andrea Löw. „Der Hund“ – Versuch einer historischen Einordnung. In: Moses Rosenkranz. Der Hund, S. 197.
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Das Buch ist voller brutaler, grausamer, zuweilen naturalistischer Szenen, die Rosenkranz, als langjähriges Opfer des nationalsozialistischen und stalinistischen Terrors, nicht nur vom Hörensagen kannte. Auch die grobe, drastische Sprache dieses Buches entspricht der unmenschlichen Realität der repressiven Maschinerie des Nazireichs. „Der verstörende Versuch der Fiktionalisierung historischer Ereignisse“44 – bezeichnet dieses Romanfragment Andrea Löw. Das Fragmentarische von Rosenkranz’schen Prosawerken scheint kein bewusster Wille zu sein, eher das Zeugnis der Unmöglichkeit, die grauenvollen Etappen seines Lebens in gestraffter, abgeschlossener Form darzustellen. „Ich habe bislang bereits mehrere Male dazu angesetzt, über mich zu schreiben. Es gelang mir nie. Die Realität meines Lebens entzieht sich jeder Möglichkeit einer Schilderung“45, sagt der Dichter. Die Tragik und das Übermaß von Leiden verschlugen ihm dabei immer Atem und Sprache und ließen das Unsagbare ungesagt bleiben. All die Zeit, die Rosenkranz im Schwarzwälder Lenzkirch-Kappel lebte, hörte er nicht auf, an seine geliebte Bukowina zu denken und sie in seinen Gedichten zu preisen. In seinem gleichnamigen Gedichtband „Bukowina. Gedichte 1920-1997“, den er noch selbst zusammenstellen konnte, sammelte er noch einmal seine besten Gedichttexte zu diesem für ihn so schmerzhaft nahen und nostalgischen Thema, um seiner Liebe zu diesem unvergesslichen Stück Heimat Ausdruck zu geben. Für ihn blieb die Bukowina ein gesegnetes Land der Kindheit, das bis zu seinem Lebensende in seinem Gedächtnis vorschwebte und eine ungewöhnlich starke Ausstrahlung auf ihn ausübte. Fast in jedem Gespräch kehrte er auf die Bukowina zurück und betonte, wie viel sie für ihn bedeutet: Ich habe mir einen Daueraufenthalt außerhalb der Bukowina nie richtig vorstellen können. Ich fiebere auch jetzt, vor allem seit dem Zusammenbruch des Kommunismus in Südosteuropa, vor Sehnsucht zurück. Allein die Beziehung zu meiner Frau hat mich hier gehalten, und jetzt hindert uns unser Alter, in meine Heimat zu fahren.46
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Andrea Löw. „Der Hund“ – Versuch einer historischen Einordnung., S. 199-200. Stefan Sienerth. „Alles Erlebte übertrug ich in die Bilderwelt meiner Verse“, S. 162. Stefan Sienerth. „Alles Erlebte übertrug ich in die Bilderwelt meiner Verse“, S. 154.
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Im Grunde ist Moses Rosenkranz in seiner Denk- und Sinnesart, in seiner psychologischen Veranlagung ein dichtender Bauer geblieben, ein bukowinischer Hesiod, dessen Gedichte tief im archaischen Wesen des Bauernlebens verwurzelt sind. Er schrieb zwar keine didaktischen Anweisungen für Ackerbau und Viehzucht wie der altgriechische Rhapsode, aber intuitiv und tiefenpsychologisch wurde sein poetisches Weltbild durch seine ländliche Sozialisation im Bukowiner Dorf am Rande der Karpaten für immer geprägt. In einem Rundfunkinterview aus dem Jahre 1993 sagt der fast 90-jährige Dichter: Ich bin auch heute noch Bauer. Obgleich ich seit meinem 15. Lebensjahr, wie mir oft versichert wurde, druckreif schreibe, habe ich mich nie als Schriftsteller empfunden. Und wenn ich Lyrisches verfasste, habe ich mich geniert und habe das meiste zerstreut oder verbrannt. Heute im Alter bin ich schwach genug, mich als Lyriker zu verstehen.47
Die letzten Jahre seines langen Lebens war der Dichter von der Welt total abgeschnitten – er war blind, taub und stumm. Vorher, bevor dieser beklagenswerte Zustand eingetreten war, hatte er in mehreren Gedichten über den Tod philosophisch reflektiert, den er als Teil des Lebens betrachtete, als einen Schlusspunkt menschlicher Existenz, der seit einem bestimmten Zeitpunkt von dem Menschen geradezu herbeigesehnt wird. In diesem Sinne liest sich, angereichert von der dramatischen Erfahrung des eigenen Lebenslaufes und der nüchternen bäuerlichen Lebensweisheit des Autors, eines seiner späten Gedichte „Wie mußt du kostbar sein“, das den postum publizierten, von seiner Witwe Doris herausgegebenen Gedichtband „Visionen“ eröffnet: Wie mußt du kostbar sein Tod böser Edelstein daß man dich zu erkaufen muß durch sein ganzes Leben laufen daß man dich zu erwerben muß sterben ja sterben48 47 48
Zit. nach Mattias Kußmann. „Dem Tod im Schnee zu entgehen, versteckte ich mich im Wort“. Ein Porträt des deutsch-bukowinischen Dichters Moses Rosenkranz. In: Allmende. Zeitschrift für Literatur, Nr. 75, Sept. 2005, S. 78. Moses Rosenkranz. Visionen, S. 15.
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Der Tod als Erlöser, der Tod als ersehnte Belohnung und Trost des Menschen nach einem so leidvollen Leben. Man kann in diesen lakonischen Zeilen des Gedichtes von Moses Rosenkranz das verwandte Leitmotiv des geistlichen Liedes J. S. Bachs „Komm, süßer Tod, komm selge Ruh“ nicht überhören. „Dieser rebellische Mensch hat es nämlich geschafft, seine Zeit auf Erden auf fast hundert Jahre auszudehnen, obwohl er doch auf seinem Lebensweg tausend Tode gestorben ist“49, schrieb in seinem Nachruf auf das Ableben des Dichters Wolf Biermann. Wenn man retrospektiv auf das bis heute veröffentlichte dichterische Werk von Moses Rosenkranz zurückblickt, so wird man, angesichts der furchtbaren Umstände seines Lebens, über seinen Umfang erstaunt sein. Immerhin sind es 13 Bücher, darunter 8 Gedichtbände und 5 Bände Prosa (zwei autobiographische Fragmente, das Romanfragment „Der Hund“ sowie zwei Bände Briefwechsel mit Alfred Margul-Sperber und Kaspar Niklaus Wildberger)50. Es war, trotz aller schrecklichen Katastrophen, die seine Existenz verdunkelten, ein erfülltes dichterisches Leben.
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Wolf Biermann, Die Füße des Dichters, S. 150. Moses Rosenkranz. Briefe an Alfred Margul-Sperber 1930-1963, mit autobiographischen sowie literaturkritischen Dokumenten, hrsg. von George Guţu. Aachen: Rimbaud 2015, 222 S.; Briefe an Kaspar Niklaus Wildberger: 19781993. Mit einem Vorwort von Kaspar Niklaus Wildberger. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Bernhard Albers. Aachen: Rimbaud 2016, 108 S.
„Vergeßner Gast am Niemandstisch“ Alfred Kittner Neben dem anerkannten Doyen der Bukowiner Dichter der Zwischenkriegszeit Alfred Margul-Sperber ist Alfred Kittner eine der schillerndsten Figuren der älteren Generation der deutsch-jüdischen Czernowitzer Autoren. Obwohl er, gleich seinem um einige Jahre älteren Freund und Dichterkollegen, keine systematische Hochschulausbildung absolviert hatte, gilt er zu Recht als einer der größten Intellektuellen und Poeta doctus der Bukowiner kulturellen Landschaft. Seine literarische Beschlagenheit, insbesondere im Bereich der deutschen Lyrik, ist erstaunlich. „Mein Leben war sozusagen literarisch verseucht. Wenn nicht von Literatur die Rede war, habe ich gewöhnlich große Langeweile empfunden“1, sagte er später in einem Interview mit Gerhard Csejka. Keine der mehr oder weniger bedeutenden Erscheinungen der deutschen Literaturgeschichte blieb von ihm unbeachtet, er war ungemein belesen, ein richtiger Bücherwurm, der jeden der lyrischen Autoren vergangener Literaturepochen und der Gegenwart kannte und ihre Gedichte aus dem Gedächtnis frei zitieren konnte. Diese Eigenschaft sicherte ihm eine besondere Stellung unter den Bukowiner Lyrikern, die sich nach dem Tode von Margul-Sperber noch verstärkte. Dabei wurden seine frühen literarischen Interessen weder von materiellen Verhältnissen noch von geistigen Dispositionen der Familie besonders gefördert. Alfred Kittner wurde am 24. November 1906 in einer kleinbürgerlichen deutschassimilierten jüdischen Familie geboren, die sich eine gut sortierte Hausbibliothek kaum leisten konnte. Immerhin gab es im Haus einen Bücherschrank, den der Vater unter Verschluss hielt, so dass der Junge als ABC-Schüler nur die Titel auf den Buchrücken durch die Glasscheiben lesen konnte. Nach dem frühen Tod der Mutter führte sein Vater, ein Bankbeamter, ein richtiges Junggesellenleben. 1
Gerhard Csejka. Zum 70. Geburtstag Alfred Kittners. Ein Gespräch. In: Neue Literatur (Bukarest), Nr. 11/1976, S. 8.
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Die meiste Zeit verbrachte er im Büro, abends saß er bis in die tiefe Nacht mit Freunden in einem Stammlokal oder Herrenklub, so dass die Erziehung Alfreds und seines älteren Bruders der Magd namens Lena anvertraut war, die nur einen Rat kannte, wenn sich die Kinder über die Langeweile beklagten: „Nimm Kopf, schlag Wand“.2 Die meiste Zeit waren sie hauptsächlich auf sich selbst gestellt. Das Interesse für Literatur entdeckte Kittner bereits im frühen Kindesalter, als die Familie während des Ersten Weltkrieges nach Wien flüchtete. In seinen „Erinnerungen“ erzählt er eine bezeichnende Episode über seine erste Begegnung mit der deutschen lyrischen Dichtung, die während des Kriegsaufenthalts der Familie in Wien stattfand: Unser Onkel führte uns zu einem Konzert des Wiener Männergesangvereins, das im Saal des Wiener Konzerthauses stattfand. Dort gab es Programmhefte mit den Texten der gesungenen Lieder (…) Während des Gesangs verfolgte ich – da ich damals schon lesen konnte – die Texte (…) Buchstäblich hingerissen war ich … von Robert Schumanns Vertonung des Eichendorff-Gedichts „Es war als hätt’ der Himmel die Erde still geküsst“. Das Gedicht wirkte auf mich geradezu blitzartig; ich las, während ich der Musik lauschte, den Text und war berückt, empfand die ganze Schönheit, die Naturliebe, die aus diesem Gedicht spricht, und war dann bemüht, alles von Eichendorff kennenzulernen. Von meinem nächsten Taschengeld kaufte ich mir eine billige Volksausgabe, die ich hierauf ständig in meiner Jackentasche trug. Auch als wir nach Czernowitz zurückkehrten, las ich immer wieder ein broschiertes Heftchen mit den Gedichten Eichendorffs unter der Bank. Kein anderer Dichter hat mir in meiner Jugend eine solche Freude bereitet.3
Die ersten literarischen Federproben des jungen Kittner waren dramatische Bearbeitungen von Andersens Märchen, die er unter dem Eindruck der Theaterstücke Ludwig Uhlands machte. Er schmückte diese Bearbeitungen mit selbstgefertigten Illustrationen, verfasste auch viele kleine kunstgeschichtliche Beiträge über die neuromantische Malerei, so über seine Lieblingsmaler Arnold Böcklin, Hans Thoma, Anselm Feuerbach oder Hans von Marées. Seine zeichnerischen Versuche fielen meistens in chargierter Form aus, während er die Proportionen bewusst überzog und eine Art 2 3
Alfred Kittner. Erinnerungen 1906-1991. Hrsg. von Edith Silbermann. Mit einem Nachwort von Theo Buck. Aachen: Rimbaud 1996, S. 10. Alfred Kittner. Erinnerungen, S. 11.
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Karikaturen zeichnete. „Ich stand stundenlang vor dem Spiegel, schnitt Grimassen, und gab diese Grimassen in einem Zeichenblock wieder. Es waren Selbstporträts, aber alle in sehr verzerrter Form“4 – erinnert sich der Dichter. Auf die Frage, was er beruflich werden möchte, antwortete er immer schlagfertig: „Clown oder Papst“5. Damals hatte er E. T. A. Hoffmanns „Goldenen Topf“ und Washington Irvings „Alhambra“ mit seinen Zeichnungen in Pastell und Tusche versehen.6 Sein erstes Gedicht schrieb er im Alter von fünfzehn Jahren, als Gymnasiast publizierte er seine Texte in der Schülerzeitschrift „Lache Bajazzo“, die er als Gegenstück zum „offiziellen“ Schülerblatt „Der Klassenspiegel“ mit einem engen Freundeskreis herausbrachte. Seine künstlerische und literarische Veranlagung ließ ihn aber ungeliebte Schulfächer ganz vernachlässigen, nur in Deutsch zeigte er gute Leistungen. Seine Schulaufsätze erregten in Schülerkreisen großes Aufsehen, der Deutschlehrer las sie in höheren Klassen sogar als Musterwerke vor. Im Gymnasium brachte es Kittner allerdingst nur bis zur sechsten Klasse, da er auf Wunsch des Vaters einen Bankkurs machen und eine Handelsschule besuchen musste. In dieser Zeit entwickelte er aber eine außerordentliche schöpferische Produktivität. „Es verging kaum ein Tag – und dies eine geraume Weile – an dem ich nicht ein oder zwei Gedichte verbrochen hätte“7, erinnert sich der Dichter. Obwohl schon seiner jüdischen Abstammung immer bewusst (seine Ahnen waren sephardische Juden, die aus Spanien oder Portugal über Italien in die Bukowina gekommen waren), betrachtete Kittner sein Judentum eher als eine ethnische und kulturelle denn als eine religiöse Angehörigkeit. Gleich den anderen deutschassimilierten jüdischen Bürgern der Stadt besuchte die Familie die Synagoge nur an hohen jüdischen Feiertagen, die strengen religiösen Vorschriften und Riten des Judentums wurden kaum eingehalten. Orthodoxe fromme Juden wirkten auf den jungen Kittner exotisch, er hat sie oft in seinen Zeichnungen karikiert. Einer 4 5 6 7
Alfred Kittner. Erinnerungen, S. 14. Alfred Kittner. Erinnerungen, S. 15. Edith Konradt. Fluchtgepäck Zeitenmüll. Vierteljahresblätter, 39/990, Folge 1, S. 15. Alfred Kittner. Erinnerungen, S. 14.
In:
Südostdeutsche
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seiner Onkel bekannte sich bereits als Student zum evangelischen Glauben – man feierte in seinem Haus Weihnachten, schmückte den Christbaum, sang Weihnachtslieder. Dieser freie ökumenische Geist hatte auch die Ansichten des jungen Dichters bestimmt, und bis zur Verfolgungszeit überwog bei ihm sogar der christliche Einfluss, was später auch in seinen Gedichten einen spürbaren Niederschlag finden wird („Weihnachtstraum“, „Eine Christnacht“, „Johannes der Täufer“, „Ostern 1933“, „Gebet“, „Pfingstgesang“). Eine erzwungene Zäsur in den poetischen Aktivitäten Kittners bildete seine Militärzeit in der rumänischen Armee, in die er 1927 nach Sathmar (Satu-Mare) in Siebenbürgen an der ungarischen Grenze einberufen wurde. Für einen träumerischen, sensiblen, poetisch veranlagten jungen Mann war der Militäralltag mit seiner ständigen Hast, schlechter Verpflegung, dauernden Gewaltmärschen und sadistischen Schikanen der Vorgesetzten eine Plage. Einige Male wurde er dort wegen angeblicher Verstöße gegen das Reglement zu vielen Tagen Karzer verurteilt und unmenschlich behandelt. Eine Reminiszenz an diese Lebensperiode enthält sein Gedicht „Herbstmanöver“. Eine neue Lebensphase begann für Alfred Kittner mit seiner Breslauer Zeit. Sein älterer Bruder Hans hatte dort Medizin studiert und bald darauf eine Stellung als Arzt in einem städtischen Krankenhaus bekommen. Da überall eine große Wirtschaftskrise herrschte, wurde beim Familienrat beschlossen, dass auch Alfred ins damals noch deutsche Breslau kommen soll, um seine materielle Existenz abzusichern. Da er aber keinen Beruf hatte, verschaffte ihm der Schwiegervater seines Bruders die Stelle eines „Bücherneppers“ (Bücheragenten) – gewappnet mit Buchattrappen (Leporellos) sollte er vom Haus zu Haus gehen und Bücher zum Verkauf anbieten. Leider hatte er mit dieser Tätigkeit keinen Erfolg – es gelang ihm keinen einzigen Kunden zu einer Buchbestellung zu bewegen. Er lernte aber bei dieser Gelegenheit einige Breslauer Schriftsteller kennen (Arnold Ulitz, Paul Barsch, Fritz Walter Bischoff). Das in Breslau geschriebene Gedicht „Bücherneppers Klage“ gibt eine Vorstellung von diesen mühevollen, aber ergebnislosen Anläufen des jungen Dichters in einer fremden Stadt.
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Noch aussichtsloser erwies sich sein anderer Breslauer „Beruf“ als Vertreter einer Herrenwäschefirma. Eine wahre Freude bereiteten ihm dagegen die Literaturvorlesungen am Germanistischen Institut der Universität Breslau, die er als freier Hörer besuchte. In der alten, wunderbar ausgestatteten Universitätsbibliothek setzte er seine bereits in Czernowitz begonnene „literarische Archivistik“ fort, indem er viele Hefte mit Notizen über seine Lieblingsautoren und ihre Werke füllte. Hier konnte er sozusagen auf dem neuesten Stand der Dinge sein und Dichter der literarischen Moderne lesen, vor allem expressionistische Autoren, die ihm in Czernowitz unzugänglich waren. Zum regelrechten Universitätsstudium fehlten ihm jedoch die notwendigen Voraussetzungen, da er keinen abgeschlossenen Gymnasialkurs (Matura) hatte. Die Frucht dieser Studien war aber eine Reihe von seinen in Breslau geschriebenen spätexpressionistischen Großstadtgedichten, die lediglich zu einem kleinen Bruchteil erhalten blieben („Dirnengasse“, „Bettelnde Fiedel“, „Nonnenkloster“, „Feuchte Heimkehr“). Bereits in Czernowitz entdeckte er einen Autor für sich, der ihn später das ganze Leben begleiten wird – zwar keinen Lyriker, sondern einen Prosaschriftsteller, der ihn durch seine magische Erzählungsart aber so sehr verführte, dass er später immer wieder versuchen wird, diese unheimliche Atmosphäre, dieses Schweben zwischen Realität und Traum in seine Gedichte zu übertragen: Franz Kafka. Im Gespräch mit Gerhard Csejka teilt er mit, welch tiefen Eindruck auf ihn Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ in Kurt Wolfs Reihe „Jüngster Tag“ ausübte, die er als sechzehnjähriger in einer öffentlichen Bibliothek ausgeliehen hatte. Aber nicht nur das Eindringen des Irrealen in die Wirklichkeit, sondern auch die Nüchternheit der Darstellung hat ihn fasziniert, und in seiner Lyrik bemühte er sich von neuem diese Nüchternheit beizubehalten8. An einer anderen Stelle beschreibt er seine Verwirrung, die bei ihm Kafkas Erzählung „Das Urteil“ hinterließ, infolgedessen er dann zahlreiche Versuche unternahm, seine Gedichte so zu verfremden, dass sie etwas von dieser verzaubernden Magie Kafkas in sich 8
Gerhard Csejka. Zum 70. Geburtstag Alfred Kittners. Ein Gespräch. In: Neue Literatur, 11/1976, S. 12.
100 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ hätten9. Vor allem äußert sich diese Tendenz in Kittners Vorliebe zur Nachtseite des Lebens, wenn alle Dinge ihre realen Konturen verlieren und in die Sphäre des Irrealen, des Unheimlichen übergehen. Solch eine Stimmung durchdringt mehrere in Breslau geschriebenen Gedichte, aber auch spätere Texte, deren lyrische Konstellationen sich in einer gedämpften Atmosphäre abspielen. Die finanzielle Lage Kittners verschlechterte sich immer mehr. Es entstanden Spannungen mit seinem Bruder, der als diplomierter Facharzt mit pragmatischen Lebensansichten ihn für einen Unglücksraben hielt und ihm jede materielle Hilfe für die Zukunft verwehrte. Auch vom Vater erhoffte er sich keine Unterstützung mehr, da er in der Zeit der großen wirtschaftlichen Krise seine Stelle als Bankbeamter verlor und zudem schon krank war. In seinem damals entstandenen Gedicht „Lied Abels“, das er später in seinen ersten Gedichtband „Der Wolkenreiter“ aufnahm, projizierte der Dichter die Beziehungen beider Brüder auf eine symbolische Ebene, indem er, sich auf die biblische Legende stützend, ihre Verschiedenheit aufgrund diametral entgegengesetzter Lebensvorstellungen schildert: O wie wird mir dich zu lieben schwer, Großer Bruder du von Ungefähr, Wilder Bruder du in Wald und Steinen, Sieh, mit meinen reinen Blicken tauch ich in die deinen Und ich find sie schwarz und leer […]10
Das Gedicht stellte eine Auseinandersetzung des Dichters mit seinem Bruder dar, aber nicht mit ihm als Person, sondern „mit dem Bild, das ich mir damals von ihm machte“11 – erinnerte sich Kittner später. Im Laufe der Zeit haben sich beide entfremdet, der ältere Bruder hatte eine Karriere als Arzt gemacht, der Jüngere dagegen noch nichts erreicht, er fühlte sich ratlos und verloren, und diese Entfremdung wirkte so schmerzlich, dass sie dann in seinem „Lied Abels“ ihren Ausdruck fand. 9 10 11
Alfred Kittner. Erinnerungen, S. 117. Alfred Kittner. Der Wolkenreiter. Gedichte 1928-1938. Cernăuţi: Verlag Literaria 1938, S. 26. Alfred Kittner. Erinnerungen, S. 35.
��������������������������������� 101 Vom seelischen Zustand Kittners in der Breslauer Zeit gibt ein Brief vom 20.6.1930 Auskunft, den er in seiner Verzweiflung an Hermann Hesse geschrieben hatte und der hier, trotz seiner Länge, in vollem Umfang zitiert werden soll, denn er ist nicht nur höchst informativ, sondern zeigt auch jene völlige Desorientierung und Aussichtslosigkeit, in die der junge Dichter in Breslau geriet: Sehr geehrter Herr! Allein und einsam, in einem fremden Lande und einer fremden Stadt, seit Monaten ohne jede Aussicht zu einem Erwerbe, hungere ich mich geduldig durch die Tage. Nur dieser Umstand, nur die Hoffnung, durch Veröffentlichung dieser Gedichte eine auch noch so geringe Möglichkeit auf materiellen Verdienst, oder eine auch so kleine Anstellung in einem Zeitungs- oder Verlagsunternehmen zu finden, veranlassen mich, Ihnen, sehr geehrter Herr, einige meiner gereimten Beichten zur Beurteilung einzusenden, mir bei Ihnen Rat einzuholen, ob Sie die Gedichte für druckreif erachten und mir durch Zuspruch eine Veröffentlichung (sei es auch vereinzelt in Zeitschriften) erleichtern können. Ich bin Deutschrumäne, im alten Österreich geboren (1906), in guten Verhältnissen aufgewachsen, aber durch den Weltkrieg gänzlich verarmt. In der Schule kam ich nicht vorwärts, der Schreibteufel raubte mir alle Lust am Studium, jeden Ehrgeiz, mir eine praktische Lebensgrundlage zu schaffen. Der Militärdienst riß mich aus den Anfängen meiner Position. Zwei Jahre diente ich unter allerlei Qualen im rumänischen Heere an der ungarischen Grenze unter halbwilden rumän. Gebirgsbauern. Als ich einst unterließ, ein Bett vom dritten Stockwerk in den Hof zu tragen, bestrafte man mich mit 10 Tagen Kistchenstehen. Vier Tage und drei Nächte verbrachte ich in einem Schrank, der so groß klein war, dass ich mich nicht umwenden konnte. Über meine Füße krochen Ratten. Den Rest erließ man mir gnädigst. – Hierauf wand ich mich nach Deutschland, meiner alten Sehnsucht folgend, in der unsinnigen Hoffnung, mir hier eine Existenz zu schaffen. Ich versuchte es als Bücherreisender, als Wäscheagent etc. Alle meine Versuche schlugen fehl. – Enttäuscht, aller Mittel entblößt, ohne Freunde, die mir helfen könnten, und ohne auf eine Unterstützung von daheim rechnen zu können, gedenke ich in den nächsten Tagen in meine alte Heimat zu reisen und dort meine unfreiwillige Hungerkur fortzusetzen. Vielleicht, daß mir die Veröffentlichung der beigeschlossenen Gedichte so viel einzutragen vermöchte, daß ich mich vorübergehend wenigstens übers Wasser halten kann. Damit wäre ich wohlauf zufrieden. Sie sind einem größeren Zyklus entnommen, den ich „Herz im Taumel“ nennen möchte, und zwischen 1924 und 1930 entstanden. – Ich hoffe, sehr geehrter Herr, daß Sie so freundlich sein werden, mir diese Zeilen recht bald zu beantworten und verbleibe in Verehrung Ihr Alfred Kittner12
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In der Sprache der Mörder. Eine Literatur aus Czernowitz, Bukowina. Ausstellung des Literaturhauses Berlin. Konzeption und Realisation: Ernest
102 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ Angebracht wäre hier die Frage, warum der junge Dichter ausgerechnet Hermann Hesse für diesen Seelenschrei ausgewählt hat, denn die Anrede des Adressaten sowie der Inhalt des Briefes lassen kaum vermuten, dass beide einander vorher kannten – schon wegen des Altersunterschieds von fast dreißig Jahren und verschiedener, voneinander recht entfernter Wohnorte. Der offensichtliche Grund mag wohl darin liegen, dass Kittner von Hesses Werken schon als Schüler begeistert war (seine Erzählung „Unterm Rad“ las er bereits in seiner Wiener Zeit, später lernte er Hesses Gedichte aus deutschen Lesebüchern kennen und schätzen)13. Hesse war für ihn also schon damals eine unbestreitbare Autorität, obwohl sein Literaturnobelpreis ihm erst 1946 verliehen wurde. Eine andere Vermutung drängt sich auf, wenn wir in Betracht ziehen, dass Hesses Ehefrau Ninon (geb. Ausländer) aus Czernowitz stammte, und so könnte Kittner damit rechnen, dass der schon damals sehr bekannte Schriftsteller dem Brief eines Landsmanns seiner Frau mehr Aufmerksamkeit als anderen Briefen schenken würde. Wie dem auch sei, die Reaktion Hesses war ungewöhnlich schnell – er antwortete umgehend bereits am 23.6.1930: Sehr geehrter Herr Ich bin augenkrank und werde meistens nicht mit meiner Post fertig. Dennoch habe ich einen Teil Ihrer Verse gelesen, und habe an mehreren Gedichten Freude gehabt. Gern würde ich Ihren Wunsch erfüllen. Aber es geht nicht. Das deutsche Volk, seine Zeitungen und Redakteure haben nicht das mindeste Interesse für Gedichte, auch nicht für die besten, das ist ihnen völlig gleichgiltig. Ich schreibe selber viele Gedichte, und vor 20 Jahren noch hatte ich 10 deutsche Zeitschriften und mehrere Zeitungen, die meine Gedichte druckten und sogar honorierten. Heute, wenn ich einer Redaktion ein Gedicht sende, bekomme ich es sofort zurück, oder es wird bestenfalls nach vielen Monaten Wartens gedruckt, schlecht oder gar nicht honoriert. Also diesen Weg einzuschlagen, kann ich Ihnen nicht raten. Ich finde Sie begabt, aber ich kann Ihnen gar nicht raten, damit Ihr Brot verdienen zu wollen. Es grüßt Sie Ihr H. Hesse14
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Wichner und Herbert Wiesner. Literaturhaus Berlin 1993, S. 107-108 [Texte aus dem Literaturhaus Berlin. Hrsg. von Herbert Wiesner, Band 9]. Alfred Kittner. Erinnerungen, S. 15. In der Sprache der Mörder, S. 108.
��������������������������������� 103 Obwohl die Antwort Hesses recht freundlich war und anerkennende Worte über das dichterische Talent des jungen Autors enthielt, konnte sie dem Bedrängten leider nicht helfen, und so musste Kittner bald in seine Heimat, ins rumänische Czernowitz, zurückkehren. Aber auch in Rumänien herrschte damals große Arbeitslosigkeit, es war nicht einfach, irgendwo eine Dienststelle zu finden. Dank der Intervention seines Onkels Erich gelang es ihm jedoch (da er eine Handelsschule und einen Bankkurs hinter sich hatte) als Buchhalter bei der Czernowitzer Abteilung der „Marmorosch Blank Bank“ angestellt zu werden. Diese Tätigkeit brachte ihm zwar keine Freude, er hatte aber jetzt immerhin die Aussicht auf ein ständiges Einkommen. Allerdings dauerte diese ungeliebte Beschäftigung nur einige Wochen, denn bald ging die Bank in Konkurs und er verlor seine Stelle. Nach einigen Monaten erneuter Arbeitslosigkeit lächelte ihm aber das Glück – er fand eine Anstellung bei der erst vor kurzem von dem bekannten Czernowitzer Journalisten Arnold Schwarz gegründeten linksliberalen Zeitung „Der Tag. Unabhängiges demokratisches Organ“. Als journalistische Prüfung musste er eine kleine Glosse über die Versammlung der nationalsozialistischen Partei schreiben, die er leicht satirisch in Tucholsky-Art verfasste. Der Artikel gefiel dem Chefredakteur gut und so erhielt er den Redaktionsposten bei diesem Blatt, bei dem er dann jahrelang bis zu dessen Schließung zuerst als Lokalreporter und Berichterstatter und später als Redaktionssekretär und Feuilletonredakteur tätig war. Die Czernowitzer Naziversammlung hatte er damals – man schrieb 1931 – nicht richtig in ihrer politischen Gefahr erfassen können, sie kam ihm ein wenig operettenhaft vor. Aber schon zwei Jahre später, nach Hitlers Machtergreifung, schrieb er das Gedicht „Ostern 1933“ mit beinahe prophetischer Antizipation, die keine Zweifel mehr ließ, in welche Richtung sich die Ereignisse weiterentwickeln werden. Die gewaltigen Visionen spielen sich in einem menschenleeren Raum ab, das Wesen des neuen Regimes lässt sich nur in allegorischen Naturbildern durchblicken, aber die
104 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ apokalyptische Drohung hängt sozusagen in der Luft, man spürt sie geradezu mit der Haut: Die Sonne verhüllt mit Trauer den Schein. Es läuten die Glocken den Lenz nicht ein. Die Stürme toben wie Brände ums Haus Und gießen den Wein aus den Kelchen aus. […] Nun kläfft der Hungerwolf rauh durch das Land. Das Blut der Opfer tränkt rauchend den Sand. Zu Bergen häuft sich Gebein auf Gebein. Es läuten die Glocken den Lenz nicht ein.15
In der bedrückenden Inselsituation, in die die Bukowina unter rumänischer Herrschaft geraten war, suchte Kittner Kontakte zu den geistigen Wortführern der deutschsprachigen Welt. Er schicke seine Gedichte den Autoren, die er geliebt und geschätzt hatte – in der Hoffnung auf ihre Befürwortung und moralische Unterstützung, um sich zu vergewissern, dass er auf dem richtigen Wege ist. Der wohlwollende Zuspruch kam von Stefan Zweig, der ihm am 19. Mai 1932 aus Salzburg schrieb, „dass in Ihren Gedichten eine sehr sichtbare und teilweise schon vollkommen sichere Begabung sich kundgibt.“16 Auch Felix Braun, Max Hermann-Neiße, Rudolf Fuchs und Jakob Harringer, mit dem er dann in einer dauernden Korrespondenz stand, haben sich anerkennend über seine Gedichte geäußert, was für den jungen Dichter eine wichtige Aufmunterung zum weiteren Schreiben bedeutete. Nach dem Jahre 1933, mit den gravierenden politischen Änderungen in Deutschland, begann sich aber auch in Czernowitz die bis dahin friedliche und tolerante Atmosphäre in den Beziehungen zwischen den Völkergruppen radikal zu ändern. In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre, unter der nationalistischen Goga-Cuza-Regierung, aktivierte sich in Rumänien die profaschistische, klerikal-nationalistische Organisation „Die eiserne Garde“ („Legion des Erzengels Michael“), die sich durchaus antisemitisch und chauvinistisch profilierte. Auch die deutschstämmige Bevölkerung der Stadt distanzierte sich sofort von ihren jüdischen 15 16
Alfred Kittner. Der Wolkenreiter. Gedichte 1928-1938, S. 33. Zit. nach Peter Motzan. Nachwort. In: Alfred Kittner. Schattenschrift. Gedichte. Aachen: Rimbaud 1988, S. 109.
��������������������������������� 105 Mitbürgern. Es war peinlich zu beobachten, wie deutschsprachige Kollegen, mit denen man noch gestern zusammensaß und sich problemlos verständigt hatte, auf einmal in paramilitärischer Uniform in der Redaktion erschienen oder bei der zufälligen Begegnung auf die andere Seite der Straße übergingen. Unter den neuen politischen Umständen wurde schon 1935 das Erscheinen von Kittners Zeitung eingestellt, und so blieb er wieder ohne Arbeit. Nach mehreren Monaten unermüdlicher Suche erhielt er dann einen Halbtagsposten bei der anderen Zeitung, dem Czernowitzer Tagblatt. Bereits in seiner Funktion als Feuilletonredakteur bei der Zeitung „Der Tag“ konnte Kittner mehrere Reportagen, Buchbesprechungen, fremde und eigene Gedichte auf ihren Seiten publizieren. Die Verbreitung dieser Texte war aber ziemlich gering, daher suchte man auch Publikationsmöglichkeiten im Ausland. Am 1. März 1937 gewann Kittners Gedicht „Mond der Städte“ den ersten Preis anlässlich eines Preisausschreibens der Zeitung „Wiener Tag“. Und im nächsten Jahr erschien im Czernowitzer Verlag Literaria sein erster Gedichtband „Der Wolkenreiter“, der 52 Gedichte aus den Jahren 1928 bis 1938 enthielt und eine Bilanz der ersten Etappe seines dichterischen Wirkens zog. Den Ton des Bandes bestimmt bereits das titelgebende Gedicht, das die romantische Metapher als Flucht von den irdischen Banden in das Reich der absoluten Freiheit verwendet. Dieses Gefühl kultivierte Kittner nicht nur als Zeichen seiner Begeisterung für deutsche Romantik, sondern auch als sein eigenes Befinden, das von seinen negativen Lebenserfahrungen gespeist wurde. „Erlebnisgrundlage der meisten Gedichte des ‚Wolkenreiters‘ bildet das Bewusstsein des Nicht-Dazugehörens, des Außenseitertums, das Gefühl des Verlorenseins, die Wahrnehmung eigener, verunsicherter Identität“17 – meint Peter Motzan. Das bezieht sich auf Gedichte wie „Kaspar Hauser Lied“, „Flucht vor dem Tag“, „Traumnacht“ und insbesondere auf das gleichnamige Gedicht „Der Wolkenreiter“, das eine irreale, phantastische Reise auf den Wolken, hoch über der schlafenden Welt, darstellt. Das lyrische Ich spaltet sich in eine leibliche und eine geistige Substanz auf 17
Peter Motzan. Nachwort. In: Alfred Kittner. Schattenschrift, S. 113.
106 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ (ein geliebtes Motiv der Romantik), seine materielle Hülle bleibt im irdischen Bett liegen, während sein Geist in der Himmelshöhe schwebt. Dieser Ritt ist verhext, er endet nie. Die Welt ist fern, dort schlaf ich warm und gut Und muss nicht reiten Durch die Wolkenflut. Ich kann mein Reittier nicht zum Stehen zwingen; Nun reit ich immerfort Auf bösen Schwingen.18
Die im Gedicht geschilderte Situation ist höchst ambivalent, der anfängliche Zustand der Begeisterung und Befreiung, der an kosmische Visionen eines William Blake oder an die deutschen Kosmiker Theodor Däubler und Alfred Mombert („Der himmlische Zecher“) erinnert, die alles Wirkliche und Erlebte transzendieren und die Kittner intensiv gelesen hat, weicht dann jedoch einem Gefühl der Erschrockenheit – als das lyrische Ich feststellt, dass es keine Rückkehr mehr gibt und es verdammt ist, ewig in der Kälte des Weltalls zu reiten. Dieses Motiv der beklemmenden heidnischen Angst nimmt dann im Gedicht Oberhand. Mit Recht bemerken dazu Amy Colin und Edith Silbermann: Im Wolkenreiter ist die kosmische Musik kein Chor von Engelsstimmen (…) Die innere Befreiung und das Glücksgefühl, die das lyrische „Ich“ erfährt, schlagen bald in Beklemmung um. Kittner beschreibt den Reiter unter fremden Gestirnen als einen an Kälte und Einsamkeit Leidenden, der sich nach menschlicher Wärme sehnt.19
Romantische Weltfremdheit durchzieht auch ein anderes Gedicht Kittners, das er noch vor seinem Militärdienst geschrieben und nun in den Band „Wolkenreiter“ aufgenommen hat – „Kaspar Hauser Lied“. Die tragische Gestalt des angeblich 1812 geborenen geheimnisvollen Jünglings, der irgendwo in einem dunklen Keller völlig isoliert von Menschen aufwuchs und 1828 plötzlich in Nürnberg auftauchte, hatte seinerzeit großes Aufsehen erregt. 18 19
Alfred Kittner. Der Wolkenreiter. Gedichte 1928-1938, S. 37. Amy Colin, Edith Silbermann. Nachwort. In: Alfred Kittner. Der Wolkenreiter. Gedichte 1925-1945. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Edith Silbermann und Amy Colin. Aachen: Rimbaud 2004, S. 62-63.
��������������������������������� 107 Er war halbwild, konnte weder richtig gehen noch sprechen und 1833, nach mehreren misslungenen Mordversuchen an ihm, wurde er im Nürnberger Stadtpark von einem Unbekannten erstochen. Man raunte, er sei ein uneheliches Kind beinahe königlichen Blutes gewesen. Sein tragisches Schicksal fand später seinen Ausdruck in Gedichten Paul Verlaines und Georg Trakls, im gleichnamigen Roman Jakob Wassermanns, einem Theaterstück Peter Handkes und in anderen literarischen und künstlerischen Werken. Kittners Gedicht hat, nach seinem eigenen Zeugnis, autobiographische Züge und bildet zusammen mit den späteren Gedichten „Lied Abels“ und „Der Wolkenreiter“ eine gewisse Einheit. „So wie ich mich im Abel und im Wolkenreiter selbst darstelle, so identifiziere ich mich in diesem älteren Gedicht weitgehend mit Kaspar Hauser, weil dieser genauso weltfremd war, wie ich mich damals gesehen“20 – schreibt Kittner in seinen „Erinnerungen“. Seiner Form nach ist es ein traditionelles Gedicht mit sieben Vierzeilenstrophen des dreifüßigen Jambus, das als innerer Monolog des lyrischen Ichs aufgefasst wird: Was sollen mir die Tage, Was soll ich in der Welt? Ich trage meine Klage, Zertrümmert und zerschellt. Ich stehe bang und frage Und staun, wie alles flieht. Das Leben ist wie Sage, Das Blühen ist wie Lied. So staun ich blau und trage Tief innen sanften Traum. Mir starben Wort und Waage. Ich wachse blind und Baum. […]21
Traditionelle Motive der Romantik klingen auch in anderen Gedichten des Bandes nach, dessen elegischer Ton spürbare Affinitäten zu dieser literarischen Strömung aufzeigt. Nacht als vorgezogene Tageszeit („Nachtschwärmerklage“, „Nachtmusik“, 20 21
Alfred Kittner. Erinnerungen, S. 36. Alfred Kittner. Schattenschrift, S. 11.
108 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ „Traumnacht“, „Einsames Nachtlied“, „Nachtbeglückung“) und Mond als ein unentbehrliches Element des romantischen Weltbildes („Mond der Städte“, „Vollmond im Frühling“, „Mondnacht im Gebirge“, „Bach im Mondlicht“) beherrschen Kittners Naturdarstellungen. Auch im Zyklus der Liebesgedichte unter dem Titel „Liebesstrophen“ dominiert eine nächtliche, träumerische Stimmung („Wenn goldene Abende um mich ruhn, / Wandert mein Traum nach Avalun“). Einige von den in Breslau geschriebenen Gedichten tragen dagegen einen spätexpressionistischen Stempel, sie thematisieren Motive des Großstadtlebens – Armut, Einsamkeit, soziale Not, käufliche Liebe („Feuchte Heimkehr“, „Selbstmörder im Villenviertel“, „Dirnengasse“). Der Gedichtband eines jüdischen Autors hatte aber wenig Chancen auf eine breitere Rezeption. Er wurde nur in der lokalen Presse und seltsamerweise in der Kölnischen Zeitung22 besprochen. Bei der Aufnahme dieser Gedichte in seine späteren Auswahlbände hat der Autor einige von ihnen leicht überarbeitet, im Grunde aber blieben sie immer fester Bestand seines Werkes. Mit dem Anschluss der Nordbukowina an die Sowjetunion 1940 änderte sich der Lebensstil in Czernowitz schlagartig. Von den Geschäften verschwanden die lebenswichtigen Waren, alle Vereine, politischen Parteien und Zeitungen wurden aufgelöst und geschlossen. Durch verschiedene Tricks zwang man Menschen zur gegenseitigen Bespitzelung, und im Juni 1941 wurden etwa 4000 Czernowitzer Bürger als „Ausbeuter“ und „feindliche Elemente“ nach Sibirien verschleppt. Es durfte in der Sowjetunion keine Arbeitslosigkeit geben – alle Bürger mussten „werktätig“ sein. Kittner bekam eine Stelle in der Landesbibliothek, die damals damit beschäftigt war, die beschlagnahmten Privatbibliotheken zu räumen und zu katalogisieren. Seine Aufgabe war, sich um die Klassiker zu kümmern, was bei dem herrschenden Chaos nicht einfach war – die Bestände waren ganz durcheinander. Auch andere Czernowitzer Dichterinnen und Dichter wie Rose Ausländer und Immanuel Weißglas waren damals in der Landesbibliothek angestellt.
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Gerhard Csejka. Zum 70. Geburtstag Alfred Kittners, S. 13.
��������������������������������� 109 Das war aber nur ein historisches Zwischenspiel, und es dauerte nicht lange – am 22. Juni 1941 überfiel Deutschland die Sowjetunion, und nach wenigen Tagen waren rumänische Truppen zusammen mit der deutschen Armee wieder in Czernowitz eingerückt. Die jüdische Bevölkerung wurde als vogelfrei erklärt – es begannen fürchterliche antisemitische Exzesse mit Erschießungen, Erpressungen, Demütigungen, und die große Synagoge im Zentrum der Stadt ging in Flammen auf. Im Herbst wurde in Czernowitz – zum ersten Mal in der Geschichte der Stadt – ein jüdisches Ghetto eingerichtet, in das auch die Familie Kittner ziehen musste. Kurze Zeit darauf begannen dann die Deportationen nach Transnistrien – eine von den Nazis und rumänischen Soldateska besetzte Gegend zwischen Dnister und dem Südlichen Bug. Im Sommer 1942 war es so weit, dass auch jene, die eine provisorische Autorisation vom Bürgermeister der Stadt Dr. Trajan Popowicz hatten, welche sie zuerst vor der Verschleppung nach Transnistrien schützte, deportiert werden sollten. Zu ihnen gehörten auch Alfred Kittner mit seiner Frau Ilse und andere Familienangehörige. Es begann eine Höllenfahrt ins Ungewisse. In Viehwaggons verladen, in einer fürchterlichen Enge ohne elementare hygienische Bedingungen, standen die Menschen dicht aneinandergepresst, fast erstickend in der dumpfen Luft. Der Zug bewegte sich in einem Schneckentempo, manchmal stand er stundenlang unter brennender Julisonne irgendwo im freien Feld. Endlich lud man sie am Ufer des Flusses Dnister aus, und nachdem man die entkräfteten Menschen mit Flößen an das andere Ufer in der Nähe von Moghilev-Podolsk übersetzt und mit Gummiknüppeln wieder zusammengetrieben hatte, begrüßte sie ein rumänischer Offizier mit den „verheißungsvollen“ Worten: „Wir haben euch nicht hergebracht, damit ihr am Leben bleibt, sondern damit ihr krepiert.“23 Von diesem Ufergelände, wo die Insassen unter Bewachung rumänischer Gendarmen eine Zeitlang blieben, ging es dann mit einem anderen Zug weiter nach Osten, bis sie das Ufer des Bug erreichten. Der Ort, an dem sie nun in schäbigen, noch zur Zarenzeit eingerichteten Holzbaracken untergebracht wurden, war ein verlassener Steinbruch – man nannte ihn auf Rumänisch 23
Alfred Kittner. Erinnerungen, S. 64.
110 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ einfach „Cariera de piatră“. Es war ein Sammellager, in dem sich die Deportierten einige Zeit aufhielten, bevor sie dann in andere Lager verteilt wurden. Nach der Auflösung dieses Lagers im Winter 1942 stand es den Insassen frei, zwischen mehreren westlich des Bug gelegenen „Schtetls“ zu wählen. Die Familie Kittner brachte man zuerst in einem verlassenen Stall in Tschetwertinowka unter, wo der Flecktyphus grassierte, dann entschieden sie sich für Demidowka und später für Obodowka – kleine Dörfer in Podolien, im heutigen ukrainischen Gebiet Vinniza. In Obodowka verbrachten sie die meiste Zeit – von Ende Dezember 1942 bis zur zweiten Aprilhälfte 194424. Zusammen mit Kittner schmachtete hier auch ein anderer Czernowitzer deutsch-jüdischer Dichter – sein jüngerer Freund und Leidensgenosse, der ehemalige Klassenkamerad Paul Celans Immanuel Weißglas. Es gab in diesen Ortschaften zwar keine Gaskammern und Krematorien, also kein industrielles Morden, aber die Insassen starben alltäglich und massenhaft – vor Hunger und Krankheiten, Erschöpfung und Kälte. Nicht selten praktizierte man auch Erschießungen, besonders jenseits vom Bug, wo nicht mehr rumänische Gendarmen, sondern deutsche Kommandos wüteten. Niemand konnte des nächsten Tages sicher sein. In dieser bedrückenden Atmosphäre, im ständigen Balancieren zwischen Leben und Tod entstanden Kittners Gedichte, die als laufende Chronik seiner Lagerexistenz gelten können und die 1956 unter dem Titel „Hungermarsch und Stacheldraht. Verse von Trotz und Zuversicht“25 im Bukarester Staatsverlag für Kunst und Literatur erschienen sind. Obwohl der Titel des Bandes von A. Margul-Sperber mitangeregt wurde, der auch ein Vorwort zu diesem Buch schrieb, schien er Kittner zu pathetisch, so dass er weitere Publikationen dieses Zyklus unter dem Titel „Raststatt des Todes. Reimchronik eines Deportierten“ veröffentlichte. Die Gedichte, die diesen Band ausfüllen, sind keine gewöhnlichen Texte, sie wurden nicht gemütlich an einem Schreibtisch 24 25
Alfred Kittner. Erinnerungen, S. 89. Alfred Kittner. Hungermarsch und Stacheldraht. Verse von Trotz und Zuversicht. Vorwort von Alfred Margul-Sperber. Bukarest: ESPLA – Staatsverlag für Kunst und Literatur 1956.
��������������������������������� 111 oder im Liegestuhl unter einem blühenden Baum geschrieben. Es ging dem Autor nicht um ihre ästhetische Vollkommenheit, sondern um die Zeugenschaft und dokumentarische Wahrheit, „um die Bewahrung des von meinen Leidensgefährten Erlebten und Erlittenen in der geprägten Form des dichterischen Worts“.26 Diese poetologischen Grundsätze teilte er mit seinem Freund Immanuel Weißglas, der ebenfalls dort eine Reihe von Gedichten über seine transnistrischen Erfahrungen schrieb und sie bereits 1947 im Gedichtband „Kariera am Bug“ sammelte. Doch ist Kittner im Vergleich mit Weißglas noch „realistischer“, noch präziser bei der Darstellung des Lageralltags, die er oft, gleich seinem geliebten Franz Kafka, in dunklen, phantastischen Visionen aufgehen lässt, so dass die Grenze zwischen Realität und Traum schwebend bleibt. Das betont einer der besten Kenner seines Werkes Peter Motzan, indem er schreibt: Im Unterschied zu Immanuel Weißglas, der das Selbsterfahrene in den Todesstätten in ein archetypisches Konfliktmodell von Seinsmächten verwandelt, in seinen kunstvoll komponierten Gebilden das Historische mythisiert und den Mythos historisiert, bevorzugt Kittner die Formen unmittelbarer Schilderung. […] Doch selbst in dieser „Reimchronik“, die so offensichtlich auf Tatsächliches ausgerichtet ist, wird die Faktizität der Ereignisse mancherorts ins Traumhafte, Halluzinatorische, Schemenhafte aufgelöst.27
Später erinnerte sich Kittner daran, was beide zum Schreiben unter solch menschenunwürdigen, lebenswidrigen Umständen veranlasst und motiviert hatte: „Wir haben beide unsere Gedichte in der Erde vergraben in der leisen Hoffnung, sie könnten einmal in die Hand von Kennern fallen und offenbaren, was wir an Unmenschlichem hier erlebt haben.“28 Kittners Buch wird von einem Gedicht eröffnet, das nachträglich (1945) geschrieben wurde, aber als Auftakt zum ganzen Gedichtzyklus gedacht ist. Es heißt „Die Schule des Todes“ und führt in die Problematik des Bandes ein. Dieser allegorische Titel ist eine thematische Stimmgabel, die alle weiteren Gedichte des Bandes intoniert: 26 27 28
Alfred Kittner. Erinnerungen, S. 116. Peter Motzan. Nachwort. In: Kittner. Schattenschrift, S. 117. Alfred Kittner. Erinnerungen, S. 90.
112 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ Was hier in diesem Buche steht, Es ist ein klappernd Alphabet. Wir lernten sterben und verwesen Und können es drum fließend lesen. Wenn mich der Tod zur Tafel ruft, Das A ist Grab, das U ist Gruft. Muß ich zur letzten Stunde gehen, Werd ich die Prüfung wohl bestehn. Es hat der Tod sich nicht gescheut Und seine Schrift uns eingebleut, Und daß wir auch die Ziffern kennen, Ließ er sie auf die Haut uns brennen. Erlöse uns von allem Übel: Das buchstabier ich in der Fibel Des Todes nun schon mühelos, Steh vor dem Rost ich nackt und bloß.29
Die Lagergedichte Kittners zeichnen sich durch eine klare, unprätentiöse Stilistik in Wort- und Bilderwahl aus. Sie haben fast keine poetischen Tropen – bunte Epitheta oder üppige Metaphern wären hier fehl am Platze. Auch ihrer Form nach sind es die einfachsten strophischen und metrischen, fast volksliedhaften Strukturen. Ihre Einfachheit war wohl bewusst gewählt, denn der Dichter musste eine Sprache für das Unaussprechliche finden und hielt die bildliche Reduzierung und Sachlichkeit für ein adäquates Mittel dafür. Die Selbstbeschränkung des Dichters betont auch sein langjähriger Freund und Dichterkollege A. Margul-Sperber, wenn er im Vorwort zu Kittners Gedichtband schreibt: Kittner ist einer unserer reinsten und verhaltensten Dichter: jedes Abgleiten in die Phrase, ja in tönenden Schwung ist ihm fremd, und er sagt immer mehr, als er ausspricht (…) In der Schlichtheit der hier vereinigten Gedichte findet der Dichter die ergreifendsten und erschütterndsten Töne für den dem Menschen eingeborenen Willen zum Leben, zum Glück und zur Freude. Ein aus den Feldern herüberwehender Ton einer Mundharmonika, die unschuldige Schönheit schlichter Kressen am Wegrand, die Erinnerung an alte Brunnen und alte Häuser, die man irgendeinmal irgendwo gesehen hat, alles trägt dazu bei, den Abgrund zu erhellen […].30 29 30
Alfred Kittner. Schattenschrift, S. 34. Alfred Margul-Sperber. Vorwort. In: Alfred Kittner. Hungermarsch und Stacheldraht, S. 13-14.
��������������������������������� 113 Man kann darüber diskutieren, ob dieser Weg der einzig richtige war – das Beispiel von Paul Celans „Todesfuge“ bestätigt, dass es auch andere, viel überzeugendere Wege gab. Daher haben manche Literaturkritiker eine tiefe Diskrepanz zwischen dem Inhalt und der Form von Kittners poetischer Aussage betont, sie haben aber oft übersehen, dass die Ästhetik dieser Texte von Anfang an nicht auf das Poetische, sondern auf das Faktische eingestellt war, dass sie nichts anderes als in Verse gekleidete Berichte sind, die keine Ansprüche auf „poetische“ Gebilde haben. Der Allgegenwart der Vernichtung – so Peter Motzan – begegnet Kittner in strophisch strukturierter, oft liedhafter Gegenrede, dem Ungeheuerlichen wird durch eindringliche Schlichtheit entgegengewirkt. Weder pathetisches Selbstmitleid noch radikale Weltverzweiflung kommen auf. Viele Gedichte sind als Erfahrungsberichte angelegt und vergegenwärtigen in unbeschönigten Bildern Szenen aus dem Lager-„alltag“: Martermärsche der zwischen Lebenstrieb und Todeswunsch schwankenden Freiheitsberaubten, Sterbebeschreibungen, der Sadismus der Peiniger, Überfälle durch plündernde Räuberbanden. Gleichzeitig sind die Texte Zeugnisse des Selbstbehauptungswillens, Ausdruck der Unverzichtbarkeit menschlicher Denk- und Fühlkraft.31
Eines der eindrucksvollsten in Transnistrien geschriebenen Gedichte Kittners heißt „Podoliens Erde“. Es entstand im Lager Obodowka im September 1943 und verknüpft das jüdische Schicksal mit dem legendären, noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lebendigen Ruf der Ukraine als „Kornkammer Europas“. Zugleich geht das Gedicht auf manche Episoden ukrainischer Geschichte ein, z.B. auf jüdische Massenpogrome zur Zeit des Bürgerkrieges und während der kurzen Existenz der sogenannten Ukrainischen Volksrepublik (1919-1921): Die Winde wiegen die goldene Flut, Soweit meine Blicke reichen; Die Erde trägt gut: sie düngte das Blut Von Leichen, von Tausenden Leichen. Vorzeiten sind hier vorübergebraust Des Machno blutige Horden, Hier haben Petljuras Banden gehaust Mit Sengen, Schänden und Morden. 31
Peter Motzan. Nachwort. In: Kittner. Schattenschrift, S. 116.
114 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ Die Erde ist gnädig, sie deckte mild Die Toten, die hier sie verscharrten; Aus der Verwesung sproß üppig und wild Das Land wie ein duftender Garten. Wir wurden aus unserer Heimat gehetzt Und über den Dnjestr getrieben, Von zweihunderttausend ist bis zuletzt Kaum ein Viertel am Leben geblieben. Nun droht auch uns bald der Todesstreich, Sie werden auf uns nicht verzichten, Denn eh er erfüllt sieht sein Drittes Reich, Will uns Adolf Hitler vernichten. Die schwarze Erde trinkt bald unser Blut Und deckt die verstreuten Gebeine, Drum wächst auch im nächsten Jahr wiederum gut Der Weizen wohl in der Ukraine.32
Die im Gedicht auftauchenden Namen des ukrainischen AnarchistenAnführers Nestor Machno sowie des Oberbefehlshabers der ukrainischen Armee und des Vorsitzenden der damaligen ukrainischen Regierung („Direktoria“) Simon Petljura haben sich in der jüdischen Überlieferung fest als Namen der Pogromhelden eingewurzelt, obwohl beide entschiedene Gegner antisemitischer Ausschreitungen waren. In der Tat, wie die ukrainischen Historiker Orest Subtelny33 und Wolodymyr Serhijtschuk34 dokumentarisch belegen, wurden jüdische Pogrome sehr oft von den Bolschewiken oder Weißgardisten selbst organisiert, um die ukrainische Nationalbewegung zu diskreditieren. Davon, wie tief diese Vorstellungen im jüdischen Bewusstsein sitzen, zeugen z.B. auch manche Gedichte des Czernowitzer jiddischen Balladendichters Itzig Manger („Ballade von Petljura“). Die neuere Forschung entlarvt solche Behauptungen als antiukrainische Propaganda.
32 33 34
Alfred Kittner. Schattenschrift, S. 52-53. Orest Subtelny. Ukraine: A History (4. Auflage). University of Toronto Press 2009, S. 363-364. Володимир Сергійчук. Симон Петлюра і єврейство. – Київ: Національний університет імені Тараса Шевченка; Центр українознавства, 2006. – 2-ге вид. – С. 90-97.
��������������������������������� 115 Im Frühjahr 1944, nach dem fast zweijährigen transnistrischen Lageraufenthalt, als die Rote Armee die von Deutschen und Rumänen besetzten Gebiete befreite, konnte Kittner endlich in die Bukowina zurückkehren. Nach dem einige Wochen dauernden, erschöpfenden Fußmarsch erreichte er endlich Czernowitz. Seine Wohnung war inzwischen total ausgeraubt – nur einen kleinen Teil der Bücher konnten die Nachbarn vor der Plünderung retten. Außerdem lauerte auf ihn die Gefahr, assentiert zu werden. Dank den beruflichen Beziehungen seines Bruders, der seit einiger Zeit als Facharzt in einem städtischen Krankenhaus von Czernowitz tätig war, gelang es ihm die Stelle eines Desinfektors zu bekommen, die ihn vor der Mobilisierung schützte. Doch wollte er nicht länger unter dem stalinistischen Regime bleiben, und so entschied er sich im Herbst 1945, wie viele andere Czernowitzer Intellektuellen, für die Auswanderung nach Bukarest. Schon einige Tage nach seiner Ankunft in der rumänischen Hauptstadt fand er eine passende Stelle als Bibliothekar des ARLUS („Gesellschaft für Beziehungen zur Sowjetunion“) und etwas später eine vorteilhafte Stelle als wissenschaftlicher Direktor der Bibliothek des Instituts für Auslandsbeziehungen. Zugleich arbeitete er eine Zeitlang auch als Sprecher der deutschsprachigen Abteilung des Auslandssenders des rumänischen Rundfunks, bis er sich beim Vorlesen eines Textes zufällig versprochen hatte, was als politischer Fehler interpretiert wurde und eine Entlassung nach sich zog. Die ersten Nachkriegsjahre Kittners in Bukarest waren in schöpferischer Hinsicht wenig produktiv. Es war die Zeit der Umorientierung unter den neuen Umständen, der Versuch einer Anknüpfung an den rumänischen Literaturprozess. Alles in Transnistrien Erlebte konnte nicht so leicht aus seinem Gedächtnis verdrängt werden. Die dort geschriebenen Gedichte haben sein poetisches Profil für viele Jahre bestimmt. Bereits 1944 wurden einige Texte des Lagerzyklus in der in Moskau von Johannes R. Becher und Willi Bredel herausgegebenen Zeitschrift „Internationale Literatur. Deutsche Blätter“ publiziert und erregten in den Emigrantenkreisen großes Aufsehen35. Einige von ihnen hatte man kurz nach Kittners Ankunft in Bukarest in 35
Alfred Kittner. Erinnerungen, S. 90.
116 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ rumänischer Übersetzung im Rundfunk gesendet (merkwürdigerweise in der Rubrik „Lyrik von Dichtern, die im Lager umgekommen sind“, wie dem Dichter ein Arbeitskollege mit Erstaunen mitgeteilt hatte). Nach dem Erscheinen des Gedichtbandes „Hungermarsch und Stacheldraht“ (1956), der aufgrund seiner „antifaschistischen“ Thematik im damaligen politischen Klima Rumäniens noch willkommen war und den Peter Motzan „das beste rumäniendeutsche Lyrikbuch der fünfziger Jahre“36 nennt, trat eine Pause ein, in der Kittner nur wenige Gedichte schrieb und infolge seiner politischen „Unzuverlässigkeit“ noch weniger publizierte. Anfang der 1960er Jahre wurde er als „Kosmopolit“ aus der Bibliothek entlassen und bekam für ein gutes Jahrzehnt Publikationsverbot wegen „Propaganda bürgerlich-dekadenter Kunst und Literatur“. Erst 1970 erschien im Bukarester Verlag Kriterion sein dritter Gedichtband „Flaschenpost“37, der hauptsächlich ältere, aber auch mehrere neuere Texte enthielt. Die 108 Gedichte des Bandes sind nicht chronologisch angeordnet, sondern in acht thematische Zyklen aufgeteilt („Der Wolkenreiter“, „Nachtschwärmerklage“, „Zwischen Nacht und Morgen“, „Schauer aus verwehten Tagen“, „Raststatt des Todes“, „Und immer leuchtet noch der Stern“, „Der Weg zu dir“, „Ins Dunkel kehr ich zurück“). Neue Gedichte sind vor allem in drei letzten Abschnitten konzentriert. Darunter hebt sich der 1948 bis 1952 geschriebene Zyklus aus vier Liebesgedichten „Spätsommer“ ab, sowie sechs Gedichte mit existentieller Thematik des letzten Abschnitts „Ins Dunkel kehr ich zurück“. Neue Töne, die hier erklingen, zeugen davon, dass der Dichter seine thematische Palette wesentlich erweiterte und philosophisch vertiefte. Seine bisherigen Leitmotive der Unbehaustheit und Verlorenheit, die im Band „Der Wolkenreiter“ dominierten, und sachlich-registrierende Leidenschroniken des Zyklus „Raststatt des Todes“ aus dem Gedichtband „Hungermarsch und Stacheldraht“ weichen nun den lebensnäheren und lebensbejahenderen Tönen. Der 36 37
Peter Motzan. Erlebnis- und Bildungslyriker: Alfred Kittner. In: Neue Literatur. Jg. 29, 5/1978, S. 84. Alfred Kittner. Flaschenpost. Ausgewählte Gedichte. Bukarest: Kriterion Verlag 1970.
��������������������������������� 117 allgegenwärtige Tod ist aus seinen Gedichten nicht verschwunden, er zeigt sich jetzt aber als ein unentbehrlicher Teil des Lebens, als sein Rivale. Das illustriert z.B. das Gedicht „Scheideweg“ aus dem Jahre 1963, das den Zyklus „Nachtschwärmerklage“ eröffnet und Spuren mittelalterlicher Vagantenlyrik trägt: Der letzten Trennung Wunde zu vergessen, Hab alle Straßen ich im Land durchmessen, Doch ohne Rührung spiegelten die Sterne Dem Aug die immergleiche Wanderferne. So mußt’, gehetzt von einem Ort zum andern, Einst Franz Villon durchs blutige Frankreich wandern, Den leichten Schnappsack tanzend auf dem Rücken Und stets bereit, des Messers Stahl zu zücken. Und wenn der Reben Kelter wilder keuchten, Wie war es gut, den dürren Schlund zu feuchten Mit herbem Safte lebensfrischer Reben, Verbuhlt dem Tode und vernarrt ins Leben!38
Da nicht alle Texte mit Entstehungsdaten versehen sind, wird ihre Datierung erschwert. Der Band hat einen Bilanzcharakter, er sollte einen repräsentativen Querschnitt des bisherigen Werkes des Dichters in seiner thematischer Vielfalt zeigen. In seinem Nachwort skizziert Wolf Aichelburg den dichterischen Weg Kittners, des „Letzten aus einer Zeit, die in stärkstem Maße von Unsicherheit, Zusammenbrüchen, Gräueln und Wirren geprägt war“39, und weist darauf hin, dass er, in seinem ständigen Streben nach Dichte und Sparsamkeit poetischer Ausdrucksform, manchmal allzu sehr ins Volkstümliche und Liedhafte fällt. Das erklärt sich durch sein starkes Verwurzeltsein in der Überlieferung, insbesondere in der deutschen romantischen Tradition (Brentano). Zugleich hebt er jene Tatsache hervor, dass der Bukowiner Dichter, bei aller thematischen und stilistischen Nähe zu manchen literarischen Stilrichtungen, nie das eigene poetische Profil verlor und die Tradition nur als ein Sprungbrett für seine Inspiration und dichterische Phantasie verwendete: 38 39
Alfred Kittner. Flaschenpost, S. 25. Wolf Aichelburg. Nachwort. In: Alfred Kittner. Flaschenpost. Ausgewählte Gedichte. Bukarest: Kriterion Verlag 1970, S. 167.
118 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ Was bei manchem unselbständigen Dichtern Schwäche heißen darf, der mangelnde Mut zu einer Neuwertung der Sprachformen, die kurzschlüssige, halb bewußte Vertrautheit mit dem überlieferten Versklang, wird bei Kittner etwas ganz anderes. Kittner ist kein Nachsprecher. Er sucht bewußt den Anschluß an den unterschwelligen Strom einer Empfindungskultur von Generationen. Das heute so leicht gehandhabte Schlagwort „traditionshörig“ trifft in seiner Schlagrichtung nur sehr bedingt und in einem äußerlichen Sinn etwas von Kittners Eigenart.40
Kittners bereits bekannte „Literaturbesessenheit“ äußert sich auch in den Mottos zu einigen thematischen Abschnitten seines Gedichtbandes, die von Grillparzer, Goethe oder Brentano stammen, in der freien Interpretation eines Motivs des russischen Schriftstellers Iwan Bunin („Tote Liebe“) sowie in der großen Zahl von Widmungen, vor allem an befreundete Bukowiner Autoren wie Alfred Margul-Sperber, Siegfried Laufer, Itzig Manger, David Goldfeld, Moses Rosenkranz, Georg Drozdowski, Immanuel Weißglas, Edith Silbermann, aber auch an andere Dichterkollegen und Künstler, mit denen er in einem engen geistigen oder menschlichen Bund stand: dem ukrainischen Bildhauer Opanas Schewtschukewitsch (ihm ist das Gedicht „Irrer Bildner“ gewidmet), Jakob Harringer, Alfred Kubin, Heinz Seydel, Oscar Walter Cisek und Wolf Aichelburg. Auch der Titel seines Gedichtbandes stellt schließlich und endlich eine direkte Reminiszenz an Celans Bremer Rede von 1958 dar, in der der symbolträchtige Begriff der Flaschenpost vorkommt. Von seinem völligen Aufgehen in der Literatur, die für ihn zum einzigen Sinn seines Lebens wurde, sagt er im Gedicht „Erkenntnis“, das den Band „Flaschenpost“ abschließt: Der dünne Rauch aus Silben Krikelkrakel auf brüch’gem Papier – Mag’s verwehen, mag’s vergilben – Mir war’s das Elixier. In ihm sah ich gespiegelt Den Kuß, den Schrei, den Stern. In ihm bot sich versiegelt Mir allen Wesens Kern.41
40 41
Ebenda, S. 172. Alfred Kittner. Flaschenpost, S. 165.
��������������������������������� 119 Für den Gedichtband „Flaschenpost“ wurde Kittner der Lyriker-Preis des Rumänischen Schriftstellerverbandes zuerkannt. Diese Tatsache hatte zur Folge, dass er im offiziellen Literaturbetrieb wieder „legitimiert“ wurde und publizieren durfte. 1973 erschien im Bukarester Albatros Verlag eine größere Auswahl aus seinem dichterischen Werk in der renommierten Reihe „Die schönsten Gedichte“42. Diesmal waren poetische Texte nicht mehr nach Themenkreisen, sondern chronologisch geordnet und in drei Zyklen zusammengeschlossen: „Nur ein heiseres Lied im Rausch“ (1925-1942), „Raststatt des Todes“ (1942-1944), „Aus Mohn und Mond ein Mirakel“ (1944-1972). Diese neue Anordnung sollte die dichterische Entwicklung des Autors zeigen, doch bei Kittner lässt sie sich nur schwer verfolgen, was bereits in den Buchbesprechungen des Bandes festgestellt wurde. So schrieb Emmerich Reichrath in der Bukarester Zeitung „Neuer Weg“: Die chronologische Anordnung macht deutlich, dass man bei Kittner nicht eigentlich von einer dichterischen Entwicklung sprechen kann, im Sinne des Durchlaufens verschiedener Etappen, in denen sich veränderte Welthaltung, verschieden geartete geistige, menschliche und geschichtliche Erfahrungen zu entsprechenden Ausdrucksformen verdichten. Der ganze Kittner ist von Anfang an da, seine lyrische Sagweise, die gut anderthalb Jahrhunderte deutscher und europäischer Dichtung assimiliert hat […], ist wesentlich gleichgeblieben. […] Das Kittnersche Werk spiegelt in großen Zügen die äußeren Etappen seines Lebens, Lyrik ist hauptsächlich Erlebnis- und Spruchdichtung – ein Lebensbericht in glatten, geschmeidigen Versen.43
Es gibt zwar auch bei Kittner Versuche, sich aus den Zwängen des gereimten Gedichtschemas zu befreien und sich den freien Rhythmen und assoziativem Denken anzunähern, so im dritten Abschnitt des Bandes „Aus Mohn und Mond ein Mirakel“ („In der Schlinge“, „Bergnacht“, „Stausee“, „Querpfeifer Wind“, „Blaueule Leid“, „Requiem 1943“, „Herbst“, „Enttrümmerte Zeit“ u.a.), doch sie sind eher scheue Formexperimente als ein bewusster Formwille. Das hängt mit seiner Überzeugung zusammen, dass der regelmäßige Rhythmus, der Reim und das Metrum zu immanenten 42 43
Alfred Kittner. Gedichte. Geleitwort von Marianne Şora. Bukarest: Albatros Verlag 1973, 280 S. [Die schönsten Gedichte]. Emmerich Reichrath. Heimkehr eines Unbehausten. Neuer Weg (Bukarest) vom 10. August 1973, S. 4.
120 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ Eigenschaften der Lyrik gehören und das Gedicht ohne diese Elemente eine spürbare Verarmung des lyrischen Sprechens bedeutet. Dazu äußerte er sich in seinen „Erinnerungen“ ganz deutlich: Als Dichter bin ich unter andren Vorzeichen angetreten, konnte mich nur mit Vorbehalt der reim- oder rhythmuslosen Dichtung zuwenden. Das habe ich mit gewissem Bedauern getan, denn ich bin der Ansicht, dass durch den Verzicht auf das Metrum das Gedicht sich eines seiner besten, eines seiner wichtigsten Mittel begeben hat. Man sagt ja nicht umsonst „Lyrik“, denn in diesem Wort ist ja bereits die „Lyra“, also auch das Musikalische.44
Diese Meinung hat der Dichter grundsätzlich nicht mehr geändert, und so bleibt er in der Geschichte der deutschsprachigen Literatur ein etwas beschatteter, seiner Zeit entfremdeter, traditionsverpflichteter „Erlebnis- und Bildungslyriker“ (P. Motzan)45, der den richtigen Zugang an die literarische Moderne nicht mehr finden konnte und dessen Gedichte in klassischer Strophik und in gebundenen Formen ihren ästhetischen Höhepunkt erreichten. Aber Kittners literarische Tätigkeit äußerte sich nicht nur in der lyrischen Sphäre – er war zugleich auch ein unermüdlicher Übersetzer rumänischer Literatur, der mehrere rumänische Autoren im deutschen Kulturraum bekannt machte (Mihai Eminescu, Alexandru Odobescu, Nina Kassian, Zaharia Stancu, Jean Barth, Marin Preda, Veronica Porumbacu und viele andere). Als Erster hatte er nachgelassene Gedichte seiner Freunde Alfred Margul-Sperber und Oscar Walter Cisek mit gründlichen Nachworten musterhaft herausgegeben. Er war ein selbstloser Sammler der Werke seiner Bukowiner Dichterkollegen, deren Manuskripte er in seinem privaten Archiv viele Jahre behutsam aufbewahrte. Bereits 1971 veröffentlichte Kittner in zwei Heften der Bukarester Zeitschrift „Neue Literatur“ eine kleine Anthologie deutschsprachiger Lyriker aus der Bukowina, die zum ersten Mal seit den 1930er Jahren die Fülle und Mannigfaltigkeit der lyrischen Produktion aus diesem Land bezeugte46. 1994 erschien aufgrund dieser Publikation im Münchner 44 45 46
Alfred Kittner. Erinnerungen, S. 117. Peter Motzan. Erlebnis- und Bildungslyriker: Alfred Kittner. In: Neue Literatur, Jg. 29, 5/1978, S. 78. Verhallter Stimmen Chor. Gedichte aus der Bukowina. Mit einem Vorwort von Alfred Kittner. In: Neue Literatur, 11/1971, S. 36-58; 12/1971, S. 44-66.
��������������������������������� 121 Wilhelm Fink Verlag die umfangreiche Anthologie „Versunkene Dichtung der Bukowina“47 – das Kittner’sche Projekt, das er zu Lebzeiten nicht mehr realisieren konnte, so dass es Amy Colin und Alfred Kittner als Herausgeber verzeichnet. In dieses Buch hat er fast 80 deutschsprachige Dichter des 19. und 20. Jahrhunderts aus der Bukowina aufgenommen – von Ernst Rudolf Neubauer bis Elisabeth Axmann. Obwohl die 1970er Jahre für Kittner eine gewisse Verbesserung seiner persönlichen Situation brachten – er bekam wieder die Möglichkeit zu publizieren, Vorträge zu halten und ins Ausland zu reisen –, wurde die allgemeine politische und moralische Atmosphäre in Rumänien unter dem Diktator Ceausescu immer bedrückender. 1980, nach dem Tod seiner Frau Ilse, nahm er die Teilnahme an einer dichterischen Lesung in Bielefeld zum Anlass, um nicht mehr nach Rumänien zurückzukehren. Die Entscheidung war plötzlich und spontan, aber er hat sie später nie bereut. Es tat ihm nur leid, dass er viele Freundschaften preisgeben und seine einmalige Bibliothek mit etwa 16.000 Bücherraritäten, darunter zahlreiche Unikate und Manuskripte, in Bukarest zurücklassen musste. Diese Büchersammlung wurde vom rumänischen Geheimdienst Securitate zuerst beschlagnahmt, später tauchte ein Teil von ihr in Buchhandlungen und Antiquariaten auf. Der 75-Jährige ließ sich bald in Düsseldorf, der Geburtsstadt seines geliebten Heinrich Heine, nieder, die schon früher einige Czernowitzer zu ihrem Wohnort gewählt haben – so z.B. Rose Ausländer oder Edith Silbermann. 1988 erschien beim Aachener Rimbaud Verlag (als erster Band der Verlagsreihe „Texte aus der Bukowina“) Kittners fünfte Gedichtsammlung „Schattenschrift“48. Auch diesmal ist es eine Auswahl, die Gedichte aus früheren Bänden und etwa ein Dutzend neuere Texte enthält. Die Letzteren sind meistens nicht mehr strophisch, sondern als freirhythmische Strukturen verfasst, in ihnen überwiegt eine wehmütige Abschiedsstimmung („Ortswechsel“, „Abschied“, „Testament“): 47 48
Versunkene Dichtung der Bukowina. Herausgegeben von Amy Colin und Alfred Kittner. München: Wilhelm Fink Verlag 1994, 422 S. Alfred Kittner. Schattenschrift. Gedichte. Aachen: Rimbaud 1988, 126 S.
122 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ Geh schlafen, alter, ruheloser Sammler des Zeitenmülls, mach neuen Opfern Platz – geh, troll dich in die Büsche!49
Das Buch wird von einem ausführlichen Nachwort Peter Motzans begleitet, das mit großer Einfühlung über einzelne Stationen des leidvollen Lebens des Autors führt sowie seine thematischen Leitmotive und ästhetischen Dominanten hervorhebt. Zum ersten Mal wurden Kittners Gedichte dem bundesdeutschen Leser direkt, ohne Umwege über rumänische Verlage, vorgestellt. Das Buch wurde im deutschen Kulturraum sehr positiv wahrgenommen. „Die lyrische Summe eines Poeta doctus, der souverän über die Vielzahl lyrischer Mittel verfügt und der nicht verleugnet, dass er in der literarischen Tradition steht“50 – schrieb in seiner Besprechung des Bandes Jürgen P. Wallmann. Immerhin muss betont werden, dass es auch, wie Edith Konradt hervorhebt, Tradition literarischer Moderne ist, die gerade „die Verschmelzung der divergierenden modernen Sprach- und Bildformen“51 darstellt und sich mit impressionistischen sowie expressionistischen Positionen (der junge Hugo von Hofmannsthal, Georg Heym) auseinandersetzt. Ihr zentrales Motiv des Außenseiters, des Parias, der von Entfremdung und Angst gequält wird und sich immer auf der Flucht befindet, klingt auch heute durchaus aktuell. Für dieses Buch erhielt der Dichter die Ehrengabe des Andreas Gryphius-Preises. Das war sein erster und einziger deutscher Preis. Am 14. August 1991 starb Kittner in Düsseldorf und wurde auf dem Jüdischen Friedhof im Nordfriedhof beigesetzt, wo auch Rose Ausländer ihre letzte Ruhe gefunden hat. In den letzten Lebensjahren konnte Kittner endlich nachholen, was ihm in 35 Jahren im kommunistischen Rumänien 49 50 51
Alfred Kittner. Schattenschrift, S. 92. Jürgen P. Wallmann. Rez.: Alfred Kittner. Schattenschrift. Gedichte. Aachen: Rimbaud Verlag 1988. In: Literatur und Kritik, XXIII, 1988, Nr. 229/230, S. 476. Edith Konradt. Rez.: Alfred Kittner. Schattenschrift (Nachwort von Peter Motzan). Aachen: Rimbaud 1988. In: Südostdeutsche Vierteljahresblätter, 38/1989, Folge 1, S. 84.
��������������������������������� 123 verwehrt war. Er besuchte wieder Wien, wo er während des Ersten Weltkrieges die Volksschule besucht hatte, reiste in die Schweiz, nach Frankreich, Griechenland und Israel, hielt poetische Lesungen, war öfters Gast bei wissenschaftlichen Tagungen und sprach auf Drängen von Edith Silbermann, mit der er nach dem Tod seiner Frau in Düsseldorf zusammenlebte, seine Erinnerungen auf Tonbandkassetten. Dank den aufopferungsvollen Bemühungen der langjährigen Freundin, die diese Kassetten später in die Schrift überführte, konnten sie 1996 in Buchform beim Rimbaud Verlag erscheinen. Heute bilden sie ein ergreifendes Zeugnis des Kittner’schen bewegten, dramatischen Lebens. Neben Erinnerungen gehört auch Kittners Briefwechsel zu jenen unentbehrlichen Bestandteilen seines Werkes, die erst postum publiziert werden konnten – so Briefe an die Bukowiner Dichterkollegen Rose Ausländer52, Alfred Margul-Sperber53 und den jungen Paul Celan (zusammen mit den Briefen an den Hannoverschen Schriftsteller Curd Ochwandt)54 sowie an den Weimarer Dichter Wulf Kirsten55, mit dem Kittner bereits seit seiner rumänischen Zeit geistig eng verbunden war. Auch neue Gedichte kamen noch ab und zu in den letzten Jahren zustande – als Reiseeindrücke oder existentielle LebensbilanzVersuche. Nach dem Tode des Dichters sind in Deutschland noch zwei von Edith Silbermann vorbereitete und in Zusammenarbeit mit Amy Colin herausgegebene Auswahlgedichtsammlungen erschienen: „Der Wolkenreiter. Gedichte 1925-1945“ und „Wahrheitsspiel. Gedichte 1945-1991“56. Der letztere Band hat einige Texte aus dem 52 53 54 55 56
Alfred Kittner. Briefe mit Rose Ausländer. Herausgegeben von Helmut Braun. Aachen: Rimbaud 2006, 90 S. [Texte aus der Bukowiner Literaturlandschaft Bd. 34]. Alfred Kittner. Briefe an Alfred Margul-Sperber, 1932-1966. Herausgegeben von George Guţu. Aachen: Rimbaud 2015, 90 S. [Briefe / Alfred Kittner, Bd. 4; Bukowiner Literaturlandschaft, Bd. 76; Rimbaud-Taschenbuch, Nr. 90]. Alfred Kittner. Briefe / Erinnerungen an den jungen Paul Celan sowie Die Briefe an Curd Ochwadt. Unter Mitwirkung von Edith Silbermann. Aachen: Rimbaud 2008, 96 S. [Bukowiner Literaturlandschaft / Texte aus der Bukowina] Alfred Kittner. Briefe an Wulf Kirsten. Mit Beiträgen von Wulf Kirsten und Reinhard Kiefer [Bd. 3. Bukowiner Literaturlandschaft, Bd. 49]. Alfred Kittner. Der Wolkenreiter. Gedichte 1925-1945. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Edith Silbermann und Amy Colin. Aachen: Rimbaud 2004, 84 S. [Lyrik-Taschenbuch Nr. 37]; Alfred Kittner.
124 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ Nachlass aufgenommen, wie z.B. dieses, einige Tage vor dem Tod des Dichters im Martinus Krankenhaus Düsseldorf entstandene Gedichtgebet „Herr, ich bin der Siebenunddreißigste“, das als eine Anspielung an die jüdische Legende von 36 Gerechten geschrieben wurde (so hieß auch einer der Gedichtbände Rose Ausländers) und in dem noch einmal ein Streifzug durch die Lebenskatastrophen des „vergeßnen Gasts am Niemandstisch“57 unternommen wird: Herr, ich bin der Siebenunddreißigste, der, der immer zu spät kommt zur Verteilung Deiner Güte und Weisheit, Deiner Lieder und Hymnen. Wär’ ich der Sechsunddreißigste, hätt’ ich sie Dir dargebracht mit Schalmeienklängen, doch so, als der Siebenunddreißigste verzage ich und muß vor Dir katzenbuckeln wie ein toter Schimpanse. Wirf Deinen schweren schwarzen Hammer auf mich, daß ich nicht wiederzukehren brauche zur saueren Wahl, Zebaoth.58
57 58
Wahrheitsspiel. Gedichte 1945-1991. Herausgegeben von Edith Silbermann. Aachen: Rimbaud 2005, 96 S. [Lyrik-Taschenbuch Nr. 38]. Zitat aus dem Gedicht „Nachtschwärmerklage“. In: Alfred Kittner. Schattenschrift, S. 22. Alfred Kittner. Wahrheitsspiel, S. 90.
„Im Niemandsland des Lieds verloren“ Immanuel Weißglas Am poetischen Himmel der deutschjüdischen Dichtung der Bukowina, an dem mehrere bekannte und weniger bekannte Namen leuchten, schimmert still und einsam der traurige Stern von Immanuel Weißglas, eines einfühlsamen Lyrikers und bedeutenden Übersetzers, dessen literarisches Werk bis heute noch nicht in gebührender Weise gewürdigt ist. Das schmale Œuvre dieses schwermütigen Pilgers des poetischen Wortes ist heute immer noch überschattet, doch es besitzt seine eigene unnachahmliche Aura, die diesen Dichter aus der Finsternis des Nichtseins abhebt. Diejenigen, die den Dichter persönlich gekannt haben, betonen übereinstimmend seine ungewöhnliche Schüchternheit, seinen Abscheu gegen jegliche Pose und Phrase, sein Bestreben, immer im Schatten zu bleiben. Er hatte niemals versucht, sich selbst auf irgendwelche Weise hervorzutun, versteckte seine Gedichte vor fremden Augen und gab sie sehr ungern für den Druck frei. Wohl auch deswegen ist er in der Literaturgeschichte nur als Autor von zwei schmalen Gedichtbändchen bekannt. „Die Zurückgezogenheit gehörte offenbar zu seinem Lebensprogramm“1, bemerkt dazu der deutsche Literaturwissenschaftler Theo Buck. Wie die meisten Vertreter der deutschen Literatur der Bukowina, deren dichterisches Wirken in den für die Geschichte dieses Landstrichs stürmischen Zwischenkriegsjahren begann, hatte James Immanuel Weißglas ein schwieriges Schicksal gehabt. Er wurde am 14. März 1920 in einer gutsituierten jüdischen Familie des Rechtsanwalts Dr. Isak Weißglas und seiner Frau Leonore geboren, in der der Kult des Buches und der Kunst herrschte, so dass Immanuel bereits seit der frühen Kindheit mit großen Schöpfungen der menschlichen Kultur in Berührung kam. Zum Erziehungsprogramm Immanuels und seines jüngeren Bruders Theodor gehörten Theaterbesuche, Musikunterricht, Tanzstunden 1
Theo Buck. Eine leise Stimme. In: Immanuel Weißglas. Aschenzeit. Gedichte. Mit einem Nachwort von Theo Buck. Aachen: Rimbaud Verlag 1994, S. 128.
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126 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ usw. Von der Natur mit verschiedenen Begabungen reich beschenkt, galt der junge Weißglas im Freundeskreis als unübertrefflicher Pianist, der auch die Orgel genauso virtuos spielte. Nicht weniger als die Musik faszinierte ihn die Literatur. Er war Altersgenosse und im Schuljahr 1935/36, wie die im Czernowitzer Staatsarchiv aufgefundenen Gymnasialmatrikel zeugen, sogar Klassenkamerad Paul Celans im orthodoxen Knabenlyzeum Nr. 2, so dass ihre ersten poetischen Versuche im rumänischen Czernowitz parallel begonnen haben. Während ihres Schulbesuchs standen beide in enger freundschaftlicher Beziehung, da ihre Interessen in vielen Fällen die gleiche Richtung nahmen, so dass sie auch in den schulfreien Stunden oft zusammen waren. Zu jener Zeit – erinnert sich Alfred Kittner – waren Weißglas und Celan nahezu andauernd, vermutlich täglich zusammen und führten ein „ewiges Gespräch“, das sich zumeist auf dieselben dichterischen Werke und Erfahrungen bezog […] Im Geiste nannte ich sie denn auch Orestes und Pylades […] Sie lasen gemeinsam, besprachen gemeinsam das Gelesene, übten ihre Übersetzerbegabung an denselben gleichen Gedichten, an Jessenin, Apollinaire, Yeats, Housman, Arghezi, Shakespeares Sonetten. Es war ein ständiges Nehmen und Weiterreichen.2
Es war aber nicht nur eine Freundschaft, sondern auch eine verborgene Rivalität von zwei jungen Literaten, die ein großes Interesse der Klassenkameraden geweckt hatte. Man raunte sogar, sie hätten vor, ein richtiges „poetisches Turnier“ miteinander zu veranstalten, das allerdings nicht stattfand, da sich Paul Antschel (Celan) weigerte, seine Gedichte vor einem breiteren Publikum vorzulesen. Die literarische Ergriffenheit von Weißglas spielte ihm aber bald einen bösen Scherz – er gab sich der Literatur und der Musik so leidenschaftlich hin, dass er alle anderen Schulfächer vernachlässigte und die fünfte Gymnasialklasse wiederholen musste (im Schuljargon hieß es, er sei ein „Repetent“ geworden). Seitdem begannen ihre Lebenswege immer mehr auseinanderzugehen, obwohl beide später noch das gleiche Lyzeum „Marele Voevod Mihai“ besuchten. Durch die Vermittlung seines Onkels, der als Setzer in einer Bukarester Druckerei tätig war, lernte Weißglas bald den 2
Alfred Kittner. Erinnerungen an den jungen Paul Celan. In: Zeitschrift für Kulturaustausch (Stuttgart) 32. Jg., 1982, H. 3, S. 218.
„Im Niemandsland des Lieds verloren“ 127 lebendigen Klassiker der rumänischen Literatur, den bedeutendsten rumänischen Dichter Tudor Arghezi in Bukarest kennen, der literarische Proben des jungen Übersetzers hoch bewertete, ihn zu sich nach Hause einlud und zur Publikation der Übersetzungen seiner Gedichte im Novemberheft der Bukarester Zeitschrift „Viaţă Românească“ für das Jahr 1937 beitrug3. Das literarische Debüt des 17-jährigen Weißglas in einer angesehenen Zeitschrift der rumänischen Metropole löste in Czernowitz große Aufregung aus und wurde zu einem außerordentlichen Ereignis. Nicht weniger sensationell wirkte auch die Weißglas’sche Publikation der Nachdichtung von Mihai Eminescus Poem „Luceafărul“ („Der Abendstern“), die 1940 unter dem Titel „Hyperion“ als eine separate Druckschrift in Bukarest erschien4. Der schmalen 30-seitigen Broschüre wurde die Widmung des Übersetzers vorangestellt: „Tudor Arghezi, der bewirkenden hohen Meisterschaft“5. „Das russische Jahr“ – von der sowjetischen Annexion der Nordbukowina am 28. Juni 1940 bis zum Einmarsch deutscher Truppen Anfang Juli 1941 – erlebte die Familie Weißglas traumatisch. Nach der sowjetischen Besatzung des Landes verlor der Vater seine juridische Praxis, immer deutlicher zeigten sich die „Segen“ des Sozialismus – die totale Kontrolle des geistigen Lebens, das Verbot jeglicher Vereine, der Mangel an notwendigsten Waren. Um seine Familie materiell zu unterstützen, fand Immanuel eine Bibliothekarstelle in der Landesbibliothek, wo damals übrigens auch Rose Ausländer und Alfred Kittner arbeiteten. Zugleich studierte er Germanistik an der Universität Czernowitz, vertiefte sich in die frühen Etappen der Geschichte der deutschen Literatur und arbeitete an seinem ersten Gedichtband „Gottes Mühlen in Berlin“, der zu Lebzeiten des Dichters unveröffentlicht blieb.
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„Viaţă Românească“ (Bukarest), Jg. XXIX, Nr. 11 (1937), S. 17-18. Mihai Eminescu. Hyperion. Deutsch von Immanuel Weißglas. Bucureşti: Cartea Românească 1940. Siehe George Guţu. Immanuel Weißglas. In: Andrei Corbea-Hoisie, Grigore Marcu, Joachim Jordan (Hrsg.). Immanuel Weißglas (19201979): Studien zum Leben und Werk. Iaşi: Editura Universităţi „Alexandru Ioan Cuza; Konstanz: Hartung-Gorre Verlag 2010, S. 88 [Jassyer Beiträge zur Germanistik XIV].
128 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ Doch die Studien der deutschen Literatur wurden durch den Kriegsbeginn unterbrochen. Mit der deutsch-rumänischen Okkupation der Stadt begann für Immanuel Weißglas, wie auch für andere Einwohner jüdischer Abstammung, die „Aschenzeit“ – mit der bedrückenden Erwartung einer blutigen Abrechnung der Nazis. Es dauerte nicht lange, bis die regimetreuen Schergen von General Antonescu die Familie Weißglas im Sommer 1942 nach Transnistrien deportierten, wo unter strenger Aufsicht rumänischer Gendarmen und deutscher SS-Leute der Kampf um das physische Überleben begann. Die Deportierten wurden am Ufer des Südlichen Bug in ehemaligen, noch zu Zarenzeiten errichteten Holzbaracken und verlassenen Viehställen untergebracht. Um die Verpflegung der Häftlinge kümmerte sich niemand, sie sollten selbst dafür sorgen, indem sie Kleider und andere wertvolle Sachen bei ukrainischen Bauern der umgebenden Dörfer gegen Lebensmittel umtauschten. Infolge Unterernährung begann bei ihnen sehr schnell die physische Entkräftung, und der Flecktyphus raffte sie gnadenlos dahin. Tausende erschöpfte Menschen wurden seine Opfern, die man sofort in eiligst ausgegrabene Löcher warf. Ob man nun unter diesen Umständen noch an das geistige Leben denken konnte, an das Schreiben von Gedichten? Aber die Paradoxie der menschlichen Natur besteht auch darin, dass der Mensch, außer seinen physiologischen Bedürfnissen, noch ein Gedächtnis besitzt, er schaut zuweilen in den bestirnten Himmel, er hofft und träumt. Unter jenen wenigen Dingen, die Immanuel Weißglas ins Lager mitgenommen hatte, befand sich auch das Brockhaus-Literaturlexikon. Mag sein, dass er in den Augen anderer Häftlinge als ein Verrückter galt, aber Immanuel war überzeugt, dass ein deutscher Dichter ohne das Brockhaus-Literaturlexikon nicht existieren konnte. Was für ein furchtbarer, fataler Widerspruch – am Rande eines Abgrunds zu stehen und an die Feinheiten der Sprache zu denken, die jeden Tag im Mund der Henker nur als schmutziges, höhnisches Geschimpfe klingt! Später schrieb Weißglas an den Freiburger Germanisten Gerhart Baumann, mit dem er in den letzten Jahren seines Lebens im regen Briefwechsel stand: Ich litt nie tiefer als in den uns alle verzehrenden Tagen, da ich, ausgesetzt nicht auf Rilkes „Bergen des Herzens“, sondern in den Steppenweilern der
„Im Niemandsland des Lieds verloren“ 129 Ukraine, im Krieg der Kriege, im Geifer der Schergen die mir vertrauten deutschen Laute meiner Mutter vernahm. Allein die Totenköpfe, die im Geist bresthaften Berserker wußten nicht, dass die in der Erde der Sprache Wurzelnden nimmer gefällt werden können.6
Der Aufenthalt in den „Arbeitslagern“ Transnistriens (1942-1944) wurde zur tragischen Zäsur in der Biographie des Dichters, er prägte sein dichterisches Schaffen und seine Lebensphilosophie. Alles dort Gesehene und Erlebte lässt sich nur schwer in Worte fassen, es war ein Wettlauf mit dem Tod, eine ununterbrochene Kette von Erniedrigungen und Leiden. Die von dort erfahrenen seelischen und körperlichen Wunden wurden nie mehr geheilt, Albträume der Erinnerungen suchten ihn Tag und Nacht heim. Das Todesmotiv wird zu einem der Leitmotive seiner Dichtung – selbst in seinen intimsten Liebesgedichten. Konzeptuell war sein Werk von der Lehre des deutschen Philosophen A. Schopenhauer geprägt, dessen philosophische Thesen über den Verzicht auf den Lebenswillen in seine Dichtung eingeflossen sind. Der Familie Weißglas gelang es, die Gräuel transnistrischer „Arbeitslager“ zu überleben, nicht zuletzt dank der künstlerischen Begabung Immanuels und seines Bruders Theodor. So stellte sich z.B. heraus, dass einer der rumänischen Lageroffiziere ein großer Anhänger des Werkes von Tudor Arghezi war. Nachdem er erfahren hatte, dass Immanuel mit dem rumänischen Dichter persönlich verkehrte und seine Gedichte übersetzte, verhielt er sich zu ihm etwas nachsichtiger (später wird Weißglas seinen Journalistenfreunden erzählen, Arghezi habe ihm „das Leben gerettet!“7). Und den jüngeren Bruder Theodor, der seine Geige ins Lager mitgenommen hatte, luden rumänische Offiziere öfters ein, ihnen bei ihren nächtlichen Orgien zu spielen, wofür sie ihm manchmal eine Scheibe Brot und ein Stück Speck gaben, was bei den herrschenden Lagerbedingungen nicht selten dem Überleben gleichkam. Über das Lagerleben in Transnistrien kann man auch aus einem umfangreichen Bericht von Immanuels Vater Isak Weißglas erfahren, 6 7
Joachim Jordan. „Die Wiederbegegnung mit mir selber“. Briefe von Immanuel Weißglas an Gerhard Baumann samt Briefen von Beatrice Alexiu-Weißglas und Dokumenten. Aachen: Rimbaud 2012, S. 11. Siehe George Guţu. Immanuel Weißglas, S. 89.
130 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ der in seiner dokumentarischen Chronik Etappen und Ereignisse des Lageralltags ausführlich dargestellt hatte. 1995 wurde dieses Manuskript von Ernest Wichner und Herbert Wiesner in Buchform herausgegeben8. Das „Arbeitslager“ am Bug, wohin man Bukowiner Juden gebracht hatte, war nur ein Sammelpunkt, von dem die Häftlinge dann auf andere Lager verteilt wurden – nach Obodowka, Ladyshyn, Kryshopil, Tultschyn, Trostjanez, Brazlaw, Balta. Von den Aufenthalten in manchen von diesen Lagern zeugen topographische Hinweise in einigen dort geschriebenen Gedichten von Immanuel Weißglas. Auf diesem Leidensweg begleitete ihn sein älterer Freund und dichterischer Gefährte Alfred Kittner, der einige Episoden ihres gemeinsamen Lagerseins in seinen Erinnerungen schilderte, unter anderem auch, wie sie unter jenen unmenschlichen Bedingungen auf zufälligen Papierfetzen ihre poetischen Zeilen notierten und sie austauschten9. Nach dem chaotischen Rückzug deutscher Truppen und der Befreiung der besetzten Territorien kehrte die Familie Weißglas nach Czernowitz zurück, das inzwischen wieder sowjetisch geworden war. Hier traf Immanuel manche Dichterfreunde, die Überlebenden des Holocausts, so z.B. Paul Celan. Nach Zeugnissen von Edith Silbermann besuchten beide in den ersten Monaten nach der Befreiung ein paar Mal die Dichterin Rose Ausländer, die diese schreckliche Zeit im Czernowitzer Ghetto überlebte und der sie ihre aus den Arbeitslagern mitgebrachten Gedichte vorlasen. Die Perspektive, sie zu veröffentlichen, wenn man jene Tatsache berücksichtigt, dass sie „in der Sprache des Feindes“ geschrieben wurden, war jedoch völlig aussichtslos. Eine Zeitlang arbeitete Weißglas, gleich Celan, als Sanitäter in der Czernowitzer Irrenanstalt – offenbar ein legaler Versuch, der Einberufung in die Sowjetarmee zu entkommen. Aber die politische Atmosphäre von Willkür, Angst und Unfreiheit, die das stalinistische Regime mit sich brachte, veranlasste sie Wege zur Flucht aus dem „segensreichen“ 8 9
Isak Weißglas. Steinbruch am Bug. Bericht einer Deportation nach Transnistrien. Mit einem Beitrag von Wolfgang Benz herausgegeben von Ernest Wichner und Herbert Wiesner. Literaturhaus Berlin 1995, 104 S. Alfred Kittner. Erinnerungen 1906-1991. Herausgegeben von Edith Silbermann. Mit einem Nachwort von Theo Buck. Aachen: Rimbaud Verlag 1996, S. 89-90.
„Im Niemandsland des Lieds verloren“ 131 kommunistischen Paradies zu suchen. Deswegen ist es kaum verwunderlich, dass fast alle deutschsprachigen Dichter der Bukowina bald ihre Heimatstadt für immer verlassen mussten. In Bukarest angekommen, betätigte sich Weißglas zuerst als Theaterpianist, später bekam er die Stelle des technischen Sekretärs und Korrektors im Verlag „Europolis“ und ab 1948 war er Mitarbeiter und Archivar der Tageszeitung „România liberă“, in der er dann ununterbrochen im Laufe von drei Jahrzehnten tätig war. Die rumänische Hauptstadt wurde für ihn zum sicheren Lebenshafen, seine früheren Kontakte zur rumänischen Kultur vertieften sich mit der Zeit noch mehr und fanden ihren Ausdruck in zahlreichen Übersetzungen aus dem Rumänischen und ins Rumänische, mit denen er eine deutliche Spur in der Geschichte der rumänisch-deutschen Literaturbeziehungen hinterließ. 1947 erschien in Bukarest der schmale Gedichtband von Immanuel Weißglas unter dem Titel „Kariera am Bug“10 (kariera = cariera, das rumänische Wort für Steinbruch), der die schmerzhafte Erfahrung all jener Leiden und Erniedrigungen aufnahm, die der Dichter in Transnistrien erlebt hatte. Dem Buch wurde das Motto des Autors vorangestellt: „Die Gedichte stehen hier als Meilensteine, die den schauerlichen Weg bezeichnen, den wir in den Jahren 1941/1944 zwischen Dnjester und Bug, in der Ukraine, gegangen sind“. In ihnen, wie auch in den Lagergedichten Alfred Kittners, erstand noch einmal die von Menschenhand geschaffene Lagerhölle in all ihrem bestialischen Wesen. Dokumentarisch genaue, gnadenlos wahre Zeilen schildern Bilder unerhörter Gewalt und Grausamkeit. Es gibt in den Gedichten von Weißglas aber auch etwas, das ihn an Celan annähert – die Phantasmagorie des Gesehenen und Erlebten, die Erhebung seines eigenen Schmerzes zu allgemeinmenschlichem Leiden. Dazu greift der Dichter zu mythologischen Anspielungen, biblischen Assoziationen, wie z.B. im einleitenden Gedicht „Jüngstes Gericht“, das quasi eine Ouvertüre zu diesem Debütband des jungen Autors bildet:
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Immanuel Weißglas. Kariera am Bug. Gedichte. Bukarest: Cartea Românească 1947, 48 S.
132 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ Gott der Gejagten, Gott der Gräser Schon schreits, schon wird’s, schon fordern Bläser Zum Jüngsten Tag auf, sehr nah sei er – Doch wir sind weit von dir Befreier. Wir sind bei Licht besehn, im Miste Gleich vor dir, Heide, Jud und Christe, Und aus dem Totenreich gebürtig, Noch außerdem des Lorbeers würdig. So wie den Stacheln einst das stolze Dornengekrönte Haupt am Holze, Sich himmelschreiend dargeboten: Was bietest du, Herr, deinen Toten? Du trübst den Himmel, du Bewölker, Und schreckst mit dem Gericht die Völker.11
Trotz seines biblischen Kontextes stellt das Gedicht keinesfalls einen „frommen“ Gesang dar, es ist eher ein rebellischer Text, der aus einer christlichen Perspektive geschrieben ist, in dem der Messias in der Gestalt des Christus und nicht des strengen jüdischen Gottes vorkommt, auf dessen Kommen und gerechtes Urteil die unterdrückten jüdischen Volksmassen gewartet haben. Als Sprössling einer deutschassimilierten jüdischen Familie, deren Akkulturationsprozess auch die konfessionelle Sphäre betraf, wandte sich Weißglas, gleich anderen deutschjüdischen Czernowitzer Dichtern (A. Margul-Sperber, R. Ausländer, A. Kittner, A. Gong), nicht selten auch christlichen Motiven zu. Am überzeugendsten belegt dies sein Zyklus von Weihnachtsliedern „Das ferne Väterchen im Schnee“, der im Jahr des Erscheinens des Gedichtbandes „Kariera am Bug“ geschrieben wurde. Vor einigen Jahren wurde das Typoskript dieser Gedichte von dem rumänischen Germanisten A. Corbea-Hoisie im Österreichischen Literaturarchiv aufgefunden und publiziert12. Nach Meinung des Wissenschaftlers „vermengten sich in der Thematik der in der Deportation und kurz danach geschriebenen Gedichten Immanuel Weißglas’ Motive des jüdischen und nicht minder des deutschen Leidens an der Zivilisationskatastrophe des Krieges“.13 In den
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Immanuel Weißglas. Kariera am Bug, S. 3. Siehe Immanuel Weißglas (1920-1979). Studien zum Leben und Werk, S. 39-57. Andrei Corbea-Hoisie. Zu den Gedichten Immanuel Weißglas’ im Österreichischen Literaturarchiv. In: Immanuel Weißglas (1920-1979). Studien zum Leben und Werk, S. 23.
„Im Niemandsland des Lieds verloren“ 133 abschließenden Zeilen erklingt hier verborgen das gotteslästerische Motiv aus Goethes „Prometheus“. Mythologische, historische und literarische Anspielungen sind mehreren Gedichten des Bandes „Kariera am Buch“ eigen, was ihnen einen ausgedrückten intertextuellen Charakter verleiht. Der Dichter signalisiert sie bereits mit den Titeln seiner Gedichte: „Walpurgischer Ahasver“, „Die Arche“, „Mythischer Storch“, „Himmelfahrt“, „Völkerwanderung“ u.a. Solche intertextuellen Bezüge geben seinen Gedichten eine „unendliche“ Dimension, sie projizieren sie auf tragische Ereignisse der Weltgeschichte bis zur neuesten Katastrophe hin, in der Millionen Menschen wieder, wie in den vergangenen Zeiten, zum Leiden und Tod verurteilt sind. In einigen dieser Gedichte kann der Dichter aber auch fest an die konkreten Realien gebunden sein und die eine oder andere Situation der Lagerwirklichkeit als ein Alltagsereignis darstellen, indem er poetische Tropen und Figuren sowie intertextuelle Bezüge aus der Sphäre der Mythologie, der Literatur- oder Kunstgeschichte vermeidet, sein Bildarsenal bis auf das Minimale reduziert und sich auf die Wiedergabe eines einzigen Leitmotivs konzentriert, wie z.B. auf die im Aberglauben mehrerer Völker tief verwurzelte Identifizierung schwarzer Raben mit den Todesboten in seinem Gedicht „Die Raben“: Trotzdem wir keine Zukunft vor uns haben, so vergewissern wir uns doch zuletzt, ob nicht der Himmel diese schwarzen Raben, sobald es schneit, auf unser Leben hetzt. So viele Raben geben uns zu denken, unheimlich ists, wenn so ein Vogel schwirrt, der uns, wenn wir auch plötzlich seitwärts schwenken, zu Häupten wie die Sorge folgen wird. Und wer von uns zurückbleibt auf den Wegen, will sich den Lebenden nicht anvertraun; sie werden sich bald auf den Rücken legen und schweigend auf den Schwarm der Raben schaun. Sie ab und zu bedrohend mit den Händen, wie man gewöhnlich nach dem Nebel greift, wo alle, die noch leben, einmal enden und selbst der Tod uns wie ein Rabe streift.14 14
Immanuel Weißglas. Kariera am Bug, S. 16.
134 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ Solche Gedichte bezeugen eine thematische Nähe zwischen Weißglas und Alfred Kittner, mit dem er das gemeinsame Schicksal in den Arbeitslagern Transnistriens teilte: nüchterne, fast dokumentarische Skizzen, die uns einen Splitter der Wirklichkeit, eine einzelne Episode der leidvollen Existenz der Häftlinge oder einen diagonalen Schnitt ihres jammervollen Alltags bieten. Zu ihnen gehören z.B. solche Gedichte wie „Der Auszug“, „Über Nacht“, „Ich blicke“, „Sieben Wochen am Bug“, „Du fragst“, „Schnee“, „Das Grab“ u.a. Das dominierende Motiv ist hier immer der Tod – der unvermeidliche, unabwendbare, wie das Fatum der griechischen Tragödie. Er ist in jedem der oben genannten Gedichte präsent, wie übrigens auch in vielen anderen Gedichten des Bandes. „Kariera am Bug“ ist ein schmales Gedichtbändchen mit nur 36 Gedichten, sein kleiner Umfang war wahrscheinlich durch die Rahmenbedingungen des Verlags verursacht. Parallel stellte Weißglas ein viel umfangreicheres Typoskript seiner Gedichte mit dem Titel „Gottes Mühlen in Berlin“ zusammen, dessen Leitmotiv das Thema Deutschland war, mit dessen Sprache und Kultur der Dichter sich eng verbunden fühlte. Vielleicht hielt man aber solch ein Thema im kommunistischen Rumänien der ersten Nachkriegsjahre für anachronistisch. Obwohl die thematischen Schwerpunkte des Bandes „Kariera am Bug“ (jüdische Themen und Bilder aus der Zeit in Transnistrien), nach Meinung von Barbara Wiedemann, die Auswahl „als für eine Publikation in der damaligen Zeit und Situation geeignet erscheinen“15 ließen, erfuhr der Gedichtband von Weißglas auch mit dieser thematischen Ausrichtung keine breite Resonanz. „Zum Zeitpunkt seines Erscheinens, aber auch später wurde der Band kaum beachtet“16 – stellt der rumänische Literaturwissenschaftler G. Guţu fest, der eines der wenigen kritischen Urteile über das Bändchen zitiert, worin dem Autor Pessimismus und Misanthropie sowie Abstraktheit seiner Äußerungen vorgeworfen werden, denn anstatt Faschisten als 15
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Barbara Wiedemann. „Altneutränen“. Überlegungen zu Immanuel Weißglas’ zweitem Gedichtband. In: Andrei Corbea und Michael Astner (Hrsg.). Kulturlandschaft Bukowina. Studien zur deutschsprachigen Literatur des Buchenlandes nach 1918. Iaşi: Editura Universităţii „Alexandru Ioan Cusa“ 1990, S. 159. George Guţu. Immanuel Weißglas, S. 90.
„Im Niemandsland des Lieds verloren“ 135 Faschisten zu bezeichnen, nenne er sie ohne jegliche politische Konkretisierung „Schergen“17. Dies war eine für jene Zeit typische Bezichtigung apolitischer Einstellung, der Abgerissenheit von der ideologischen Parteilinie, die von den Dichtern und Künstlern vor allem das publizistische Pathos und die Verherrlichung des Regimes verlangt hatte. Die Typoskript-Gedichtsammlung „Gottesmühlen in Berlin“, die chronologisch zur Entstehungsperiode des Bandes „Kariera am Bug“ gehört und thematisch mit ihm nur teilweise verwandt ist, blieb zu Lebzeiten des Dichters unveröffentlicht. Sie erschien erst 2020 als Publikation aus dem Nachlass18. Ein Exemplar dieser Sammlung schickte der Autor noch Anfang 1948 mit einigen getrennten Päckchen dem Herausgeber der Salzburger Zeitschrift „Das Silberboot“ Ernst Schönwiese mit der Bitte, diese Texte aufzubewahren. Offensichtlich wollte Weißglas auf diese Weise seine Gedichte vor einem möglichen „Expropriieren“ durch rumänische Behörden schützen. Auf der Titelseite steht eine handschriftliche Notiz von Schönwiese: „Zur Aufbewahrung, nicht zur Publikation“19. Heute befindet sich dieses Textkonvolut im Österreichischen Literaturarchiv in Wien. Ein anderes Exemplar des Typoskripts gelangte, wahrscheinlich über Freunde des Dichters, zum damaligen Germanistikprofessor an der Universität Cambridge Leonard Forster und wird heute im Archiv des Institute of Germanic Studies der University of London aufbewahrt20. „Gottes Mühlen in Berlin“ zählt 53 Gedichte. Strukturell sind sie in Zyklen aufgeteilt: „Der Krieg der Toten“, „Der deutsche Krieg“, „Die verlorene Schar“ (29 Gedichte). Außerdem finden sich hier noch zwei Anhänge, die vermutlich ursprünglich nicht in das Typoskript aufgenommen wurden (24 Gedichte). Von ihrer Verwandtschaft mit dem Gedichtband „Kariera am Bug“ zeugt jener Umstand, dass eine Reihe von Gedichten (manchmal in einer 17 18 19 20
George Guţu. Immanuel Weißglas, S. 91. Immanuel Weißglas. Gottes Mühlen in Berlin. Herausgegeben und kommentiert von Andrei Corbea-Hoisie. Aachen: Rimbaud Verlag 2020, 160 S. Siehe Andrei Corbea-Hoisie, Grigore Marcu, Joachim Jordan (Hrsg.). Immanuel Weißglas (1920-1979): Studien zum Leben und Werk, S. 35. Andrei Corbea-Hoisie. Editorische Notiz. In: Immanuel Weißglas. Gottes Mühlen in Berlin, S. 108.
136 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ überarbeiteten Form) in beiden Büchern vorkommt. Die zeitliche Priorität der einen oder der anderen Sammlung ist somit recht problematisch zu bestimmen. B. Wiedemann behauptet: Schon die Datierung der Sammlungen im gleichen Jahr gibt Anlass zu der Vermutung, dass beide eine Auswahl aus dem gesamten bis dahin entstandenen Werk von Weißglas darstellen, also auf eine nicht erhaltene, umfangreichere gemeinsame Quelle zurückgehen.21
Der Titel des Gedichtbandes enthält die mittelalterliche Metapher der Gottesmühle als Symbol einer totalen Gnadenlosigkeit – in ihrer mechanischen Unerbittlichkeit zermahlt die Gottesmühle alle, ungeachtet ihrer Schuld oder Unschuld. Sie ist Allegorie eines Hohen Gerichts, das keine Zweifel oder Bedenken kennt. Aber die geographische Lokalisierung rückt diese Metapher in den historischen Kontext: „Gottesmühlen in Berlin“. Diese topographische Konkretisierung symbolisiert hier Deutschland, unter dessen Zeichen diese Gedichte geschrieben wurden. Eigentlich ist hier das deutsche Thema in beiden Anhängen präsent, die als „Deutsche Klage“ betitelt sind, obwohl es bereits in dem mit großen Buchstaben verfassten Motto angekündigt ist, das dem Gedichtband vorangestellt ist: DER VERFASSER DIESES BUCHES HAT DEUTSCHLAND NIE VON ANGESICHT GESEHEN/ ABER LANG GELEBT UND GELITTEN: DIE DEUTSCHE KLAGE/ DIE WIR HIER ERNTEN/ VON LIEBE UND TOD HINGEGANGENER JAHRHUNDERTE UND INS GRAB GESUNGENER GESCHLECHTER GESTIFTET/ IST SO ALT WIE DIE SPRACHE: SIE BEDURFTE NUR EINES DRINGENDEN DICHTERS. UND WURDE IN DEN JAHREN DES SCHILD-AN-SCHILDE SCHLAGENS 1940-1946 NICHT OHNE ANSPIELUNG AUF DIE MÜHLEN GOTTES/ DIE LANGSAM ABER SICHER MAHLEN/ IN DER DEUTSCHEN FREMDE AUFGEZEICHNET.22
In der Tat dominiert das Thema Deutschland in den meisten der 24 Gedichte, die im ersten und zweiten Anhang publiziert sind. Offensichtlich betrifft der Titel „Deutsche Klage“ vor allem diese Gedichte, denn die ersten drei Abschnitte stehen ihrer thematischen Ausrichtung nach den Texten des Gedichtbandes „Kariera am Bug“ näher – hier sehen wir vor allem die Darstellung des Krieges und 21 22
Barbara Wiedemann. „Altneutränen“, S. 158. Immanuel Weißglas. Gottes Mühlen in Berlin, S. 6.
„Im Niemandsland des Lieds verloren“ 137 der Todesarten („Wüstentod“, „Panzertod“, „Seetod“, „Ikarischer Tod“, „Das Massengrab“, „Tod im Walde“ u.a.). Aber nicht weniger wesentlich war für den Dichter der deutsche Aspekt, der hier mit der Intensität von Beschwörungen thematisiert wird – das Attribut „deutsch“ erscheint in diesen Gedichten geradezu mit einer aufdringlichen Besessenheit: deutsches Schwert, deutscher Tod, deutsche Treue, deutscher Himmel, deutsche Landschaft, deutsche Bäume, deutsche Dome, deutsche Trauer. Daran knüpfen auch deutsche geographische, historische, literarische Realien an: Oder und Rhein, Hagen (eine Figur aus dem Nibelungenlied), Heines Lorelei, Goethes Gretchen u.a. Diese „deutsche“ Leidenschaft von Weißglas war jedoch nicht so sehr das Ergebnis seiner Vorkriegsstudien der Germanistik an der Universität Czernowitz als vielmehr Ausdruck einer tieferen deutschen Akkulturation des assimilierten Czernowitzer Judentums. Nicht ohne Grund wies auf diese Eigenschaft der Dichtung von Weißglas sein älterer Freund Alfred Kittner hin, indem er im Nachruf auf den Tod des Dichters schrieb: „Will man Weißglas’ Dichtung am knappsten umreißen, ihr Wesentliches in wenigen Worten zusammenfassen, so wird man sie wohl als eine Dichtung des Leidens an und um Deutschland bezeichnen müssen.“23 Diese Beobachtung wird nicht nur durch die Zahl von Erwähnungen Deutschlands in den Gedichten des Bandes „Gottesmühlen in Berlin“ bestätigt, sondern auch durch ein tieferes Eindringen in die Geschichte, Kultur und Mentalität des deutschen Volkes. Der Dichter befasst sich mit Deutschlands Schicksal trotz furchtbarer Verbrechen, welche die Deutschen in der Nazizeit verübt haben. Er glaubt daran, dass das deutsche Volk in sich selbst Kraft findet, um das schmachvolle und erniedrigende Joch der Naziherrschaft von seinen Schultern abzuschütteln. Bis dato ist Deutschland aber einem stygischen Reich (d.h. dem mythischen unterirdischen Fluss Stix, der in der Unterwelt fließt) gleich, in dem nur Finsternis und Tod herrschen. Ebenso erscheint Deutschland im Gedicht „Das stygische Reich“, in dem es durch das Prisma altgriechischer Mythologie mit dem Obolus, „des Fährmanns Lohn“, 23
Alfred Kittner. Abschied von Immanuel Weißglas. In: Neue Literatur (Bukarest), Heft 7, 1979, S. 35.
138 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ assoziiert wird, den man den Toten auf den Mund legt, damit sie ihn dem Fährmann Charon bei der Überfahrt in das Reich der Toten zahlen. Kommst du ins Land, wo schimmelgrau die Garben Verschwiegner Menschen in den Städten stehn, So sage, daß wir sanft in Betten starben – Und alles Schlagen war im Schlaf geschehn. Irdische Scheren rissen uns vom Faden Des bunten Lebens, süß war noch der Tod; – Er mähte uns im Felde zu den Schwaden – Und mit den Toten reifte euer Brot. Dann lud man uns wie Säcke auf die Fuhren, Die Toten walln zur Himmelsmühl im Strauß. Das Schwanenlied war trüb wie die Masuren – Wie mahlen aber Gottes Mühln zu Haus? Dort sind die Mütter froh und müssger Hände, Und ohne Sorg um den entrückten Sohn: Denn in den Gräbern nimmt die Welt ein Ende – Und Deutschland ist am Fluß des Fährmanns Lohn.24
Die „Gottesmühlen“ zermahlen die Völker, gerechte und ungerechte, aber am teuersten soll seine Verbrechen Deutschland bezahlen. Und nur nach dieser Abrechnung kann man auf das wiedergeborene Idyll des friedlichen Lebens hoffen, in dem die Mütter wieder glücklich und ihre Söhne unschuldig sein werden. Mit dem Problem des deutschen Wesens ist auch ein anderes Gedicht der Sammlung „Gottesmühlen in Berlin“ verbunden, das schmerzhaft die deutsch-jüdischen Beziehungen betrifft, die mit der tragischen historischen Erfahrung belastet sind – das Gedicht mit dem kurzen, symbolträchtigen Titel „ER“. Dieser Titel schickt uns zu der anonymisierten Poetik des Symbolismus und Expressionismus mit ihrem Hang zu äußerster Verallgemeinerung und Abstrahierung. Im Weißglas’schen Gedicht hat dieses Personalpronomen einen durchaus konkreten Inhalt: ER ist kein anderer als ein namenloser Kriegsverbrecher, Kommandant eines Nazi-KZ-Lagers, der für die Massenvernichtung der Juden 24
Immanuel Weißglas. Gottes Mühlen in Berlin, S. 45.
„Im Niemandsland des Lieds verloren“ 139 zuständig ist. Ihm steht das kollektive „wir“ rechtloser, erniedrigter Opfer gegenüber: Wir heben Gräber in die Luft und siedeln Mit Weib und Kind an dem gebotnen Ort. Wir schaufeln fleißig, und die andern fiedeln, Man schafft ein Grab und fährt im Tanzen fort. ER will, daß über diese Därme dreister Der Bogen strenge wie sein Antlitz streicht: Spielt sanft vom Tod, er ist ein deutscher Meister, der durch die Lande als ein Nebel schleicht. Und wenn die Dämmrung blutig quillt am Abend, Öffn’ ich nachzehrend den verbissnen Mund, Ein Haus für alle in die Lüfte grabend; Breit wie ein Sarg, schmal wie die Todesstund. ER spielt im Haus mit Schlangen, dräut und dichtet, In Deutschland dämmert es wie Gretchens Haar. Das Grab in Wolken wird nicht eng gerichtet: Da weit der Tod ein deutscher Meister war.25
Das zentrale Bild dieses Gedichts frappiert durch seine Paradoxie: Die Gräber werden nicht in der Erde, sondern in der Luft gegraben, wo es den Toten nicht zu eng zu liegen wird, wohin man die ganze Familie mitnehmen kann, „mit Weib und Kind“. Dieses phantasmagorische Bild schildert eine verkehrte Welt. Der anonyme Nazischerge, ein sentimentaler Sadist mit erhitzter Phantasie, arrangiert nicht einfach eine Massenhinrichtung unschuldiger Menschen, sondern gestaltet eine echte theatralische Vorstellung, in der, wie im mittelalterlichen Mysterium, unentbehrliche Figuren auftauchen – Tänzer, die ihren Todeszug führen, Musiker, die zum Tanz spielen, der Tod selbst – ein deutscher Meister, der sein Handwerk vollkommen beherrscht. Vielleicht war er früher ein durchschnittlicher Spießbürger, der sich durch nichts Besonderes von anderen abhob, nun ist er aber ein allmächtiger symbolischer ER, ein besessener und gnadenloser Henker, ein Schlangenabrichter, ein Höllenfürst.
25
Immanuel Weißglas. Gottes Mühlen in Berlin, S. 71.
140 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ Thematisch und leitmotivisch ließe sich dieses Gedicht von Weißglas mit der weltberühmten „Todesfuge“ Paul Celans vergleichen. Doch wäre es abwegig, hier von irgendwelcher Abhängigkeit voneinander, dem Epigonentum oder gar von einem Plagiat zu sprechen. Die Literaturgeschichte kennt mehrere Beispiele gegenseitiger Anleihen von Motiven, Bildern, strukturellen Elementen, die in neuen Kontexten ganz andere Funktionen bekommen und somit als höchst originale Schöpfungen wirken. Wenn wir daran denken, wie eng beide jungen Dichter in Czernowitz befreundet waren, so kann diese Ähnlichkeit kaum verwundern – sie haben sich fast täglich getroffen, gleiche Themen behandelt, das Geschriebene miteinander besprochen, dieselben fremdsprachigen Dichter übersetzt. In der Sphäre der Literatur ist aber „wie“ immer wichtiger als „was“, und daher kann manchmal derselbe Stoff zu unzähligen neuen, souveränen Interpretationen führen. Beide Dichter waren von der jüdischen Katastrophe persönlich so tief betroffen, dass sie darin auch gleiche oder ähnliche poetische Ideen und Bilder entwickelt hatten. Sie behandeln aber dieses schmerzhafte Thema auf unterschiedliche Weise – Weißglas bleibt dabei im Fahrwasser der literarischen Tradition, Celan findet dagegen zu neuen, modernen Formen. Wenn wir sogar annehmen, dass das Weißglas’sche Gedicht früher entstand (dafür gibt es keine dokumentarischen Beweise, da es zum ersten Mal im Februarheft der Bukarester Zeitschrift „Neue Literatur“ für das Jahr 1970 publiziert wurde26), so würde die Celan’sche „Todesfuge“ auch in diesem Falle von ihrem künstlerischen Wert und jenem schockartigen Effekt, den sie auf die Leser seit ihrer Erstpublikation in seinem Gedichtband „Mohn und Gedächtnis“ (1952) ausgeübt hatte, kaum etwas einbüßen, denn Celans Gedicht ist künstlerisch unabhängig, es zeichnet sich durch ganz andere architektonische, metrische, euphonische und stilistische Eigenschaften sowie durch das musikalische Kontrapunkt-Prinzip aus, das bei Weißglas fehlt. Nur in ihrer Einheit machen diese formellen Elemente die „Todesfuge“ zum großen Gedicht des 20. Jahrhunderts.
26
Immanuel Weißglas. Querschnitt. In: Neue Literatur (Bukarest). Jg. 21, Heft 2 (Februar) 1970, S. 34.
„Im Niemandsland des Lieds verloren“ 141 Übrigens war die höhere künstlerische Qualität der Celan’schen „Todesfuge“ im Vergleich zu seinem Gedicht „ER“ auch Weißglas durchaus bewusst. Als nach der Publikation seines Gedichts und der auffälligen Nähe mancher Leitmotive in beiden Texten die Gefahr neuerer Plagiatsbezichtigungen gegen Celan entstand, die seinerzeit im Zuge der berüchtigten „Goll-Affäre“ hohe Wellen schlug, stellte sich Weißglas eindeutig auf die Seite seines bereits aus dem Leben geschiedenen Jugendfreundes. In seinem Brief an Gerhart Baumann vom 17. Mai 1975 äußerte er seine Position deutlich und unmissverständlich: Im Bereich der Dichtung kommt es – mag auch der Umriss einer Metapher von einem Gebilde ins andre herüberleuchten – immer nur auf Gewinn und Verlust in rein Künstlerischen an. Und die „Todesfuge“ ist tief verankert im lyrischen Bewusstsein unserer Zeit. Parallelismen bezeugen keineswegs irgendeine Priorität. Frau Claire Goll wird kaum etwas vom kameradschaftlichen Kontrapunkt verstehen, der zwei wortbesessene Freunde oft in gemeinsamer Bemühung um das Gedicht verband. […] Es kam so: wir sprachen Verse vor uns hin, die zu Gedichten gerannen. […] Sie werden, lieber Herr Baumann, verstehen, wie tief mich das schakalartige Schnüffeln empört, mit dem unlauteren Ziel, eine dichterische Erscheinung von hölderlinscher Prägung in Frage zu stellen. Zum Glück gehört die „Todesfuge“ zu den seltenen Gebilden der Kunst, denen solch ein Schmutz nichts anhaben kann.27
Im Unterschied zu P. Celan, dem es gelungen ist, einen großen Durchbruch zur modernistischen Poetik zu vollziehen, blieb Weißglas im Rahmen des Überlieferten, gleich seinen poetischen Vorgängern aus der Bukowina A. Margul-Sperber, M. Rosenkranz und A. Kittner, obwohl seine Gedichte bereits auch die Erfahrung modernistischer Strömungen europäischer Lyrik des 20. Jahrhunderts absorbieren, denn jene metaphorische Freiheit, bildliche Dichtheit, Elliptizität des Ausdrucks, durch die sich seine späten Gedichte auszeichnen, waren in der traditionellen Poetik kaum möglich. Gleich seinem älteren Dichterfreund A. Kittner trat auch Weißglas nicht oft mit seinen Gedichten vor dem breiteren Publikum auf. Nur selten wurden seine Verse in poetischen Anthologien des deutschsprachigen Kulturraums veröffentlicht, so z.B. in „Dein Herz ist deine Heimat“ (Wien 1955) oder „Welch Wort in die Kälte 27
Joachim Jordan. „Die Wiederbegegnung mit mir selber“, S. 16-17.
142 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ gerufen“ (Berlin 1968). Dagegen widmete er sich selbstopfernd der übersetzerischen Tätigkeit. In den 1950er Jahren erschienen in seinen rumänischen Übersetzungen die beiden Teile von Goethes Tragödie „Faust“ (1957 und 1959; ausgezeichnet mit dem Preis der rumänischen Akademie der Wissenschaften) – eine zyklopische Arbeit, die eine leidenschaftliche Hingabe im Laufe von Jahren verlangte. Er übertrug ins Rumänische auch etliche Erzähltexte österreichischer Klassiker wie Franz Grillparzer („Der arme Spielmann“, 1966) und Adalbert Stifter („Granit“, 1964, „Das alte Siegel und andere Prosa“, 1970) sowie Lion Feuchtwangers Roman „Erfolg“ (1964). Seine Übersetzungen publizierte Weißglas unter dem Pseudonym Ion Jordan, was ebenfalls von seinem Wunsch zeugt, ständig im Schatten zu bleiben. Zugleich verdeutschte er mehrere rumänische Autoren – unter seinen beachtlichen Leistungen sind hier nicht nur frühe Interpretationen der Gedichte von Mihai Eminescu und Tudor Arghezi, sondern auch das epische Poem Vasile Alexandris „Fürst Despot“, der lyrische Zyklus Vasile Voiculescus „Die letzten ersonnenen Sonette Shakespeares in der erdachten Übersetzung V. Voiculescus“, Gedichte von Nina Cassian u.a. zu nennen. Seine letzte bedeutende übersetzerische Arbeit war A. Stifters Roman „Nachsommer“, die er noch kurz vor seinem Tod vollendet hatte.28 Erst im Jahre 1972, nach einer 25-jährigen Pause, die außerordentliche Ansprüche von I. Weißglas an sich selbst bezeugt, erschien im Bukarester Verlag Kriterion sein zweiter Gedichtband „Der Nobiskrug“, der mit dem Preis des rumänischen Schriftstellerverbands bedacht wurde. Er ist in vier Abschnitte aufgeteilt: „Tropfen Zeit“, „Die verlorene Schar“, „Babylonische Klage“ und „Der Nobiskrug“. Der Titel stammt aus der deutschen volkspoetischen Mythologie, in der er den Ort bezeichnet, an dem sich die Seelen der Verstorbenen vor dem endgültigen Übergang ins Jenseits sammeln. Dieser symbolische Titel ist noch eine Variante der Thematisierung des Todes, insbesondere angesichts der Tatsache, dass das Gerüst des Bandes Gedichte bilden, die von den transnistrischen Lagern suggeriert wurden. Doch die 28
Siehe Heinz Stanescu. Der Dichter des „Nobiskruges“ Immanuel Weißglas. In: German Life and Letters (Oxford). New Series. Volume XXXIX, No. 1, Oktober 1985, S. 49-51.
„Im Niemandsland des Lieds verloren“ 143 Dichtung von Weißglas wird nicht nur von unmittelbaren – meistens tragischen – Realien der Wirklichkeit genährt, in ihr lebt auch das, was als Kulturgedächtnis der Menschheit bezeichnet wird. Wie in den Gedichtbänden „Kariera am Bug“ und „Gottesmühlen in Berlin“ finden sich hier mehrere historische und mythologische Anspielungen (die Königin von Saba, der Pharao Cheops, der persische Eroberer Xerxes, Amphitrite, Charon, Ahasver u.a.). Wenn der bleiche Mond die erschöpften Häftlinge erhellt, und der Südliche Bug dunkel wie die mythische Lethe erglänzt, wird der Fährmann am Bug mit dem düsteren Charon assoziiert, der die Schatten der Verstorbenen ins Totenreich überführt („Charon am Bug“). Ein ähnliches Mythologisieren von Erscheinungen und Dingen des Alltags kommt in Weißglas’schen Gedichten öfters vor, es verleiht ihnen eine historische Dimension und Tiefe. Am besten lässt sich dies am Beispiel des Gedichts „Babylonische Klage“ illustrieren, in dem eine unsichtbare Verschiebung der Zeitebenen geschieht: Wir saßen an den Wassern Babels, An den Wassern des Bugs und klagten, Vor tausend und tausend, vor zwanzig Jahren, Und wühlten Geschichte Aus Wasser und Wind. Mesopotamisch glühte Alexanders Antlitz, Auf Cäsars Schädel spiegelte sich Ewigkeit, Napoleons Dreispitz schwenkte durch die Zeit. Fern dem tosenden Getriebe, Im Wald der Erinnerungen, Saßen wir auf dem Baumstumpf der Liebe Und hielten uns umschlungen, Im Gras, im Gas. Zerschlage, Totenkopf, die höllenselige Flasche – Steppenwind und Auschwitzasche.29
In diesem Gedicht geschieht ein spezifisches Zusammenwachsen des Historischen und des Zeitlosen, des Realen und des Mythischen, so dass seine Bilder zu ontologischen Paradigmen werden, in denen das Feuer der Ewigkeit aufflammt. Auf eine äußerst kunstvolle Weise verbindet der Dichter diese zwei Ebenen 29
Immanuel Weißglas. Der Nobiskrug. Gedichte. Bukarest: Kriterion, 1972, S. 39.
144 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ zu einer organischen Einheit, indem er dabei ihre untrennbare Diffusion erreicht. Der Südliche Bug verwandelt sich hier in sakrale Wasser des biblischen Babels und wird zum Symbol des bitteren Schicksals und der Leiden des jüdischen Volkes im Laufe von mehreren Jahrhunderten. Die stolze Parade großer Eroberer der Vergangenheit (Alexander, Cäsar, Napoleon) schattet das Schicksal kleinerer Leute ab, die in diesen Abgrund grausamer Prüfungen geworfen sind, wo ihre einzige Stütze nur Erinnerungen bleiben. Davon, dass es das jüdische Schicksal des 20. Jahrhundert ist, zeugen solche Realien wie der Bug, der berüchtigte „Arbeitslager“ in Transnistrien verkörpert, und der symbolträchtige Name des Vernichtungslagers Auschwitz, dessen Asche ununterbrochen an die Brust der Opfer schlägt. In den letzten Jahren seines Lebens litt der Dichter an einer schweren unheilbaren Krankheit – einem Gehirntumor. Er spürte, dass die Sonne seiner irdischen Existenz unterging, und beeilte sich, seine letzten übersetzerischen Projekte abzurunden. In seinem „Erdepitaph“, das auf Heine („Enfant perdu“, „Die Grenadiere“) anspielt und den Gedichtband „Der Nobiskrug“ abschließt, lesen wir: Ein Mann des Friedens, führt ich ewig Krieg Mit Krügen Weins und einer Welt voll Toren: Und unbesiegt, seht her, doch ohne Sieg Ging ich im Niemandsland des Lieds verloren.30
Der Tod holte ihn im 59. Lebensjahr ein, auf der Höhe seiner schöpferischen Kräfte. Er starb am 28. Mai 1979 in Bukarest, wo er in seinem Vermächtnis festlegte, seine Leiche zu verbrennen und die Asche über dem von ihm so sehr geliebten Schwarzen Meer zu verstreuen. Nach dem Wunsch des Verstorbenen sollte niemand von seinen Verwandten oder Freunden dabei anwesend sein. In voller Anonymität vermischte sich der Dichter mit dem lebendigen, ewigen Wasserelement, um für immer mit ihm in ständiger Bewegung zu bleiben. Postum erschien im Aachener Rimbaud Verlag der von
30
Immanuel Weißglas. Der Nobiskrug, S. 68.
„Im Niemandsland des Lieds verloren“ 145 Theo Buck herausgegebene Band „Aschenzeit“ (1994)31, der den Versuch darstellt, einen Querschnitt über sein ganzes lyrisches Werk zu präsentieren. In dieses Buch wurden nicht nur die zwei zu Lebzeiten des Dichters erschienenen Gedichtbände „Kariera am Bug“ und „Der Nobiskrug“, sondern auch Gedichte aus dem bis dahin noch unveröffentlichten Gedichtband „Gottesmühlen in Berlin“ sowie einzelne Gedichte und Gedichtzyklen aus seinem Nachlass aufgenommen, die sich im Privatarchiv von Alfred Kittner befanden. Da die Gedichtbände von Weißglas seinerzeit nur in rumänischen Verlagen erschienen waren, hatten sie im breiteren deutschsprachigen Kulturraum keinen Widerhall gefunden. Deswegen wurde die Gedichtsammlung „Aschenzeit“ im Grunde die erste repräsentative Ausgabe lyrischer Produktion von Immanuel Weißglas, die ein lyrikinteressiertes deutschsprachiges Lesepublikum erreichen konnte. „Asche“ ist einer der Zentralbegriffe des poetischen Systems von I. Weißglas, der hier mehrmals in unterschiedlichen Bildvariationen auftaucht, ohne seinen wichtigsten semantischen Sinn zu verlieren – als Symbol der großen Katastrophe der menschlichen Kultur und Moral, die in den Jahren des Zweiten Weltkrieges bis zur ursprünglichen Barbarei hinuntergesunken waren, als Synonym tragischer Ausweglosigkeit des eigenen Schicksals. „Aschenzeit“ ist eine durchsichtige Metapher jener grausamen Epoche – der Epoche des Holocausts und des totalen Zusammenbruchs humanistischer Werte, die von mehreren Generationen im Laufe der Jahrhunderte geschaffen wurden. Liest man heute Gedichte von I. Weißglas, so tritt aus ihnen ein deutlich umrissenes Profil des Dichters auf, der sich in seinem Schaffen zu den asketischen Prinzipien bekannte. Dieser Asketismus äußerte sich vor allem in den größten Ansprüchen an sich selbst. Wenn man seine poetische Begabung mit dem Maß jener potenziellen Möglichkeiten misst, die sich vor ihm bereits am Anfang seines literarischen Weges zeigten, so kann der Eindruck entstehen, sie seien in vielem unrealisiert geblieben. In der Tat ist aus zwei schmalen lyrischen Gedichtbänden, die zu Lebzeiten des Dichters 31
Immanuel Weißglas. Aschenzeit. Gesammelte Gedichte. Nachwort von Theo Buck. Aachen: Rimbaud 1996, 160 S.
146 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ erschienen sind, zwischen denen dazu noch ein Intervall von einem Vierteljahrhundert liegt, auf den ersten Blick kein besonders intensiver Schaffensprozess zu erkennen. Doch die Gründe dafür liegen nicht in der Schwäche dichterischer Inspiration, sondern vielmehr in der Gnadenlosigkeit der Selbsteinschätzung des eigenen Werkes. Der Dichter schliff seine Gedichte wie ein Diamantenschleifer seine Steine abschleift, er brachte jede Zeile bis zur äußersten Konsistenz hin. Die Wortdichte in seinen Versen kann man mit der Dichte der Steinblöcke in den ägyptischen Pyramiden vergleichen. Zahlreiche Kürzungen und Reduktionen seiner poetischen Zeilen zeugen davon, dass sein Streben nach Hermetik mit der Zeit immer größer wurde. Er duldete keine Wort- oder Bildleere, und wenn er sie spürte, so schrieb er ganze Strophen aufs Neue um – oder warf sie weg. Seinem Frühwerk gegenüber verhielt er sich dermaßen skeptisch, dass er es völlig ablehnte, seinen zweiten Gedichtband publizierte er erst nach zahlreichen Überredungen seiner Freunde. Für den kostbarsten Schatz hielt der Dichter seine deutsche Muttersprache – sie allein war sein ewiger, treuer Gefährte in den schwierigsten Lebenslagen. Die Sprache, diese ideelle Sphäre des Seins, diente ihm als einzige Herberge, als Zelt und Himmel in der Zeit, wo der reale Himmel gleichgültig die Leiden seines Volkes betrachtete. Sogar jener Umstand, dass diese Sprache zugleich die Sprache der Mörder war, hat seinen Glauben an ihre lebendige, fruchtbare Kraft nicht erschüttern können – die Sprache war für ihn nicht nur ein Instrument, sondern der geistige Grund des Lebens, und in seinem dichterischen Wirken pflegte und hegte er sie ohne Unterlass. So entstand – schreibt in seinem Nachwort zum Gedichtband „Aschenzeit“ Theo Buck – jenes seltsam anachronistische lyrische Amalgam aus idealistischer Ästhetik, archetypischer Bildlichkeit und mythisierter Geschichtsauffassung, das die Gedichte von Weißglas, ungeachtet ihrer thematisch zentralen und höchst konkret erfahrener Negativität, bis zu einem gewissen Grad poetisch verklärt.32
In den letzten Jahren sind auf dem deutschen Büchermarkt noch einige Ausgaben der Gedichte von I. Weißglas 32
Theo Buck. Eine leise Stimme. In: Immanuel Weißglas. Aschenzeit, S. 145.
„Im Niemandsland des Lieds verloren“ 147 erschienen, die eine tiefere Bekanntschaft mit seinem Werk ermöglichen. Dies sind die Neuauflagen seines Gedichtbandes „Der Nobiskrug“33 sowie der bereits erwähnte Band „Gottesmühlen in Berlin“34, der bis jetzt nur in Form eines Typoskriptes existierte. 2017 erschien auch eine kleine Sammlung seiner Gedichte in der populären Reihe „Poesiealbum“35. Ein erfreuliches Ereignis war ebenso das Erscheinen von zwei dem Dichter gewidmeten literaturwissenschaftlichen Büchern – dem umfangreichen, von den rumänischen Germanisten A. Corbea-Hoisie, G. Marcu und J. Jordan herausgegebenen Forschungsband36 und einem kleinen Bändchen von H. Detering über die frühen Texte des Dichters37. Nun wird diese „leise Stimme“38 allmählich auch im deutschsprachigen Kulturraum zugänglich, zu dem sie eigentlich immer gehörte.
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Immanuel Weißglas. Der Nobiskrug. Gedichte – Mit einem Nachwort von Bernhard Albers. Aachen: Rimbaud 2011, 80 S. Immanuel Weißglas. Gottes Mühlen in Berlin. Herausgegeben und kommentiert von Andrei Corbea-Hoisie. Aachen: Rimbaud 2020, 160 S. Immanuel Weißglas. [Gedichte] Auswahl Kathrin Schmidt. Grafik von Paul Goesch. Wilhelmshorst: Märkischer Verlag 2017 [Poesiealbum 334]. Andrei Corbea-Hoisie, Grigore Marcu, Joachim Jordan (Hrsg.). Immanuel Weißglas (1920-1979): Studien zum Leben und Werk. Iaşi: Editura Universităţi „Alexandru Ioan Cuza; Konstanz: Hartung-Gorre Verlag 2010. [Jassyer Beiträge zur Germanistik XIV]. Heinrich Detering. „Der Tod ein deutscher Meister“. Immanuel Weißglas’ frühe Gedichte. Aachen: Rimbaud 2013. Theo Buck. Eine leise Stimme. In: Immanuel Weißglas. Aschenzeit, S. 128.
„Robinson auf dem Eiland Manhattan“ Alfred Gong Es gibt wohl eine verborgene, bis heute kaum erklärbare Gesetzmäßigkeit zwischen der extremen Isolierung einer nationalen oder sprachlichen Gemeinschaft und den schöpferischen Energien, die sich in diesem Zustand der geistigen Not entwickeln können. Je größer, je spürbarer diese Isolierung ist, desto mehr Kreativität demonstriert solch eine Gemeinschaft, auch wenn sie zahlenmäßig ganz klein ist. Wodurch lässt sich dieses Phänomen erklären? Welche Konstellation einzelner Elemente muss vorhanden sein, um dieser Kreativität einen freien, ungehinderten Lauf zu geben? Man kennt in der menschlichen Kulturgeschichte längere Perioden, in denen der schöpferische Geist beinahe einschläft, und es gibt wiederum kurze Phasen einer unglaublichen Intensität, in denen die menschlichen Begabungen sich geradezu stürmisch entfalten und Großes leisten können. Aber nicht nur der einzelne Mensch, sondern auch das kollektive Bewusstsein erlebt manchmal die Sternstunden einer unfassbaren Erleuchtung, und da konzentrieren sich auf engstem Raum ganz unerwartete schöpferische Kräfte, die diese Räume zu Topoi der Avantgarde der kulturellen Entwicklung machen. Als ein markantes Beispiel kann hier die deutschsprachige Literatur Prags in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts genannt werden, wo in kürzester Zeit eine ganze Traube hervorragender Talente entstand, zu denen Rainer Maria Rilke, Oskar Baum, Franz Kafka, Max Brod, Gustav Meyrink, Franz Werfel, Leo Perutz, Johannes Urzidil, Egon Erwin Kisch u.a. zählen. Ein anderes Beispiel stellt hier die deutschsprachige Dichtung von Czernowitz dar, wo sich in der Zwischenkriegszeit eine Gruppe junger Literaten bildete, deren geistiger Anreger Alfred Margul-Sperber war und aus der solch prominente Lyriker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie Paul Celan und Rose Ausländer hervorgingen. Davon, wie dicht manchmal diese schöpferische Konzentration sein kann, zeugt jene Tatsache, dass drei dieser Czernowitzer Autoren den gleichen Jahrgang aufweisen und dieselbe Schulbank drückten – Immanuel Weißglas, Paul Celan und Alfred Gong. 149
150 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ Dieses poetische Dreigestirn verkörpert heute jene Generation der Czernowitzer Dichter, die als junge Menschen durch grausame Prüfungen des Zweiten Weltkrieges und des Holocausts gehen mussten, was tiefe Spuren in ihrem Werk hinterlassen hat. Ihre Lebenswege haben sich später, nachdem sie Czernowitz verlassen haben, sehr unterschiedlich gestaltet. Immanuel Weißglas, der sich als Übersetzer Mihai Eminescus und Tudor Arghesis sehr früh der rumänischen Kultur verschrieben hat, blieb in Bukarest. Paul Celan, der bereits vor dem Krieg mit seinem Medizinstudium in Frankreich begonnen hatte, ging über Bukarest und Wien nach Paris. Alfred Gong verlegte nach einigen Bukarester und Wiener Jahren seinen Wohnsitz in die Neue Welt, nach New York. Psychologische und sprachliche Isoliertheit bestimmte jedoch die Existenz dieser Dichter in der Verbannung bis zu ihrem letzten Atemzug. Wegen seiner räumlichen Entfernung und Abgeschiedenheit vom europäischen kulturellen Kontext gilt Alfred Gong bis heute als rätselhafteste Figur in dieser Triade. Obwohl seine Bücher seinerzeit in deutschen und österreichischen Verlagen erschienen sind, blieb er als Autor immer etwas abseits des allzu geschäftigen deutschsprachigen Literaturbetriebs. Dabei geht es tatsächlich um eine literarische Begabung von hohem Rang, die unter günstigeren Umständen zu großer dichterischer Entfaltung hätte gelangen können – so aber ist sie dem breiteren Lesepublikum kaum bekannt und heute fast vergessen. Umso mehr ist es an der Zeit, diesen großartigen Dichter aus dem Schatten herauszuholen und den heutigen Lesern vorzustellen. *** Alfred Gong, der mit seinem eigentlichen Namen Alfred Liquornik hieß, wurde am 14. August 1920, zwei Jahre nach Auflösung der Habsburgermonarchie, der seine Heimat Bukowina seit 1775 angehörte, in einer kleinbürgerlichen jüdischen Familie in Czernowitz geboren. Zu seiner Geburtszeit war dieser Landstrich schon Bestandteil des Rumänischen Königsreiches. Seine Eltern Moses und Sali Liquornik verdienten ihr dürftiges tägliches Brot mit einem kleinen Farbengeschäft. Zu Hause sprach man deutsch, was von einem liberalen Geist der Assimilierung zeugt, obwohl man
„Robinson auf dem Eiland Manhattan“ 151 sich seiner jüdischen Herkunft wohl bewusst war. Trotz bescheidener materieller Verhältnisse hatte man im Hause ein ukrainisches Dienstmädchen, das im Haushalt und bei der Erziehung der Kinder mithalf (Alfred hatte noch eine drei Jahre jüngere Schwester Herta gehabt). Oft sang es den Kindern ukrainische Volkslieder vor, erzählte ihnen Volksmärchen und huzulische Legenden, die der Junge mit angehaltenem Atem in sich aufnahm. Diese farbenreichen Erzählungen erwähnt er später in seinem Gedicht „Beim Kochen der Mamaliga“ aus dem Band „Manifest Alpha“: Worte wie Wald und Karpathen, Brunnen und Schlange zuckten über Schlafbank und Spind; Kupala und Teufel, Rusalka und Adler entwuchsen dem Dampfe des täglichen Breis.1
Im Unterschied zu I. Weißglas und P. Celan, deren Eltern für ihre Söhne „liberale“ rumänische Lyzeen mit gemischter nationaler Zusammensetzung der Schüler gewählt hatten, wurde A. Gong auf das „jüdische Staatsgymnasium“ geschickt. Die Unterrichtssprache war dort ebenfalls Rumänisch. „Der Lehrplan enthielt nichts jüdisches, nur die Schüler waren Kinder jüdischer Eltern und sie empfanden die gewaltsame Konzentrierung in dieser Anstalt als ein aufgezwungenes Ghetto“2 – schreibt dazu Hugo Gold. Immerhin durften dort jüdische Religionsstunden mit ein wenig Hebräisch angeboten werden. Rückblickend bezeichnet Gong in seinem Gedicht „Studium Generale“ etlichen Lehrstoff an dieser Schule als „nutzloses Zeug“: die Zehn Gebote zum Beispiel, gut für Engel, weil von solchen erdacht – dem Menschen aber unmöglich zu folgen im Zwangskleid seiner Geschichte. Dazu sechs Sprachen, darunter drei tote, auch die Kunst des Sophismus, Dialektik, den Talmud – doch wußt’ ich später kein Sprüchlein, um Mörder versöhnlich zu stimmen.3
1 2 3
Alfred Gong. Manifest Alpha. Gedichte. Wien: Bergland Verlag 1961, S. 10. Hugo Gold. Geschichte der Juden in der Bukowina, Bd. 1. Tel Aviv: Edition Olamenu 1958, S. 81. Alfred Gong. Studium Generale. In: Gnadenfrist. Gedichte. Baden bei Wien: Verlag G. Grasl 1980, S. 22-23.
152 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ Die Diskrepanz zwischen der Muttersprache Deutsch und der „Stiefmuttersprache“ Rumänisch, wie er diese Sprache später in einem Brief an Wolfgang Kraus charakterisierte4, sollte für ihn recht spürbar gewesen sein. Aus dieser Charakteristik geht hervor, dass er sich im Schoß rumänischer Sprache nicht wohl fühlte, umso mehr als der ausgesprochene Antisemitismus rumänischer Direktoren und Lehrer kaum verhüllt war. In den oberen Klassen des Gymnasiums beteiligte sich Gong an der Tätigkeit der jüdischen Jugendorganisation „Haschomer Hazair“ und leitete ihre Veranstaltungen. Dieses Engagement zeugt von einem stark ausgeprägten jüdischen Bewusstsein des Heranwachsenden, das sich bei ihm noch vor den tragischen Ereignissen des Holocausts herauszubilden begann. Nach der 1939 abgelegten Matura immatrikulierte sich Gong für das Höhere Lehramt in Romanistik und vergleichender Literaturwissenschaft der rumänischen Carolina-Universität Czernowitz. Seine Studienzeit dauerte allerdings nur zwei Semester. Es kam die Zeit großer geschichtlicher Umwälzungen – nach dem Hitler-Stalin-Pakt wurde die Bukowina 1940 sowjetisch. Zuerst hatte man aus dem Land alle Deutschstämmigen „heim ins Reich“ umgesiedelt. Ende Juni 1941 wurden dann seine Eltern und die Schwester als „Ausbeuter“ nach Sibirien deportiert. Als Sohn eines „volksfeindlichen Elements“ wurde er schon vorher von der Universität relegiert und als Grundschullehrer ins das Dorf Unter-Staneşti, etwa 30 km von Czernowitz entfernt, geschickt. Der Deportation konnte er dank einem Zufall entrinnen, da er in der Nacht der Razzia bei einer Freundin übernachtet hat5. Trocken, sachlich, jedoch mit einem unnachahmlichen sarkastischen Unterton beschreibt Alfred Gong diese historischen Prozesse im Gedicht „Topographie“: So ging das halbwegs geruhsam bis 1940. Da kamen die Sowjets friedlich zu Tank und befreiten die nördliche Bukowina.
4 5
Siehe Joachim Herrmann. Alfred Gong. In: Literatur und Kritik (Salzburg). März 1996, S. 104. Joseph P. Strelka. Exilliteratur. Grundprobleme der Theorie, Aspekte der Geschichte und Kritik. Bern; Frankfurt a. M.; New York 1983, S. 205.
„Robinson auf dem Eiland Manhattan“ 153 Die Rumänen zogen ohne Schamade ordentlich ab in kleinere Grenzen. Die Volksdeutschen zog es reichheimwärts. Die Juden, – bodenständiger als die anderen – blieben (: die eine Hälfte verreckte in Novosibirsk, später die andere in Antonescus Kazets.) Die Steppe zog ein und affichierte ihre Kultura. Die Gräber blieben unangetastet bis auf weiteren Ukas.6
Kurz nach den russischen Deportationen marschierten Anfang Juli 1941 die deutschen Einsatztruppen in Czernowitz ein, um die Stadt bald wieder ihren rumänischen Verbündeten zu übergeben. Auf Befehl von General Antonescu sollte die Bukowina „judenfrei“ werden. Dazu wurde in Czernowitz ein jüdisches Ghetto eingerichtet, wohin man die gesamte jüdische Bevölkerung zusammengepfercht hat. Später wurde Gong in ein Arbeitslager nach Moghilev-Podolski verschleppt, konnte jedoch mit Hilfe eines literaturfreundlichen Wehrmachtoffiziers, der durch seine Kenntnisse der deutschen Literatur beeindruckt war, dem Lager entkommen. Nach anderen Angaben soll Gong „arische“ Papiere von einem Bekannten, dem vagabundierenden rumänischen Dichter Dimitrie Petrescu, der unter dem Namen Dimitrie Stelaru schrieb, bekommen haben, mit denen er sich dann legal bewegen konnte7. Eine spätere Notiz aus dem Tagebuch des Dichters lautet: „Es war ein verschneiter Sonntag 22.11.42, an dem meine Lebensflucht begann“8. Seine abenteuerliche Odyssee führte ihn dann durch mehrere Länder und Städte der Welt. 1943 verschlug es ihn über Odessa nach Bukarest, wo er zuerst illegal als Schwarzmarkthändler, Privatlehrer und Bibliotheksangestellter lebte und später als Journalist und Filmkritiker, freier Mitarbeiter der Tageszeitung „Capitală“ wirkte. Er macht hier erneut den Versuch, sein Studium abzurunden und besucht, allerdings wieder 6 7
8
Alfred Gong. Manifest Alpha, S. 14. Siehe Joseph P. Strelka. Exilliteratur, S. 206; Joachim Herrmann. Leben und Werk von Alfred Gong. In: Die Bukowina. Studien zu einer versunkenen Literaturlandschaft. Herausgegeben von Dietmar Goltschnigg und Anton Schwob unter Mitarbeit von Gerhard Fuchs. Tübingen: Franke Verlag 1990, S. 389; Natalia Shchyhlevska. Alfred Gong. Leben und Werk. Oxford; Bern; Berlin u.a.: Peter Lang 2009, S. 21. Natalia Shchyhlevska. Alfred Gong. Leben und Werk, S. 21.
154 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ nur zwei Semester lang, die Universität Bukarest. Von Gongs Lebensstationen dieser Zeit zeugen u.a. seine Gedichte „Im Raum von Odessa“ und „Bukarest, Juli ’44“. Bukarest bedeutete in den Kriegsjahren für Gong eine existentielle Rettung, aber auf längere Zeit wollte er dort nicht bleiben. Nach der kommunistischen Machtübernahme (das Wesen des Regimes hatte er schon im Czernowitzer „Russenjahr“ durchschaut) entschloss er sich, die rumänische Hauptstadt zu verlassen und nach Wien zu flüchten. Diese Entscheidung fasste er nicht nur aus sprachlichen Gründen – als deutscher Dichter, der in Rumänien keine Perspektive für sich sah –, sondern auch aus politischen Motiven – er wollte nicht unter der kommunistischen Diktatur weiterleben, die seine Eltern und seine Schwester ohne jegliche Schuld nach Sibirien verschickt hatte (er hat sie nie mehr gesehen). Der Weg ging über Budapest, und da die Eisenbahnverbindung damals noch sehr unregelmäßig war, musste man wochenlang auf eine Gelegenheit warten oder weite Strecken zu Fuß gehen. In seinem Gepäck hat er etwa 160 Gedichte und zwei Dramen, die in Bukarest entstanden sind („Der letzte Diktator“ und „Nacht würgt Europa“). Als Gong aber vermutlich im Frühjahr 1946 endlich das ersehnte Wien erreichte, wartete dort auf ihn eine große Enttäuschung. Am besten gibt diesen trostlosen Zustand sein Gedicht „Wien, Silvester ’46“ wieder, in dem die österreichische Metropole als „Stadt der möblierten Zimmer / (der Spione aus aller Herren- / und DPs aus aller Sklaven-Ländern)“ dargestellt ist, wo das lyrische Ich einen Strick aus drei Krawatten binden will, um seinem mühsamen Leben ein Ende zu setzen. Doch allmählich lichtet sich der Horizont. Die erste Zeit in Wien arbeitete Gong als Privatlehrer und Journalist und unternahm einen neuen Anlauf, sein Studium zu absolvieren – er inskribierte diesmal Romanistik („Doktorat in Philologie“) an der Universität Wien, doch die Notwendigkeit, sein Tagesbrot zu verdienen, hielt ihn immer wieder vom Studium ab, so dass dieses Vorhaben auch diesmal ergebnislos blieb. Später bekam er eine nicht allzu gut bezahlte Stelle des Intendanten am Kleinen Theater im Konzerthaus, das die Aufführung eines der ersten Nachkriegsstücke der deutschen Literatur – Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“ – seiner Wahl verdankt.
„Robinson auf dem Eiland Manhattan“ 155 In diese Zeit fällt die Begegnung Gongs mit seinem Czernowitzer Schulkameraden Paul Celan, die bald in eine freundschaftliche Beziehung überging. In der ersten Hälfte 1948 trafen sich beide öfters, wobei sie auch literarische Probleme besprachen. Gong zeigte Celan seine frühen Gedichte und bat ihn um ihre kritische Durchsicht. Das in Gongs Nachlass sich erhaltene Manuskript trägt zahlreiche stilistische Korrekturen von Celans Hand. Aber mit der baldigen Abreise Celans nach Paris wurde diese Freundschaft immer lockerer und mit Gongs Auswanderung nach Amerika war sie völlig erloschen. In Wien entwickelte Gong rege literarische Aktivitäten. So gründete er Anfang 1949 eine kleine humoristische Zeitschrift namens „Die Spulke“, die an die Tradition des jüdischen Witzes angelehnt und nur kurzlebig war – es sind insgesamt 13 Hefte erschienen. Im selben Jahr las er zum ersten Mal öffentlich unter dem Dichternamen Alf Gong auf der von dem österreichischen Lyriker, Erzähler und Essayisten Hermann Hackel initiierten PEN-Veranstaltung „Junge Dichter sehen die Zeit“. In der von Hackel herausgegebenen Zeitschrift „Lynkeus“, im „Wiener Tagebuch“ sowie in der Anthologie Rudolf Felmeyers „Tür an Tür: Die neue Folge“ erscheinen bald mehrere seiner Gedichte, die von der Leserschaft und der Wiener Literaturkritik sehr positiv rezipiert werden. In Wien arbeitete er auch an seinem bis heute unveröffentlichten Roman „Die Entmenschlichungsmaschine“, dessen einzelne Kapitel ebenfalls bei einem literarischen Abend vorgestellt wurden. Diese Intensität seiner literarischen Betätigung lässt vermuten, dass Gong in Wien einen guten dichterischen Aufstieg haben könnte. Doch aus ungeklärten Gründen entschied er sich 1951 für die Ausreise in die USA. Was hat ihn dazu veranlasst – eine unsichere materielle Lage, eine seelische Krise oder einfach „Unruhe und Erlebnishunger“9, wie Joseph P. Strelka es nennt? Der mit dem Dichter eng befreundete österreichische
9
Joseph P. Strelka, Exilliteratur, S. 205
156 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ Literaturwissenschaftler gibt eine recht einfache, aber überzeugende Erklärung für diese Entscheidung des Dichters: Er nahm die Gelegenheit wahr, als bevorzugte „displaced person“, da aus einem Land hinter dem Eisernen Vorhang stammend, nach den USA auszuwandern. Keineswegs hatte er dabei von vornherein den festen Entschluss gefasst, da auch wirklich zu bleiben, eher hatte er die heimliche Absicht gehabt, sich das Land anzusehen und nach Westeuropa zurückzukehren. Bald nachdem er jedoch am 14. Oktober 1951 in New York gelandet war, geriet er so sehr in den Bann dieser Weltstadt, dass er da sesshaft wurde.10
Die Adaption in der Neuen Welt war allerdings nicht einfach. Noch schwankte er zuerst zwischen New York und Richmond (Virginia), doch nach einigen Erfahrungen und Überlegungen ließ er sich fest in New York City nieder. Seine neue Existenz war hart genug, vor allem in materieller Hinsicht. Davon zeugen bereits zahlreiche „Berufe“, die er ausüben musste: Bankbote, Sozialarbeiter, Bibliothekar, Kellner, Buchhalter, Fremdenführer, Verkäufer, kommerzieller Übersetzer … Außerdem besuchte er Englischkurse und verbrachte viel Zeit in der Public Library. Eine gewisse Stabilität trat 1957 nach seiner Heirat mit der Schweizer Emigrantin Norma Righetto ein, die ihm dank ihrem kleinen, aber ständigen Einkommen, das sie als Krankenschwester verdiente, eine bescheidene finanzielle Unabhängigkeit sicherte und sein chaotisches Leben etwas ordnete. Das Ehepaar zog nun aus dem „Steinmeer“ Manhattan in die Bronx um, wo die Straßen viel ruhiger und die Häuser niedriger, aber menschenfreundlicher waren. Die 1950er Jahre erwiesen sich für Gong in schöpferischer Hinsicht als recht produktiv. Er publizierte viel in den Wiener Zeitschriften („Neue Wege“, „Das Jüdische Echo“, „Neue Welt“), in den Presseorganen Amerikas („Aufbau“ und „New Yorker StaatsZeitung und Herold“, „American-German Review“), doch der entscheidende Durchbruch blieb aus. Zwei Gedichtbände und eine Anthologie der Texte deutschsprachiger Autoren über Amerika, deren Manuskripte er einigen Verlagen anbot, wurden abgelehnt. Vor diesem Hintergrund sollte auf ihn die Verleihung der renommierten Literaturpreise an seinen Schulkameraden Paul Celan 10
Joseph P. Strelka, Exilliteratur, S. 204-205.
„Robinson auf dem Eiland Manhattan“ 157 (Bremer-Preis 1958 und Georg-Büchner-Preis 1960) deprimierend wirken. Erst nach erneuten Versuchen gelang es ihm, seine beiden Gedichtbände „Gras und Omega“11 (1960) und „Manifest Alpha“12 (1961) sowie die Anthologie „Interview mit Amerika. 50 deutschsprachige Autoren in der Neuen Welt“ (1962)13 zu veröffentlichen, was er als „späte Erfüllung“ bezeichnen wird. In dieser Zeit findet er wieder zu seiner Kindheit und Jugend in der Bukowina zurück, was er vorher verdrängt hatte. Gesammelt im Zyklus „Entichtes Ich“ aus dem Gedichtband „Manifest Alpha“, geben Gedichte wie „Nativität“, „Beim Kochen der Mamaliga“, „Die Steine gedenken“, „Bukowina“, „Topographie“, „Mein Vater“ u.a. plastische Bilder seines Heimatlandes wieder, die jetzt unter seiner Feder lebendig werden. BUKOWINA Die Slawen benannten sie so. Buchenland hieß sie den schwäbischen Siedlern, hier belehnt unter Maria Theresiens Krone. Anders die Sterne des Grenzlands – wie Frucht, wie Wintersaat, wie der nie gehobene Türkenschatz – wenn sie flüsterten aus den Brunnen. Im Süden rumänische Bauern, geweißte Häuser, Marienkäfer im Mais. Die Popen Mit Köpfen wie Räuber und schönen Töchtern, waren feurige Patrioten. Im Wandelmond ging übers Land ein Duft von Basilie. Unter Ikonen verebbten die Seufzer der Liebe. Nördlich, von den Karpathen wellten sich talwärts die Schafe zu winselnder Flöte unterm archäischen Mond. Huzulen ritten geduckt im Regen aus skythischen Pfeilen. Am Wegscheid Wolfslichter lauernd: der Satan mit lockender Fiedel.
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Alfred Gong. Gras und Omega. Heidelberg: Lambert Schneider 1960. Alfred Gong. Manifest Alpha. Gedichte. Wien: Bergland Verlag 1961. Interview mit Amerika. 50 deutschsprachige Autoren in der Neuen Welt. Herausgegeben von Alfred Gong. München: Nymphenburger Verlagshandlung 1962.
158 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ Weihnacht im Tal. Der Wunderrabbi mit schneeigem Bart tanzte im Schnee mit dem Schnee überm Schnee – unterm Schnee träumte ganz Sadagura.14
In den 1960er Jahren wurde Gong allmählich zu einer überragenden Figur in der deutschsprachigen Literaturszene Amerikas. Er verkehrte im Goethe House und im Austrian Institute von New York, pflegte Kontakte zu vielen Intellektuellen – so zum Berliner Historiker Bodo Scheurig, dem Germanisten und Literaturwissenschaftler Joseph P. Strelka, dem deutschen Schriftsteller im amerikanischen Exil Hans Sahl, stand seit seiner Wiener Zeit im regen Briefwechsel mit Max Brod, traf sich oft mit seiner ebenfalls in New York lebenden Landsmännin Rose Ausländer, deren Gedichtband „Blinder Sommer“ er herauszubringen half, und mit dem aus Czernowitz stammenden Bildhauer Bernhard Reder, der mit seinen Ausstellungen in New York Triumphe feierte, hielt Vorträge, publizierte Rezensionen und Essays. 1966 bekam er den österreichischen Theodor-KörnerPreis, 1973 wurde er in den Österreichischen PEN-Club aufgenommen. Doch hinter dieser ansprechenden äußeren Kulisse, die den Schein des Erfolgs vortäuschen könnte, verbargen sich seine Unzufriedenheit und Depression. Materielle Schwierigkeiten belasteten ihn auch weiter und verhinderten es, sich ganz der Literatur zu widmen. Immer wieder ist er auf der Suche nach einem neuen Job, machte sogar eine Ausbildung im psychiatrischen Hospital in der Bronx und erhielt dort bald eine Stelle als Sozialarbeiter und später als Bibliothekar in der kleinen Hospital-Bücherei. Viele seine literarischen Projekte blieben aber unrealisiert, so z.B. konnte er weder ein Theater noch einen Verlag für seine bereits Ende der 1950er Jahre geschriebenen Bühnenstücke „Zetdam“ und „Um den Essigkrug“ finden oder für sein 1961 abgeschlossenes Musical „Klischee aus Übersee“ interessieren. Auch gelang es ihm erst 1969 seine Sammlung satirischer Geschichten „Grünhorns Blues“ und nur in stark reduzierter Form unter dem Titel 14
Alfred Gong. Manifest Alpha. Gedichte. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Joachim Herrmann. Aachen: Rimbaud Verlag 2001, S. 14.
„Robinson auf dem Eiland Manhattan“ 159 „Happening in der Park Avenue“ zu publizieren (lediglich 7 von 25 Erzählungen)15. Zum Teil kann man diese Misserfolge seiner Kompromisslosigkeit und seinem schwierigen Charakter zuschreiben, durch die er sich nicht selten selbst geschadet hat (so z.B. seine dauernde Fehde mit dem Programmleiter des New Yorker Goethe House Peter Stadelmayer). Seine Reputation eines „unbequemen“ Menschen hat ihn in kulturellen Kreisen unbeliebt gemacht, und so geriet er immer mehr in die Isolation. Im Grunde hatten aber diese Misserfolge viel tiefere Wurzeln gehabt. Es war wahrscheinlich ein fataler Fehler von Alfred Gong, Europa zu verlassen und nach Amerika zu gehen. Zu weit war er dort vom deutschsprachigen Literaturbetrieb, von deutschsprachigen Verlagen, von literarischen Beziehungen mit deutschsprachigen Redakteuren und Autoren entfernt. Die schöpferische Intensität, die er in New York entwickelt hatte, konnte seine Wahlheimat Amerika nicht gebührend anerkennen – ihre deutschsprachige Literaturszene war zu schmal, zu dürftig. Vielleicht hat der Dichter es auch selbst verstanden, als er Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre einen Versuch unternommen hatte, nach Europa zurückzukehren – dieses Ziel verfolgten seine mehrmaligen Wien-Besuche. Doch die Unterstützung der Österreichischen Gesellschaft für Literatur, die er sich erhoffte, war nicht nachhaltig genug. Er plante den Kauf einer Wohnung – schreibt dazu Joseph P. Strelka –, er hoffte auf die bereichernden Impulse einer lebendigen, deutschsprachigen Umgebung, auf Anerkennung wenigstens im engen Kreise gleichstrebender Kenner. Aber der Versuch der Wien-Reise endete in der Katastrophe seiner Einsicht, dass keine der Hoffnungen hielt, was er sich versprochen hatte. Abgesehen von ein oder zwei Ausnahmen verstanden selbst die gleichstrebenden Kenner nicht den Dichter in ihm, die Beschränktheit der geschäftigen Literatur-Politiker und -Organisatoren stieß ihn ab, er fand sich in der deutschsprachigen Umgebung so verlassen, verloren und ausgesetzt wie in New York, mit dem Unterschied, dass ein uneinsichtiger und bedrückender Provinzialismus ihm alles noch unerträglicher machte als der Hintergrund der aufregenden und brausenden Welt-Kulturmetropole New York.16
15 16
Alfred Gong. Happening in der Park Avenue. New Yorker Geschichten. München: Piper Verlag 1969. Joseph P. Strelka. Exilliteratur, S. 210.
160 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ Verwirrt und enttäuscht über die Wiener Zustände kehrte Gong nach Amerika zurück. Schon längst hatte er sich zwei literarische Identitäten ausgesucht, die jetzt eine neue Bestätigung fanden: Odysseus und Robinson, beide Wanderer und Outsider, beide ewige Exilanten, die mit ihrem früheren Leben gebrochen haben, aber auch keine neue Heimat finden können und in der Anonymität weiterleben, „auf ein Schiff zurück hoffend“17. Mit ergreifender Eindringlichkeit hat er diese Situation in seinem Gedicht „Odysseus“ aus dem Band „Gras und Omega“ dargestellt: Gras wird dein Bett sein, Regen werden dich waschen. Zähl nicht die Tage, der Wind wird dich Jahre noch tragen. Er ist dein Los: Wind im Blut und Wind in den Taschen … Dein Auge wird fragen das Südkreuz und suchen den Wagen. […] Endlich am Ziel. Du hinkst durch veränderte Gassen, Hunde bellen dich an, und die Kinder weichen dir aus. Keiner, der dich erkennt. Du kannst es nicht fassen: betrunkene Gäste und Dirnen feiern bei dir zu Haus. Erkennen musst du: man kann den Faden nicht knoten. Niemand braucht dich und keiner rief dich zurück. Vergessen bist du wie all die anderen Toten … Ein neues, hartes Geschlecht verkündet lärmend sein Glück.18
Als transatlantischer Odysseus des 20. Jahrhunderts und „Robinson auf dem Eiland Manhattan“ – einsam, heimatlos, von der deutschsprachigen Welt abgeschnitten, – so kommt er sich jetzt auch selbst vor. Obwohl er schon seit vielen Jahren einen amerikanischen Pass in seiner Tasche trägt, fühlt er sich in Amerika immer noch fremd, und Europa, wo er sich heimischer gefühlt hätte, schließt vor ihm sein Tor. In den 1970er Jahren begann der Dichter in seiner New Yorker Isolation immer mehr zu resignieren, da er keinen Widerhall seiner Dichtung mehr zu spüren glaubte. Erst 1980 erschien auf Initiative J. P. Strelkas sein dritter und letzter Gedichtband „Gnadenfrist“, der seine zum Teil überarbeiteten Bukowina-Gedichte aus dem Band „Manifest Alpha“, aber auch neue, in den letzten Jahren geschriebene Texte enthält, darunter einen ergreifenden, beinahe frenetisch klingenden Zyklus von vier Liebesgedichten unter dem 17 18
Joseph P. Strelka. Exilliteratur, S. 211. Alfred Gong. Gras und Omega. Heidelberg: Lambert Schneider 1960, S. 27-28.
„Robinson auf dem Eiland Manhattan“ 161 Titel „Äquinoktien“, die zu den stärksten Artikulierungen dieses Themas in der zeitgenössischen Lyrik gehören. Hier öffnet sich der Dichter von einer neuen Seite – nicht mehr als düster-ironischer Geist und sarkastischer Kritiker gesellschaftlicher Zustände, sondern als ein von der unerwarteten Leidenschaft tief ins Herz getroffener Mensch, der mit seinen Gefühlen nicht sparen will und sie in wunderbar mutigen, innovativen Bildern zum Ausdruck bringt. In der neuen Liebe zu einer ehemaligen Czernowitzerin, die zusammen mit ihm im Bronx Psychiatrical Center als Ärztin arbeitete, glaubte er eine Quelle der dichterischen Inspiration wiederzufinden. Das erste Gedicht des „Äquinoktien“-Zyklus unter dem Titel „Folie à deux“ erhebt mit seiner Widmung „Für Jeanina W.“ ein wenig den Vorhang darüber. Heimatlos, wie sie beide waren, haben sie aneinander etwas gefunden, was sie verbunden hat: die Erinnerungen an Czernowitz. FOLIE À DEUX Für Jeanina W. Libellengleich sich begatten im Flug. Ineinander gerinnen im Stau. Immer wieder versuchen dem ersten Sündenfall nachzueifern. To make love auf einem umgestürzten Grabstein. Zwei Tropfen sein auf einem Blatt, das sich nachtwärts vertreibt, Einlullen im faulen Schnee. In hundert Jahren, ins Zwiebelreich eingebettet, erwachen. Ohne Gedenken sich einander beatmen.19
Das lyrische Werk von Alfred Gong zeichnet sich durch die Vielfalt existentieller Problematik aus. Es behandelt Themen des Humanismus und der Barbarei, der Liebe und des Todes, des Umweltschutzes und der atomaren Bedrohung, der Sehnsucht nach einer besseren Welt und der Suche nach dem Sinn des Lebens. 19
Alfred Gong. Gnadenfrist, S. 45.
162 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ Mit beißender Ironie, scharfem Sarkasmus und unnachahmlicher Groteske geladen, experimental in Rhythmus und Form, brechen seine Gedichte traditionelle gesellschaftliche, moralische und psychologische Tabus, kultivieren einen „niedrigen“ Stil, der Dialekt und Jargon nicht scheut, aber nicht selten auch Begriffe aus verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen aufgreift, so z.B. aus der Sphäre der biblischen, antiken und nordischen Mythologie, der Kunstgeschichte, Astronomie oder Biologie. Ganz treffend charakterisierte diese Stilistik Rose Ausländer in ihrer Rezension des Gedichtbandes „Manifest Alpha“, indem sie schrieb: Wenn Gongs Lyrik mit einem Etikett versehen werden soll, müsste man sie als satirisch bezeichnen, aber das Schlagwort wird ihr nicht ganz gerecht. Gong ist kein Modepoet, gehört keiner Koterie an. In der Themenwahl ist er modern: der Ton ist volkstümlich, nicht naiv-, sondern raffiniert-volkstümlich, im Sinne der Brechtschen Lyrik. Sein Stil, traditionsverbunden und klar, hat eine eigene Note, jedes Gedicht ist eine deutlich umrissene Gestalt, ergo: „klassisch“-modern. Die Sprache ist kernig und hält Waage zwischen Bindung und Freiheit. Nie verfällt Gong in Sentimentalität, auch nicht in seinen frühen Gedichten. Das Versgebilde ist luftig, nie überladen. Diese Lyrik, originell, organisch und warm, ist beglückend.20
Im letzten Jahrzehnt seines Lebens wagte Gong noch einige weite Reisen nach Europa, auf denen er Italien und die Schweiz, aber auch Israel und Rumänien besuchte, wo er einige Jugendfreude aus Czernowitz traf. Vielleicht wollte dieser unruhige Geist doch noch irgendwo in der Alten Welt seinen Anker werfen, denn Amerika hat ihn ganz ausgesaugt, er konnte dort nicht mehr schreiben. Die Zeit war aber schon sehr knapp bemessen – für die Liebe und für das Leben. Das Bewusstsein der schöpferischen Ohnmacht, die Nachrichten vom Tod seiner dichterischen Schulkameraden Paul Celan und Immanuel Weißglas stürzten ihn in dauernde Depressionen. Immer öfter suchten ihn die Gedanken vom Misslingen seiner dichterischen Mission heim, von der Unsinnlichkeit seiner Existenz. Auch gesundheitliche Probleme häuften sich von Jahr zu Jahr. Der Titel seines dritten Gedichtbandes erwies sich somit als prophetisch – nur eine Gnadenfrist wurde ihm noch beschieden. „Alt bin ich und vergessen / und ohne 20
Rose Ausländer. Die Nacht hat zahllose Augen. Prosa. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1995, S. 135-136.
„Robinson auf dem Eiland Manhattan“ 163 Feinde geblieben“21 – stellt er im abschließenden Gedicht des „Gnadenfrist“-Bandes bitter fest. Am 18. Oktober 1981 erlag Alfred Gong seinem schweren Krebsleiden. Sein reicher Nachlass mit vielen unveröffentlichten Werken wurde bald von seiner Witwe dem Bibliotheksarchiv der University of Cincinnati übergeben. Der vielgeprüfte und vielgelittene Odysseus hat endlich seinen letzten Hafen erreicht. *** In den Jahrzehnten, die seit dem Tode des Dichters vergangen sind, steigt das Interesse an Gongs dichterischem Werk unaufhörlich, wovon mehrere Neuausgaben seiner Texte zeugen. Bereits in den 1980er Jahren erschien im amerikanischen Columbia Verlag eine repräsentative Ausgabe seiner frühen Gedichte („Early Poems“)22 und bald darauf die von Joachim Herrmann vorbereitete Ausgabe seiner Gedichte aus dem Nachlass („Israels letzter Psalm“)23. Auch die Gedichtbände „Gras und Omega“24 und „Manifest Alpha“25 sind heute dank Joachim Herrmann in einer korrigierten Neuauflage zugänglich. Der Anfang des neuen Jahrhunderts brachte die Entdeckung von Gongs dramatischen Werken mit sich – die in den USA lehrende Germanistin Bärbel Such veröffentlichte drei dramatische 21 22
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Alfred Gong. Gnadenfrist, S. 62. Alfred Gong. Early Poems. A Selection from the Years 1941-1945. Edited by Jerry Glenn, Joachim Herrmann and Rebecca S. Rodgers. Columbia, South Carolina: Camden House 1987 [Studies in German Literature, Linguistics, and Culture, Vol. 38]. Alfred Gong. Israels letzter Psalm. Gedichte. Mit einer Auswahl aus dem Nachlass herausgegeben von Joachim Herrmann. Aachen: Rimbaud Verlag 1995 [Texte aus der Bukowina. Hrsg. von Theo Buck. Bd. 3]. Alfred Gong. Gras und Omega. Gedichte. Mit sieben Gouachen von K. O. Götz. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Joachim Herrmann. Aachen: Rimbaud 1997 [Texte aus der Bukowina. Bd. 5. Herausgegeben von Theo Buck; Redaktion: B. Albers; Schriften der Alfred Gong Gesellschaft. Bd. 2. Hrsg. von Jerry Glenn und Joachim Herrmann]. Alfred Gong. Manifest Alpha. Gedichte. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Joachim Herrmann. Aachen: Rimbaud 2001, S. 10 [Texte aus der Bukowina. Bd. 13. Herausgegeben von Bernhard Albers und Reinhard Kiefer; Redaktion: B. Albers; Schriften der Alfred Gong Gesellschaft. Bd. 2. Herausgegeben von Jerry Glenn und Joachim Herrmann].
164 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ Stücke aus dem Nachlass des Dichters: „Die Stunde Omega“, „Um den Essigkrug“ und „Der letzte Diktator“26, deren Problematik um die Gefahr des technischen Fortschritts, die Nivellierung der menschlichen Persönlichkeit und das Wesen totalitärer Regime kreist. Diese Publikationen sind aus der tieferen wissenschaftlichen Beschäftigung der Forscherin mit Gongs dramatischem Werk entstanden – vorher widmete sie diesem Thema ihre Dissertation27. Im Jahre 2009 erschien auch die erste Monographie über den Czernowitzer Dichter – das Buch der in Deutschland wirkenden ukrainischen Germanistin Natalia Shchyhlevska „Alfred Gong. Leben und Werk“28, das nicht nur die wichtigsten Stationen seiner Biographie wiedergibt, sondern auch eine eingehende Analyse seiner Texte von verschiedenen Gattungen enthält. Gongs Briefwechsel mit Rose Ausländer, Georg Drozdowski und Alfred Kittner werden im Band „Verschränkungen“29 mit Kommentaren der oben erwähnten Autorin präsentiert. All diese Neuerscheinungen bilden eine feste Grundlage für die weitere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem gesamten dichterischen Werk Alfred Gongs, das lange Zeit vernachlässigt wurde. 1995 wurde in Osnabrück auf Initiative von Jerry Glenn und Joachim Herrmann die Alfred Gong Gesellschaft gegründet, die sich die Pflege, Erforschung und Popularisierung seines poetischen Werkes zum Ziel gesetzt hat. Bisher gab es nur wenige Versuche, Gedichte von Alfred Gong in andere Sprachen zu übersetzen, obwohl schon zu Lebzeiten des Dichters einige von ihnen ins Englische, Rumänische und Ungarische übertragen wurden. Eine 1988 in Moskau erschienene Anthologie 26
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Bärbel Such. Die Stunde Omega / Um den Essigkrug. Zwei dramatische Werke aus dem Nachlass Alfred Gongs. Oxford; Bern; Berlin u.a.: Peter Lang 2007 [New American Studies, General Editor Don Heinrich Tolzmann, Vol. 27]; Alfred Gong. Der letzte Diktator. Tragödie. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Bärbel Such. Aachen: Rimbaud 2012. Bärbel Such. Vier dramatische Werke aus dem Nachlass Alfred Gongs. Text und Kommentar. Dissertation. Cincinnati 2002. Natalia Shchyhlevska. Alfred Gong. Leben und Werk. Oxford; Bern; Berlin u.a.: Peter Lang [New German-American Studies. General Editor Don Heinrich Tolzmann, Vol. 32]. Natalia Shchyhlevska. Verschränkungen. Leben und Werk von Autoren aus der Bukowina anhand von Briefen und Nachlässen. Aachen: Rimbaud 2011 [Bukowiner Literaturlandschaft, Bd. 58. Hrsg. von B. Albers].
„Robinson auf dem Eiland Manhattan“ 165 unter dem Titel „Der goldene Schnitt. Lyrik aus Österreich in russischen Nachdichtungen, 19.-20. Jahrhundert“30 gibt fünf Gedichte Gongs in russischer Übersetzung von Jewgenij Witkowskij wieder. Eine etwas größere Auswahl (16 Gedichte) bietet die an der University of Cincinnati in der Übersetzung von Jerry Glenn und Jennifer Kelley-Thierman auf Englisch erschienene Broschüre „Alfred Gong. Too-Late, Too-Early: Selected Poems“31. Ukrainische Übersetzungen von 15 Gedichten Gongs enthält die zweisprachige Anthologie deutschsprachiger Lyrik aus der Bukowina „Die verlorene Harfe“32, die bisher zwei Auflagen erlebt hat (2002, 2008). Dies waren aber nur erste, zögernde Schritte auf dem Wege der Aneignung dieses poetischen Werkes durch fremde Kulturen. 2015 erschien eine zweisprachige deutsch-ukrainische Gedichtsammlung Alfred Gongs, die eine umfangreichere Auswahl von 80 Gedichten aus allen drei zu Lebzeiten des Autors erschienenen Gedichtbänden sowie einige Proben von seinem Früh- und Nachlasswerk einschließt, die als ein repräsentativer Querschnitt durch sein lyrisches Œuvre betrachtet werden kann33. Viele Gedichte Alfred Gongs enthalten poetische Reminiszenzen an die Ukraine („Im Raum von Odessa“) und an seine Heimat Bukowina („Bukowina“, „Topographie“ u.a.). Dieser Umstand, wie auch jene Tatsache, dass Alfred Gong seinerzeit eine Reihe von Gedichten des bedeutenden russischen Lyrikers Sergej Jessenin ins Deutsche übersetzte, ist eine gute Voraussetzung für eine intensive Rezeption des Dichters im slawischen Kulturraum.
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Der Goldene Schnitt. Lyrik aus Österreich in russischen Nachdichtungen: 19.-20. Jahrhundert. Herausgegeben von W. Weber und D. Dawlianidze. Moskau: Raduga 1988, S. 480-483; 650-652. Alfred Gong. Too-Late, Too-Early: Selected Poems. Translated by Jerry Glenn and Jennifer Kelley-Thierman. University of Cincinnati 2000 [Max Kade Occasional Papers in German-American Studies, No. 3]. Die verlorene Harfe. Eine Anthologie deutschsprachiger Lyrik aus der Bukowina. Konzept, Übersetzung, Vorwort biobibliographische Anmerkungen von Petro Rychlo. 2., erweiterte Auflage, Czernowitz: Knyhy – XXI, 2008 [Deutsch/Ukrainisch]. Alfred Gong. Manifest Alpha. Herausgegeben, ins Ukrainische übersetzt, mit Nachwort und Glossar von Petro Rychlo. Czernowitz: Knyhy – XXI, 2015, 256 S.
„Zähle mich zu den Mandeln …“ Paul Celan Paul Celans Lebensweg umfasst keine vollen fünfzig Jahre. Man kann ihn deutlich in vier Phasen aufteilen: die Czernowitzer, die Bukarester, die Wiener und die Pariser Zeit. Jede dieser Phasen bedeutete eine gewisse Station seiner verwickelten Biographie, aber Bukarest und Wien waren nur Zwischenspiele, kurze, wenn auch wesentliche und fruchtbare Etappen seiner geistigen und literarischen Entwicklung. Die wichtigsten und dauerhaftesten bleiben die erste und die letzte Phase: In Czernowitz (1920-1941/44) und in Paris (1948-1970) verbrachte der Dichter jeweils über zwei Jahrzehnte, d.h. in jeder dieser Städte fast die Hälfte seines Lebens. Dieser leidvolle Lebensweg beginnt am 23. November 1920 in Czernowitz, in einer der stillen Gassen des historischen Teils der Stadt, die damals den Namen des Bukowiner Politikers ukrainischer Herkunft, des langjährigen Abgeordneten des Wiener Parlaments, Baron Wassilko trug (heute Saksahanskyj-Str.). Paul war das einzige Kind des Baumeisters Leo Antschel, der aus dem nordbukowinischen Dorf Schipinetz (Schypynzi) stammte, und von Friederike Schrager aus dem in der Nähe von Czernowitz liegenden Städtchen Sadagura (Sadhora), das damals als eines der wichtigsten Zentren des Chassidismus galt, wo die berühmte Rabbinerdynastie Friedmann residierte. Leo Antschel wirkte nie in seinem Baumeisterberuf, da man in der Zeit der großen wirtschaftlichen Krise Ende der 1920er Jahre in Czernowitz nur wenig gebaut hatte, so dass er sich nach der Ehe mit Friederike Schrager als Brennholzmakler über Wasser hielt. Der soziale Status der Familie war recht bescheiden – in der Dreizimmerwohnung von Pauls Großvater, wo sich das junge Ehepaar nach der Hochzeit niedergelassen hatte, wohnten, außer dem Großvater selbst, noch seine zwei Töchter, Vaters Schwester, beide fast erwachsenen Mädchen Minna und Regina, so dass das Gefühl der Enge der Wohnverhältnisse Paul bereits von der frühen Kindheit an ständig begleiten wird. Die damit verbundenen Reminiszenzen fanden später ihren Ausdruck in einem der ersten 167
168 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ Gedichte des jungen Paul Antschel, das mit seinem balladenartigen Charakter und dem Leitmotiv der fatalen Versuchung des Kindes durch ein märchenhaftes, fantastisches Geschöpf an Goethes „Erlkönig“ erinnert: DRÜBEN Erst jenseits der Kastanien ist die Welt. Von dort kommt nachts ein Wind im Wolkenwagen und irgendwer steht auf dahier… Den will er über die Kastanien tragen: „Bei mir ist Engelsüß und roter Fingerhut bei mir! Erst jenseits der Kastanien ist die Welt.“ Dann zirp ich leise, wie es Heimchen tun: dann halt ich ihn, dann muß er sich verwehren! Ihm legt mein Ruf sich ums Gelenk! Den Wind hör ich in vielen Nächten wiederkehren: „Bei mir flammt Ferne, bei dir ist es eng…“ Dann zirp ich leise, wie es Heimchen tun. Doch wenn die Nacht auch heut sich nicht erhellt, und wiederkommt der Wind im Wolkenwagen: „Bei mir ist Engelsüß und roter Fingerhut bei mir!“ Und will ihn über die Kastanien tragen – dann halt, dann halt ich ihn nicht hier… Erst jenseits der Kastanien ist die Welt.1
Die Familie hielt sich an etliche religiöse jüdische Gebräuche, wenn es um bestimmte traditionelle Riten ging, z.B. um das Anzünden der Schabbatkerzen, doch die Synagoge besuchte man nur an hohen religiösen Feiertagen. Wie Celans Biograph Israel Chalfen betont, „Pauls Eltern gaben ihrem Sohn eine konventionelle, bürgerliche Erziehung, in die das Judentum eher als moralische Grundlage denn als Religion einbezogen war“.2 Eine viel wesentlichere Rolle 1 2
Paul Celan. Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Mit den zugehörigen Radierungen von Gisèle Celan-Lestrange. Herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann. Berlin: Suhrkamp Verlag 2018. Israel Chalfen. Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend. Frankfurt a.M.: Insel Verlag 1979, S. 36.
„Zähle mich zu den Mandeln …“ 169 spielte bei der Erziehung des Kindes die deutsche Kulturtradition, denn nur sie eröffnete dem jungen Menschen gute Bildungs- und Berufsperspektiven. Die Kinderjahre des Dichters vergingen unter sorgsamer mütterlicher Obhut. Obwohl Friederike Schrager seinerzeit keine Möglichkeit hatte, eine systematische Ausbildung zu bekommen, denn nach dem frühen Tod ihrer Mutter musste sie sich um ihre jüngeren Geschwister kümmern, war sie eine recht belesene Frau, insbesondere in der deutschen Literaturgeschichte, die sie sich in ihren wichtigsten Segmenten selbständig aneignete. Fritzi, wie sie im engen Familienkreis genannt wurde, liebte Werke der deutschen Klassiker und Romantiker. Dieses kulturelle Erbe bemühte sie sich ihrem einzigen Sohn weiterzugeben. Sie legte großes Gewicht darauf, dass Paul ein gutes Deutsch sprach, las ihrem Sohn Märchen von Hauff oder den Brüdern Grimm vor, rezitierte mit ihm Goethes und Schillers Balladen und brachte ihm eine besondere Liebe zur deutschen Literatur bei. Sie war es, die beim Familienrat darauf bestand, dass Paul in die erste Klasse der deutschen Privatschule des sogenannten Meisler-Instituts geschickt wurde (da fast alle Staatsschulen bis dahin bereits rumänischsprachig waren). Doch eine Privatschule verlangte auch hohe Kosten, die die Familie bald nicht mehr zusammenbringen konnte, so dass er die nächsten drei Schulklassen die hebräische Grundschule „Ssafa Iwrija“ besuchen musste, die von internationalen jüdischen Organisationen unterstützt wurde und einen kostenlosen Unterricht anbot. Danach folgte der Besuch der rumänischen Lyzeen (1930-1935: „Liceul Orthodox der Baeţi“, 1935-1938: Liceul Marele Voevod Mihai“), die er mit der Ablegung des rumänischen Bacalaureats (Abitur/Matura) 1938 absolvierte und zum Studium der Medizin an der „École préparatoire de médicine“ in die französische Stadt Tours wechselte. Dieser Studienaufenthalt in der französischen Provinz dauerte allerdings nur ein knappes Jahr lang, denn nachdem er 1939 für die Sommerferien nach Czernowitz zurückgekehrt war, brach mit dem Überfall Deutschlands auf Polen der Zweite Weltkrieg aus. So musste er auf das weitere Studium in Frankreich verzichten und schrieb sich an der Universität seiner Heimatstadt ein, wo er Fremdsprachen (1939-1940: Französisch, 1941/1944: Englisch) zu
170 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ studieren begann und das wechselreiche „Fahnenspiel“ – zuerst die sowjetische, später die rumänische und wieder sowjetische Besatzung – überlebte. Der Bildungsweg Celans ist überhaupt ein unglaubliches Geflecht sprachlicher Salti mortali das heute schwer vorstellbar ist. Seine Unterrichtssprachen in der Volksschule waren zuerst Deutsch, dann Hebräisch, in Czernowitzer staatlichen Lyzeen Rumänisch, während seiner medizinischen Studien in Tours Französisch, nach der Annexion der Nordbukowina durch die Sowjets Russisch und Ukrainisch. Zu diesem sprachlichen Kaleidoskop müsste man noch Latein und Altgriechisch hinzufügen, die auf dem Schulprogramm der rumänischen Lyzeen standen, und in oberen Klassen Englisch. Und natürlich gehörte zu seinem sprachlichen Repertoire auch Jiddisch, eine Sprache, die er in Czernowitz ständig im Ohr hatte, aber selbst nur selten praktizierte, indem er z.B. im Familien- oder Freundeskreis die Fabeln des „jüdischen Äsops“ Elieser Stejnbarg rezitierte. Kein Wunder, dass einen der wesentlichen Aspekte seines dichterischen Wirkens später die übersetzerische Tätigkeit bildete – Celan übersetzte aus acht Sprachen, er verdeutschte über 40 fremdsprachige Autoren, darunter solche schwer zugängliche Werke wie Shakespeares „Sonette“, Artur Rimbauds „Das trunkene Schiff“, Paul Valerys „Die junge Parze“, Alexander Bloks „Die Zwölf“, André du Bouchets „Vakante Glut“, Jean Daives „Weiße Dezimale“, Giuseppe Ungarettis „Das verheißende Land“, dann Gedichte von Emily Dickinson, Paul Verlaine, Guillaume Apollinaire, Paul Eluard, René Char, Henri Michaux, Fernando Pessoa, Sergej Jessenin, Ossip Mandelstamm u.a. (eine übersichtliche Vorstellung von diesem Teil seines literarischen Schaffens gibt der Katalog der Ausstellung „Fremde Nähe. Paul Celan als Übersetzer“3, die seinerzeit in mehreren Städten des deutschsprachigen Kulturraums gezeigt wurde).
3
„Fremde Nähe“. Celan als Übersetzer. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs in Verbindung mit dem Präsidialdepartement der Stadt Zürich im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar und im Stadthaus Zürich. Ausstellung und Katalog: Axel Gellhaus u.a. Deutsche Schiller-Gesellschaft Marbach am Neckar 1997 [Marbacher Kataloge 50. Herausgegeben von Ulrich Ott und Friedrich Pfäfflin].
„Zähle mich zu den Mandeln …“ 171 Die ersten dichterischen Proben des jungen Paul Antschel, der unter dem Pseudonym Paul Celan in die Literatur eingehen wird (ein Anagramm, das aus dem eigentlichen Namen durch die einfache Silbenumstellung der rumänischen Schreibung entstand: An-cel /Cel-an), fielen noch auf seine gymnasialen Jahre. Eine bedeutende Rolle spielten hier Antschels Jugendfreundschaft mit Immanuel Weißglas, die zugleich auch eine poetische Rivalität war, sowie seine erste Liebe zu der Schauspielerin des Jiddischen Theaters in Czernowitz Ruth Kraft (Ruth Lackner), der mehrere frühe Gedichte des jungen Dichters gewidmet sind. Dank ihr und dem Kreis der Czernowitzer Jiddischisten (der Pädagoge und Herausgeber von jiddischen Liedern Hersch Segal, der Rezitator Lejbu Lewin, der Sprachwissenschaftler Chaim Ginniger u.a.) begann Celan die jiddische Kultur und damit auch sein eigenes Judentum, das er zuerst ignorierte, als seine nationale Identität zu entdecken. Aber eine richtige Erfassung seines jüdischen Wesens sowie der Bedeutung der Juden in der Geschichte der menschlichen Zivilisation erfolgt erst durch die schmerzhafte Verarbeitung der jüdischen Katastrophe, die auch ihn persönlich direkt getroffen hatte – im Sommer 1942 wurden seine Eltern nach Transnistrien deportiert, wo sie bald darauf umgekommen sind, er selbst musste zweieinhalb Jahre lang Zwangsarbeit in einem rumänischen Lager leisten. Wenn man aufmerksam alle von Celan im Laufe seines dichterischen Lebens geschriebenen Gedichte liest – einen Band nach dem anderen, von seiner frühen Gedichtsammlung „Mohn und Gedächtnis“ (1952) bis zum postum erschienenen Gedichtband „Zeitgehöft“ (1976) –, so stellt man eine bemerkenswerte Gesetzmäßigkeit fest: In diesen Gedichten dominiert vor allem das jüdische Thema in seinen unterschiedlichsten Dimensionen – angefangen von alttestamentarischen Anspielungen und Bildern, durch die die frühe Annäherung an seine ethnisch-kulturelle Identität geschah, bis zur Vertiefung in die Problematik der jüdischen Mystik, die das Geheimnis des jüdischen Seins mittels irrationaler Konstrukte der kabbalistischen Lehre zu erklären versuchte. Zweifellos ist Celan der konsequenteste und der tiefste poetische Interpret des nationalen jüdischen Wesens. Es ist ihm gelungen,
172 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ das Unaussprechliche auszusprechen, jene Denkmodelle und poetischen Figuren zu finden, die nach ihm zu Paradigmen der „Gedichte nach Ausschwitz“ geworden sind. Das jüdische Element ist aber zugleich auch die widersprüchlichste und schmerzhafteste Komponente seines Werks sowohl hinsichtlich der schrecklichen Erfahrungen des Holocausts als auch der Tragik des persönlichen Schicksals des Dichters. Der jüdische Kontext ist zu einer existentiellen Dominante seiner Dichtung geworden, außerhalb dieser Dominante ist sie einfach undenkbar, da sie nicht nur das Problemfeld seiner Gedichte umkreist, sondern auch ständig ihren immanenten Ideenkern bildet. Im Grunde genommen war Entwerfen und Wiedergeben der wichtigsten Konstanten seines Judentums beinahe die einzige Aufgabe dieser Lyrik, ihre permanente Metaidee, die auf dem thematischen, bildlichen und strukturellen Niveau präsent bleibt. Der Grund dafür liegt auch in seiner Bukowiner Herkunft und in der Ungewöhnlichkeit seines Lebens- und Dichterweges. Czernowitz, die Heimatstadt des Dichters, galt als eine liberale Stadt, die weit und breit als Verkörperung nationaler und religiöser Toleranz bekannt war. Es gab dort nie ernstzunehmende Konflikte auf nationaler oder religiöser Grundlage, obwohl in der Stadt ein halbes Dutzend verschiedener Ethnien zu Hause waren: Juden, Deutsche, Ukrainer, Rumänen, Polen, Armenier, Magyaren u.a. So war es, bis die Welt mit dem Anfang des Zweiten Weltkrieges aus den Fugen geriet. Aber bereits nach dem Ersten Weltkrieg und der Etablierung der rumänischen Herrschaft – also in der Zeit, in die Celans Kinderjahre fallen – änderte sich die Situation grundsätzlich. Am 30. Januar 1934 schreibt der 13-jährige Gymnasiast Paul Antschel einen Brief an seine Tante Minna nach Palästina, in dem sich unter anderem auch folgende Passage findet: Was Angelegenheit Zeugnis betrifft, ja, hm! ich bin der zweite, aber … nicht der erste, wie es von Rechtswegen hätte sein sollen. Die Professoren, die Angehörigkeit zum jüdischen Zweig der semitischen Rasse und noch viele andere Hindernisse! Ja, was den Antisemitismus in unserer Schule betrifft, da könnte ich ein 300 Seiten starkes Buch darüber schreiben4.
4
Israel Chalfen. Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend, S. 51.
„Zähle mich zu den Mandeln …“ 173 Was der Schüler Antschel Anfang der 1930er Jahre in seiner Schule als nationale Diskriminierung durch rumänische Lehrer empfand, erhielt sehr bald eine spürbare Weiterentfaltung. Ende der 1930er Jahre ging es so weit, dass die Juden auf den Czernowitzer Straßen von den Mitgliedern der rumänischen paramilitärischen Organisation „Eiserne Garde“, die deutsche Sturm-Einheiten nachahmten, schlicht verprügelt wurden. Das war wohl seine erste Erfahrung der Rassenverfolgung, die er bereits als Halbwüchsiger in seiner Geburtsstadt erkannte und die ihn schon damals traumatisierte. Die Frage der nationalen Identität erwies sich somit für Celan bereits in seiner Jugendzeit problematisch. Sie war durch seine familiären Verhältnisse sowie durch die ansteigende antisemitische Atmosphäre in Europa verursacht. Der Dichter stammte aus einer assimilierten Familie, in der nicht jiddisch oder hebräisch, sondern deutsch gesprochen wurde. Zwar neigte sich sein Vater zu der zionistischen Orientierung und träumte von der Auswanderung nach Palästina, die größere Autorität war für ihn aber immer die Mutter, die ihren Sohn in der Liebe zur deutschen Sprache und Literatur erzog. Infolge dieser familiären Diskrepanz entwickelte sich zuerst beim jungen Celan eine skeptische, geradezu überhebliche Einstellung zu all dem Jüdischen – zu religiösen Ritualen und volkstümlichen Traditionen, zionistischen Ideen seines Vaters und dem in Czernowitz von jüdischen Handwerkern und Kleinhändlern gesprochenen Jiddisch. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, der Einrichtung des jüdischen Ghettos in Czernowitz und den Deportationen der Juden nach Transnistrien, der auch seine Eltern nicht entkommen sind und bald darauf in einem der Arbeitslager ermordet wurden, begann für den jungen Dichter eine neue Zeitrechnung. „Alle bisher im Frühwerk enthaltenen Themen und Motive werden nach der Zäsur auf eine jüdische Thematik hingeordnet und erhalten eine neue Orientierung“5 – meint Lydia Koelle. Die bis dahin nur selten vorkommenden jüdischen Reflexionen über seine Herkunft werden von nun an zur zentralen Achse seiner menschlichen 5
Lydia Koelle. Paul Celans pneumatisches Judentum: Gott-Rede und menschliche Existenz nach der Shoah. Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag 1997, S. 63.
174 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ Existenz und seines dichterischen Schaffens, jedes Gedicht, das aus seiner Feder kommt, ist durch das tragische Bewusstsein dessen, „was geschah“, gezeichnet. Als Beispiel der frühen Rezeption des religiösen und kulturellen Erbes des Judentums kann Celans Gedicht „An den Wassern Babels“ gelten, das in seiner früheren Fassung noch den Titel „Chanson juive“ hatte: Wieder an dunkelnden Teichen murmelst du, Weide, gram. Weh oder wundersam: keinem zu gleichen? Den deine Kralle zaust, sucht sich in Sünden. Wendet sich von deinem Zünden, flammende Faust. Kehr du mit grausem Getös ein in kauernde Hütten. Komm unser Blut verschütten. Den Lehm erlös…6
Dieses Gedicht stellt eine freie Paraphrase des berühmten 137. Psalms dar: „An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten …“ [Psalter, 137, 1]. Aber der Dichter schneidet hier auch das Problem der Auserwähltheit des Volkes im Sinne seiner tragischen Vorbestimmung und des ewigen Leidens an, hinter dem keine verheißende Rettung kommt. Der Tod der Eltern, insbesondere der über alles geliebten Mutter, löste seinen inneren Zwiespalt aufs Neue aus. Er erweckte bei ihm auch Zweifel, ob nach all dem, was geschehen war, Deutsch als ein poetisches Medium für ihn überhaupt noch in Frage käme. Besonders evident zeigt sich das in seinen Muttergedichten, z.B. in „Nähe der Gräber“: Kennt noch das Wasser des Südlichen Bug, Mutter, die Welle, die Wunden dir schlug? Weiß noch das Feld mit den Mühlen inmitten, wie leise dein Herz deine Engel gelitten? 6
Paul Celan. Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band, S. 360.
„Zähle mich zu den Mandeln …“ 175 Kann keine der Espen mehr, keine der Weiden den Kummer dir nehmen, den Trost dir bereiten? Und steigt nicht der Gott mit dem knospenden Stab den Hügel hinan und den Hügel hinab? Und duldest du, Mutter, wie einst, ach, daheim, den leisen, den deutschen, den schmerzlichen Reim?7
Die in der letzten Zeile formulierte rhetorische Frage an die tote Mutter zeugt von einer tiefen Gespaltenheit in der Seele des Sohnes, der nach ihrem Tod weiter in der „Sprache der Mörder“ schreibt (so hieß der Katalog der Ausstellung über die deutsch-jüdische Literatur aus Czernowitz, der seinerzeit vom Berliner Literaturhaus herausgegeben wurde)8. Die Schwierigkeit dieses Dilemmas bestand aber darin, dass die „Sprache der Mörder“ zugleich auch seine Muttersprache war, auf die er nicht verzichten konnte. Für ihn war die deutsche Muttersprache nicht einfach ein Arbeitsinstrument, sondern das „Haus des Seins“ (Heidegger), daher meinte er, dass der Dichter nicht imstande ist, sie auszutauschen. „Nur in der Muttersprache kann man die eigene Wahrheit aussagen, in der Fremdsprache lügt der Dichter“9 – wiederholte er bei jeder Gelegenheit, wenn er aus diesem Anlass Vorwürfe an seine Adresse hörte. Und in seiner Antwort auf die Frage der Pariser „Librairie Flinker“ zum Problem der Zweisprachigkeit äußerte er sich später in einem absolut kompromisslosen Ton: An die Zweisprachigkeit in der Dichtung glaube ich nicht. Doppelzüngigkeit – ja, das gibt es, auch in diversen zeitgenössischen Wortkünsten bzw. -kunststücken, zumal in solchen, die sich, in freudiger Übereinstimmung mit dem jeweiligen Kulturkonsum, genauso polyglott wie polychrom zu etablieren wissen. Dichtung – das ist das schicksalhaft Einmalige der Sprache. Also nicht […] das Zweimalige.10
7 8 9 10
Paul Celan. Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band, S. 17. In der Sprache der Mörder. Eine Literatur aus Czernowitz. Ausstellungskatalog. Erarbeitet und herausgegeben von Ernst Wichner und Herbert Wiesner. Literaturhaus Berlin 1993, 279 S. Israel Chalfen. Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend, S. 148. Paul Celan. Der Meridian und andere Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1990, S. 30.
176 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ Je tiefer Celan mit dieser schmerzlichen Erfahrung konfrontiert wurde, je weiter er sich als Dichter entwickelte, desto mehr näherte er sich der Bewusstwerdung seines traumatischen Judentums. Das Gedenken der Ermordeten füllt seit den Kriegsjahren fast alle seine Gedichtbände aus und zeichnet seine dichterische Aussage bis ins Syntaktische und Morphologische hinein wie ein Brandmal. Drei Momente bestimmen seitdem Celans Werk, sein Leben und Schreiben, hebt sein Biograph Wolfgang Emmerich hervor: die kaum je nachlassende Trauer vor allem um die geliebte Mutter, die mit einem anhaltenden Schuldgefühl verbundene Frage an sich selbst, warum denn gerade er überlebt habe, und schließlich eine zeitweise gelebte und immer wieder poetisch imaginierte Vereinigung mit allen Juden der Welt, den toten wie den lebendigen11. Wie problematisch dieser Identifikationsprozess manchmal verlief, zeigt z.B. ein im Archiv der Universität Czernowitz aufgefundener, in russischer Sprache ausgefüllter Fragebogen vom 24. März 194512. Auf die Frage, welche Sprachen er beherrsche, gibt der Abiturient Paul Antschel, der um die Aufnahme in das dritte Studienjahr der Philologischen Fakultät ersucht (es sollte um die Anglistik gehen), zuerst seine Sprachkenntnisse in dieser Reihenfolge an: Rumänisch, Deutsch, Französisch, Englisch, Russisch, Ukrainisch, und erst nach einem vielleicht längeren Überlegen entscheidet er sich, seine Kenntnisse der Sprachen des jüdischen Volkes anzugeben (die künstlich wirkende russische Wortbezeichnung «еврейский язык» unterscheidet nicht zwischen Jiddisch und Hebräisch). Die drei schmalen Buchstaben «евр» als Kürzung dafür wurden nachträglich (das belegt sogar die Tintenfarbe) in das enge Intervall zwischen dem gedruckten Text des Fragebogens und seiner handschriftlichen Antwort eingezwängt. In diesem Falle bekennt er sich zwar durch die Sprachangabe zu seinem Judentum, während seine Muttersprache Deutsch erst an 11 12
Wolfgang Emmerich. Paul Celan. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1999, S. 11. Siehe in: Paul Antschel/Paul Celan in Czernowitz. Bearbeitet von Axel Gellhaus. Die Übersetzung ins Ukrainische: Peter Rychlo. Marbacher Magazin 90/2000. Marbach am Neckar: Deutsche Schillergesellschaft Marbach 2001, S. 14-15 [Deutsch/Ukrainisch].
„Zähle mich zu den Mandeln …“ 177 den dritten (oder sogar an den vierten – wenn wir unter dem russischen Begriff «евр» beide Sprachen der Juden verstehen) Platz gelangt. Natürlich konnte er dies aus politischen Gründen machen (der Krieg der Sowjetunion gegen Nazideutschland war noch nicht zu Ende, Deutsch galt als „Sprache des Feindes“ und er wollte nicht als politisch verdächtiges Element eingestuft werden), aber seine diesbezüglichen Bedenken rund um seine jüdische Angehörigkeit sind an sich symptomatisch. Eine überzeugende Wende in Celans Einstellung zum Judentum bildet in den ersten Nachkriegsjahren die Publikation seiner „Todesfuge“. Sie gilt heute als ein Jahrhundertgedicht, als jenes Beispiel der Lyrik „nach Auschwitz“, die Adorno mit seinem Diktum, es sei barbarisch, Gedichte nach Auschwitz zu schreiben, nicht mehr für möglich hielt. Offensichtlich muss man diese Sentenz des Philosophen nicht buchstäblich verstehen, da sie dialektisch gemeint war: Nach der furchtbaren moralischen Katastrophe, deren Symbol Auschwitz ist, sei es kaum mehr möglich, Gedichte in dem Sinne zu schreiben, den die meisten Leser mit der Poesie assoziieren – als Ausdruck eines mit bunten Epitheta und Metaphern ausgestatteten seelischen Gefühls. Unerhörte Maßstäbe der Verbrechen des Holocausts wurden zur ewigen Wasserscheide zwischen den Kategorien des Schönen und des Wahren, sie können nicht mehr im Rahmen eines Diskurses existieren. Darum müssen Gedichte nach Auschwitz in einer ganz anderen Sprache geschrieben werden – nicht mehr aus der Perspektive einer singenden Drossel, die sich mit ihrem eigenen Singen ergötzt, sondern mit dem immerwährenden Gedenken an Millionen jüdischer Toten. Dieses Gedenken soll zum immanenten Element moderner Poesie werden, sie muss in jedem lyrischen Gedicht präsent sein, wenn es auch keine direkte Erwähnung der jüdischen Katastrophe enthält. Ein Indikator dieses Gedenkens wurde für Celan für immer der 20. Januar 1942 – der Tag, an dem in einer Berliner Wannsee-Villa die „Endlösung der jüdischen Frage“ beschlossen wurde. Dieses Datum hatte Celan im Auge gehabt, wenn er in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises am 22. Oktober 1960 in Darmstadt betonte: Vielleicht darf man sagen, dass jedem Gedicht sein „20. Jänner“ eingeschrieben bleibt? Vielleicht ist das Neue an den Gedichten, die heute geschrieben
178 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ werden, gerade dies: dass hier am deutlichsten versucht wird, solcher Daten eingedenk zu bleiben?13
Nach dem Erscheinen des Gedichtbandes „Mohn und Gedächtnis“ (1952), in dem die „Todesfuge“ zum ersten Mal dem breiteren Publikum zugänglich gemacht wurde (bis dahin wurde es bereits in Celans erstem Gedichtband „Der Sand aus den Urnen“ veröffentlicht, der 1948 in Wien erschien, doch wegen zahlreicher sinnentstellender Druckfehler ließ der Autor ihn einstampfen), hat man über seinen Wahrheitsgehalt viel spekuliert. Manche deutsche Literaturkritiker sahen darin nichts anderes als „kontrapunktische Exerzitien auf dem Notenpapier oder auf stummen Tasten – Augenmusik, optische Partituren“14, als willkürliche, jegliches Zusammenhangs mit der Realität beraubte „Etüden und Fingerübungen“15. Doch der Wirklichkeitsbezug der „Todesfuge“, die als ein kollektives, von den Opfern selbst gesprochenes Kaddisch (ein Totengebet um das Seelenheil der Verstorbenen) interpretiert werden kann, ist evident. Der Erstdruck des Gedichts in rumänischer Übersetzung Petre Solomons unter dem Titel „Todestango“ in der Bukarester Zeitschrift „Contemporanul“ vom 2. Mai 1947 wurde mit einer erläuternden Vorbemerkung begleitet: Das Gedicht, dessen Übersetzung wir hier veröffentlichen, beruht auf der Beschwörung einer wahren Begebenheit. In Lublin wie in vielen anderen nazistischen Todeslagern zwang man eine Gruppe von Verurteilten, wehmütige Lieder zu singen, während andere Gräber schaufelten.16
Diese Wirklichkeit weigert sich eigentlich jeder subjektiv gefärbten beschreibenden Darstellung, man kann sie nur ganz distanziert, gefühls- und atemlos aus anonymer Perspektive in Form eines sachlichen, nüchternen Zitatgewebes schildern. Somit ist die „Todesfuge“ zugleich ein höchst dichtes intertextuelles Geflecht, „ein literaturbesessenes Gedicht, das eine durchgängige 13 14 15 16
Paul Celan. Der Meridian und andere Prosa, S. 53. Günter Blöcker. Gedichte als graphische Gebilde. In: Tagesspiegel (Berlin), 11.10.1959, S. 39. Heinz Piontek. Rez. zu Mohn und Gedächtnis. In: Welt und Wort (Tübingen), Jg. 8, 1953, Nr. 6, S. 201. John Felstiner. Paul Celan. Eine Biographie / Deutsch von Holger Fliessbach. München: Verlag C. H. Beck, 1997, S. 56.
„Zähle mich zu den Mandeln …“ 179 Zitatstruktur aufweist“17, deren assoziative Bezüge den unzähligen kulturellen und literaturhistorischen Quellen entlehnt wurden. TODESFUGE Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts wir trinken und trinken wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne er pfeift seine Rüden herbei er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends wir trinken und trinken Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr andern singet und spielt er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind blau stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr andern spielt weiter zum Tanz auf Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts wir trinken dich mittags und morgens wir trinken dich abends wir trinken und trinken ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete 17
Wolfgang Emmerich. Paul Celan, S. 51.
180 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus Deutschland dein goldenes Haar Margarete dein aschenes Haar Sulamith18
Die Angaben über die Entstehungszeit dieses Gedichts sind etwas widersprüchlich. So legt Alfred Kittner in seinen Erinnerungen das Entstehen dieses Gedichts noch in Celans Czernowitzer Zeit, indem er schreibt: Im Spätfrühling 1944 war ich, aus dem Lager befreit, in das damals bereits von den Sowjettruppen zurückeroberte Czernowitz zurückgekehrt, und da entsinne ich mich noch deutlich meiner ersten Wiederbegegnung mit Paul, der damals schon seit längerem wieder daheim war und bereits von der Ermordung seiner Eltern erfahren hatte […] Nicht lange danach dürfte es gewesen sein, dass er mir eines Vormittags vor dem Eisengitter der Czernowitzer erzbischöflichen Kathedrale in der Siebenbürgerstraße die kurz zuvor entstandene „Todesfuge“ vorlas.19
Auch Celans Jugendfreund aus der Bukarester Zeit Petre Solomon behauptet, dass der Dichter die „Todesfuge“ bereits in seinem Gepäck hatte, bevor er in die rumänische Hauptstadt kam20. Wahrscheinlich könnte er eine frühe Fassung seines Gedichts noch in Czernowitz schreiben und die endgültige Variante bereits in Bukarest vollenden. Die „Todesfuge“ könnte aber nicht früher als in der zweiten Hälfte des Jahres 1944 entstehen, nachdem die ersten Berichte und Reportagen über die Todesfabriken der Nazis in den sowjetischen und ausländischen Zeitungen erschienen sind. Wichtig in diesem Sinn könnte für Celan vor allem die Reportage des sowjetischen Schriftstellers Konstantin Simonow über das polnische KZ-Lager Majdanek bei Lublin sein, die im August 1944 in Moskau als separate Broschüre publiziert wurde21. Darin erzählte der Autor auch von der fatalen Verbindung der dort praktizierter 18 19 20 21
Paul Celan. Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band, S. 46-47. Alfred Kittner. Erinnerungen an den jungen Paul Celan. In: Texte zum frühen Celan. Bukarester Celan-Kolloquium 1981. In: Zeitschrift für Kulturaustausch (Stuttgart) 32. Jg., 1982, 3.Vj., S. 218. Siehe in: John Felstiner. Paul Celan. Eine Biographie. Deutsch von Holger Fliessbach. München: C. H. Beck 1997, S. 55. John Felstiner. Paul Celan, S. 56.
„Zähle mich zu den Mandeln …“ 181 Exekutionen mit Musik. „Aus Dutzenden von Lautsprechern begannen die ohrenbetäubenden Klänge von Foxtrott und Tango zu dringen. Und sie plärrten den ganzen Morgen, den ganzen Tag, den ganzen Abend, die ganze Nacht“22 – liest man in dieser Reportage. Mit Hilfe der Musik versuchten die nazistischen Schergen die Bestimmung dieser grauenvollen Todesfabriken zu verbergen und vorzutäuschen. In vielen KZ-Lagern existierten auch die aus Häftlingen geformten Musikkapellen, und im Lager Janiwska in Lwiw wurde ein komplettes symphonisches Orchester organisiert, das einige Dutzend jüdischer Musiker zählte, und ein SS-Leutnant befahl ihnen einen sogenannten „Todestango“ zu spielen, der bei Exekutionen und Torturen, bei Erschießungen und Hinrichtungen klingen sollte. All diese Fakten zeugen von der Intensität und dem Maßstab der nazistischen Perversion von Kultur. Zugleich erklärt es, warum die frühere Fassung des Celan’schen Gedichts den Titel „Todestango“ trug – solch eine Formulierung gab den konkreten Alltag des Lagerlebens präziser wieder. Celan wollte sich aber mit dem rein dokumentarischen Aspekt nicht beschränken, sondern war bestrebt, seinem Gedicht einen tieferen und umfassenderen Klang zu geben. Mit dem neuen Titel „Todesfuge“ betonte er (dank der engen Verflechtung musikalischer Fuge mit dem Namen von J. S. Bach) ihr deutsches Profil und erweiterte somit die ästhetische Dimension seines Gedichts, da eine musikalische Fuge, im Unterschied zum etwas theatralisch-frivolen, „mystisch-fatalen“ Tango, der in den 1930er Jahren aus Argentinien nach Europa gekommen war, eine Verkörperung künstlerischer Vollkommenheit ist, die sich bereits vor langem als Phänomen hoher Kultur etabliert hatte. Musikalische Aspekte der „Todesfuge“ sind zugleich mit der alten Tradition der „Totentänze“ („danse macabre“) verbunden, die ihren Anfang im Mittelalter hat. Der unvermeidliche monotone Rhythmus der „Todesfuge“ mit ihren mechanisch wiederholten daktylischen Zeilen nimmt allmählich ebenfalls den Charakter eines „danse macabre“ an. Auch Celan selbst verband sein Gedicht mit dieser Tradition. In Heinz Pionteks Roman „Dichterleben“, 22
John Felstiner. Paul Celan, S. 63.
182 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ dessen Episoden sich teilweise auf reale Tatsachen aus Celans Biographie stützen, werden Worte des Dichters zitiert, die bestätigen, dass sein Gedicht „in der Tradition der deutschen Totentänze steht“ und die Zeile „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ sich auf ein Gedicht aus dem 16. Jahrhundert bezieht, in dem der Tod als Meister bezeichnet wird23. Wie bereits oben erwähnt wurde, zeichnet sich die „Todesfuge“ durch ihren deutlich ausgeprägten intertextuellen Charakter aus. Schon das Anfangsoxymoron „Schwarze Milch der Frühe“ ruft eine Menge mythologischer und literaturhistorischer Assoziationen hervor, die bezeugen, dass dieses Bild bereits seit Jahrhunderten im geistigen Raum vieler nationalen Literaturen präsent ist. Ähnliche Bilder kommen bei Jean Paul, Arthur Rimbaud oder Georg Trakl vor, mehr noch, man trifft sie geradezu schon im Alten Testament. Das Bild wurde somit zu einer „Wandermetapher“. Es geht hier aber nicht nur um dieses eine Bild – die ganze „Todesfuge“ wurde als ein intertextuelles Gefüge aufgefasst, in dem zahlreiche Reminiszenzen, Entlehnungen und Anspielungen literatur- und kulturhistorischer Art durchleuchten: Bachs „Kunst der Fuge“, Goethes „Faust“, Heines „Lorelei“, Mörikes „Der Maler Nolten“, Nietzsches „Also sprach Zarathustra“, Puccinis „Tosca“, mittelalterliche Totentänze, Landsknechte-Lieder, graphische Todesdarstellungen Dürers und Holbeins, Todesallegorien der Barockliteratur usw. Parallel zu der deutschen Kulturtradition ist hier auch die jüdische, hauptsächlich alttestamentarische Überlieferung präsent. Das den Juden verheißene Land ist „ein Land, darin Milch und Honig fließt“ (2. Mose, 3, 8). Das antithetische Verhältnis von lebensbejahendem Weiß und lebensverneinendem Schwarz zeigen „Klagelieder Jeremias“ auf: „Ihre jungen Männer waren reiner als Schnee, weißer als Milch […]. Schwärzer als Ruß sehen sie aus …“ (Jeremias, 4, 7-8), wo die Gegenüberstellung von Weiß und Schwarz als kontrastierenden Farben schon vorgegeben ist. Die weiße Farbe ist eine immanente Eigenschaft von Milch, außerhalb dieser Farbe verliert sie ihre heilsame und magische Kraft.
23
Heinz Piontek. Dichterleben. Roman. Hamburg: Hoffmann und Campe 1976, S. 153.
„Zähle mich zu den Mandeln …“ 183 „Schwarz“ als die Nichtfarbe ohne Lichtenergie zerstört in der Funktion des adjektivischen Beiworts zum Substantiv „Milch“ radikal dessen positive Implikationen – schreibt Theo Buck. – Die lebensspendende Kraft der weißen Flüssigkeit verkehrt sich in ihr verdorbenes und Verderben bringendes Gegenteil. […] Nur die alogische Metapher vermag die Realität dessen zu treffen, was die Mordbürokraten in den Todesfabriken angerichtet haben.24
Das Oxymoron „Schwarze Milch“ findet sich in umgewandelter, variabler Form auch bei einigen Bukowiner Dichtern, so z.B. bei R. Ausländer, die es in ihrem frühen Gedicht „Ins Leben“ aus ihrem ersten, in Czernowitz erschienenen Gedichtband „Der Regenbogen“ (1939), verwendet: Nur aus der Trauer Mutterinnigkeit strömt mir das Vollmaß des Erlebens ein. Sie speist mich eine lange, trübe Zeit mit schwarzer Milch und schwerem Wermutwein.25
In Bezug auf die Verwendung dieses Bildes der Dichterin in Celans „Todesfuge“ äußerte sich R. Ausländer seinerzeit in einem Gespräch mit Celans Biographen I. Chalfen wie folgt: Dass Paul die Metapher „schwarze Milch“, die ich in meinem 1925 geschriebenen, jedoch erst 1939 veröffentlichten Gedicht „Ins Leben“ geschaffen habe, für die „Todesfuge“ gebraucht hat, erscheint mir nur selbstverständlich, denn der Dichter darf alles als Material für die eigene Dichtung verwenden. Es gereicht mir zur Ehre, dass ein großer Dichter in meinem frühen Werk eine Anregung gefunden hat. Ich habe die Metapher nicht so nebenhin gebraucht, er jedoch hat sie zur höchsten dichterischen Aussage erhoben. Sie ist ein Teil von ihm selbst geworden.26
Man muss aber zugleich hervorheben, dass sowohl die poetische Semantik als auch der ganze Kontext dieses Bildes im Celan’schen Gedicht sich von Rose Ausländers Versen wesentlich unterscheiden. Ist diese Metapher bei R. Ausländer Teil ihrer neoromantischen Stilistik und Symbol für Melancholie, so wurde sie in Celans 24
25 26
Buck Theo. Lyrik nach Auschwitz: Zu Paul Celans „Todesfuge“. In: Datum und Zitat bei Paul Celan. Akten des Internationalen Paul Celan-Colloquiums Haifa 1986. Herausgegeben von Chaim Shoham und Bernd Witte. Bern; Frankfurt a. M.; New York; Paris: Peter Lang, 1987, S. 29. Rose Scherzer-Ausländer. Der Regenbogen. Gedichte. Cernăuţi: Literaria 1939, S. 9. Israel Chalfen. Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend, S. 133.
184 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ Gedicht zur „Chiffre für den Holocaust, für die Erfahrung des extremsten Wider-Sinns, der in gewohnter Weise nicht formulierbar ist“.27 Die intertextuelle Struktur der „Todesfuge“ kann man somit auch als Polemik des Autors mit der poetischen Tradition betrachten, als Versuch des Dichters, eine neue Sprache für das Unaussprechliche zu finden. Von Celans Suche nach seiner jüdischen Identität im Kontext der biblischen Assoziationen zeugt auch das abschließende Gedicht aus „Mohn und Gedächtnis“ unter dem Titel „Zähle die Mandeln“, in dem die Mandel als ausdruckvolles poetisches Sinnbild der jüdischen Identität hervortritt: Zähle die Mandeln, zähle, was bitter war und dich wachhielt, zähl mich dazu: Ich suchte dein Aug, als du’s aufschlugst und niemand dich ansah, ich spann jenen heimlichen Faden, an dem der Tau, den du dachtest, hinunterglitt zu den Krügen, die ein Spruch, der zu niemandes Herz fand, behütet. Dort erst tratest du ganz in den Namen, der dein ist, schrittest du sicheren Fußes zu dir, schwangen die Hämmer frei im Glockenstuhl deines Schweigens, stieß das Erlauschte zu dir, legte das Tote den Arm auch um dich, und ihr ginget selbdritt durch den Abend. Mache mich bitter. Zähle mich zu den Mandeln.28
Im Alten Testament ist die Mandel eng mit dem Leben und religiösen jüdischen Riten verbunden. Die Mandel blüht sehr früh auf, noch bevor ihre Blätter aufkommen, daher gilt ihre erste Blüte als Frühlingsbote, als „Erwecker“ der Natur und verkörpert die Wachsamkeit. Im hebräischen Text werden shaked (Mandel) und shoked (ich will wachen) gleich geschrieben ( )שּךקund unterscheiden 27 28
Jean Firges. Den Acheron durchquert ich. Einführung in die Lyrik Paul Celans. Vier Motivkreise der Lyrik Paul Celans: Die Reise, der Tod, der Traum, die Melancholie. Tübingen: Stauffenburg Verlag 1998, S. 93. Paul Celan. Die Gedichte, S. 59.
„Zähle mich zu den Mandeln …“ 185 sich nur bei der Vokalisierung (Luther übersetzt es als „erwachender Zweig“, wobei hier beide Bedeutungen vorkommen). Als Erinnerung an die in Ägypten erlittene Bitternis sollen zum Sedermahl Bitterkräuter auf dem Tisch liegen. Das an die Mutter gerichtete Gedicht enthält somit eine dreifache Bitte: die Mandeln (das Symbol für jüdische Identität) zu zählen, danach zu bestimmen, was im jüdischen Sein bitter war (und trotz ihrer Bitterkeit die Juden geistig und moralisch hielt), und schließlich den Wunsch, zu den Mandeln (d.h. zu der jüdischen Gemeinschaft) gezählt zu werden. Dieser dreistufige Akt beschreibt in einem weiten Bogen den Prozess der schmerzhaften Bewusstwerdung des lyrischen Ich und das Wiedererlangen seiner jüdischen Identität. Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre vertieft sich Celan in das Werk jüdischer Religionsphilosophen. Er entdeckt für sich die chassidischen Legenden Martin Bubers wieder, die er teilweise bereits aus Czernowitz kennt, liest Bücher wie Franz Rosenzweigs „Der Stern der Erlösung“ oder Margarete Susmans „Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes“ und begeistert sich für Gershom Scholems Arbeiten zur jüdischen Mystik und Kabbala. In diesen theologischen Werken sucht er die Erklärung für die größte Katastrophe der Juden, die rational kaum begründet werden kann. Celan – meint Jean Firges – findet zur jüdischen Theologie über das traumatische Erlebnis des Holocaust. In ihm sieht er das Thema für seine Dichtung. […] Die Frage, wie konnte es zu Auschwitz kommen, bringt ihn unweigerlich zu der Frage: Was ist das Judentum, wer sind die Juden, dass ihnen so etwas wie der Holocaust widerfahren konnte? All die Fragen münden unweigerlich immer in eine Frage nach jüdischem Gott. Ähnlich dem Dulder Hiob im Alten Testament rechtet der Dichter mit Jahwe und geht der Frage nach, welche Verbindung es zwischen der jüdischen Gottesvorstellung und der in der Geschichte immer wieder erfolgten Vernichtung des ‚auserwählten‘ Volkes gibt.29
Wie ein schlichtes, unpathetisches Requiem für alle Opfer der Shoa klingt das Gedicht „Psalm“ aus dem Band „Die Niemandsrose“, in dem „Niemand“ als Gott der negativen Theologie und der jüdischen Mystik erscheint, der sich von seinem Volk („ein Nichts“)
29
Jean Firges. Vom Osten gestreut, einzubringen im Westen. Jüdische Mystik in der Dichtung Paul Celans. Annweiler am Trifels: Sonnenberg 1999, S. 11-12.
186 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ entfernt hat und keine Hoffnung auf eine Wiedervereinigung mit ihm mehr zulässt: PSALM Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm, niemand bespricht unsern Staub. Niemand. Gelobt seist du, Niemand. Dir zulieb wollen wir blühen. Dir entgegen. Ein Nichts waren wir sind wir, werden wir bleiben, blühend: die Nichts-, die Niemandsrose. Mit dem Griffel seelenhell, dem Staubfaden himmelswüst, der Krone rot vom Purpurwort, das wir sangen über, o über dem Dorn.30
Seinen Gedichtband „Die Niemandsrose“ (1963) widmete Celan dem russischen Dichter Ossip Mandelstamm, einem, wie er selbst, assimilierten Juden, und einem der Gedichte dieses Bandes stellte er als Motto eine Zeile von Marina Zwetajeva voran: „Все поэты жиды“ („Alle Dichter sind Juden“), während er seine nationale und poetische Absonderung von der Welt selbstzufriedener Spießbürger und seine Solidarität mit Erniedrigten und Getriebenen hervorhob. 1969, ein halbes Jahr vor seinem Freitod, besuchte Celan Israel, und seine kurze Ansprache vor dem Hebräischen Schriftstellerverband in Tel Aviv begann er mit den Worten: „Ich bin zu Ihnen nach Israel gekommen, weil ich das gebraucht habe. […] Ich glaube einen Begriff zu haben von dem, was jüdische Einsamkeit sein kann“31. Und als 30 31
Paul Celan. Die Gedichte, S. 136-137. Paul Celan. Der Meridian und andere Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1990, S. 63.
„Zähle mich zu den Mandeln …“ 187 im Adenauer-Deutschland sich wieder Neonazis zu aktivieren begannen, litt Celan darunter maßlos, obschon er in Paris lebte. Er, ein passionierter Zeitungsleser, konnte die deutsche Presse kaum zur Hand nehmen – die beinahe einzige Informationsquelle, die ihn mit dem Volk verband, in dessen Sprache er schrieb. Die Unfähigkeit der Deutschen zu trauern bereitete ihm eine fast physische Qual, Unverständnis seiner Gedichte und Angriffe mancher Literaturkritiker brachten ihn aus der Fassung, insbesondere wenn es um die Versuche ging, den Holocaust zu verharmlosen oder zu bestreiten. Da spürte er Gefahr in der Luft mit der Haut. Am 20. Februar 1960 berichtete er Nelly Sachs nach Stockholm: „Täglich kommt mir die Gemeinheit ins Haus, täglich, glauben Sie’s mir. Was steht uns Juden noch bevor?“32 Jede neonazistische Ausschreitung empfing er, als ob sie gegen ihn persönlich gerichtet war. Indem er von Zeit zu Zeit Deutschland besuchte, denn dort befanden sich seine Verlage, dort las er manchmal seine Gedichte öffentlich vor, so wurde er – sonst offen, freundlich, entgegenkommend – „zwischen Metz und Saarbrücken“ wie umgewandelt, er knöpfte sich alle Knöpfe zu, spannte sich auf, als ob er jeden Moment einen tückischen Schlag erwartete. In seinem Buch „Orte Paul Celans“ erzählt der deutsche Publizist Helmut Böttiger von einem Vorfall, dessen Zeuge der damalige Lektor des Fischer-Verlags Klaus Wagenbach war: In Frankfurt am Main angekommen, wollte Celan einen Blumenstrauß kaufen. Sobald beide aber ein Blumengeschäft betraten, hörten sie, wie eine Verkäuferin zu der anderen sagte: „Ei guck mal, jetzt sieht man auch schon Juden“33. Man kann sich leicht vorstellen, wie solch eine „Begrüßung“ auf Celan wirkte. Er verdüsterte sofort, für ihn waren die Verhältnisse in der Bundesrepublik der 1950er Jahre „einfach nicht zu ertragen“34. Celan-Forscher sprechen von einer „sequentiellen Traumatisierung“, die eine Reihe von nacheinander folgenden Erschütterungen aufweist. Der latente Antisemitismus in rumänischen Schulen, die Gettoisierung der Familie durch die rumänischen 32 33 34
Paul Celan/Nelly Sachs. Briefwechsel. Herausgegeben von Barbara Wiedemann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1993, S. 29. Helmut Böttiger. Orte Paul Celans. Wien: Paul Zsolnay Verlag 1996, S. 13. Helmut Böttiger. Orte Paul Celans, S. 14.
188 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ Komplizen der Nazis, der Zwang, den gelben Stern zu tragen, Razzien und nachfolgende Deportationen nach Transnistrien, die Ermordung der Eltern, das faschistische Arbeitslager im rumänischen Tabareşti, wo er fast zwei Jahre „schaufeln“ musste, die halbhungrige Existenz des Überlebenden in den Nachkriegsmetropolen Bukarest, Wien und Paris – das sind nur einzelne Stationen dieser Traumatisierung. Später, als er sein Dasein in der französischen Hauptstadt etwas stabilisieren konnte, gesellten sich noch Angriffe der Antisemiten neuerer Prägung dazu, vor denen er eine panische Angst hatte – bis zum Verfolgungswahn. In diesem Sinne muss man auch die berüchtigte Affäre von Claire Goll verstehen, die Celan des Plagiats an Werken ihres Mannes, des deutsch-französischen Dichters Yvan Goll, bezichtigte35. Obwohl die Beschuldigungen Claire Golls sich schließlich als reine Spinnerei mit antisemitischem Beigeschmack erwiesen und nicht standhalten konnten, verkündete die energische Witwe ihre krankhaften Phantasien urbi et orbi, während sie Zeitungs- und Rundfunkredaktionen mit fingierten oder auch schlicht anonymen Briefen bombardierte. Zweifellos war es eine furchtbare psychische Erschütterung für den mimosenhaft empfindlichen Celan, von der er sich nicht mehr erholen konnte. „Der zunehmend traumatisierte Mann, der keinen Ort außer der so problematischen deutschen Sprache seine Heimat mehr nennen kann, fühlt sich nun in seinem letzten Refugium noch attackiert. Auch da wird ihm sein Platz bestritten“36 – bemerkt dazu der Psychoanalytiker Rolf Vogt. Doch solche Unterstellungen – bei all ihren verheerenden Folgen für Celan – sind sozusagen unpermanente Faktoren, in zeitlicher Hinsicht haben sie ihren Anfang und ihr Ende gehabt. Furchtbarer war Celans Einsamkeit, die sein Herz langsam, Tag für Tag und Jahr für Jahr, verzehrte. Die Goll-Affäre zerstörte langjährige Freundschaften des Dichters, da die von Celan erhoffte 35 36
Ausführlicher dazu siehe in: Paul Celan – Die Goll-Affäre. Dokumente zu einer ‚Infamie‘. Zusammengestellt, herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000. Rolf Vogt. Der Tod von Paul Celan. In: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen. Hrsg. von Werner Bohleber. 54. Jg., Heft 9/10 (September/Oktober) 2000, S. 1047 [Sonderheft „Trauma, Gewalt und kollektives Gedächtnis“].
„Zähle mich zu den Mandeln …“ 189 Solidarität in den meisten Fällen ausblieb37. Immer öfter versinkt er in tiefe Depressionen, aus denen er selbständig nicht mehr herauskommen kann oder will – sie waren zum Teil seiner dichterischen Existenz geworden. „Ein derartig exponierter Mensch“, führt Rolf Vogt weiter aus, „braucht eine haltgebende und anerkennende Umgebung. Diese hat er in Deutschland nicht aus Abwehrgründen, in Frankreich nicht aus sprachlichen Gründen. Er ist und wird immer mehr ein heimatloser Fremdling.“38 Mit der Zeit nehmen seine Melancholie und Nostalgie nach dem verlassenen Herkunftsland immer stärker zu: Schwarz, wie die Erinnerungswunde, wühlen die Augen nach dir in dem von Herzzähnen hellgebissenen Kronland, das unser Bett bleibt: durch diesen Schacht musst du kommen – du kommst. […]39
Unter dem „von Herzzähnen hell-gebissenen Kronland“ versteht man hier vor allem das ehemalige k. k. Herzogtum Bukowina, noch mehr aber ein verinnerlichtes geistiges Land, das nur in der Erinnerung wach bleibt. Das Schwarz – so Joseph P. Strelka – bezieht sich nicht nur auf die Farbe der wühlenden Augen, sondern auch auf ihren Blick in die Erinnerungswunde, die selber schwarz ist und als tiefstes von Celan erfahrenes Leid, als denkbar schwärzeste Nacht der Seele, ihre Nahrung von der Erinnerung der Mutter, der Eltern, der jüdischen Stammesgenossen bezieht.40
Dieses imaginierte Kronland als erinnerte Heimat, in der das lyrische Ich noch immer zu Hause bleibt, gleicht einem tiefen Schacht, in den man endlos hinunterfällt und keinen Boden mehr findet.
37 38 39 40
Paul Celan – Die Goll-Affäre, S. 839. Rolf Vogt. Der Tod von Paul Celan, S. 1048. Paul Celan. Die Gedichte, S. 191. Joseph P. Strelka. Schwarz als Vorstufe der Erleuchtung bei Paul Celan. In: Joseph P. Strelka. Zwischen Wirklichkeit und Traum. Das Wesen des Österreichischen in der Literatur. Tübingen; Basel: Francke 1994, S. 331.
190 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ Dies war auch der Ausdruck existentieller Angst und Verlorenheit, die sich in seinem Herzen seit langem ein Nest bauten. Als deutschsprachiger Dichter verblieb Celan in Paris in spürbarer Isolation, er konnte dort kaum mit jemandem in seiner Muttersprache reden, abgesehen von seltenen Besuchen aus Deutschland oder Österreich. Seine sprachliche Isolierung hielt Celan aber für besonders günstig, um sich vor Perversionen der Sprache durch die Nazis und vor dem Eindringen sprachlicher Verzerrungen und Verstümmelungen, wie es im lebendigen Sprachverkehr nicht selten vorkommt, zu wehren. So erinnert sich der ungarische Schriftsteller aus Rumänien Janos Szasz, der Celan einige Male in Paris besuchte, dass er immer wieder betonte, „wie sehr seine sprachliche Isolierung der Ausarbeitung der dichterischen Sprache diene“41. Ist es denn verwunderlich, dass nach all diesen Zeichen psychologischer Unbehaglichkeit bei ihm schwere Depressionen entstehen, die seine Verschlossenheit und Weltfremdheit noch vertiefen? Die Ärzte werden ihm ElektroschockTherapien verschreiben. Zwischen 1962 und Anfang 1969 verbrachte Celan mehrere Monate in psychiatrischen Anstalten. Sein seelischer Zustand trübte sich in diesen Jahren immer mehr ein. Im Februar 1970 schreibt er an seine Freundin Ilana Shmueli nach Jerusalem: „Die Zerstörungen reichen bis in den Kern meiner Existenz hinein“42. In den letzten Lebensjahren befasste sich der Dichter immer intensiver, immer tiefer mit der jüdischen Problematik. „Celans Auseinandersetzung mit dem Judentum gestaltete sich als lebenslanger Prozess einer Identitätssuche, in einem sich steigernden Bewusstsein über die Kontinuität, in der er stand“43, betont Lydia Koelle. Der wichtigste Impuls auf dem Wege seiner weiteren Annäherung an das Judentum wurden für ihn Gershom Scholems 41
42 43
Janosz Szasz. „Es ist nicht so einfach …“. Erinnerungen an Paul Celan. Seiten aus einem amerikanischen Tagebuch. In: Werner Hamacher, Winfried Menninghaus. Paul Celan. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 1988, S. 332. Brief vom 6. März 1970, in: Paul Celan/Ilana Shmueli. Briefwechsel. Herausgegeben von Ilana Shmueli und Thomas Sparr. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2004, S. 113. Lydia Koelle. Paul Celans pneumatisches Judentum, S. 65.
„Zähle mich zu den Mandeln …“ 191 Bücher über die jüdische Mystik. Begriffe und Vorstellungen aus der kabbalistischen Mythenwelt, die er in Scholems Büchern („Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen“, „Über einige Grundbegriffe des Judentums“, „Von der mystischen Gestalt der Gottheit“, „Zur Kabbala und ihrer Symbolik“) vorfand, entwickelte er in seinen Gedichten in metaphorischer und symbolischer Weise weiter und versuchte dabei die kaum mehr artikulierbare Tragödie der Schoah durch seine poetischen Erleuchtungen zu erlösen. Seit seinem Gedichtband „Sprachgitter“ sind komplexe Bilder aus der mythischen Sphäre in seinen Gedichten immer präsent („Tenebrae“, „Psalm“, „Mandorla“, „Benedicta“, „In der Luft“, „Aus Engelsmaterie“, „Die freigeblasene Leuchtsaat“, „Nah, im Aortenbogen“, „Du sei wie du“ und besonders Gedichte des sogenannten „Jerusalemer Zyklus“, der nach seinem Israel-Besuch 1969 entstand). Begriffe wie Zimzum, En-Sof, Merkaba, Sefiroth, Schechina, Tikkun, Zelem, Zinnoroth, Ziw und viele andere, die Celan bei der Lektüre von Scholems Büchern durch Anstreichungen hervorhebt, kommen dann in seinen Gedichten als Assoziationen, Anspielungen oder explizite Erwähnungen vor; sie bilden nicht nur das thematische Gerüst dieser Gedichte, sondern bestimmen zugleich auch ihren Ideengehalt in den geistigen Koordinaten der jüdischen Welt. „Stellt man Celans Unterstreichungen kabbalistischer Begriffe zusammen, so entsteht beinahe ein Lexikon hebräischer Begriffe zur Kabbala“44 – bemerkt dazu Elke Günzel. Celans Suche nach seiner jüdischen Identität begrenzt sich aber nicht nur auf die Thematisierung mystischer Konstrukte, durch sie wollte er das ganze Ausmaß des jüdischen Universums erschließen. Bei seinem Israel-Besuch 1969 hatte er Kontakte zu verschiedenen Formen der jüdischen Existenz erleben können, die ihn tief beeindruckten. In einem Interview für den israelischen Rundfunk „Kol Israel“ („Stimme Israels“) äußerte er sich zu seinem Judentum als zu einem ererbten und im Laufe des Lebens immer wieder verdichteten Bewusstsein seines jüdischen Wesens.
44
Elke Günzel. Das wandernde Zitat. Paul Celan im jüdischen Kontext. Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, S. 90.
192 „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe...“ Ich glaube Ihnen sagen zu dürfen, dass ich mit einiger Selbstverständlichkeit Jude bin. Selbstverständlich … hat das Jüdische einen thematischen Aspekt, aber ich glaube, dass das Thematische allein nicht ausreicht, um das Jüdische zu definieren. Jüdisches ist sozusagen auch eine pneumatische Angelegenheit.45
Dieses „pneumatische“ Judentum (das griechische Wort „pneuma“ hat einen breiten semantischen Fächer – es bedeutet Hauch, Atem, Wind, aber auch Seele, Lebenskraft, Geist) umfasst für ihn das breiteste Spektrum dessen, was die jüdische Substanz als solche ausmacht – von der ethnischen Angehörigkeit und dem bewussten Bekenntnis zu historischen, ethischen und kulturellen Werten des Judentums bis zum dichterischen Schaffen in deutscher Sprache unter dem Zeichen des Gedächtnisses an die Toten. „Epochale Trauerarbeit eines europäischen Juden im Medium des deutschen Gedichts“46, nannte Peter Horst Neumann dieses poetische Werk. Damit hat Paul Celan seine einmalige Mission als Dichter und Jude exemplarisch vollbracht – nach so vielen erlittenen Wunden.
45 46
Lydia Koelle. Paul Celans pneumatisches Judentum, S. 66-67. Peter Horst Neumann. Fünf Bände – zu spät und zu früh. Eine schöne Edition, mit Mängeln: die erste Gesamtausgabe der Werke des Dichters Paul Celan. In: Die Zeit, 2. März 1984, S. 49.
„Ich möchte den Himmel mit Händen fassen …“ Selma Meerbaum-Eisinger Es gibt einen paradoxen Aphorismus, nach dem ein Dichter keine eigentliche Biographie, sondern nur ein Schicksal hat. Der tiefere Sinn dieser Sentenz besteht wohl darin, dass die äußeren Begebenheiten des Lebens eines Dichters für sein poetisches Schaffen nicht so wesentlich sind wie die innere, geistige Entwicklung, die seine einmalige schöpferische Persönlichkeit formt. Manchmal scheint die Unwiderlegbarkeit dieses Spruches etwas kategorisch zu sein, insbesondere wenn es um solch eine früh verstorbene Dichterin geht wie Selma Meerbaum-Eisinger. Denn was für eine Biographie konnte dieses jüdische Mädchen haben, die 1942 in einem nazistischen Arbeitslager in Transnistrien umkam, bevor sie die Schwelle ihres Alters von 18 Jahren kaum überschritten hatte? Ihr war aber in der Tat ein außergewöhnliches Schicksal beschieden, das heute vor allem durch ihren poetischen Nachlass beflügelt ist, über dem unaufhörlich ein dunkler Vogel ihres tragischen Todes schwebt. Selma Meerbaum-Eisinger war eine Cousine zweiten Grades von Paul Celan (beide hatten einen gemeinsamen Urgroßvater mütterlicherseits). Sie wurde am 5. Februar 19241 in Czernowitz geboren und wuchs in bescheidenen Verhältnissen in einer deutschassimilierten jüdischen Familie auf, deren Wohnung, weit am Stadtrand gelegen, aus einem einzigen Zimmer und einer kleinen Küche bestand, ohne elektrisches Licht, ohne Wasserleitung und Kanalisation. Ihr Vater Max Meerbaum, der aus einem nahe liegenden Bukowiner Dorf stammte und während des Ersten Weltkrieges für Kaiser Franz-Joseph im österreichischen Heer gegen die Russen kämpfte, lebte eine Zeitlang in Berlin, wo sein 1
Das in den meisten biographischen Quellen angegebene Geburtsdatum 15. August ist falsch. Das Registrierungsbuch der Geburten der jüdischen Gemeinde, das sich im Staatlichen Archiv des Gebiets Czernowitz befindet, gibt als Geburtsdatum von Selma, Tochter von Chaim Meir Meerbaum und Friederike Schrager, den 5. Februar 1924 an. (F. – 1245, Inventarliste 15, Mappe 29, Bl. 330).
193
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Onkel ein Geschäft besaß, kehrte aber bald in die Bukowina zurück und ließ sich in Czernowitz nieder, wo er später ein kleines Schuh- und Kurzwarengeschäft führte. Nach seinem frühen Tod an Tuberkulose im Jahre 1926 heiratete Selmas Mutter Frieda einen Mann namens Leo Eisinger, der das Mädchen adoptierte, was den Doppelnamen der Dichterin erklärt. Selma besuchte das jüdische Gymnasium ihrer Geburtsstadt, war sehr gesellig, las viel, begeisterte sich für Tanz und Sport, und machte gern Ausflüge in die Umgebung. Immer unterwegs, ausgelassen, strahlte sie geradezu unerschöpfliche Lebensfreude aus. Schlank, mittelgroß (1,60 m), mit großen braunen Augen und einem üppigen brünetten Haar – jeden Morgen, als die Mutter es kämmte, fanden kleine Dramen statt, da kein Kamm diese wilde Vegetation zähmen konnte. Nach der Okkupation von Czernowitz durch deutsche SS-Truppen im Sommer 1941 hatte man Selma gemeinsam mit ihren Eltern in das Czernowitzer Ghetto gesperrt und später in eines der sogenannten „Arbeitslager“ nach Transnistrien deportiert, aus dem niemand von ihnen zurückkehren sollte. Selma starb dort am 16. Dezember 1942 in einem ukrainischen Ort namens Mychajliwka an Flecktyphus. Die Zeugen erinnern sich, wie sie vor dem Tod in ihrer Baracke mit Hochfieber lag und leise sang. „Die Stimme wurde immer schmaler, schwächer. Dann wurde es still.“2 Seinerzeit schrieb Hannah Arendt von den Arbeitslagern Transnistriens, die von den deutschen Nazis und ihren rumänischen Handlangern organisiert wurden, als einer der schlimmsten Formen des Holocausts. Denn obwohl es dort keine Gaskammern und Krematorien gab – dieses Fließband der industriellen Massenvernichtung –, hatten Hunger, Kälte, Krankheiten und Erschöpfung das Ihre getan, so dass der Wert des menschlichen Lebens auch dort bis zu seinem niedrigsten Punkt sank. Was wog in diesem Todeswirbel das Leben eines Mädchens, wenn dort jeden Tag Hunderte namenlos starben? Vielleicht wäre auch der Name von Selma Meerbaum-Eisinger lediglich in bürokratischen Listen 2
Siehe Jürgen Serke. Geschichte einer Entdeckung. In: Selma Meerbaum-Eisinger. Ich bin in Sehnsucht eingehüllt. Gedichte eines jüdischen Mädchens an seinen Freund. Herausgegeben und eingeleitet von Jürgen Serke. Hamburg: Hoffmann und Campe 1980, S. 31.
„Ich möchte den Himmel mit Händen fassen …“ 195 der Deportierten geblieben, hätte sich nach ihrem Tode nicht ein Bündel handschriftlicher Gedichte in deutscher Sprache gefunden – ihr gesamter poetischer Nachlass –, der ihr das poetische Überleben sicherte. In der Regel schließt der Begriff eines literarischen Nachlasses alle publizierten und unpublizierten Texte eines Autors in sich ein – seine Werkausgaben, Manuskripte, Briefe, Tagebücher, Dokumente usw. Doch im Falle Selmas besteht er nur aus einer überschaubaren Sammlung mit zarter Mädchenschrift geschriebener Gedichte, zu einem Album gebunden, auf dessen Titelblatt ein Blumenstrauß dargestellt ist. Am Tage der Deportation konnte sie diesen Schatz noch einem Bekannten in die Hand drücken, mit der Bitte, es ihrem Freund, dem geliebten Lejser Fichman zu übergeben. Da Lejser jedoch das Ziel hatte, unbedingt nach Palästina auszuwandern, vertraute er Selmas Gedichte ihrer Freundin Else Schächter an, im klaren Bewusstsein des großen Risikos, dieses Gedichtmanuskript auf der schwierigen Reise zu verlieren. Als sich eine andere Schulfreundin Selmas, Renée Abramovici, nach dem Krieg zur Emigration nach Israel entschloss, nahm sie Selmas Gedichtalbum mit und bewahrte es viele Jahre im Tresor einer israelischen Bank auf, bevor ihr gemeinsamer ehemaliger Klassenleiter, Gymnasialprofessor Hersch Segal, Interesse daran bekundete und diese Gedichte 1976 im Eigenverlag (mit einer Auflage von 400 Exemplaren) unter dem Titel „Blütenlese“ veröffentlichte. Kurz darauf geriet diese hektographische Ausgabe in die Hände der deutschen Dichterin Hilde Domin, die den Publizisten und Literaturwissenschaftler Jürgen Serke darauf aufmerksam machte, der, von der Begabung der jungen Dichterin tief beeindruckt, 1980 ihre Gedichte unter dem Titel „Ich bin in Sehnsucht eingehüllt: Gedichte eines jüdischen Mädchens an seinen Freund“ im Hamburger Verlag Hoffmann und Campe mit seinem Essay „Geschichte einer Entdeckung“ herausgab. In kurzer Zeit wurde das Buch zu einer literarischen Sensation, es löste eine Welle von Leserbriefen aus, in denen oft Parallelen zum berühmten Tagebuch des holländischen Mädchens Anne Frank, die 16-jährig im KZ Bergen-Belsen ums Leben kam, gezogen wurden. Seitdem gilt Selma als eine zweite Anne Frank. „Wer in Zukunft von Anne
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Frank spricht, wird auch von Selma Meerbaum-Eisinger sprechen müssen. Wie von zwei Schwestern, von denen die eine dokumentierte, was die andere dichtete“3 – schreibt Jürgen Serke. Obwohl Selmas Gedichte im Alter von 15 bis 17 Jahren geschrieben wurden, bezeugen sie eine ausgereifte literarische Begabung, die mehrere deutsche Dichter in ihren Beurteilungen bestätigen. So sprach Stephan Hermlin von erschütternden Gedichten des Czernowitzer Mädchens, Karl Krolow meinte, sie seien von einem Menschen geschrieben, der sich in der Literatur bereits gut orientierte, und Ulla Hahn hält ihre Verse für einen unentbehrlichen Teil der deutschen Literatur. Trotz des recht engen thematischen Spektrums (Liebes-, Landschaftslyrik, Schlaf- und Wiegenlieder) und manchmal auch einer gewissen metrischen Unsicherheit überzeugt diese Lyrik durch die Aufrichtigkeit und Intensität der Gefühle angesichts einer existenziellen Bedrohung, und die Tragik des Schicksals der jungen Dichterin verleiht diesen Texten eine besondere Spannung und Bedeutung. Ob Selma sich selbst als Dichterin verstand? Es gibt von ihr keine Aussagen oder schriftlichen Zeugnisse dazu. Heute steht nur fest, dass sie ein verliebtes Mädchen war, das seine Gefühle in Bilder voller Melancholie, seelischer Unruhe und sehnsüchtiger Träume übersetzte. Lejser Fichman, dem sie ihre Gedichte widmete, lernte sie in der zionistischen Jugendorganisation „Haschomer Hazair“ in Czernowitz kennen. Nach einigen Jahren Zwangsarbeit in einem rumänischen Arbeitsbataillon kam auch er bei dem Versuch, Palästina zu erreichen, tragisch ums Leben, als ein kleines türkisches Schiff mit jüdischen Flüchtlingen an Bord im Sommer 1944 von einem sowjetischen U-Boot torpediert wurde. Offensichtlich kann man im Falle Selmas von einem dichterischen „Schaffen“ im üblichen Sinne des Wortes, das als dauerhafter Prozess verstanden wird, bei dem es dem Autor um die Veröffentlichung oder mindestens um die Verbreitung seiner Schöpfungen in einem breiteren Kreise geht, gar nicht sprechen – Selmas Gedichte waren vor allem lyrische Reflexionen ihrer ersten, herzverzehrenden Liebe und hatten für sie einen zu intimen Charakter, um die Frage ihrer Publikation zu erwägen. Aber die 3
Selma Meerbaum-Eisinger. Ich bin in Sehnsucht eingehüllt, S. 8.
„Ich möchte den Himmel mit Händen fassen …“ 197 literarische Begabung des jungen Mädchens erwies sich dermaßen stark, dass sie diese intimen Bekenntnisse auf das Niveau hoher Poesie erhob. Seine Begabung – meint Hilde Domin – steht sicher auf einer Stufe mit dem jungen Hofmannsthal. Trotz des „Sonderschicksals“ ist dies ein Werk, das deutlich ins Gut der deutschen Poesie gehört, nicht nur der spezifisch jüdischen. Es ist eine Lyrik, die man weinend vor Aufregung liest: so rein, so schön, so hell und so bedroht.4
Man spürt in diesen Versen manchmal Einflüsse von Autoren, die Selma intensiv gelesen hat (Heine, Verlaine, Rilke, Trakl, Klabund, Kafka, Brecht, Stefan Zweig sowie der indische Schriftsteller Rabindranath Tagore). Sie sind aber fern von einem flügellosen Epigonentum, in ihnen pulsiert solch eine entfesselte Bildlichkeit und verführerische Melodik, dass manchmal sogar einzelne dichterische Klischees spätromantischer Herkunft, banale Reime oder hinkende Metren als ästhetisch berechtigte und emotional überzeugende Gesten empfunden werden. Und wenn man darauf achtet, dass ein großer Teil dieser Verse von einer ganz jungen Person verfasst wurde, noch dazu unter extremen Bedingungen – im Ghetto, unter der ständigen Gefahr der Deportation nach Transnistrien, der sie nicht entrinnen konnte –, so scheint der tragische Nimbus dieser Lyrik noch trauriger zu sein. Nur 57 Gedichte umfasst der lyrische Nachlass von Selma Meerbaum-Eisinger, darunter 5 Übersetzungen – aus dem Jiddischen (Itzig Manger, Halpern Lejwik), dem Französischen (Paul Verlaine) und dem Rumänischen (Discipol Mihnea). In den meisten Gedichten beeindruckt die Betrachtungsgabe der jungen Autorin, ihr immer frischer, nicht verdüsterter Blick auf die Welt. Fast ein Drittel der Gedichte ist in Rhythmus und Melodik, in der Typologie der Bilder, ja selbst in ihren Titeln mit der Liedergattung verbunden: „Lied“, „Sehnsuchtslied“, „Lied der Freude“, „Herbstlied“, „Regenlied“, „Müdes Lied“ u.a. Dazu kommt noch eine Reihe von Schlaf- und Wiegenliedern, in denen der angeborene Fraueninstinkt des jungen Mädchens, das unbewusste, 4
Zit. nach Jürgen Serke. Geschichte einer Entdeckung. In: Selma MeerbaumEisinger. Ich bin in Sehnsucht eingehüllt. S. 16.
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tief verborgene Erwarten der Mütterlichkeit seinen Ausdruck findet – wie z.B. im Gedicht „Schlaflied für dich“, in dem dieser heiße Wunsch des Mutterglücks sich mit dem leidenschaftlichen Liebesgefühl verbindet: SCHLAFLIED FÜR DICH Komm zu mir, dann wieg’ ich dich, wiege dich zur Ruh’. Komm zu mir und weine nicht, mach die Augen zu. Ich flechte dir aus meinem Haar eine Wiege, sieh! Schläfst drin aller Schmerzen bar, träumst drin ohne Müh’. Meine Augen sollen dir blinkend Spielzeug sein. Meine Lippen schenk’ ich dir – trink dich in sie ein.5
Die volkstümliche Liedertradition bedingte auch entsprechende künstlerische Mittel und die Gedichtform. Im Grunde sind es strophische Gebilde, für die viele Wiederholungen und Refrains, struktureller und bildlicher Parallelismus sowie eine erhebliche Zahl von Vergleichen eigen sind, was an typische Züge von Heines Lyrik erinnert. Andererseits zeigen diese Gedichte mehrere synästhetische Erscheinungen – sie haben eine reiche Farbenskala, die mit Klangeffekten und Geruchsempfindungen eng verbunden ist: Diese Bilder schillern, sie sind aromatisch und duftig, und ihre musikalische Tonart zeichnet sich durch spürbare euphonische Elemente aus, was sie mit lyrischen Meisterwerken des österreichischen Dichters Georg Trakl verwandt macht. Zugleich begegnen wir hier Bildstrukturen, die durch eine aktive Aneignung des Werkes eines anderen österreichischen Dichters – Rainer Maria Rilke – gekennzeichnet sind, insbesondere jener seiner Gedichte, in denen er bestrebt ist, das tiefe, metaphysische Wesen einzelner Gegenstände und Erscheinungen aufzudecken (die sogenannten 5
Selma Meerbaum-Eisinger. Ich bin in Sehnsucht eingehüllt, S. 105.
„Ich möchte den Himmel mit Händen fassen …“ 199 „Ding-Gedichte“): „Kastanien“, „Der Kelch“, „Welkes Blatt“, „Hände“ u.a. Hier haben wir es mit dem Versuch einer sehr genauen, detaillierten Beschreibung des darzustellenden Objekts zu tun, infolgedessen das unerkennbare „Ding an sich“ zu einem empirisch wahrnehmbaren „Ding für uns“ wird. DER KELCH So steht er da: so blitzend und so schlank wie eine nackte Jungfrau, die dem Meer entstiegen, und seine Lichter tanzen, drehen, wiegen so hell wie tausend Schlittenglöckklingklang. Das Glas ist kühl und glatt wie Frauenhände, die, über Tasten schwebend, spielen die Legende vom Prinzen, welcher mit dem Drachen rang.6
Zwar wirken Rilkes Gedichte nicht selten etwas befremdend, sind zuweilen dunkel, gleichsam in sich geschlossen. Selmas Bilder hingegen sind sehr transparent, mädchenhaft offen. Ihre Aufrichtigkeit, Unmittelbarkeit, der vertrauliche Ton, die große emotionale Spannung kompensieren meist ihre etwas naive Weltsicht und zeugen von ihrer lyrischen Begabung und ihrer Reife als Dichterin, trotz ihrer Jugend. Seinerzeit akzentuierte Rilke die These von der außerordentlichen Wichtigkeit der Lebenserfahrung des Dichters, da ein echtes Gedicht nicht nur auf einem augenblicklichen Eindruck beruht, sondern auch ein tieferes Eindringen ins jeweilige Darstellungsobjekt verlangt, es muss eine Kristallisation vieler ähnlicher Eindrücke sein. Von diesem Standpunkt aus können Selmas Gedichte nicht Anspruch auf die Universalität bei der Wiedergabe der Wirklichkeit erheben, da für die junge Autorin, angesichts ihres Alters, nur ein enges Segment dieser Wirklichkeit zugänglich war. Doch den Mangel an Lebenserfahrung ersetzt sie durch Intuition und Phantasie, wie z.B. im Gedicht „Ich bin die Nacht“, wo gleichsam die Erfahrung einer erwachsenen Frau präsent ist, die eine siebzehnjährige Schülerin noch nicht haben konnte, aber die Kraft des Liebeserlebnisses und das Gefühl einer existentiellen Bedrohung tragen zu ihrem stürmischen Erwachsenwerden bei, 6
Selma Meerbaum-Eisinger. Ich bin in Sehnsucht eingehüllt, S. 46.
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zeigen eine gewisse archetypische Ur-Weisheit, die imstande ist, uns von der Wahrhaftigkeit des Dargestellten zu überzeugen: ICH BIN DIE NACHT Ich bin die Nacht. Meine Schleier sind viel weicher als der weiße Tod. Ich nehme jedes heiße Weh mit in mein kühles, schwarzes Boot. Mein Geliebter ist der lange Weg. Wir sind vermählt auf immerdar. Ich liebe ihn, und ihn bedeckt mein seidenweiches, schwarzes Haar. Mein Kuß ist süß wie Fliederduft – der Wanderer weiß es genau… Wenn er in meine Arme sinkt, vergißt er jede heiße Frau. Meine Hände sind so schmal und weiß, daß sie ein jedes Fieber kühlen, und jede Stirn, die sie berührt, muß leise lächeln, wider Willen. Ich bin die Nacht. Meine Schleier sind viel weicher als der weiße Tod. Ich nehme jedes heiße Weh mit in mein kühles, schwarzes Boot.7
Der Grundton von Selmas Gedichten ist hauptsächlich melancholisch, manchmal auch recht tragisch – und dies nicht nur angesichts der menschlichen Katastrophe, die nach der nationalsozialistischen Machtergreifung in Deutschland für die europäischen Juden immer spürbarer wurde. Zuweilen sind Melancholie und Trauer auch in ganz intimen Zeilen nicht zu überhören, die sich in Koordinaten rein persönlicher Beziehungen entfalten. Das ist wahrscheinlich mit ihrem Temperament zu erklären, wenn sie manchmal, ungeachtet ihrer im Großen und Ganzen recht optimistischen Weltsicht, durch Reflexionen einer unerfüllten, vielleicht auch einer ungeteilten Liebe leicht in Depressionen verfiel – Lejser Fichman, ein Anhänger zionistischer Ideen, träumte nur von einem neuen, glücklichen 7
Selma Meerbaum-Eisinger. Ich bin in Sehnsucht eingehüllt, S. 76.
„Ich möchte den Himmel mit Händen fassen …“ 201 Leben, das er einmal in Palästina anfangen würde, dagegen wollte Selma das Glück hier und jetzt haben, was die beiden vermutlich zu wiederholten Streitigkeiten führte. In ihrem autobiographischen Buch „Before Memories Fade“ („Bis das Gedächtnis erlischt“) erinnert sich Pearl Fichman, eine Verwandte von Lejser, die später nach Amerika auswanderte: Lejser […] war ein ernster, ruhiger, stiller Junge, sehr anmutig […] Als Selma und Lejser zusammen gingen, merkte man sofort, welch ungleiches Paar es war: er – hoch, tadellos angezogen, alles schien bei ihm unter Kontrolle zu sein; Selma dagegen – ganz in ihre Gedanken vertieft, in sich geschlossen […] Sie begeisterte sich für ihn aufrichtig. Sie schrieb von ihrer allverschlingenden Liebe zu Lejser, der, so scheint es, ihre Begeisterung nicht teilte.8
Trotzdem ließ Selma nie zu, dass die Melancholie gänzlich Oberhand nahm. In ihrer Gedichtsammlung finden wir nicht nur traurige Zeilen – manche Gedichte sind von heiteren Stimmungen, dem Gefühl einer unaufhaltsamen, hemmungslosen Lebensfreude durchtränkt („Gilu“, „Lied der Freude“), und einzelnen Passagen ist sogar der leicht ironische Klang nicht fremd – wie in den Gedichten „Nachmittag“, „Haar“ oder „Bleistiftskizze“. Sie trank das Leben in vollen Zügen, konnte lachen und trauern, ewige Metamorphosen der Natur anbeten, sich für die Schönheit einer Landschaft entzücken und die feine Kontur eines Blattes bewundern. Spielerisch-kokett zeichnet sie ihr verbales Selbstporträt im Gedicht „Bleistiftskizze“, das am 28. September 1941 entstand, mitten im Krieg, als die Stadt bereits von rumänischen Truppen besetzt war, die die jüdische Bevölkerung immer wieder zur Zielscheibe zahlreicher Gräueltaten machten: BLEISTIFTSKIZZE Ein Haarsträhn wie ein feiner Schatten in die Stirn, darüber seidig weich die dunkle Fülle. Der Mund – ein trutz’ges Zeugnis stolzer Kühle, betont durch leichten, schwarzen Flaum. Das helle Braun der Augen mildert kaum. Die Zähne scheinen stark und weiß nach vorne sich zu drängen und ganz so störrisch wild die schwarzen Brauen. 8
Pearl Fichman. Before Memories Fade. North Charleston: BookSurge Publishing 2005, S. 194.
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Doch wenn die Augen in die Ferne schauen, dann will ein Zug von Sehnsucht in den Stolz sich mengen. Darüber wölbt die Stirne sich in leicht gewölbtem Bogen, die feine Nase setzt sie, aufwärtsstrebend, fort. Der schlanke Hals ist in die Harmonie mit einbezogen – ein bißchen Braun, ein bißchen bleich – ein starker Dur-Akkord.9
Davon, wie intensiv sich diese junge Begabung entwickelte, zeugt das umfangreichste Gedicht der Dichterin mit dem Titel „Poem“. Das Datum seiner Entstehung – 7. Juli 1941 – war einer der traurigsten Tage in der Geschichte von Czernowitz. Zwei Tage davor, am 5. Juli, waren SS-Truppen in die Stadt einmarschiert, die mit massenhaften Verhaftungen und Erschießungen der jüdischen Bevölkerung begannen, und bald flammte die von den Nazis angezündete Hauptsynagoge der Stadt, der jüdische „Templ“, auf. Selmas „Poem“ ist nicht nur lebendige Reaktion auf jene schrecklichen Ereignisse, sondern auch eine einfühlsame poetische Verarbeitung des Erlebten. Die dichterische Reife der jungen Autorin kann beinahe verblüffen, ungewollt entsteht die Frage: Wie konnte ein so junges Mädchen solch adäquate künstlerische Mittel für die Wiedergabe dieses grauenhaften Szenariums finden? Die Dichterin zeigt die Schrecken des Krieges durch das Prisma subjektiver Gefühle, indem sie die Zerstörung aller moralischen Werte unter dem Druck des triumphierenden Bösen darstellt. Ihrer äußeren Struktur nach erinnert Selmas „Poem“ an die Architektonik der Siebenten („Leningrader“) Symphonie von Dmitri Schostakowitsch: Zuerst entfaltet sich vor uns ein harmloses Idyll, eine schmerzlich schöne Landschaft – der hohe blaue Himmel, ein leichter Wind, Bäume im Morgengrauen, versilbert vom Mondlicht … Das Leben ist so schön, es hat so viele Versuchungen – und plötzlich greift in diese Harmonie etwas Furchtbares, Unfassbares und Schonungsloses ein. Das Idyll wird zerstört, die Verse gehen in Brüche und zerfallen in kurze Syntagmen, in einzelne Wörter und Silben. Es beginnt der grauenhafte „danse macabre“, der Totentanz – ein wildes Toben des Bösen. Bilder verlieren allmählich ihre inneren logischen Beziehungen, der Rhythmus wird nervös, pulsierend, der Reim gerät ins Stocken, das Tempo nimmt immer zu – bis das 9
Selma Meerbaum-Eisinger. Ich bin in Sehnsucht eingehüllt, S. 96.
„Ich möchte den Himmel mit Händen fassen …“ 203 unvermeidlich Tragische auftaucht: „Über Nacht / bin ich / tot.“ Das lyrische Ich dieses Gedichts symbolisiert das leidgeprüfte jüdische Volk, das den dunklen Mächten der Barbarei ein unermesslich schweres Opfer bringt. Und nach diesem Kulminationspunkt kommt wieder Aufhellung, eine gewisse Katharsis. Wiederum tauchen einzelne Elemente der ursprünglichen Landschaft auf (Baum, Mond), doch sie sind bereits zur Unkenntlichkeit verändert – bloße Splitter und Schatten der ursprünglichen Harmonie. So stirbt zusammen mit dem lyrischen Ich des „Poems“ auch die Natur, das Leben selbst. Der Protest des lyrischen Ich gegen den unvermeidlichen Tod, ein durchaus natürlicher Lebensinstinkt der jungen Kreatur ist hier mit sparsamsten, minimalistischen Mitteln und zugleich mit größter emotioneller Kraft ausgedrückt: Die Bäume sind von weichem Lichte übergossen, im Winde zitternd glitzert jedes Blatt. Der Himmel, seidig-blau und glatt, ist wie ein Tropfen Tau vom Morgenwind vergossen. Die Tannen sind in sanfte Röte eingeschlossen und beugen sich vor seiner Majestät, dem Wind. Hinter den Pappeln blickt der Mond aufs Kind, das ihm den Gruß schon zugelächelt hat. Im Winde sind die Büsche wunderbar: bald sind sie Silber und bald leuchtend grün und bald wie Mondschein auf lichtblondem Haar und dann, als würden sie aufs neue blühn. Ich möchte leben. Schau, das Leben ist so bunt. Es sind so viele schöne Bälle drin. Und viele Lippen warten, lachen, glühn und tuen ihre Freude kund. Sieh nur die Straße, wie sie steigt: so breit und hell, als warte sie auf mich. Und ferne, irgendwo, da schluchzt und geigt die Sehnsucht, die sich zieht durch mich und dich. Der Wind rauscht rufend durch den Wald, er sagt mir, daß das Leben singt. Die Luft ist leise, zart und kalt, die ferne Pappel winkt und winkt. Ich möchte leben. Ich möchte lachen und Lasten heben und möchte kämpfen und lieben und hassen
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und möchte den Himmel mit Händen fassen und möchte frei sein und atmen du schrein. Ich will nicht sterben. Nein! Nein […]10
„Poem“ war das erste postum veröffentlichte Gedicht Selmas, das noch im Jahre 1968 in der Anthologie von Heinz Seydel „Welch Wort in die Kälte gerufen“ in einem Ostberliner Verlag erschien11. Hier wurde auch die berühmte „Todesfuge“ Paul Celans publiziert. Wie Celans Biograph Israel Chalfen behauptet, willigte Celan in die Publikation seiner „Todesfuge“ in dieser Anthologie vor allem deswegen ein, weil er die Aufmerksamkeit der Leser auf Selmas „Poem“ lenken wollte.12 Nach ihrem Ideengehalt sind beide Werke erstaunlich verwandt: Sie entlarven das menschenfeindliche Wesen der nazistischen Rassentheorie und sind ein Requiem für Millionen Juden, die im Strudel des Holocausts ermordet wurden. Eines der letzten Gedichte Selmas, das mit seinem Titel „Tragik“ das schmerzliche Gefühl der Ausgrenzung und den Zustand der seelischen Verwirrung widerspiegelt, besteht nur aus einer einzigen Strophe: Das ist das Schwerste: sich verschenken und wissen, dass man überflüssig ist, sich ganz zu geben und zu denken, dass man wie Rauch ins Nichts verfließt.13
Unter diesen Zeilen steht das Datum: 23.12.1941, mit rotem Bleistift ergänzte sie noch: „Ich habe keine Zeit gehabt zu Ende zu schreiben …“. Obwohl diese Worte offensichtlich an ihren Geliebten gerichtet waren, dessen Zurückhaltung in der etwas einseitigen Beziehung Selma immer wieder schmerzhaft verletzte, klingen sie heute als die Stimme all jener jüdischen Menschen, die in den nazistischen KZ-Lagern in der Tat zu Rauch geworden und „ins Nichts“ 10 11 12 13
Selma Meerbaum-Eisinger. Ich bin in Sehnsucht eingehüllt, S. 63-66. Welch Wort in die Kälte gerufen. Die Judenverfolgung des Dritten Reiches im deutschen Gedicht. Ausgewählt und herausgegeben von Heinz Seydel. Berlin: Verlag der Nation 1968. Israel Chalfen. Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend. Frankfurt a. M.: Insel Verlag 1979, S. 164, Anm. 36. Selma Meerbaum-Eisinger. Ich bin in Sehnsucht eingehüllt, S. 111.
„Ich möchte den Himmel mit Händen fassen …“ 205 verflossen sind, die „ein Grab in den Lüften“ bekommen haben, wo man „nicht eng“ liegt14. Der dichterische Weg von Selma wurde jäh abgebrochen, sie hatte keine Zeit gehabt, ihre eigentliche Bestimmung im Leben und in der Dichtung zu realisieren. Aber sogar jener Bruchteil lyrischer Offenbarungen, die sie hinterlassen hat, zeugt von einem ungewöhnlich hohen Niveau poetischer Aussage und lässt vermuten, dass ihre lyrische Begabung unter anderen Verhältnissen neue, unbekannte Wege des poetischen Denkens hätte begehen können. Heute sind Gedichte von Selma Meerbaum-Eisinger im deutschsprachigen Kulturraum weit und breit bekannt, mehrere von ihnen wurden von zahlreichen Musikern vertont. So wandte sich, als eine der ersten, die österreichische Komponistin Luna Alcaley an Selmas Lyrik, sie schuf noch Anfang der 1980er Jahre ihre Kantate „Ich bin in Sehnsucht eingehüllt: Szenische Reflexionen zu Liebesgedichten von Selma Meerbaum“. Am 24. September 1984 fand in Graz die Uraufführung dieses musikalischen Werkes im Rahmen des „Steirischen Herbstes“ statt. 1985 produzierten die deutschen Musiker Johannes Conen und Ana Fonell ein Album unter dem Titel „Du, weißt Du …“, in dem sie 18 Lieder auf Texte von Selma singen, und das Schweizer „World Quintet“ unter der Leitung von David Klein nahm 2005 das Album „Selma. In Sehnsucht eingehüllt“ auf, das 12 Lieder mit Selmas Gedichten enthält. Liederzyklen und Kompositionen auf Texte von Selma gestalteten auch deutsche Sänger und Komponisten wie Xaver Paul Thoma („Sieben Lieder für Sopran und Klavier“, 1984/86), Karsten Troyke („Leg den Kopf auf meine Knie“, 1994), Michael Denhoff („Wie eine Linie dunkelblauen Schweigens“. Sieben Gesänge für Alt und Akkordeon, 1997), Dietrich Lohff („Ich möchte leben“, 1998), Michael Albert („Blütenlese“. Liederzyklus für gemischten Chor, 2007) u.a. Selmas Gedichte werden heute von den Stars der deutschen Popmusik gesungen – so z.B. von Herbert Grönemeyer, Sarah Connor, Hartmut Engler u.a. 14
Paul Celan. Die Todesfuge. In: Paul Celan. Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Mit den zugehörigen Radierungen von Gisèle Celan-Lestrange. Herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann. Berlin: Suhrkamp Verlag 2018, S. 46.
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Am 21. April 2001 fand im Stadttheater Fürth die Uraufführung der szenischen Komposition „Selma oder Die Reise um den Tisch. Eine Recherche mit Liedern nach Gedichten von Selma MeerbaumEisinger“ von Jutta Czurda, Fred Apke und Heinrich Hartl statt, die ein Jahr später mit Erfolg auf der Bühne des musikalisch-dramatischen Olga-Kobylanska-Theaters in der Geburtsstadt der Dichterin Czernowitz gezeigt wurde, und 2008 wurde in Essen das musikalische Märchen „Windekind. Eine Ode an Selma Meerbaum-Eisinger“ von Herman van Veen (Musik) und Eva Schuurmann (Libretto) präsentiert. 2013 inszenierte das Museum Synagoge Gröbzig unter der Leitung von Marion Mendez die Aufführung „Traurige Lieder“, in der Selmas Leben und Dichtung mit choreographischen Mitteln gestaltet wurden, und 2023 bot das Freie Theater „Futur 3“ aus Köln in Zusammenarbeit mit dem Theater „Neue-Bühne“ der Stadt Senftenberg und dem Lesja-Ukrainka-Theater aus Lwiw (Mariana Sadowska) ein synkretistisches „Party-Stück“ nach Motiven der Gedichte Selmas. Diese Aufführung wurde sowohl in Deutschland als auch in der Ukraine gezeigt. In den vergangenen Jahren veranstaltete man weltweit eine Vielzahl literarischer Abende, wo Selmas Gedichte vorgetragen wurden, es sind auch einige CDs (Hörbücher) erschienen, auf denen populäre deutsche Schauspieler wie Mirjam Heller, Iris Berben, Martina Roth oder der holländische Dichter, Musiker und Rezitator Herman van Veen Selmas Lyrik lesen. Am 31. März 2011 las die bekannte deutsche Schauspielerin und Präsidentin der deutschen Filmakademie Iris Berben im Jüdischen Nationalhaus in Czernowitz ihre Gedichte vor und brachte damit Selmas innige Zeilen in die Geburtsstadt der Dichterin zurück. Selmas Dichtung und Schicksal fanden auch einen regen Widerhall in der bildenden Kunst – so z.B. in Zeichnungen des aus der Bukowina stammenden Künstlers Arnold Daghani, der während des Zweiten Weltkrieges zusammen mit Selma in Transnistrien war und dort nach dem Tod des Mädchens etliche Bleistiftskizzen machte. So hielt er in einer Skizze den Augenblick fest, in dem ihre Leiche von der Pritsche der Baracke heruntergelassen wurde („Pieta“). Heute werden diese Zeichnungen in der israelischen Gedenkstätte „Yad Vaschem“ aufbewahrt. Eine Reihe
„Ich möchte den Himmel mit Händen fassen …“ 207 von Bildern mit Motiven aus Selmas Gedichten schuf die zeitgenössische deutsche Künstlerin Helga von Loewenich. Diese Arbeiten wurden in mehreren Ländern gezeigt – so in Israel (Jerusalem, YadBen-Zwi-Institut), der Ukraine (Czernowitzer Künstlermuseum), Deutschland (Leipziger „Haus des Buches“) sowie für ein internationales Publikum im Auswärtigen Amt der BRD in Berlin. Es sei hier vor allem das großformatige „Triptychon zu Selma Meerbaum-Eisingers Leben: Jugend – Traum – Tod“ hervorgehoben, das zum ersten Mal im Sommer 2011 in der renovierten Klaussynagoge in Halberstadt ausgestellt wurde. Das Interesse für die Lyrik von Selma Meerbaum-Eisinger ebbt nicht ab. Allein die Taschenbuchausgabe von „Ich bin in Sehnsucht eingehüllt“ des S. Fischer Verlags erlebte bereits über 15 Auflagen. Mit besonderer Vorliebe lesen Selmas Gedichte die Jugendlichen – Schüler der oberen Klassen und Studenten, denn Selma schrieb sie ja in ihrem Alter, und so finden ihre Verse in den Herzen der heutigen Jugend einen besonderen Widerhall. Gedichte von Selma sind heute in mehrere Sprachen übersetzt, so ins Englische, Französische, Italienische, Holländische, Jiddische, Hebräische, Japanische, Ukrainische. An der Universität Tel Aviv wurde vor einigen Jahren ein Selma-Meerbaum-Fonds eingerichtet, in den alle Einnahmen aus den Rechten ihrer Texte fließen. Die auf diese Weise gesammelten Gelder werden zur Unterstützung bedürftiger jüdischer Studenten verwendet. Seit 2010 schreiben der „Bundesverband junger Autoren und Autorinnen“ und die „Armin T. Wegner Gesellschaft“ den Selma Meerbaum-Eisinger Literaturpreis aus, der jungen Autoren ab 16 Jahren verliehen wird. Im September 2004 wurde an dem Haus Nr. 38 in der ehemaligen Czernowitzer Bilaergasse (heute Tschernyschewski-Str.), in dem Selma das Licht der Welt erblickte, eine Gedenktafel angebracht, und im Mai 2023, im Rahmen des deutsch-ukrainischen Kulturprojekts „Bukowinisch-Galizische Literaturstraße“, eine kleine Bronzefigur auf granitenem Sockel für die Dichterin enthüllt (Scholem-Alejchem-Str. 29, Bildhauer Wolodymyr Cisaryk). Der Lebensweg und das poetische Werk eines Dichters oder einer Dichterin sind bei weitem nicht gleichbedeutende Kategorien. Nicht selten können sie auf verschiedenen Ebenen und geradezu
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in Paralleldimensionen existieren. Für Selma Meerbaum-Eisinger sind diese Begriffe jedoch untrennbar, ja sogar identisch geworden. Diese verhängnisvolle Verquickung von ungewöhnlicher poetischer Begabung und außerordentlicher Tragik des Schicksals wird uns immer bewegen. Denn ihr Schicksal erhielt in ihren Gedichten seine höchste Verkörperung und traurigste Vollendung.
Ukrainian Voices Collected by Andreas Umland 1
Mychailo Wynnyckyj Ukraine’s Maidan, Russia’s War
A Chronicle and Analysis of the Revolution of Dignity With a foreword by Serhii Plokhy ISBN 978-3-8382-1327-9
2
Olexander Hryb Understanding Contemporary Ukrainian and Russian Nationalism
The Post-Soviet Cossack Revival and Ukraine’s National Security With a foreword by Vitali Vitaliev ISBN 978-3-8382-1377-4
3
Marko Bojcun Towards a Political Economy of Ukraine Selected Essays 1990–2015 With a foreword by John-Paul Himka ISBN 978-3-8382-1368-2
4
Volodymyr Yermolenko (ed.) Ukraine in Histories and Stories
Essays by Ukrainian Intellectuals With a preface by Peter Pomerantsev ISBN 978-3-8382-1456-6
5
Mykola Riabchuk At the Fence of Metternich’s Garden
Essays on Europe, Ukraine, and Europeanization ISBN 978-3-8382-1484-9
6
Marta Dyczok Ukraine Calling
A Kaleidoscope from Hromadske Radio 2016–2019 With a foreword by Andriy Kulykov ISBN 978-3-8382-1472-6
7
Olexander Scherba Ukraine vs. Darkness
Undiplomatic Thoughts With a foreword by Adrian Karatnycky ISBN 978-3-8382-1501-3
8
Olesya Yaremchuk Our Others
Stories of Ukrainian Diversity With a foreword by Ostap Slyvynsky Translated from the Ukrainian by Zenia Tompkins and Hanna Leliv ISBN 978-3-8382-1475-7
9
Nataliya Gumenyuk Die verlorene Insel
Geschichten von der besetzten Krim Mit einem Vorwort von Alice Bota Aus dem Ukrainischen übersetzt von Johann Zajaczkowski ISBN 978-3-8382-1499-3
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Olena Stiazhkina Zero Point Ukraine
Four Essays on World War II Translated from the Ukrainian by Svitlana Kulinska ISBN 978-3-8382-1550-1
11
Oleksii Sinchenko, Dmytro Stus, Leonid Finberg (compilers) Ukrainian Dissidents An Anthology of Texts ISBN 978-3-8382-1551-8
12
John-Paul Himka Ukrainian Nationalists and the Holocaust
OUN and UPA’s Participation in the Destruction of Ukrainian Jewry, 1941–1944 ISBN 978-3-8382-1548-8
13
Andrey Demartino False Mirrors
The Weaponization of Social Media in Russia’s Operation to Annex Crimea With a foreword by Oleksiy Danilov ISBN 978-3-8382-1533-4
14
Svitlana Biedarieva (ed.) Contemporary Ukrainian and Baltic Art
Political and Social Perspectives, 1991–2021 ISBN 978-3-8382-1526-6
15
Olesya Khromeychuk A Loss
The Story of a Dead Soldier Told by His Sister With a foreword by Andrey Kurkov ISBN 978-3-8382-1570-9
16
Marieluise Beck (Hg.) Ukraine verstehen
Auf den Spuren von Terror und Gewalt Mit einem Vorwort von Dmytro Kuleba ISBN 978-3-8382-1653-9
17
Stanislav Aseyev Heller Weg
Geschichte eines Konzentrationslagers im Donbass 2017–2019 Aus dem Russischen übersetzt von Martina Steis und Charis Haska ISBN 978-3-8382-1620-1
18
Mykola Davydiuk Wie funktioniert Putins Propaganda?
Anmerkungen zum Informationskrieg des Kremls Aus dem Ukrainischen übersetzt von Christian Weise ISBN 978-3-8382-1628-7
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Olesya Yaremchuk Unsere Anderen Geschichten ukrainischer Vielfalt
Aus dem Ukrainischen übersetzt von Christian Weise ISBN 978-3-8382-1635-5
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Oleksandr Mykhed „Dein Blut wird die Kohle tränken“
Über die Ostukraine Aus dem Ukrainischen übersetzt von Simon Muschick und Dario Planert ISBN 978-3-8382-1648-5
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Vakhtang Kipiani (Hg.) Der Zweite Weltkrieg in der Ukraine
Geschichte und Lebensgeschichten Aus dem Ukrainischen übersetzt von Margarita Grinko ISBN 978-3-8382-1622-5
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Vakhtang Kipiani (ed.) World War II, Uncontrived and Unredacted
Testimonies from Ukraine Translated from the Ukrainian by Zenia Tompkins and Daisy Gibbons ISBN 978-3-8382-1621-8
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Dmytro Stus Vasyl Stus
Life in Creativity Translated from the Ukrainian by Ludmila Bachurina ISBN 978-3-8382-1631-7
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Vitalii Ogiienko (ed.) The Holodomor and the Origins of the Soviet Man
Reading the Testimony of Anastasia Lysyvets With forewords by Natalka Bilotserkivets and Serhy Yekelchyk Translated from the Ukrainian by Alla Parkhomenko and Alexander J. Motyl ISBN 978-3-8382-1616-4
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Vladislav Davidzon Jewish-Ukrainian Relations and the Birth of a Political Nation Selected Writings 2013-2021 With a foreword by Bernard-Henri Lévy ISBN 978-3-8382-1509-9
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Serhy Yekelchyk Writing the Nation
The Ukrainian Historical Profession in Independent Ukraine and the Diaspora ISBN 978-3-8382-1695-9
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Ildi Eperjesi, Oleksandr Kachura Shreds of War
Fates from the Donbas Frontline 2014-2019 With a foreword by Olexiy Haran ISBN 978-3-8382-1680-5
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Oleksandr Melnyk World War II as an Identity Project
Historicism, Legitimacy Contests, and the (Re-)Construction of Political Communities in Ukraine, 1939–1946 With a foreword by David R. Marples ISBN 978-3-8382-1704-8
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Olesya Khromeychuk Ein Verlust
Die Geschichte eines gefallenen ukrainischen Soldaten, erzählt von seiner Schwester Mit einem Vorwort von Andrej Kurkow Aus dem Englischen übersetzt von Lily Sophie ISBN 978-3-8382-1770-3
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Tamara Martsenyuk, Tetiana Kostiuchenko (eds.) Russia’s War in Ukraine 2022 Personal Experiences of Ukrainian Scholars ISBN 978-3-8382-1757-4
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Ildikó Eperjesi, Oleksandr Kachura Shreds of War. Vol. 2 Fates from Crimea 2015–2022 With an interview of Oleh Sentsov ISBN 978-3-8382-1780-2
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Yuriy Lukanov, Tetiana Pechonchik (eds.) The Press: How Russia destroyed Media Freedom in Crimea With a foreword by Taras Kuzio ISBN 978-3-8382-1784-0
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Megan Buskey Ukraine Is Not Dead Yet
A Family Story of Exile and Return ISBN 978-3-8382-1691-1
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Vira Ageyeva Behind the Scenes of the Empire
Essays on Cultural Relationships between Ukraine and Russia With a foreword by Oksana Zabuzhko ISBN 978-3-8382-1748-2
35
Marieluise Beck (ed.) Understanding Ukraine
Tracing the Roots of Terror and Violence With a foreword by Dmytro Kuleba ISBN 978-3-8382-1773-4
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Olesya Khromeychuk A Loss
The Story of a Dead Soldier Told by His Sister, 2nd edn. With a foreword by Philippe Sands With a preface by Andrii Kurkov ISBN 978-3-8382-1870-0
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Taras Kuzio, Stefan Jajecznyk-Kelman Fascism and Genocide Russia’s War Against Ukrainians ISBN 978-3-8382-1791-8
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Alina Nychyk Ukraine Vis-à-Vis Russia and the EU
Misperceptions of Foreign Challenges in Times of War, 2014–2015 With a foreword by Paul D’Anieri ISBN 978-3-8382-1767-3
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Sasha Dovzhyk (ed.) Ukraine Lab
Global Security, Environment, Disinformation Through the Prism of Ukraine With a foreword by Rory Finnin ISBN 978-3-8382-1805-2
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Serhiy Kvit Media, History, and Education
Three Ways to Ukrainian Independence With a preface by Diane Francis ISBN 978-3-8382-1807-6
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Anna Romandash Women of Ukraine
Reportages from the War and Beyond ISBN 978-3-8382-1819-9
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Dominika Rank Matzewe in meinem Garten
Abenteuer eines jüdischen Heritage-Touristen in der Ukraine ISBN 978-3-8382-1810-6
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Myroslaw Marynowytsch Das Universum hinter dem Stacheldraht
Memoiren eines sowjet-ukrainischen Dissidenten Mit einem Vorwort von Timothy Snyder und einem Nachwort von Max Hartmann ISBN 978-3-8382-1806-9
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Konstantin Sigow Für Deine und meine Freiheit
Europäische Revolutions- und Kriegserfahrungen im heutigen Kyjiw Mit einem Vorwort von Karl Schlögel Herausgegeben von Regula M. Zwahlen ISBN 978-3-8382-1755-0
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Kateryna Pylypchuk The War that Changed Us
Ukrainian Novellas, Poems, and Essays from 2022 With a foreword by Victor Yushchenko Paperback ISBN 978-3-8382-1859-5 Hardcover ISBN 978-3-8382-1860-1
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Kyrylo Tkachenko Rechte Tür Links
Radikale Linke in Deutschland, die Revolution und der Krieg in der Ukraine, 2013-2018 ISBN 978-3-8382-1711-6
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Alexander Strashny The Ukrainian Mentality
An Ethno-Psychological, Historical and Comparative Exploration With a foreword by Antonina Lovochkina ISBN 978-3-8382-1886-1
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Alona Shestopalova Pandora’s TV Box
How Russian TV Turned Ukraine into an Enemy Which has to be Fought ISBN 978-3-8382-1884-7
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Iaroslav Petik Politics and Society in the Ukrainian People’s Republic (1917–1921) and Contemporary Ukraine (2013–2022) A Comparative Analysis With a foreword by Oleksiy Tolochko ISBN 978-3-8382-1817-5
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Serhii Plokhii Der Mann mit der Giftpistole ISBN 978-3-8382-1789-5
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Vakhtang Kipiani Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht Im Kampf um Wahrheit und Freiheit ISBN 978-3-8382-1890-8
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Dmytro Shestakov When Businesses Test Hypotheses
A Four-Step Approach to Risk Management for Innovative Startups With a foreword by Anthony J. Tether ISBN 978-3-8382-1883-0
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Larissa Babij A Kind of Refugee
The Story of an American Who Refused to Leave Ukraine With a foreword by Vladislav Davidzon ISBN 978-3-8382-1898-4
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Julia Davis In Their Own Words
How Russian Propagandists Reveal Putin’s Intentions ISBN 978-3-8382-1909-7
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Sonya Atlanova, Oleksandr Klymenko Icons on Ammo Boxes
Painting Life on the Remnants of Russia’s War in Donbas, 2014-21 Translated by Anastasya Knyazhytska ISBN 978-3-8382-1892-2
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Leonid Ushkalov Catching an Elusive Bird
The Life of Hryhorii Skovoroda ISBN 978-3-8382-1894-6
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Vakhtang Kipiani Ein Land weiblichen Geschlechts
Ukrainische Frauenschicksale im 20. und 21. Jahrhundert ISBN 978-3-8382-1891-5
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Petro Rychlo „Zerrissne Saiten einer überlauten Harfe ...“ Deutschjüdische Dichter der Bukowina ISBN 978-3-8382-1893-9
Book series “Ukrainian Voices” Collector Andreas Umland, National University of Kyiv-Mohyla Academy Editorial Board Lesia Bidochko, National University of Kyiv-Mohyla Academy Svitlana Biedarieva, George Washington University, DC, USA Ivan Gomza, Kyiv School of Economics, Ukraine Natalie Jaresko, Aspen Institute, Kyiv/Washington Olena Lennon, University of New Haven, West Haven, USA Kateryna Yushchenko, First Lady of Ukraine 2005-2010, Kyiv Oleksandr Zabirko, University of Regensburg, Germany Advisory Board Iuliia Bentia, National Academy of Arts of Ukraine, Kyiv Natalya Belitser, Pylyp Orlyk Institute for Democracy, Kyiv Oleksandra Bienert, Humboldt University of Berlin, Germany Sergiy Bilenky, Canadian Institute of Ukrainian Studies, Toronto Tymofii Brik, Kyiv School of Economics, Ukraine Olga Brusylovska, Mechnikov National University, Odesa Mariana Budjeryn, Harvard University, Cambridge, USA Volodymyr Bugrov, Shevchenko National University, Kyiv Olga Burlyuk, University of Amsterdam, The Netherlands Yevhen Bystrytsky, NAS Institute of Philosophy, Kyiv Andrii Danylenko, Pace University, New York, USA Vladislav Davidzon, Atlantic Council, Washington/Paris Mykola Davydiuk, Think Tank “Polityka,” Kyiv Andrii Demartino, National Security and Defense Council, Kyiv Vadym Denisenko, Ukrainian Institute for the Future, Kyiv Oleksandr Donii, Center for Political Values Studies, Kyiv Volodymyr Dubovyk, Mechnikov National University, Odesa Volodymyr Dubrovskiy, CASE Ukraine, Kyiv Diana Dutsyk, National University of Kyiv-Mohyla Academy Marta Dyczok, Western University, Ontario, Canada Yevhen Fedchenko, National University of Kyiv-Mohyla Academy Sofiya Filonenko, State Pedagogical University of Berdyansk Oleksandr Fisun, Karazin National University, Kharkiv
Oksana Forostyna, Webjournal “Ukraina Moderna,” Kyiv Roman Goncharenko, Broadcaster “Deutsche Welle,” Bonn George Grabowicz, Harvard University, Cambridge, USA Gelinada Grinchenko, Karazin National University, Kharkiv Kateryna Härtel, Federal Union of European Nationalities, Brussels Nataliia Hendel, University of Geneva, Switzerland Anton Herashchenko, Kyiv School of Public Administration John-Paul Himka, University of Alberta, Edmonton Ola Hnatiuk, National University of Kyiv-Mohyla Academy Oleksandr Holubov, Broadcaster “Deutsche Welle,” Bonn Yaroslav Hrytsak, Ukrainian Catholic University, Lviv Oleksandra Humenna, National University of Kyiv-Mohyla Academy Tamara Hundorova, NAS Institute of Literature, Kyiv Oksana Huss, University of Bologna, Italy Oleksandra Iwaniuk, University of Warsaw, Poland Mykola Kapitonenko, Shevchenko National University, Kyiv Georgiy Kasianov, Marie CurieSkłodowska University, Lublin Vakhtang Kebuladze, Shevchenko National University, Kyiv Natalia Khanenko-Friesen, University of Alberta, Edmonton Victoria Khiterer, Millersville University of Pennsylvania, USA Oksana Kis, NAS Institute of Ethnology, Lviv Pavlo Klimkin, Center for National Resilience and Development, Kyiv Oleksandra Kolomiiets, Center for Economic Strategy, Kyiv Sergiy Korsunsky, Kobe Gakuin University, Japan
Nadiia Koval, Kyiv School of Economics, Ukraine Volodymyr Kravchenko, University of Alberta, Edmonton Oleksiy Kresin, NAS Koretskiy Institute of State and Law, Kyiv Anatoliy Kruglashov, Fedkovych National University, Chernivtsi Andrey Kurkov, PEN Ukraine, Kyiv Ostap Kushnir, Lazarski University, Warsaw Taras Kuzio, National University of Kyiv-Mohyla Academy Serhii Kvit, National University of Kyiv-Mohyla Academy Yuliya Ladygina, The Pennsylvania State University, USA Yevhen Mahda, Institute of World Policy, Kyiv Victoria Malko, California State University, Fresno, USA Yulia Marushevska, Security and Defense Center (SAND), Kyiv Myroslav Marynovych, Ukrainian Catholic University, Lviv Oleksandra Matviichuk, Center for Civil Liberties, Kyiv Mykhailo Minakov, Kennan Institute, Washington, USA Anton Moiseienko, The Australian National University, Canberra Alexander Motyl, Rutgers University-Newark, USA Vlad Mykhnenko, University of Oxford, United Kingdom Vitalii Ogiienko, Ukrainian Institute of National Remembrance, Kyiv Olga Onuch, University of Manchester, United Kingdom Olesya Ostrovska, Museum “Mystetskyi Arsenal,” Kyiv Anna Osypchuk, National University of Kyiv-Mohyla Academy Oleksandr Pankieiev, University of Alberta, Edmonton Oleksiy Panych, Publishing House “Dukh i Litera,” Kyiv Valerii Pekar, Kyiv-Mohyla Business School, Ukraine Yohanan Petrovsky-Shtern, Northwestern University, Chicago Serhii Plokhy, Harvard University, Cambridge, USA Andrii Portnov, Viadrina University, Frankfurt-Oder, Germany Maryna Rabinovych, Kyiv School of Economics, Ukraine Valentyna Romanova, Institute of Developing Economies, Tokyo Natalya Ryabinska, Collegium Civitas, Warsaw, Poland Darya Tsymbalyk, University of Oxford, United Kingdom
Vsevolod Samokhvalov, University of Liege, Belgium Orest Semotiuk, Franko National University, Lviv Viktoriya Sereda, NAS Institute of Ethnology, Lviv Anton Shekhovtsov, University of Vienna, Austria Andriy Shevchenko, Media Center Ukraine, Kyiv Oxana Shevel, Tufts University, Medford, USA Pavlo Shopin, National Pedagogical Dragomanov University, Kyiv Karina Shyrokykh, Stockholm University, Sweden Nadja Simon, freelance interpreter, Cologne, Germany Olena Snigova, NAS Institute for Economics and Forecasting, Kyiv Ilona Solohub, Analytical Platform “VoxUkraine,” Kyiv Iryna Solonenko, LibMod - Center for Liberal Modernity, Berlin Galyna Solovei, National University of Kyiv-Mohyla Academy Sergiy Stelmakh, NAS Institute of World History, Kyiv Olena Stiazhkina, NAS Institute of the History of Ukraine, Kyiv Dmitri Stratievski, Osteuropa Zentrum (OEZB), Berlin Dmytro Stus, National Taras Shevchenko Museum, Kyiv Frank Sysyn, University of Toronto, Canada Olha Tokariuk, Center for European Policy Analysis, Washington Olena Tregub, Independent AntiCorruption Commission, Kyiv Hlib Vyshlinsky, Centre for Economic Strategy, Kyiv Mychailo Wynnyckyj, National University of Kyiv-Mohyla Academy Yelyzaveta Yasko, NGO “Yellow Blue Strategy,” Kyiv Serhy Yekelchyk, University of Victoria, Canada Victor Yushchenko, President of Ukraine 2005-2010, Kyiv Oleksandr Zaitsev, Ukrainian Catholic University, Lviv Kateryna Zarembo, National University of Kyiv-Mohyla Academy Yaroslav Zhalilo, National Institute for Strategic Studies, Kyiv Sergei Zhuk, Ball State University at Muncie, USA Alina Zubkovych, Nordic Ukraine Forum, Stockholm Liudmyla Zubrytska, National University of Kyiv-Mohyla Academy
Friends of the Series Ana Maria Abulescu, University of Bucharest, Romania Łukasz Adamski, Centrum Mieroszewskiego, Warsaw Marieluise Beck, LibMod—Center for Liberal Modernity, Berlin Marc Berensen, King’s College London, United Kingdom Johannes Bohnen, BOHNEN Public Affairs, Berlin Karsten Brüggemann, University of Tallinn, Estonia Ulf Brunnbauer, Leibniz Institute (IOS), Regensburg Martin Dietze, German-Ukrainian Culture Society, Hamburg Gergana Dimova, Florida State University, Tallahassee/London Caroline von Gall, Goethe University, Frankfurt-Main Zaur Gasimov, Rhenish Friedrich Wilhelm University, Bonn Armand Gosu, University of Bucharest, Romania Thomas Grant, University of Cambridge, United Kingdom Gustav Gressel, European Council on Foreign Relations, Berlin Rebecca Harms, European Centre for Press & Media Freedom, Leipzig André Härtel, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin/Brussels Marcel Van Herpen, The Cicero Foundation, Maastricht Richard Herzinger, freelance analyst, Berlin Mieste Hotopp-Riecke, ICATAT, Magdeburg Nico Lange, Munich Security Conference, Berlin Martin Malek, freelance analyst, Vienna Ingo Mannteufel, Broadcaster “Deutsche Welle,” Bonn Carlo Masala, Bundeswehr University, Munich Wolfgang Mueller, University of Vienna, Austria Dietmar Neutatz, Albert Ludwigs University, Freiburg Torsten Oppelland, Friedrich Schiller University, Jena Niccolò Pianciola, University of Padua, Italy Gerald Praschl, German-Ukrainian Forum (DUF), Berlin Felix Riefer, Think Tank IdeenagenturOst, Düsseldorf Stefan Rohdewald, University of Leipzig, Germany Sebastian Schäffer, Institute for the Danube Region (IDM), Vienna Felix Schimansky-Geier, Friedrich Schiller University, Jena Ulrich Schneckener, University of Osnabrück, Germany
Winfried Schneider-Deters, freelance analyst, Heidelberg/Kyiv Gerhard Simon, University of Cologne, Germany Kai Struve, Martin Luther University, Halle/Wittenberg David Stulik, European Values Center for Security Policy, Prague Andrzej Szeptycki, University of Warsaw, Poland Philipp Ther, University of Vienna, Austria Stefan Troebst, University of Leipzig, Germany
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