Klaus Buchenau, Matthias Fechner (Hg.)
Die verlorene Wissenschaft Versuch einer Katharsis nach Corona
Klartext. Schriften zu Politik und Gesellschaft herausgegeben von Sandra Kostner Die Reihe Klartext dient der kritischen Analyse von politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Sie legt einen besonderen Schwerpunkt auf die Ursachen und Folgen ideologiegetriebener Entwicklungen, die auf eine Transformation der Gesellschaft hinauslaufen sollen. Die Reihe zielt darauf ab, durch fundierte Analysen die Gründe für gesellschaftliche Bruchlinien und Verwerfungen herauszuarbeiten. Sie will damit auch einen Beitrag zur Perspektivenvielfalt und zur Meinungsbildung der Leserinnen und Leser leisten. So sollen kritische Stimmen ermutigt werden, sich mit Ideologien auseinanderzusetzen. Dazu braucht es klare Analysen und von Fakten getragene Argumente, wie sie in der Reihe Klartext dargelegt werden. Die Reihe richtet sich an die interessierte Öffentlichkeit, insbesondere an Verantwortliche in Politik, Institutionen und Medien sowie an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.
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Sandra Kostner, Tanya Lieske (Hg.) Pandemiepolitik. Freiheit unterm Rad? Eine interdisziplinäre Essaysammlung ISBN 978-3-8382-1754-3
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Klaus Buchenau, Matthias Fechner (Hg.) Die verlorene Wissenschaft Versuch einer Katharsis nach Corona ISBN 978-3-8382-1922-6
Klaus Buchenau, Matthias Fechner (Hg.)
DIE VERLORENE WISSENSCHAFT Versuch einer Katharsis nach Corona
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ISBN-13: 978-3-8382-1922-6 © ibidem-Verlag, Hannover Stuttgart 2024 Alle Rechte vorbehalten Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und elektronische Speicherformen sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. All rights reserved. No part of this publication may be reproduced, stored in or introduced into a retrieval system, or transmitted, in any form, or by any means (electronical, mechanical, photocopying, recording or otherwise) without the prior written permission of the publisher. Any person who does any unauthorized act in relation to this publication may be liable to criminal prosecution and civil claims for damages.
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Inhaltsverzeichnis Einleitende Reflexionen .......................................................................... 11 Zur Entstehung dieses Buchs ................................................................. 17 Die maskierte Wissenschaft. Erklärungsansätze für die Stille der Hochschulen in den Corona-Jahren ............................................... 23 Matthias Fechner I. Anpassung und Aufstieg ......................................................... 25 II. Das Ich in der Wissenschaftsfiktion ....................................... 26 III. Was ist wissenschaftlich? ......................................................... 27 IV. Die ideologische Unschärfevariante ....................................... 28 V. Corona-Forschung: Fakten und Finanzen ............................. 30 VI. Forschung und Wirtschaft ....................................................... 33 VII. Die Soziologie des Konsenses ................................................. 34 Des Mephistopheles‘ Geschenk. Wissenschaft im goldenen Käfig ......................................................................................... 52 Boris Kotchoubey I. Mark Gable lebt! ........................................................................ 52 II. Der Tod im Imperial College ................................................... 54 III. Das Grundparadox ................................................................... 58 IV. Den Bach runter ........................................................................ 61 V. Krisen.......................................................................................... 64 VI. Erfindungsgeist ist unbesiegbar ............................................. 67 VII. Radikale Schlankheitskur ........................................................ 71 Innere und äußere Korruption der Wissenschaft ............................... 82 Klaus Morawetz I. Einleitung ................................................................................... 82 II. Die Ursachen institutioneller Fehlentwicklungen ................ 84 III. Gründe für das strukturelle Versagen des Systems Wissenschaft ............................................................... 90 IV. Korruption der Sprache und des Denkens ............................ 97 V. Zusammenfassung und möglicher Ausweg ....................... 100
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Die Mehrheitsmeinung in der Wissenschaft .................................... 108 Gerald Dyker I.
Wissen, Meinung, Glauben und das Wesen der Wissenschaft ............................................................................ 109 II. Missbrauch des Wissenschaftsbegriffes ............................... 111 III. Ethische Erwägungen ............................................................. 112 IV. Irrtümer der Wissenschaft ..................................................... 114 V. Politik auf Basis unzureichender Evidenz ........................... 116 VI. Technokratischer Kollektivismus versus ethische und rechtliche Grundsätze ............................................................ 123 „Objektivität in der Beteiligung“. Zu Formen und Vertiefung wissenschaftlicher Erkenntnismethoden ...................... 130 Harald Schwaetzer I. I. II. II.
Einleitung: Die Frage nach der Wissenschaft – Paul Feyerabend...................................................................... 130 Vom Marburger Logizismus zur Kulturanthropologie – Ernst Cassirer .................................. 132 „Das Selbstverständnis der Erkenntnis“ – Heinrich Barth ......................................................................... 134 Was bleibt? ............................................................................... 145
Die Ambiguität empirischer Forschung und ihre Gefahren .......... 152 Rainer Baule I. Empirische Erforschung empirischer Forschung ............... 152 II. Fahrlässiger und vorsätzlicher Missbrauch ........................ 154 III. Gründe für Ambiguität .......................................................... 155 IV. Operationalisierung der Fragestellung ................................ 156 V. Auswahl und Erhebung der Daten ...................................... 158 VI. Methodik der Datenauswertung .......................................... 159 VII. Konsequenzen für die Wissenschaft .................................... 160 VIII. Rezeption empirischer Forschung in der Gesellschaft .............................................................................. 162 IX. Fazit: Listen to the science – aber richtig! ............................ 164
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Krisen, Profit und Politik. Zur Politischen Ökonomie der Krise im Kapitalismus ........................................................................... 168 Robert Obermaier I. II. III. IV. V.
Einführung ............................................................................... 168 Krisen im Kapitalismus .......................................................... 170 Finanzialisierung der Realwirtschaft ................................... 171 Krisen und Krisentheorien des Kapitalismus ..................... 176 Krise der Krisenpolitik. Krisenpolitik zwischen Markt und Staat...................................................................... 183 VI. Theorie der Politischen Ökonomie ....................................... 186 VII. Wissenschaft in der Krise....................................................... 198 VIII. Medien in der Krise ................................................................ 202 IX. Souveränitätsprobleme in der Krise ..................................... 205 X. Whatever it takes-Mentalität in der Krise .............................. 209 XI. Krisen als performative Apokalypse .................................... 212 XII. Das Geschäft mit der Krise: Endogenisierung exogener Krisen....................................................................... 214 XIII. Fazit .......................................................................................... 216 Persönlichkeit, Auktorialität und Wissenschaftsfreiheit. Über die Neugründung eines Persönlichkeitsideals als Voraussetzung für eine Kultur der Wissenschaftsfreiheit ............. 230 Jan Dochhorn I. Ganz normale Restriktionen .................................................. 231 II. Persönlichkeitsverlust ............................................................ 238 III. Persönlichkeitsfindungen, speziell in theologischer Perspektive .............................................................................. 240 IV. Wiederentdeckung des starken Einzelnen für die Wissenschaft ............................................................................ 243 Wo blieb der Geist des Widerspruchs in den Geisteswissenschaften? Eine wissenssoziologische Spurensuche ............................................................................................ 250 Klaus Buchenau I. II.
Foucaults Diskursbegriff auf dem Weg in den Mainstream .. 252 Wenn Methoden in die „falschen“ Hände gelangen – Diskursanalyse als Waffe im Kulturkampf ......................... 257 III. Die Universität als Betrieb ..................................................... 260 IV. Resümee und Ausblick .......................................................... 265
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Sprachliche Monokultur und Diskursverarmung ........................... 272 Markus Riedenauer I.
Vorbemerkungen zum wissenschaftlichen Selbstverständnis .................................................................... 272 II. Entwicklung und Motive der Anglophonisierung ............. 273 III. Was ist der Preis? .................................................................... 276 IV. Instrumentelles Sprachverständnis als demokratiepolitische Gefahr ................................................. 279 Erklärung oder Boykottaufruf? Zur Rolle von Fachgesellschaften am Beispiel des Streits um die Neue Ordnung................................... 290 Axel Bernd Kunze I. Ein Fall deutscher Cancel Culture .......................................... 290 II. Wissenschafts- und bibliotheksethische Reflexionen......... 297 III. Fazit .......................................................................................... 305 Hofberichterstattung statt Recherche. Das Versagen der Leitmedien während der Corona-Jahre ............. 310 Roland Hofwiler I. II.
Die Verflechtung zwischen Politik und Journalismus ....... 311 Fehlende Recherche zu Widersprüchen der CoronaVerordnungen ......................................................................... 318 III. Keine Streitkultur beim Thema Corona ............................... 337 IV. Journalisten üben kaum Selbstkritik .................................... 343 V. Keine Einsicht in eigene Faktenfehler bei der Berichterstattung ..................................................................... 348 Fear Factories: Serbian Media and the ‘Invisible Enemy’............... 364 Vladan Jovanović I. II.
Political preconditions for orchestrated hysteria ................ 364 The advertizing power of Bollywood and Tik Tok aesthetics .................................................................................. 366 III. The intimidation toolbar: coffin, crematorium, mass graves, body bags ................................................................... 368 IV. “Religion and socializing are life-threatening”................... 371 V. Youth and pregnant women in the crosshairs of the intimidator ............................................................................... 372 VI. Infected in the line of duty: politicians and celebrities send “powerful messages” .................................................... 374
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VII. Mannequins in hazmat suits on the “battlefield”: humanization of fictional heroes .......................................... 376 VIII. How to frighten and convert curious skeptics .................... 378 IX. In search of a more convincing presentation: fear mongering in “opposition” media........................................ 380 X. Instigators of the “holy act”: Folk stars and academics united .................................................................... 382 XI. Neologisms from the age of “scourge” ................................ 384 XII. Conclusions ............................................................................. 386 Formation zum Gehorsam. Das Medizinstudium, das Arztsein und die Eliminierung des kritischen Geistes ................... 407 Paul Cullen I. II. III. IV.
Einleitung ................................................................................. 407 Die Eigenarten des Medizinstudiums .................................. 408 Eine kurze Geschichte der Medizin ...................................... 410 Die Bedeutung der medizinischen Entwicklungen für den Kranken und für die Gesellschaft ................................. 416 V. Auf dem Weg zu einer objektiven Beurteilung medizinischer Interventionen: Die prospektive randomisierte Studie ................................. 417 VI. Die evidenzbasierte Medizin stößt auf Widerstand ........... 418 VII. Die evidenzbasierte Medizin steckt in einer Krise ............. 420 VIII. Ärzte auf Irrwegen ................................................................. 422 IX. Die Zukunft der Medizin und des Arztberufs .................... 423 X. Epilog – Wege aus dem Dilemma......................................... 424 Der Stellenwert von Frage und Zweifel in der Wissenschaft und die Bedeutung der Patientenautonomie .................................... 431 Christine Wehrstedt I.
Mund-Nasen-Bedeckungszwang für Schwangere und Gebärende ........................................................................ 431 II. Ignorieren ist ungleich „nicht wissen“................................. 433 III. Evidenzfreie Auflagen kompromittieren das Recht auf private Geburtsbegleitung .............................................. 437 IV. Trennung von Müttern und Neugeborenen aufgrund eines „positiven Tests“ ......................................... 440 V. Druck und Täuschung: mRNA-Präparate für Schwangere, Stillende und Minderjährige .......................... 441
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VI. Gewalt unter der Geburt, Stress für Schwangere – wieder salonfähig? .................................................................. 448 VII. Patientenschädigendes Verhalten in weiteren medizinischen Bereichen ....................................................... 452 VIII. Paradigmenwechsel in der Wissenschaft: Tabuisierung von Fragen und Zweifeln .............................. 453 IX. Rückschritt im Patienten-Behandler-Vertrauen.................. 460 X Paradigmenwechsel in der Praxis: Verletzung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit ................................ 462 XI. Ausschaltung des Souveräns durch die Politik .................. 464 Autorinnen und Autoren ...................................................................... 471
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Einleitende Reflexionen Klaus Buchenau Heute, im November 2023, liegt die Pandemie hinter uns – und doch auch wieder nicht. Während die Älteren in den Medien aufgerufen werden, sich jährlich gegen Corona (und gegen Grippe gleich mit) impfen zu lassen, werkeln WHO, nationale Regierungen und Lobbyverbände an einem neuen Pandemievertrag.1 Dabei geben sie sich alle Mühe, keine öffentlichen Diskussionen aufkommen zu lassen – aus verständlichen Gründen. Denn was geplant ist, erinnert in vielem an die drastischen, für Viele traumatischen Maßnahmen der vergangenen drei Jahre, mit dem Unterschied allerdings, dass jetzt noch schneller und zentralisierter durchgegriffen werden soll. Der neue Pandemievertrag trägt also die Handschrift derjenigen, die seit 2020 den CoronaDiskurs, seine Begrifflichkeiten und die Praktiken der Pandemiebekämpfung geprägt haben. Kritik daran wurde kaum aufgenommen, insbesondere nicht an der schnellen Entwicklung und Zulassung der Impfstoffe, die in Zukunft noch schneller gehen soll. Der Tenor in Deutschlands Politik und Medien sagt uns, trotz mancher entschuldigenden Verbeugung etwa vor Kindern, die im monatelangen Homeschooling Schaden an Leib und Seele nahmen, dass eigentlich alles richtig gemacht wurde – man sei der Wissenschaft gefolgt und werde das auch weiter tun. Dabei ist offensichtlich, dass „die Wissenschaft“ wenn überhaupt, dann nur als ständig zu reflektierende Methode der Erkenntnisgewinnung existiert und dass die Reduktion auf bestimmte „Ansagen“ Wissenschaft zerstört, sie ihrer inneren Freiheit beraubt, sie politisiert und letztlich korrumpiert. Die breite Öffentlichkeit, traumatisiert durch die Einschränkungen, die Ängste und die porentiefe gesellschaftliche Polarisierung der vergangenen Jahre, möchte eine erneute Corona-Diskussion offensichtlich nicht führen – zu schmerzhaft könnte das werden. Die damals Verantwortlichen in Politik, Medien und „der“ Wissenschaft wollen es noch weniger, wohl um die eigene Reputation nicht zu riskieren. Für Deutschland, das sonst so stolz auf seine Leistungen bei der Aufarbeitung von Vergangenheit ist und diese auch gerne in andere Länder exportiert, ist das Schweigen
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bemerkenswert. Im Falle der Pandemie sind es nicht wir Deutschen, die vorbildlich vorangehen, es sind eher Nachbarstaaten wie das kleine Slowenien, die das Thema anpacken und zum Beispiel die Strafen für Corona-Vergehen zurückerstatten.2 Das Schweigen hat noch einen weiteren Grund. Im bislang tonangebenden linksliberalen Milieu hat sich eine generelle Schockstarre ausgebreitet, man sieht angesichts der überall aufkommenden „Rechtspopulismen“, des geopolitischen Aufstiegs nicht-westlicher Staaten, der Kriege um die Ukraine und den Gazastreifen das eigene Lebenswerk infrage gestellt und reagiert auf Zwischenrufe entsprechend gereizt. So werden dann Fragen nach (sozial-)medizinischer Angemessenheit und Redlichkeit der Coronamaßnahmen in ein FreundFeind-Schema gepresst, gar umgedeutet in einen Gegensatz zwischen Demokraten und Nicht-Demokraten, zwischen aufgeklärten Menschen und Wissenschaftsleugnern. Zum Schweigen trägt auch bei, dass großes Geld auf dem Spiel steht – die mit den Impfstoffen verdienten Milliarden wollen reinvestiert sein, in immer neue „revolutionäre“ Präparate. Doch was ist, wenn sich diese schwer verkaufen lassen, weil die in der Coronazeit gesäte Saat des Misstrauens aufgeht und deswegen etwa die demnächst zu erwartenden „Impfungen“ gegen Krebs floppen? Weil Deutschland mit seiner starken Pharmaindustrie, mit BioNTech an „An der Goldgrube“ in Mainz so etwas wie ein Knotenpunkt für Global Health ist, haben sich hier neue Abhängigkeiten zwischen Politik und Industrie gebildet. Diese wirken umso stärker, je mehr ältere Standbeine der deutschen Wirtschaft schwächeln, wie etwa im Maschinenbau, in der Fahrzeugindustrie oder im Mittelstand ganz allgemein. Eine Aufarbeitung der Coronapolitik ist auch deswegen inopportun, weil die in der Pandemie etablierten Argumentations- und Handlungsmuster auch in anderen Politikfeldern ihre fragwürdigen Dienste leisten – das Paradebeispiel ist die Klimapolitik. Die Losung “Follow the science“ entstand ja nicht im Corona-Kontext, sondern wurde in vorpandemischen Zeiten von Greta Thunberg formuliert, der nunmehr ebenfalls umstrittenen Ikone der Klimaproteste. Die Mechanismen sind hier sehr ähnlich wie in der Coronapolitik – wissenschaftliche Arbeit wird intensiv in die Öffentlichkeit kommuniziert, dabei aber ihrer Widersprüchlichkeit beraubt und auf simple Aussagen reduziert, um dann schmerzhafte Eingriffe der Politik legitimieren. Dabei geht die Freiheit der Forschung verloren, drängen sich vermeintliche
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Koryphäen mit den jeweils radikalsten Botschaften in den Vordergrund, wogegen abweichende Stimmen als die schlechteren Wissenschaftler, wenn nicht sogar als Wissenschaftsleugner abqualifiziert werden. Weil die deutsche Politik in den Dekarbonisierungstechnologien unseren Exportschlager der Zukunft sieht, welcher die Vernachlässigung all jener Branchen auffangen soll, die zur Weltrettung angeblich nichts beitragen, spielen auch hier Lobbyismus und manifeste wirtschaftliche Interessen eine Rolle. Coronapolitik und Klimarettung rufen daher dieselben Grundmuster ab – Beschneidung der Lebenschancen Vieler als „Preis“ für einen vermeintlichen Sieg gegen die Apokalypse; Berufung auf „die“ Wissenschaft, die den beschrittenen Weg als alternativlos postuliert; intensive Bevorzugung bestimmter Wirtschaftssektoren als „rettungsrelevant“; Verächtlichmachung von Kritikern als „demokratiefeindlich“ und „rechtsextrem“; und nicht zuletzt die Nutzung des Multilateralismus für eine Globalisierung der jeweiligen Agenda. Wie andere pyramidal von oben nach unten durchgesetzte Transformationsagenden, so hat auch diese ihre Legitimationsdefizite. In einer sich auf die Vernunft und die Menschenwürde berufenden Ordnung ist es schwierig, missliebige Stimmen dauerhaft auszuschalten und allgemeine Gleichförmigkeit zu erzwingen. Unzufriedene Menschen können auf die Straße gehen und von ihrem Demonstrationsrecht Gebrauch machen; die Instrumentalisierung der Wissenschaft findet eine Grenze in der Freiheit von Lehre und Forschung. Im Wissenschaftssystem arbeiten etliche Menschen, die mit ganz anderen, mit neugierigen und nicht-konformistischen Impulsen in ihren Beruf eingestiegen sind und sich nicht für die schöne neue Welt einer „wissenschaftsgeleiteten“ Transformationspolitik instrumentalisieren lassen wollen. Die verbrieften Freiheiten eines Systems verkümmern allerdings, wenn sie nicht auch genutzt werden. Eine Motivation, die die Beiträger dieses Bandes teilen, ist Verantwortung: Wir wollen nicht zusehen, wie „Krisenpolitik“ die Freiheit und Redlichkeit des Wissenschaftssystems aushöhlt, wie die Grenzen von Aktivismus und Forschung verwischt werden und wie wirtschaftliche und politische Interessen die Forschung kapern. Ob unsere Kräfte ausreichen, sich diesen Tendenzen entgegenzustellen, ist fraglich; aber wir wollen es wenigstens versucht haben und auf diese Weise dazu beitragen, dass die Wahrheitssuche, der faire und rationale Diskurs,
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weiterhin Merkmale der Wissenschaft bleiben. Wir hoffen, auf diese Weise auch zerstörtes Vertrauen in Wissenschaft wiederherstellen zu können – in dem Wissen, dass eine Gesellschaft ohne Institutionenvertrauen in antagonistische Fraktionen zerfällt und dann nur noch mit autoritären Mitteln zusammengehalten werden kann. Um das zu verhindern, ist letztlich ein neuer Sozialvertrag vonnöten, eine neue gesellschaftliche Übereinkunft, die glaubhaft machen kann, dass die Regeln dieser Gesellschaft tatsächlich das Gemeinwohl im Blick haben, deshalb legitim sind und Geltung beanspruchen dürfen. In dieser Hinsicht ist in den vergangenen Jahren viel wertvolles Porzellan zerschlagen worden; wir möchten in unserem Bereich, der Wissenschaft, dazu beitragen, die Brüche zu heilen und neues Vertrauen entstehen zu lassen. Ein erster Schritt dazu ist eine kritische Analyse der Rolle der Wissenschaft für die Legitimation von Politik. Wir wissen natürlich, dass wir mit diesem Ansatz nicht die ersten sind; schon 1967 warnte der Philosoph Hans-Georg Gadamer vor dem Glauben an technizistische Lösungen und der Einbindung von Wissenschaft in die Manipulation von Öffentlichkeiten.3 Weil Selbsthinterfragung zu den Kernaufgaben von Wissenschaft gehört, sind viele der in diesem Band versammelten Argumente an sich nicht neu. Was das Buch aber besonders macht, ist sein aktueller Anlass – die durch Wissenschaft legitimierte Krisenpolitik – und unsere breite interdisziplinäre Aufstellung. Interdisziplinarität ist zwar inzwischen zu einer Worthülse wissenschaftlicher Selbstvermarktung verkommen, in diesem Fall aber war die Zusammenarbeit von Menschen unterschiedlicher Fachrichtungen tatsächlich ein Erlebnis, welches sich hoffentlich auch auf unsere Leserschaft überträgt. Während in der üblichen wissenschaftlichen Arbeit nicht selten Produktivität um jeden Preis zählt, so dass auch die Zusammenarbeit mit Anderen letztlich nur eine Strategie ist, um im Zeitalter einer outputfixierten Tonnenideologie zu überleben, standen hier wechselseitiges Vertrauen und Interesse im Mittelpunkt. Vertrauen deshalb, weil wir uns in der Pandemiezeit als „Dissidenten“ kennengelernt hatten, die sich stützten, teilweise auch vor öffentlichen oder inneruniversitären Anfeindungen. Das Interesse am Anderen erwuchs einerseits aus diesem Vertrauen, andererseits daraus, dass wir in der „Enträtselung“ der Pandemiepolitik tatsächlich auf Kompetenzen angewiesen waren, welche die Fachexpertise jedes Einzelnen bei weitem
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überstieg. Da es in den Jahren 2020-22 eine Art Expertisemonopol der medizinischen Subdisziplin Virologie gegeben hatte und selbst innerhalb dieses engen Teilbereichs nur bestimmte Auffassungen zum Tragen gekommen waren, stillten wir unseren Durst nach komplexer Durchdringung beim jeweils Anderen – zum Beispiel bei OnlineAbendvorträgen zu rechtlichen, mikrobiologischen, medizinisch-praktischen, geopolitischen und anderen Aspekten der Pandemiebekämpfung. Die Vorbereitung dieses Bandes, die in Gedanken schon 2021 begann, war eine Zeit neuer Bekanntschaften, des Kennenlernens anderer disziplinärer Denkweisen und Wissensbestände und alles in allem eine Zeit intensiven Zuhörens. Für jemanden, der schon länger „im Geschäft“ ist und daher auch an manchen Routinen litt, war das ein erfrischendes Erlebnis.
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Amrei Mueller, The WHO’s Pandemic Lawmaking: Negotiations of International Concern. (Salzburg: Global Health Responsibility, 2023), zum Download unter http://www.ghr.agency/?p=6760. https://www.fr.de/panorama/covid-verordnung-verfassungswidrig-er klaert-slowenien-corona-strafen-zurueck-gezahlt-92540635.html Hans Georg Gadamer: Das Erbe Europas. Frankfurt a.M. 1989 (urspr. 1967), S. 100f.
Zur Entstehung dieses Buchs Matthias Fechner Während ich diese Zeilen an einem stürmischen Novembernachmittag schreibe, streift das Corona-Virus wieder durchs Land. Fast überall hat sich der Krankenstand erhöht, Löcher klaffen in den ohnehin dünnen Personaldecken. Im Vergleich zum November 2022 hat sich die Lage nicht wesentlich verändert. Doch damals regelten strenge Verordnungen das öffentliche Leben. Es herrschte Maskenpflicht. An vielen Orten wurden noch Wattestäbchen in Nasenlöcher gedreht, um Erkenntnisse über einen positiven oder negativen Teststatus zu gewinnen. Auch die daraus resultierenden Inzidenzwerte wurden täglich autoritativ in den Nachrichten verkündet. Natürlich ist der neue Umgang mit dem Virus höchst widersprüchlich. Doch derartige Diskrepanzen zeigten sich in den CoronaJahren 2020 und 2021 noch wesentlich stärker. Schulen und Universitäten wurden geschlossen, Altenheime isoliert, die Gesellschaft segregiert, ohne dass sachkundige Wissenschaftler – etwa Psychologen oder Erziehungswissenschaftler – vorher um ihren Rat gefragt worden wären. Abgesehen davon war die Debatte kontaminiert. Vor allem durch eine einseitige Berichterstattung, bei der weniger die sachliche Problemlösung, sondern in wesentlich stärkerem Maße die Produktion von Sensationen, Angst und Hetze im Vordergrund standen. Damals hatte ich damit gerechnet, dass Wissenschaftler couragiert ihre Stimme erheben würden, um zu mahnen und zu mäßigen, die Sachlichkeit zu stärken, in kritischen Diskussionen Kompromisse zu finden, die Gesellschaft in der Krise zu ermutigen und zu einen. Stattdessen übernahmen viele Wissenschaftler selbst einen Part in den Panikorchestern, die weltweit eine sachliche Auseinandersetzung übertönten. In Deutschland nicht selten mit dem Argument, dass die Bevölkerung – trotz berechtigter Einwände angesichts des extremen Kurses – der Wissenschaft zu folgen habe. Doch welche Wissenschaft war damit eigentlich gemeint? Virologen, die fachfremd und desaströs sogar in pädagogischen Feldern operierten? Oder ideologisierte Geistes- und Sozialwissenschaftler, die hinter jeder Form von Maßnahmenkritik bereits Verschwörungstheo-
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MATTHIAS FECHNER
rien witterten – und dabei selbst zu Verschwörungstheoretikern wurden? Hochschulpräsidenten, die Studierenden den Zutritt zum Campus, damit den Zugang zur Bildung verwehrten, weil sie nicht mit dem politisch passenden Serum geimpft waren? Und Wissenschaftler, die mit ihren Unternehmen enorme Profite machten, während Studierende ihre prekären Arbeitsplätze verloren? Natürlich muss man diese Sicht auf die Vorgänge nicht teilen. Aber vielleicht hätte etwas mehr kritische Distanz geholfen, einen vernünftigeren Umgang mit dem Virus zu finden. Nach einer langjährigen Tätigkeit als Lehrer fragte ich mich damals auch, ob der Beutelsbacher Konsens denn nicht mehr gültig wäre? Dort verständigte man sich bereits 1976 über Regeln der Kommunikation im Klassenzimmer. Vor allem in Fächern wie Politik und Wirtschaft, Gemeinschafts- und Sozialkunde galt – orientiert am Grundgesetz: „Überwältigungsverbot (keine Indoktrination); Beachtung kontroverser Positionen in Wissenschaft und Politik im Unterricht; Befähigung der Schüler, in politischen Situationen ihre eigenen Interessen zu analysieren.“1 Doch möglicherweise dominierte inzwischen eine neue Form der politischen Kommunikation das öffentliche Leben: Ein Berliner Konsens, nach dem ausschließlich von den Regierungen bestätigte Positionen affirmativ diskutiert werden durften? Allerdings waren es anfangs vermehrt medizinische und rechtliche Widersprüche, die im Januar 2021 zur Bildung der 7 Argumente führten; einer Gruppe von anfänglich 81 Wissenschaftlern verschiedenster Fächer, die sich sachlich und inhaltlich nachvollziehbar gegen eine Impfpflicht aussprachen. Dabei wurde bald danach (und wird teilweise noch immer) auf mehreren Feldern zusammengearbeitet: in der Medizin, der Biochemie, der Statistik, der Rechtswissenschaft, aber auch den Künsten und den Sozial- und Geisteswissenschaften. Aus der letztgenannten Gruppe heraus entstand – mit Beiträgen unterschiedlicher Fachwissenschaftler – 2022 ein erster Sammelband: Freiheit unterm Rad, herausgegeben von Tanya Lieske und Sandra Kostner. Die darin veröffentlichten Aufsätze gingen reaktiv auf Facetten des Umgangs mit der Pandemie ein. Was die Autoren und die beiden Herausgeberinnen einte, war die Tatsache, dass sie ihre Argumente nicht am Rande der Gesellschaft gebildet hatten, sondern beruflich im Mainstream arbeiteten. Bei dieser Verortung entstand unweigerlich die Frage, warum sich alle Staatsgewalten unkritisch, manchmal sogar
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energisch an der Durchsetzung auch unsinniger Maßnahmen beteiligt hatten: formale Gewalten wie Exekutive, Legislative und Judikative ebenso wie informelle, mithin die Leitmedien sowie – im besonderen Falle der Covid-Krise – auch die Wissenschaft. Und ein kleiner Teil des Wissenschaftsbetriebs beeinflusste in der Corona-Krise sogar die Richtlinienkompetenz der Kanzlerin, später des Kanzlers in ganz entscheidender Weise. Darüber hinaus beherrschten vor allem Wissenschaftler die öffentlichen Debatten, während die meisten Vertreter von Kirchen, Gewerkschaften, Wirtschaftsverbänden scheinbar kaum noch ein Interesse am Entwickeln eigenständiger, auch konträrer Positionen zeigten. Hier lag es nahe, mit einer Analyse des Wissenschaftsbetriebes anzuschließen, die natürlich am besten von den Hochschullehrern selbst geleistet werden konnte; kannten sie seine ungeschriebenen Gesetze, Regeln und leider auch Defizite doch aus eigener, zumeist jahrzehntelanger Erfahrung. Auf einer Tagung der 7 Argumente im Oktober 2022 in der Nähe von Berlin stieß bereits der erste Aufruf zur Beteiligung an einem Sammelband zur Rolle der Wissenschaft in der CoronaKrise auf positive Resonanz. Innerhalb kurzer Zeit meldeten sich rund zehn potentielle Autoren. Dazu kam ein Beitrag aus Serbien, ein Insider-Artikel zur Veränderung der Leitmedien und ein eigens angefragter Text, der das Medizinstudium aus historischer Perspektive kritisch analysiert. Deutlich wurde dabei, dass die einzelnen Artikel eine tiefer gehende Analyse vornehmen, während die Beiträge in ihrer Gesamtheit ein recht breites Feld abstecken. Nach weiteren Sitzungen in Präsenz und auf Zoom gingen die ersten fertigen Beiträge ein. Sie waren umfangreich, spiegelten das Engagement ihrer Verfasser, auch die akribische Recherche, teilweise durch weit über hundert Fußnoten abgesichert. Und alle Texte betraten auf ihre Weise Neuland, indem sie den erhellenden Blick nicht hinaus in die Welt, sondern hinein in die Türme der Wissenschaft und der Medien, in deren dunklere Winkel schickten. Den Auftakt des Bandes bilden daher drei Artikel, die den Wissenschaftsbetrieb in seiner Gesamtheit kritisch analysieren, von Boris Kotchoubey, Klaus Morawetz und Matthias Fechner. Auf unterschiedliche Art behandeln sie vorrangig den Einfluss der Ökonomisierung auf die Hochschulen, der sich auch in einem ausufernden Antragswesen zeigt: Für geplante Projekte müssen aufwändige Förderanträge gestellt werden, wobei die Höhe der bewilligten Gelder den Status und
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die Karrierechancen der beteiligten Wissenschaftler steigert – nicht immer orientiert an Sinn und Nutzen eines Themas. Interessanterweise stellt dieser Band bereits per se eine Antwort auf die Problematik dar: Er wurde in relativ kurzer Zeit ohne jegliche Fördergelder erstellt (für die selbstlose Hilfe von Monika Melters bedanken wir uns!), getragen lediglich vom kritischen Geist und vom Reformwillen der Beteiligten, die die Beiträge grundsätzlich nach ihren regulären Verpflichtungen verfassten. Als Nächstes nehmen die Texte von Gerald Dyker und Harald Schwaetzer Bezug auf Grundlegendes: Hier geht es um die Frage, was oder wer die Wissenschaft, der man zu folgen habe, überhaupt sei bzw. welche wissenschaftlichen Methoden noch gangbare Wege zur Erkenntnis weisen. Weiter analysiert Rainer Baule die Gefahren, aus empirischer Forschung (bewusst oder unbewusst) Schlüsse zu ziehen, die zwar eigene Ziele untermauern, aber nicht unbedingt der realen Situation und Problematik gerecht werden: Eine Konstellation, die sich auch und besonders in den Corona-Jahren störend auf die gesellschaftliche Kommunikation ausgewirkt hat. Robert Obermaier entwickelt dann aus historischer Perspektive sehr präzise, wie das Phänomen der Krise zur gesellschaftlichen Transformation instrumentalisiert wurde (und wird) – ein Überblick, der hilft, auch die ökonomischen Aspekte der Corona-Krise besser zu verstehen. Die folgenden vier Beiträge sind – wie der Band selbst – vor allem aus der Enttäuschung über das weitgehende Versagen der Geisteswissenschaften in den Corona-Jahren entstanden. Jan Dochhorn fordert die Renaissance der starken Persönlichkeit, des mutigen Ichs in der Wissenschaft, als Voraussetzung einer wahrhaft unabhängigen Forschung; Klaus Buchenau untersucht, warum gerade die ansonsten postmodern-kritisch argumentierenden Geisteswissenschaften mehrheitlich unfähig waren, sich von der offiziellen Corona-Politik zu emanzipieren und ein intellektuelles Korrektiv zu bilden. Der Nachweis, dass der vermehrte und weltweite Gebrauch eines simplen, standardisierten Fachenglischs auch zu einer Nivellierung der Kommunikation im Wissenschaftsbetrieb beiträgt, wird von Markus Riedenauer erbracht. Auf mediale Schnittmengen wagt sich Axel Bernd Kunzes Artikel, der akkurat rekonstruiert, wie mit der Neuen Ordnung eine wissenschaftliche Zeitschrift auf den Index der politischen Korrektheit gesetzt und desavouiert wurde. Dabei geht es hier nicht darum, die
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Inhalte der Zeitschrift, subjektiv „gut“ oder „schlecht“ zu finden, sondern um den Nachvollzug eines komplexen Prozesses, der zu einem Verlust an Meinungsfreiheit in der Wissenschaft geführt hat. Die nächsten zwei Beiträge führen mitten in die Welt der Medien, zu den „dunklen Stunden der Pressegeschichte“. Der taz-Mitgründer und ehemalige Spiegel-Redakteur Roland Hofwiler liefert in seinem Artikel Antworten auf die Frage, warum sich die Berichterstattung der meisten Leitmedien in Deutschland den Vorgaben der Regierung und „ihrer“ Wissenschaftler fast umstandslos angepasst hat. Daran anknüpfend zeigt Vladan Jovanović, dass die Medien auch im europäischen Ausland, sogar im durchaus impfkritischen Serbien, gewiss keinen aufklärenden und mäßigenden Part spielten. Den Band beschließen zwei Beiträge aus der Medizin, jenem Fach, das in der Corona-Krise einen besonders starken Einfluss auszuüben vermochte. Paul Cullen setzt die Ärzte-Ausbildung in einen historischen Kontext und erörtert, ob und wie gerade das Medizin-Studium dazu beiträgt, den kritischen Geist zu lähmen. Die Praxis einer Hebamme unter den Restriktionen der Corona-Jahre beschreibt abschließend Christine Wehrstedt, wobei das emotionale Engagement, das beim Lesen des Textes aufblitzt, einen passenden Schlusspunkt setzt. Die Autoren und die Autorin dieses Bandes gehen zwar nicht davon aus, dass es ihr Werk auf die Bestsellerlisten schafft. Aber sie haben ihre Texte auch nicht fürs Regal und zur Ergänzung der eigenen Publikationslisten geschrieben. Stattdessen hoffen sie, einen wahrnehmbaren Beitrag zur Aufarbeitung und zur Verhinderung neuer Krisen geleistet zu haben. 1
Vgl, Bernhard Sutor, „Politische Bildung im Streit um die ‚intellektuelle Gründung‘ der Bundesrepublik Deutschland“, in Aus Politik und Zeitgeschichte, B-45/2002, S. 17-27. https://www.bpb.de/die-bpb/ueber-uns/au ftrag/51310/beutelsbacher-konsens/
Die maskierte Wissenschaft. Erklärungsansätze für die Stille der Hochschulen in den Corona-Jahren Matthias Fechner Kurz nach Ende des Wintersemesters 2021 lief ich über den leeren Campus einer westdeutschen Universität. Eilte im kalten Wind über einen offenen Platz, der wohl einmal als Agora angelegt worden war, ein weiträumiger Treffpunkt im Freien. Anfang der Siebziger Jahre, als die Reformen der Regierung Brandt es begabten jungen Menschen aus allen Schichten ermöglichen sollten, ein Studium aufzunehmen. „Mehr Demokratie wagen“ – das war der Slogan damals. Jetzt bemerkte mich ein maskierter Wachmann schon von weitem und näherte sich. Durchaus nicht unhöflich wies er mich darauf hin, doch bitte ebenfalls eine Maske zu tragen. Ich erklärte ihm, dass nach aller Erfahrung, auch nach wissenschaftlichen Erkenntnissen an diesem Ort keine Ansteckungsgefahr von mir ausgehen könne.1 In weitem Umkreis war niemand zu sehen, er selbst hielt wenigstens zwei Meter Abstand. Noch immer freundlich deutete der Wachmann auf ein Metallschild, das hinter mir an einen Laternenpfahl geschraubt war. Laut Corona-Verordnung, war dort zu lesen, bestehe auf dem gesamten Universitätsgelände die Pflicht zum Tragen eines Mund- und Nasenschutzes. Was sollte ich tun? Ihm darlegen, dass eine Universität den Auftrag habe, eigenständige Erkenntnis zu fördern? Waren solche Regeln überhaupt mit kritischem, ergo: wissenschaftlichem Denken vereinbar? Wollte ich mich deshalb beim Präsidenten der Universität über diese Regeln und ihre rigide Durchsetzung beschweren? Oder würde der Wachmann seine Kollegen verständigen, sie über mein uneinsichtiges, vielleicht sogar bedrohliches Verhalten informieren? Und dann die Polizei rufen? Wollte ich ihm, wollte ich mir wirklich derartige Scherereien zumuten? Dennoch: Ich wollte ihm auseinandersetzen, dass es unangebracht sei, an einer Universität zu arbeiten, zumal in den Geistes- und Sozialwissenschaften, ohne derartige Vorgänge kritisch zu hinterfragen. Aber ich spürte sofort, dass dieses Unterfangen unmöglich war.
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Denn es stimmte nicht mehr. Wahrscheinlich ist sogar das Gegenteil der Fall. Und ich wollte es einfach nicht begreifen. Der Wachmann handelte im Auftrag, im Einklang mit der Universität: Dem Gehäuse, in dem sich die Wissenschaft heute verkriecht. Also setzte ich die Maske auf, widerwillig und gar nicht vorschriftsmäßig. Der Wachmann nickte erleichtert und setzte seinen Kontrollgang fort, ohne sich umzudrehen. Dann zog ich die Maske wieder vom Gesicht. Natürlich genügt diese Begebenheit nicht, um den biegsamen Zustand des Wissenschaftsbetriebes während der Corona-Jahre zu erklären. Schließlich wird man auch sonst kontrolliert: Im Zug auf den Fahrschein, im Seminar auf die erbrachte Leistung als Studierender oder Dozierender, vom Finanzamt auf die Steuererklärung. (Häufig digital eingereicht, mit Daten, die dem Amt bereits bekannt sind.) An anderen Universitäten wurde sogar die Segregation aktiv durchgesetzt: In Potsdam etwa verhängte die Universitätsleitung auf dem Campus ein Zutrittsverbot gegen ungeimpfte Studierende.2 Gewiss waren solche Maßnahmen auch getrieben von Angst: Vor dem Virus, der Ansteckung, der Krankheit, vielleicht sogar dem Tod, wie viele damals glaubten. Das Befremdliche an dieser Anekdote ist vielmehr, dass sie zeigt, wie offensichtlich unsinnige Regelsetzungen von den Menschen im Wissenschaftsbetrieb nicht kritisch diskutiert, sondern akzeptiert wurden, manchmal äußerst willig. Dabei befinden wir uns nicht in einer Diktatur. Wie reagierten die Menschen, wenn das Verweigern der Maßnahmen mit Gefängnis und Lager bestraft würde? Könnte sie ihr Gewissen dann zur sichtbaren Rebellion treiben? Würden sie ihren guten Ruf, die eigene Freiheit, ihre körperliche Unversehrtheit doch opfern? Um ihre persönliche Integrität zu wahren, damit vielleicht sogar ihre Mitmenschen vor Übergriffen zu schützen? In diesem Artikel geht es mir nicht darum, spekulativ die Grenzen des Vorstellbaren zu erkunden. Eher versuche ich, Erklärungsansätze zu finden, warum sich gerade die in wissenschaftlichen Einrichtungen forschenden, lehrenden und studierenden Menschen angepasst, sogar zu Propagandisten unwissenschaftlicher Kontrollmaßnahmen gemacht haben.
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I.
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Anpassung und Aufstieg
Beginnen möchte ich mit dem kompetitiven Selbstverständnis, der Auslese, dem daraus entstehenden Korpsgeist in der Wissenschaft. Einerseits waren solche Auswüchse früher ausgeprägter: Man muss gewiss nicht die Perversionen des Wissenschaftsbetriebes im Nationalsozialismus zitieren, um zu verstehen, dass hierarchisch organisierte und meritokratisch denkende Forscher anfällig für autoritäre Manipulation sind. Andererseits wurde in der Bundesrepublik Deutschland um 1968 zwar das Personal ersetzt. Im technisch revidierten System – man erinnere nur die durch den Sputnik-Schock und Georg Pichts Bildungskatastrophe inspirierten Reformen der sozialliberalen Koalition – aber überlebten viele Regeln, Ansprüche und Gebräuche, wandelten sich nur graduell. Und die Bologna-Reformen standardisierten dieses System viel später. Sie machten es kompatibel für eine numerische, digitalisierte Erfassung geistiger Prozesse. Gleichzeitig verlief und verläuft der Aufstieg in der Wissenschaft weiterhin über Anpassung, Protektion, Netzwerke. Die Anpassung erfolgt bereits über die Orientierung der Studierenden an den Forschungsinteressen und Haltungen ihrer Professoren. Die Auslese geschieht dann gestuft. Nach den entsprechenden Abschlüssen und Qualifikationsphasen – Bachelor, Master, Doktor, Postdoktorandenphase und Habilitation – erhöhen sich (gegenseitige) Erwartungen, auch der Kontakt zu den Mentoren, damit die Feinheit der Anpassung. Erfahrungsgemäß geht man zwar nach der Promotion (Doktor) davon aus, dass irgendwann der „Königsmord“ vollzogen wird. Der Nachwuchswissenschaftler versucht also, den Doktorvater zu übertrumpfen. Doch handelt es sich häufig um den vorhersehbaren Versuch, ein eigenes Profil zu gewinnen, um an eine der begehrten Professuren zu kommen. Einerseits konkurrieren dann Kollegen kurz vor der Ziellinie des manchmal jahrzehntelangen Laufs durch das Wissenschaftssystem. Andererseits sind sie davor Verbündete, weil sie auf einem begrenzten Fachgebiet mit einschlägigen Beiträgen Konferenzen und Sammelbände bereichern, gegenseitig Gutachten ausstellen, gemeinsame Förderanträge verfassen. Ein Nachlassen des Einsatzes, geistiges Ausscheren, das Infragestellen der gemeinsamen Werte und Ziele sind hier wenig erwünscht. Und bei dieser Form fachlicher Spezialisierung erscheint auch das Engagement in gesellschaftspolitisch relevanten Schnittmengen eher hinderlich. Der Glaubwürdigkeit eines Wissenschaftlers schadet es, wenn sich auf
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dessen Publikationsliste zu viele fachfremde Titel finden, an denen möglicherweise noch Menschen beteiligt sind, die mit wenigen Klicks im Internet als unseriös identifiziert werden können. Zudem darf man von einer selbstkritischen Zurückhaltung vieler Wissenschaftler ausgehen, sich als Fachfremde in die Forschungsfelder hochspezialisierter Kollegen zu drängen. Die Unsicherheit, sich etwa als Geograph zur Qualität von Impfstoffen oder zu Grundrechtseinschränkungen zu äußern, mag auch aus dieser Konstellation rühren.
II.
Das Ich in der Wissenschaftsfiktion
Dabei werden die Leistungen nicht nur auf Publikationslisten verzeichnet, sondern auch statistisch dokumentiert. Jeder karrierebewusste Wissenschaftler verfügt mittlerweile über eine ORCID-Nummer, die es erlaubt, seinen wissenschaftlichen Output elektronisch zuzuordnen und zu messen.3 Und es gibt sogar Grau- und Schwarzmärkte, auf denen wissenschaftliche Arbeiten gegen Bezahlung zu allen relevanten Themen bestellt werden können, um den Forschungsoutput aufzupolieren – mit zunehmendem Einsatz von Künstlicher Intelligenz.4 Das Imitieren von Forschung ist auch deshalb möglich, weil die äußerst rigide wissenschaftliche Form wenig Raum für einen eigenen Stil lässt. Im Regelfall schreibt ein Autor oder eine Autorengruppe in der dritten Person, als wäre das kommunizierende Subjekt lediglich ein Werkzeug der Wissenschaft, das abstrakte Erkenntnisse aus höherer Warte kommuniziert. Diese Opferung des Ichs vor der Form erhebt den subjektiven Forscher jedoch umgekehrt zum scheinbar objektiven Sprecher der Wissenschaft, gesteht ihm implizit eine fast priesterliche Autorität zu. Und entbindet ihn damit von persönlicher Verantwortung. Denn der Forscher ist zwar Autor, beschreibt in der Regel klinische Abläufe, analysiert Resultate, interpretiert Texte, bekennt sich aber nicht zwingend als Ich zu den Aussagen in seinem Text. Diese Konstellation begünstigte es, dass sich die Darstellung und Nutzung von Forschungsresultaten vom Menschen, von persönlicher Verantwortung lösen konnte. In den Corona-Jahren fand man daher problemlos Wissenschaftler, die bereit waren, in ihrer Rolle die absurdesten Maßnahmen zu vertreten. In dieser Rolle gibt man selten Auskünfte über die weiteren Zusammenhänge seiner Forschung, welche Umstände beispielweise persönlich motiviert haben, an welchen Stellen des Erkenntnisprozesses Schwierigkeiten auftraten, wie
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also mit Zweifeln, Rückschlägen und Scheitern umgegangen wurde. Anders als im Theater, im Film, in der Literatur finden innerhalb des Wissenschaftsbetriebes nur in wenigen, zumeist geisteswissenschaftlichen Fächern Diskussionen über die gängigen Forschungs-Fiktionalisierungen statt. Obwohl diese Fiktionalisierungen jeweils eigene Genres beeinflusst haben: den wissenschaftlichen Vortrag, den wissenschaftlichen Artikel, aber auch das Geleitwort und die Einleitung zu einer wissenschaftlichen Publikation, selbst den Förderantrag könnte man einbeziehen, um nur einige der prägnantesten Textarten zu nennen. Und je stärker naturwissenschaftlich die Forschung orientiert ist, desto geringer ausgeprägt scheint die Fähigkeit zur wissenschaftstheoretischen Selbstreflexion über die eigene Sprecherposition, die Gestaltung der Texte überhaupt zu sein. Dies war auch in den Corona-Jahren der Fall. Das auf eigenständiger Erkenntnis gründende Ich schien aus dem Wissenschaftsbetrieb verschwunden, aus den Texten verdrängt von den Pronomen der dritten Person, aufgelöst in unpersönlicher Sprache. Gleichzeitig nutzten Wissenschaftler ihre Titel und Positionen, um ihre Meinungen über das Virus und die Welt zu verbreiten, ungeachtet des formalen Rahmens, in ihren Rollen möglicherweise getrieben von Eitelkeit, hinunter vom Katheder, hinaus aus dem Hörsaal, weg von der kleinen Bühne der Welterklärung. War es nicht wesentlich befriedigender, mit sorgenvoller Miene vor der großen Öffentlichkeit strenge Weisungen zu kommunizieren, politischen Maßnahmen den Segen der Wissenschaft zu erteilen?
III. Was ist wissenschaftlich? An dieser Stelle öffnet sich das nächste Problemfeld der Corona-Jahre. Was ist eine wissenschaftliche Aussage? Die einfachste formale Voraussetzung wäre diese: Eine These, eine Erkenntnis hat nur dann den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, wenn sie von Menschen mit (wissenschaftlichem) Studium geäußert wird, die wenigstens an einer wissenschaftlichen Einrichtung assoziiert sind oder in einem entsprechend ausgestatteten Unternehmen mit gegenseitig anerkannten Methoden Forschung betreiben. Die These sollte belegt, damit nachvollziehbar sein; darf aber ebenso andere Positionen, selbst gegensätzliche Methodiken und Resultate spiegeln, wenigstens indirekt. Dabei sind wissenschaftliche Aussagen selten pauschal, eher differenziert, abwägend, temporär angelegt, damit revisionsfähig, meistens ungeeignet für
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Superlative und Einseitigkeiten. Sie sind auch nur dann valide, wenn sie in einem wissenschaftlichen Kontext in der entsprechenden Form von einem oder mehreren Menschen vorgetragen werden, den aktuellen Forschungsstand berücksichtigend und ergänzend, beispielsweise als Monographie, als Vorlesung, als Beitrag auf einer wissenschaftlichen Konferenz oder in einem Sammelband.
IV. Die ideologische Unschärfevariante Diesem Definitionsversuch wohnt sicher eine Offenheit inne, weil die genannten Faktoren durchlässig für Subjektivität sind. Denn der forschende Mensch ist nicht selten von individuellen Erfahrungen geprägt, wird darüber hinaus von Eigen-, manchmal auch Fremdinteressen bewegt. Und ein Studium – als Grundlage wissenschaftlicher Arbeit – wird von politisch-normativen Aspekten beeinflusst: Die Inhalte von Lehre und Forschung sind abhängig vom jeweiligen politischen System, das seine Wissenschaftler bezahlt und fördert. In Deutschland sind Wissenschaftler häufig Beamte, für die eine verbindliche Loyalität gegenüber dem Staat gilt. Auch die Wissenschaftler selbst haben nicht alle den gleichen Kenntnisstand erreicht. Orientiert an der Hierarchie könnte man – rein theoretisch – erwarten, dass sich ein erfahrener W3Professor kompetenter äußert als ein frisch ernannter Juniorprofessor. Und ein Juniorprofessor sollte in seinem Fach besser bewandert sein als der studentische Faktenchecker eines öffentlich-rechtlichen Senders. Die in der Forschung gewonnenen Erkenntnisse werden zudem mit unterschiedlicher Qualität verarbeitet und vermittelt. Ebenso verhält es sich – äußerlich betrachtet – mit den wissenschaftlichen Einrichtungen, deren Infrastrukturen recht variable Rahmenbedingungen für die Forschung bieten, in der technischen und finanziellen Ausstattung, der Bezahlung des Personals oder der kollegialen Zusammenarbeit. Bedenken sollte man weiterhin, dass es unterschiedliche Denkschulen, Netzwerke, Seilschaften gibt, die sich wechselseitig beeinflussen. Kollegen aus der gleichen Denkschule könnten gegenseitig auch weniger überzeugende Arbeiten mit kollegialer Nachsicht bewerten, selbst in Doppelblindgutachten5, wo manche Gutachter durchaus geneigt sein dürften, ihnen normativ näherstehende Forschung positiver zu lesen. Zudem befinden sich Wissenschaftler, wie erwähnt, meistens in Abhängigkeiten: Der Wissenschaftsbetrieb wird heute durch Kooperationen bewegt, zu deren Nebenwirkungen wiederum Voreingenommen-
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heit, Begünstigungen, im schlimmsten Falle Vetternwirtschaft gehören. Wer würde die fachlich dürftige Publikation eines guten Kollegen und potentiell wichtigen Kooperationspartners mit objektiver Schonungslosigkeit rezensieren? Umgekehrt können Wissenschaftler konkurrierender Richtungen bei der (inhaltlichen) Konfrontation gegenseitig eher zu emotional negativen Reaktionen neigen, zu Distanzierungen, die nicht immer konstruktiv sind, was bisweilen bei den Corona-Diskursen zu beobachten war. Schließlich birgt auch die Forschung selbst genügend Möglichkeiten, verzerrte Ergebnisse zu liefern, wie es in diesem Band eingehender in den Beiträgen von Boris Kotchoubey, Klaus Morawetz und Rainer Baule erklärt wird. Dies beginnt bei der Methodik, setzt sich fort über die Auswertung und Darstellung der Daten, endet beim zusätzlichen Filter der medialen Vermittlung und Rezeption. Schließlich – darauf werde ich noch zurückkommen – bilden Drittmittel die wesentliche materielle Basis der Forschung. Stiftungen, Unternehmen und staatliche Einrichtungen wie die DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft) oder das BMBF (Bundesministerium für Bildung und Forschung) finanzieren eine große Zahl von Projekten. Bei der Beantragung der Fördermittel sind nicht nur die Netzwerke nützlich, sondern auch ein Gespür für aktuelle, politisch gewollte Themen, die damit verbundenen Schlüsselwörter, die passende Sprache. Finanziell geförderte Forschung muss im Anthropozän vor allem datengetrieben sein, digital, feministisch, nachhaltig, klimaneutral, antirassistisch und nicht zuletzt divers. Natürlich stellen diese Gesichtspunkte Einladungen zur Subjektivität dar. Dies setzt sich bei der Auswahl der Kooperationspartner fort. War es vor drei Jahren beispielsweise noch unproblematisch, sogar hilfreich, die Russische Akademie der Wissenschaften als Partner zu nennen, ist dies durch die aktuellen Sanktionen unmöglich geworden; selbst bei einem Projekt, das sich ausschließlich mit russischsprachiger Samisdat-Literatur beschäftigte. Ausgehend von der Heisenbergschen Unschärfevariante könnte man deshalb von einer ideologischen Unschärfevariante sprechen. Themenstellung, inhaltliche und formale Erwartungen einer Ausschreibung tragen damit schon vor Beginn der eigentlichen Forschung zu einer teilweise erheblichen Verzerrung der Resultate bei.
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V.
Corona-Forschung: Fakten und Finanzen
Im Jahr 2021 wurden von der DFG wissenschaftliche Projekte mit insgesamt 3,6 Milliarden Euro gefördert.6 Einen neuen Schwerpunkt bildeten dabei Vorhaben zur Bekämpfung des Corona-Virus: „Bereits unmittelbar nach dem Ausbruch von Corona hat die DFG eine Ausschreibung zur fachübergreifenden Erforschung von Epidemien und Pandemien gestartet und fördert in diesem Rahmen 51 Projekte (mit 143 Antragstellenden) mit einer Gesamtbewilligungssumme von 32,0 Millionen Euro für 2021 und die Folgejahre.“7 Insgesamt wurden 215 Vorhaben (mit 435 Antragstellern) gefördert, also auch bereits laufende Projekte. Da stets nur ein kleiner Teil der eingereichten Vorhaben erfolgreich ist, dürfte die Zahl der tatsächlich gestellten Anträge noch wesentlich höher ausgefallen sein.8 Die DFG fokussierte mit ihrer Förderung vor allem den „Zweck, aus wissenschaftlichen Erkenntnissen konkrete Empfehlungen für den alltäglichen Umgang mit der Pandemie zu entwickeln.“9 Was damit konkret gemeint war, zeigt ein Blick auf die Aktivitäten des Virologie-Professors Christian Drosten, Lehrstuhlinhaber und Institutsdirektor an der renommierten Charité, einem Berliner Krankenhaus, das die Universitätsmedizin der Humboldt Universität und der Freien Universität vereint. Die Einrichtung hat das begehrte Prädikat der „Exzellenzuniversität“ erhalten und wird von der DFG aktuell mit (der Beteiligung an) 18 Sonderforschungsbereichen gefördert.10 Drosten beriet nicht nur die Regierungen von Bund und Ländern. Abwechselnd mit seiner Kollegin Sandra Ciesek wandte er sich in einem preisgekrönten Podcast des NDR, dem „CoronavirusUpdate“11, an die breitere Öffentlichkeit. Natürlich handelte es sich nicht um ein wissenschaftliches Format, etwa einen Konferenzvortrag mit anschließender Diskussion unter Fachkollegen. Vielmehr entspann sich von Folge zu Folge ein lockeres Gespräch zwischen einem in der Wissenschaft tätigen Menschen und einer Journalistin. Drosten selbst dürfte sich dabei mit hoher Wahrscheinlichkeit bewusst gewesen sein, dass er hier eine andere Rolle spielte: dass er lediglich seine Forschung (und die Arbeit seiner Kollegen) für Laien darstellte, nunmehr als Wissenschaftskommunikator in einer populistischen Grauzone agierend. So behauptete er beispielsweise am 30. März 2021 im Gespräch mit der Journalistin Beke Schulmann:
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Es ist klar: Es müssen die Kontakte reduziert werden. Wir haben inzwischen sehr viel Kenntnis darüber, wo diese Kontakte auftreten. Dazu zählt der Privatbereich, der Erziehungs- und Bildungsbereich und dazu zählen die Arbeitsstätten. Das ist relativ klar geworden in letzter Zeit. Da gibt es viele wissenschaftliche Beiträge, die jetzt auch auf Deutschland bezogen sind. Da gibt es wenig Restunsicherheit darüber. Das umzusetzen ist Aufgabe der Regulations- und Politikebene. Ich glaube, dort ist nicht wirklich eine Unkenntnis darüber. Ich glaube, da wird die Öffentlichkeit getäuscht, wenn gesagt wird: ‚Wir wissen ja noch gar nicht, wo das Virus übertragen wird, da muss noch viel geforscht werden‘ und solche Dinge. Das ist falsch, das ist Wissenschaftsleugnung.12
Nicht nur im Rückblick lässt sich feststellen, dass Drosten der Öffentlichkeit hier einseitige und unhaltbare Thesen vermittelte, die Regeln guter wissenschaftlicher Arbeit ignorierend. Er spricht kategorisch („Es ist klar“, „wenig Restunsicherheit“, „das ist falsch“) in der ersten Person Plural („wir“), damit einerseits andeutend, dass er die Folgerungen nicht alleine verantwortet, dass ein Team hinter seinen Aussagen steht, ohne jedoch seine Mitstreiter zu nennen. Andererseits belegt er seine These der extremen Kontaktreduktion zur Virusbekämpfung nicht konkret. Drosten nennt keinerlei Quellen über die gesprochen werden könnte, sondern deutet lediglich an, es gebe „viel Kenntnis darüber“ und „viele wissenschaftliche Beiträge“. Eine Folgenabschätzung seiner drastischen Maßnahmen erwähnt er nicht. Dabei wäre es dringend notwendig gewesen, die psychologischen Folgen der sozialen Isolation zu erörtern, die wirtschaftlichen Risiken und Langzeitfolgen klar zu benennen – im Sinne eines wissenschaftlichen Diskurses zur Gewinnung menschlicher Lösungen aus einer Synthese unterschiedlicher Forschungsergebnisse. Stattdessen attackiert der Virologe andere Positionen, setzt die verbale Blutgrätsche ein, indem er ein umsichtiges, gründliches Vorgehen pauschal als „Wissenschaftsleugnung“ schmäht. Dabei wirkt auch das Demokratieverständnis des Charité-Professors befremdlich. Die Umsetzung der von ihm geforderten Kontaktbeschränkungen in den gesellschaftlich relevantesten Bereichen – Privatsphäre, Bildung und Arbeit – liege bei der „Regulationsund Politikebene“. Nun fragt man sich (nicht nur als Politikwissenschaftler) zuerst, was er denn mit diesen Begriffen genau gemeint haben könnte? Allerdings ist deren Definition in einer Demokratie zuerst einmal weniger relevant, weil man angesichts derart einschneidender Forderungen doch in erster Linie von einer breiten gesellschaftlichen Diskussion ausgehen muss, die von der Legislative fokussiert aufge-
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nommen, diskutiert, in Gesetzen verarbeitet und verabschiedet wird. Deren direkte Umsetzung über eine „Regulations- und Politikebene“ könnte dagegen als verfassungswidrig bezeichnet werden. Doch sollte man an dieser Stelle nicht allzu streng mit den Begriffen umgehen. Drosten ist Mediziner: Selbst in einer politischen Beratungsfunktion darf man von ihm nicht erwarten, dass er sich der verfassungsrechtlichen Implikationen seiner Aussagen genauestens bewusst ist. Hier hat er Recht: Dies ist an erster Stelle Aufgabe der drei staatlichen Gewalten sowie der damit betrauten Fachwissenschaften. An zweiter Stelle aber auch der Medien, überhaupt aller Menschen, die sich informiert am gesellschaftlichen Diskurs beteiligen. Insofern erstaunt vielmehr die Stille, sogar die öffentliche Zustimmung nach derartigen Aussagen, die selbst im Wissenschaftsbetrieb mehr oder weniger kritiklos hingenommen und umgesetzt wurden. Dabei ist diese Aussage nur ein Mosaiksteinchen, das durch viele andere ergänzt werden könnte. Um das kritische Bild deutlicher zu konturieren, sei hier noch ein weiteres, ergänzendes Detail der Corona-Jahre erwähnt: Gemeinsam mit über hundert Ärzten, Pflegekräften und Gesundheitsexperten unterzeichnete Drosten am 7. Mai 2020 einen offenen Brief an Facebook, der auf der Seite des Kampagnennetzwerkes Avaaz ein dezidierteres Vorgehen gegen „Falschinformationen“ zur COVID-19-Pandemie forderte. Der Text wurde sogar als Anzeige in der New York Times veröffentlicht.13 Die Genetik-Professorin Melanie Brinkmann, ebenfalls Mitunterzeichnerin, erklärte dazu: „Wir müssen sicherstellen, dass Informationen, die noch nicht gar sind, keine massenhafte Verbreitung finden.“14 Natürlich wucherten unter der Vielzahl von mehr oder weniger fundierten Positionen zum Umgang mit dem Virus unbrauchbare, genuin verschwörungstheoretische Positionen und Falschinformationen. Und diese gingen in Einzelfällen noch weit über das Maß dessen hinaus, was bereits von Wissenschaftlern wie Drosten verbreitet wurde. Dennoch war es fatal, dass vor allem die Vertreter eines rigiden Lockdowns um Drosten die Diskurse entscheidend bestimmen konnten. Vor dem Hintergrund der bereits erwähnten Entwicklungen im Wissenschaftsbetrieb ist dies aber nur folgerichtig. Es ging nicht zuletzt darum, sich selbst mit einem offensiven Narrativ erfolgreich zu positionieren, den eigenen Netzwerken und Seilschaften im Kampf um Fördergelder gegen die Konkurrenten Vorteile zu verschaffen, den Gegner argumentativ auszuschalten. Wie dies unmissverständlich von
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Melanie Brinkmann formuliert wurde. Dabei waren Millionensummen im Spiel, manchmal Milliarden.
VI. Forschung und Wirtschaft Das wohl erfolgreichste Wissenschaftlerpaar Deutschlands, Uğur Şahin und Özlem Türeci, nutzte genau diese Konstellation für sich, mit deutlich höheren Summen als Drosten. Am Ende erfolgreich durchlaufener Wissenschaftskarrieren – in Şahins Fall von der Nachwuchsgruppenleitung zur W3-Professur – gründeten sie ihre eigenen Unternehmen: zuerst Ganymed Pharmaceuticals (2001), dann BioNTech (2008). Ihr materieller Erfolg baut zwar auf teilweise recht fragwürdigen Forschungsleistungen.15 Aber primär geht es in dieser Dimension nicht nur um Forschung, sondern auch und vor allem um Marktmacht und Gewinnmaximierung. So war es nur konsequent, dass die Patente für den von BioNTech entwickelten mRNA-Imfstoff Comirnaty nicht freigegeben wurden. Das Unternehmen an der Mainzer Goldgrube wurde zwar mit öffentlichen Fördermitteln von insgesamt 375 Millionen Euro bei der Entwicklung des Impfstoffes unterstützt. Dafür zahlte es 2021 wiederum 4.753,9 Milliarden Euro an Steuern (Vorjahr: 161,0 Millionen) zurück16 – bei einem Gewinn von 10.292,5 Milliarden Euro (Vorjahr: 15,2 Millionen).17 Dieser Gewinn wurde jedoch nicht auf einem freien Markt erwirtschaftet, sondern speiste sich mehrheitlich aus staatlich organisierten und finanzierten Großeinkäufen, wurde also ebenfalls weitgehend aus öffentlichen Geldern erzielt.18 Der Kurs der BioNTech-Aktie an der NASDAQ-Börse hatte sich seit seiner Ausgabe Mitte Oktober 2019 von 15 Dollar innerhalb von knapp zwei Jahren auf über 230 Dollar (Stand: Juni 2021) erhöht, war also um 1.430 Prozent gestiegen. Die Marktkapitalisierung der Gesellschaft vervielfachte sich ebenfalls, von 3,4 Milliarden US-Dollar auf 54,6 Milliarden US-Dollar (Stand Juni 2021). Şahin wurde damit innerhalb von zwei Jahren zum Multimilliardär und wird unter den 300 reichsten Menschen der Welt geführt. Obwohl er lediglich 17,25 Prozent der Anteile an BioNTech kontrolliert.19 Das Kritische an dieser Entwicklung ist nicht die Verbindung von Wirtschaft und Wissenschaft, deren Synergien immer Treiber für Innovation und Wachstum waren. Gefährlich ist das Hineinwuchern von Themen der Forschungsförderung in gesellschaftliche Problembereiche. Eine gesellschaftliche Herausforderung, ein Problem, eine Gefahr
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wird identifiziert. Daraufhin bewerben sich Wissenschaftler mit Lösungsvorschlägen um Fördergelder. Dabei liegt es nahe, die Sachlage im Förderantrag möglichst dramatisch darzustellen, um – wie oben erwähnt – die eigenen Chancen zu erhöhen und Konkurrenten auszuschalten. Abgesehen von einer Verzerrung der tatsächlichen Problematik, entstehen daraus hohe materielle Kollateralschäden. Denn die umverteilten Steuergelder, die nicht nur über Forschungsförderung, sondern auch über milliardenschwere Aufträge der öffentlichen Hand an Firmen wie BioNTech geflossen sind, fehlen in anderen Bereichen der Gesellschaft. Auch und gerade im Bildungswesen, das durch die brutalen Pandemiemaßnahmen ohnehin in besonderem Maße geschädigt wurde.
VII. Die Soziologie des Konsenses Auch ein Blick auf die breiteren Schichten der Wissenschaftspyramide hilft zu verstehen, warum Universitäten und Hochschulen keinen eigenständigen und mutigen Umgang mit der Corona-Krise fanden. Nicht unterschätzt werden sollte dabei, dass dort 82 Prozent der Arbeitsverhältnisse befristet sind.20 Der Andrang auf die Stellen der wissenschaftlichen Hilfskräfte, der Projektmitarbeiter, der Lehrkräfte für besondere Aufgaben und Dozenten ist folglich nicht immer groß; zumal ein gutes Drittel lediglich eine Entlohnung in Teilzeit vorsieht.21 Warum also nehmen junge Menschen ein Studium auf, machen damit den ersten Schritt in die Wissenschaft? Laut Statista locken sie vor allem fachliches Interesse (59%) und Karrierechancen (43%) an die Universität.22 Doch man darf annehmen, dass viele junge Menschen auch mit dem Bewusstsein studieren, im Studium, damit in der Wissenschaft, auf der Seite der Vernunft, des Fortschritts, der aufgeklärten Zukunft zu stehen. Die Immatrikulation, später eventuell das Arbeitsverhältnis an der Universität oder Hochschule kommt damit einer Selbstermächtigung gleich: Jetzt kann man etwas gegen den Klimawandel, gegen gesellschaftliche Ungleichheit oder gegen tödliche Infektionskrankheiten tun, unter Anleitung von Expert*innen23, die man vielleicht schon aus den Medien kennt. Bereits Studierende bewegen sich dabei in einer Hierarchie, die mit dem Versprechen glänzt, man könne später einmal selbst als Professor*in die Welt erklärend verändern. Gleichzeitig suggerieren die Medien, dass andere Wege dieses Ziel zu erreichen, verwahrlost seien.24 „Listen to the Scientists!“ – der Mahnruf
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der schwedischen Klimaaktivistin Greta Thunberg – in diesem Band ausführlicher von Gerald Dyker behandelt – führt dagegen auf einen klaren Weg mit umfassendem Programm, zur Rettung der Welt. So ist das Bild der Wissenschaftler in den Medien inzwischen fast durchweg positiv besetzt, sieht man einmal von der kleinen und leicht identifizierbaren Gruppe der Dissidenten oder „Schwurbler“ ab. Neue Vorbilder wie der modeste Milliardär Ugur Şahin, die smarte Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim oder der findige Astrophysiker Harald Lesch kommunizieren einfache Botschaften aus der komplexen Welt der Forschung. Sie wenden sich an alle Schichten der Bevölkerung, ohne die Sauertöpfigkeit der sogenannten alten weißen Männer, die den Professorstand in den Jahrhunderten davor prägte. Unterschwellig vermitteln sie, dass die Wissenschaft zugewandt, bodenständig und vernünftig sei. Man müsse die Forschung eben nur verstehen, um die Welt zu begreifen, sich den Erkenntnissen aus Labor, Feld und Seminar anschließen, damit alles gut wird. Und das Publikum dafür ist treu und groß: Terra X, die Wissenschaftssendung des ZDF, erreicht seit 40 Jahren wöchentlich bis zu vier Millionen Zuschauer.25 Der Redaktionsleiter, Geschichts-Professor Peter Arens, hat die Sendung nicht nur medial diversifiziert, um ein jüngeres Publikum anzusprechen. Er denkt auch darüber nach, stärker mit Schulen zusammenzuarbeiten, um dort im Sinne des öffentlich-rechtlichen Senders zu wirken: „Mein persönlicher Ehrgeiz liegt darin, dass wir über die Bildungsserver der Bundesländer und über engere Kontakte, zum Beispiel zum Verband deutscher Geschichtslehrer versuchen, unsere Angebote noch präsenter an die Schulen zu bekommen.“26 Bei dieser dynamischen Offenheit der Medien überrascht es kaum, dass die Bewegung von den Schulen zur Wissenschaft noch bedeutender ausfällt. Die Zahl der Hochschulzugangsberechtigten pro Schulabgänger-Jahrgang verdoppelte sich fast zwischen 1980 und 2015 (von 220.000 auf 445.000), fiel danach nur etwas ab (2021: 394.000). Drastischer zeigt sich jene Bewegung dann bei den Studienanfängern. 1980 waren es noch 82.800 im ersten Jahr des Erwerbs der Hochschulzugangsberechtigung, wohl auch bedingt durch den damals von den Männern abzuleistenden Wehr- oder Zivildienst. Dagegen nahmen 2015 196.700 Hochschulzugangsberechtigte ein Studium auf, wobei diese Zahl 2021 trotz der Corona-Maßnahmen nur geringfügig auf 182.300 sank.27 Im vergangenen Jahr (2021/22) studierten insgesamt
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etwa 2.500.000 Menschen an Universitäten und Hochschulen in Deutschland.28 Folgern darf man also, dass der Einfluss der Wissenschaft auf die jüngeren Alterskohorten gewachsen ist, der tertiäre Bildungssektor eine noch wichtigere Rolle bei der Heranbildung eines breiten gesellschaftlichen Führungsnachwuchses spielt. Dieser Mechanismus scheint nun fast reibungslos zu funktionieren, da Studentenrevolten – wie in den Jahrzehnten zuvor29 – in letzter Zeit ausgeblieben sind. In den Corona-Jahren zeigte sich sogar eine hohe Identifikation vieler Studierender mit dem autoritären Kurs der Regierung. Dabei verteidigten selbst links-militante Gruppen die Interessen der Pharmaindustrie, indem sie beispielsweise Demonstrationen attackierten, in denen Zweifel an der Härte der antidemokratischen Maßnahmen und der Wirksamkeit der Impfseren proklamiert wurden.30 Die Linke – unter ihnen nicht wenige Studierende – übernahm in Deutschland damit eine Aufgabe, die klassischerweise an Rechtsextreme vergeben wurde: das militante Unterbinden von Protesten gegen die Regierung und die Interessen von Großunternehmen. Die gerne kolportierte Begründung, dass sich in den Demonstrationszügen gegen die Maßnahmen auch Rechtsextreme befunden hätten31 (und die Gegendemonstranten schon deshalb links seien), verändert die Konstellation sachlich nicht. Das – im Resultat – aggressive Verteidigen der monetären Interessen transnationaler Pharma-Unternehmen und die Mithilfe bei der exekutiven Einschränkung von Grundrechten ist in keinem Fall ein Akt aufgeklärter, linker Emanzipation. Eine oberflächliche Lösung zur Einordnung des neuen Phänomens bestünde freilich nicht in einer kompletten Neudefinition, sondern in einer präziseren Definition, etwa als temporär auftretende „Kapitalistische Linke“. Auch Universitäten und Hochschulen sind auf ihre Weise von dieser Problematik betroffen. Ich meine damit nicht an erster Stelle die Cancel Culture, die in vielem an die Auswüchse der Adenauer-Zeit, teilweise bereits an die DDR erinnert. Aber dort ist immerhin zu beobachten, dass die Konflikte, die aus Gefühlen der Verletztheit heraus an die Öffentlichkeit treten, doch auf einer realen, harten Grundlage entstehen. Denn es handelt es sich auch um Auseinandersetzungen, die Verschiebungen asymmetrischer Machtverhältnisse spiegeln. Bis vor kurzem übten fast ausschließlich Professoren, Mitarbeiter, auch die Universitätsverwaltung Macht aus. Sie bestimmten über die Studienord-
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nungen, die Seminarinhalte, die Bewertungen, damit über Studienerfolg und Lebensentwürfe. Das Parlament der Universität, der Senat, arbeitet noch immer mit der Professoralen Mehrheit. Dahinter verbirgt sich die Festlegung der Senatssitze nach Statusgruppen; wobei der Professorenschaft – also der zahlenmäßig kleinsten Gruppe der Universität – nach der Senatsordnung stets eine vorher festgelegte Mehrheit von Sitzen zugesprochen wird. Ähnliche Regelungen wurden in der Volkskammer der DDR und in António de Oliveira Salazars korporatistischem System des Estado Novo angewendet. Jenseits von Senat und Seminar aber können Studierende – manchmal anonym – ihre Hochschullehrer auf einer Vielzahl von Beschwerdewegen individuell angreifen, gelegentlich im Bündnis mit übergeordneten Autoritäten wie dem Hochschulpräsidium. Das mediale Ausfechten der Streitigkeiten erhöht dabei den Schaden für die attackierten Professoren. Denn die selten wohlwollende Berichterstattung der Medien stellt bereits eine Vorverurteilung dar, die den eigentlichen Fall im digitalen Raum überdauert – zum Nachteil der Betroffenen. Auch hier gilt, dass den öffentlich verhandelten Fällen eine abschreckende Wirkung innewohnt, die zur engeren Definition von Diskursgrenzen und noch stärkerer Anpassung beiträgt. Denn welcher Hochschullehrer wollte wegen einer politisch nicht korrekten Äußerung am Pranger stehen, seinen Ruf und seine Pfründe dauerhaft verlieren? Dies galt ebenso für die Corona-Jahre, als kritische Professoren (Ulrike Guérot, Günter Roth u.a.) unter arbeitsrechtlichen Konsequenzen zu leiden hatten, nicht zuletzt durch die Aussagen von (einigen wenigen) Studierenden. Die damit verbundenen (in Deutschland noch spektakulären) Einzelfälle sind jedoch ebenso Vorboten einer Intoleranz, die zusätzliche Auswirkungen auf wissenschaftliche Methoden und Inhalte haben kann. Und dennoch sind sie nur ein Teil der eigentlichen Problematik. Tatsächlich hat sich das Machtgefälle in den letzten Jahrzehnten erhöht: Während an der Spitze der Professorenschaft von der Regierung umhegte Multimilliardäre stehen, sich die Machtkonzentration besonders in den Naturwissenschaften verstärkt, erhöht sich der Druck am finanziell schwachen Sockel der Pyramide. Wie bereits erwähnt, vier Fünftel der Arbeitsverhältnisse sind befristet, nicht immer gut bezahlt, aber am Ende häufig in eine Einbahnstraße mündend. Meistens ist der angestellte wissenschaftliche Nachwuchs gezwungen, seine Stelle, häufig die Hochschule zu verlassen. Ein kontinuierliches Arbeiten ist
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damit ebenso wenig gewährleistet wie eine halbwegs verbindliche Lebensplanung. Gute Wissenschaftler, denen mit Mitte vierzig noch immer der Gang zur Arbeitsagentur droht, sind keine Seltenheit.32 Denn wer als unzuverlässig, schwierig, allzu kritisch oder sogar als „Schwurbler“ eingeschätzt wird, muss nicht einmal durch Abmahnungen eingeschüchtert werden.33 Es genügt, wenn ein Gutachten negativ ausfällt, dann ein Artikel abgelehnt, schließlich ein Arbeitsvertrag nicht verlängert wird. Auf kalte Weise wird der kritische Geist damit über Nacht ausgetrieben. Mit dem Verlust der Stelle, damit fast immer der Zugehörigkeit zu einer Forschungseinrichtung werden Wissenschaftler über Nacht zu Ausgestoßenen. Auch aus diesen Gründen hielt sich die Kritik an der autoritären Corona-Politik an den Hochschulen in engen Grenzen. Dabei erstreckte sich die Anpassung nicht nur auf die Masse der prekär arbeitenden wissenschaftlichen Hilfskräfte und Mitarbeiter. Auch die generell gut abgesicherte Professorenschaft gehorchte den neuen Regeln fast ohne Widerspruch: 2021 lehrten und forschten in Deutschland 36.596 Professoren und 13.664 Professorinnen im Tertiären Bildungsbereich.34 Man kann die ungleiche Verteilung der Geschlechter zurecht als rückständig und sozial ungerecht empfinden. Erschreckender ist jedoch, dass sich unter den über 50.000 Hochschullehrern während der Corona-Jahre nur eine Minderheit von geschätzt 300 Professoren in der Lage zeigte, eine wahrnehmbare und begründete Kritik zu üben: an verfassungsrechtlich untragbaren Corona-Maßnahmen, der erratischen Forschung, der irreführenden Wissenschaftskommunikation. Begründete Kritik bedeutet hier bereits, Vergleiche mit anderen, demokratischen Staaten wie Schweden zu ziehen: Warum wurden die Schulen zugesperrt, später nur unter harten Auflagen geöffnet? Obwohl man um die katastrophalen Wirkungen der antipädagogischen Verordnungen wusste? Wieso setzte man in der Kommunikation ausgerechnet darauf, ein Höchstmaß an Panik zu erzeugen?35 (Nicht wie die moderaten Schweden, die es verstanden, ihre Mitbürger ohne massive Drohungen und Unterstellungen durch die Pandemie zu leiten. Und nicht einmal wie die Franzosen, die trotz aller Härte Kindern wenigstens den Schulbesuch ermöglichten.) Wie wirkte sich der digitale Distanzunterricht in den unterschiedlichen Schularten, Fächern, Klassenstufen aus? Aber auch: Wie setzen sich die Impfstoffe zusammen? Traten (und treten) bei den einzelnen Chargen qualitative
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Veränderungen auf? Warum wurde das Zulassungsverfahren derart schlampig gehandhabt? Warum gab es kein funktionierendes Meldeverfahren bei Nebenwirkungen? Da Millionen von Menschen von diesen Fragen betroffen waren, erhöhte sich selbstverständlich deren Dringlichkeit. Eine Wissenschaft, die ein echtes Interesse an Wirkungsforschung hat, wäre hier in besonderem Maße alarmiert, gefordert, aktiv gewesen. Gewiss mag man dagegen argumentieren, dass sich in einer schlimmeren Lage, bei noch brutaleren Maßnahmen, wie beispielsweise in China, mehr Wissenschaftler am Versuch einer diskursiven Korrektur des einseitigen Kurses beteiligt hätten. Aber diese Annahme bleibt hypothetisch. Sie ist verbunden mit einem leisen Zweifel, ob härtere Sanktionen gegen dissidente Meinungen wirklich einen größeren Widerstand in der deutschen Wissenschaftsgemeinschaft hervorgerufen hätten. Doch der Konsens erstreckte sich auch auf die Studierenden. Unter immer schwierigeren Bedingungen vollzogen sie eine erstaunliche Anpassungsbewegung. Dabei gestaltet sich der Übergang von der Schule zur Universität besonders hart, nicht nur in den Corona-Jahren. In immer geringerem Maße sind weiterführende Schulen in der Lage, eine belastbare Bildung und grundlegende Lernkompetenzen – wie etwa das Verstehen von komplexen, fachlich anspruchsvollen Texten – zu vermitteln. Das kritische Denken verliert damit seine Basis, die intellektuelle Kluft zwischen Schule und Universität wächst, insbesondere für junge Menschen aus bildungsfernen Familien. Auch ökonomisch zeigen sich inzwischen größere Verwerfungen. Die Lebenshaltungskosten, vor allem die Mieten, sind gerade in Universitätsstädten deutlich gestiegen, bereits vor der Inflation.36 So hat sich die Konkurrenz auf dem städtischen Wohnungsmarkt durch reduzierte Bautätigkeit und massive Migrationsbewegungen erhöht. Dabei sind Studierende grundsätzlich gegenüber Bürgergeldempfängern benachteiligt, weil sie die Lebenshaltungskosten aus eigenen Mitteln bestreiten müssen.37 Da BAföG-Förderung nach strengen Kriterien vergeben wird, sind hier gleichzeitig die Kinder finanzstarker Eltern im Vorteil. Man darf annehmen, dass sich darunter kaum Arbeiterkinder befinden, deren Elternhäuser auch bei Studieninhalten und -organisation trotz besten Willens nur schwer Unterstützung leisten können.38 Die CoronaMaßnahmen haben in dieser Lage vordergründig einen Aufschub
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gewährt, eine Stundung des Abschlusses bei Weiterführung des Studiums unter erschwerten Bedingungen. Damit wurde die soziale Lage zusätzlich verschärft: Denn digitale Endgeräte, ein ruhiges Zimmer für das geregelte Home-Office, materielle Absicherung konnten vor allem in wohlsituierten Familien gefunden werden. Studierende, die sich mit einem Nebenjob über Wasser halten mussten, waren zusätzlich benachteiligt. Viele Stellen für Studierende – in der Gastronomie, in der Schüler-Nachhilfe, als Verkäufer oder im Marketing – wurden während der Corona-Jahre gestrichen.39 Und nicht zuletzt erfuhren die Freizeitaktivitäten Beschränkungen, die eines Trappistenklosters würdig gewesen wären. Doch selbst dieser Aspekt ist keinesfalls nebensächlich. Gerade die ersten Semester dienen Studierenden dazu, Verbindungen zu knüpfen, dauerhafte Freundschaften zu schließen, manchmal sogar den Lebenspartner zu finden. Dafür eignen sich die Zoom-Kacheln im gläsernen Schacht des Home-Office, als Medium der reinen Informationsübermittelung jedoch nur schlecht. Man hätte also erwarten dürfen, dass die Hochschulen in den Corona-Jahren zu Zentren des studentischen Widerstands geworden wären; in noch stärkerem Maße als 1968, als sich die Proteste vor allem gegen die Notstandsgesetze und eine von der NS-Vergangenheit durchsetzte akademische Leitkultur richteten. Denn die Not war in den Corona-Jahren akuter: unsinnige, verfassungswidrige Maßnahmen, einseitige Berichterstattung der meisten Leitmedien, begleitet von wachsender gesellschaftlicher Ungleichheit und aktiver Ausgrenzung größerer, heterogener Bevölkerungsgruppen. Doch tatsächlich geschah das Gegenteil. So wurde beispielsweise die ernstzunehmende und detaillierte Studie von Roland Wiesendanger zum Laborursprung des Covid-Virus40 vom AStA (Allgemeiner Studierenden Ausschuss) der Universität Hamburg auf Twitter kurz nach ihrer Veröffentlichung folgendermaßen kommentiert: „Die ‚Studie‘ von Herrn Wiesendanger der Uni Hamburg entspricht nicht den wissenschaftlichen Standards, die wir von einer Universität erwarten. Sie spielt stattdessen nur Verschwörungstheoretiker*innen in die Hände und schürt anti-asiatischen Rassismus.“41 Zwei Jahre später bestätigte selbst das FBI Wiesendangers relativ genau belegte Folgerungen.42 Nun sollte man daraus (und aus anderen, ähnlich gelagerten Begebenheiten) keine endgültigen Rückschlüsse ziehen, schon gar nicht bei der Einschätzung einer ganzen Generation von Jungakademikern.
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Doch bleibt die Frage, warum die meisten Studierenden – anders als vorige Generationen – diesmal keine eigenständige Agenda zu setzen vermochten. In diesem Sinne vermag ich auch keine Antwort zu geben, sondern bestenfalls Erklärungsansätze, die noch eingehender wissenschaftlicher Überprüfung bedürfen. Ein wichtiger Grund besteht möglicherweise darin, dass nicht wenige Studierende durch die Nutzung des Smartphones und anderer digitaler Endgeräte in ihrer Wahrnehmung beeinträchtigt sein könnten: Die Lesefähigkeit hat abgenommen43, damit der Wille, widersprüchliche Nachrichten zu hinterfragen, Falschmeldungen hermeneutisch zu entlarven. Da Falschmeldungen jedoch – ungeachtet des Etiketts „Qualitätsmedium“ – in den Corona-Jahren auf fast allen Kanälen zu finden waren44, fiel es schwer, sich ohne geistige Blessuren und Vergiftungen durch den medialen Dschungel zu bewegen. Problematisch dabei ist häufig, dass viele Medien – ob Mainstream oder Nische – zwar sachlich richtige Nachrichten bringen, diese aber in tendenziöse Sprache betten und wichtige Fakten nicht erwähnen. Eine derart geframte Nachricht lässt sich in jegliche Richtung lenken, was bereits aus den Überschriften ersichtlich wird. Die Wiesendanger-Studie wurde im Stern sofort als „vermeintliche Studie“ etikettiert und zum „PR-Desaster“ abgewertet.45 Im ZDF-Faktencheck wurde die These als „fragwürdige Theorie“ eingestuft,46 die Faktencheckerinnen der Deutschen Welle – zwei junge Journalistinnen bzw. Studierende – titelten autoritativ: „Hamburger Corona-Studie, die keine ist“.47 Und es gibt einen weiteren Unterschied zu vorigen Generationen: Eltern werden vielfach nicht mehr als Instanzen gesehen, gegen die man rebellieren müsste, die eine autoritäre Front mit dem Lehrer, dem Pfarrer, dem Schutzmann, dem Hausmeister und überhaupt allen Erwachsenen bilden.48 Nach der Shell-Jugendstudie 2019 verstehen sich 92% der Befragten gut mit ihren Eltern, drei Viertel (74%) sehen diese sogar als „Erziehungsvorbilder“.49 Auch die anderen Autoritäten haben sich verändert. Evangelische Pfarrer*innen werben um Verständnis für die Anliegen der LGBTQ+-Community.50 Selbst der strenge Schutzmann geht nicht mehr Streife durch die Nachbarschaft.51 Der Hausmeister ist zum Dienstleister mutiert. Und die Lehrer sind nachgiebig geworden, verständnisvoll, treten für Inklusion und eine Schule ohne Rassismus ein.52 Rebellion dagegen, Distanzierung vom Konsens
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dieser progressiven Gemeinschaft wirkte nicht nur lächerlich, sondern bekäme schnell einen merkwürdigen Beigeschmack. Diese Konstellation verstärkt sich auf der Universität. Hier öffnen sich weitere Welten. Mensch trifft dort auf diversere Themen, andere Fächer, neue Freund*innen. Durch die Internationalisierung werden globale Entwicklungen konkreter wahrnehmbar. Auch Erstsemester sind nun eingeladen, sich selbst zu positionieren, jenseits der Strukturen einer textgebundenen Erörterung im Deutschunterricht: Zur Critical Race Theory. Zum Klimawandel. Zu den Fleischgerichten in der Mensa. Und woher weiß ich, dass ich entweder Mann oder Frau bin? Und wenn nein, was dann? Schule und Elternhaus lieferten nur bedingt die Instrumentarien zur Beantwortung solcher Fragen. Die Universität aber bietet einen wachsenden Kanon an Antworten, der klar zwischen Gut und Böse unterscheidet, durch Fußnoten und Zitate abgesichert, also wissenschaftlich, daher (scheinbar) richtig. Dies entspricht dem vagen, offenen, toleranten Lebensgefühl der kommenden Generationen eigentlich nicht. Aber es kommt der Jugend entgegen, die Ideale sucht. Und es hilft den Unsicheren, die ein Erkennen, eine Einordnung, mehr noch: eine eigenständige Analyse der neuen Phänomene überfordert. Zur Erleichterung der Einordnung werden ethische Bewertungen deshalb schon vorher, durch Zuordnung und Assoziation vorgenommen. Vegane Ernährung, Antirassismus, eine tolerante Einwanderungspolitik, die Unterstützung von LGBTQ+ oder der Kampf gegen den Klimawandel sind dabei mit einem moralischen Kitt verbunden. Gut ist, wer diese Anliegen unterstützt. Schlecht, aber wenigstens suspekt sind Menschen, die dagegen Einwände äußern. Ebenso darf man vermuten, dass Unterstützer von LGBTQ+ keine Rassisten sind, vegane Ernährung befürworten und den Klimawandel nicht leugnen. Die Herausforderung für die Exekutive bestand in den CoronaJahren darin, weitere Themen – wie das Verimpfen von mRNA-Seren, Maskentragen, Ausgangssperren, Segregation – auf der guten Seite anzubringen. Immerhin handelte es sich um autoritäre Forderungen, die ebenso von Rechtsaußen hätten erhoben werden können. Doch es glückte, mit einem simplen Narrativ: In einer nie dagewesen Notsituation, einer mörderischen Pandemie, einem Krieg gegen eine unsichtbare, tödliche Gefahr schützten nur strenge Maßnahmen die Leben der Schwächsten. Deshalb musste sich mensch in der bedrohten Gemein-
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schaft, im Kollektiv unbedingt solidarisch und diszipliniert verhalten und hatte den Anweisungen der Expert*innen, damit der Regierung zu folgen.53 Anders als die Rechtsextremisten, Libertären, Anthroposophen und sonstigen Esoteriker, zu deren Weltbild anscheinend auch ein eiskalter Sozialdarwinismus gehörte, weshalb sie sich den Maßnahmen und der Impfpflicht nicht solidarisch anschließen wollten.54 So gelang es, selbst die Impfpflicht im progressiven Lager zu verankern und Millionen von Studierenden davon zu überzeugen, dass die Impfung mit einem zweifelhaften mRNA-Serum, die Milliardentransfers an die Pharmaindustrie und das Betäuben der Demokratie unbedingt moralisch unterstützt werden müssten. Das Zaudern der Hochschulangehörigen, sich in dieser Situation frei zu verhalten, auszuscheren, nicht im geistigen Gleichschritt in die Leere zu marschieren, kann freilich nicht monokausal erklärt werden. Neben den bereits erwähnten, der Hochschulkultur innewohnenden Problematiken gibt es eine Reihe weiterer Faktoren, die die Eindimensionalität der Wissenschaft in diesen Jahren begünstigten. Nicht zuletzt trug die Steuerung des Diskurses durch die Leitmedien dazu bei. In binärer Weise wurden durchweg alle hart reglementierenden Maßnahmen, die nur ansatzweise versprachen, das Virus zu bekämpfen, als vernünftig und lösungsorientiert dargestellt. Dabei wurden berechtigte Fragen – nach der Qualität der Impfstoffe, der Wirksamkeit der Maßnahmen – mit den Etiketten der „Corona-Leugnung“ oder der „Verschwörungstheorie“ versehen. Nun bieten Leitmedien als „Qualitätsmedien“ auch Wissenschaftlern kommunikative Foren. Diese wiederum zählen heute als „Impact“-Faktoren bei der Begründung von Förderanträgen. Denn durch ihre größere Leserschaft scheint – rein theoretisch – sichergestellt, dass Wissenschaftler auch weitere Teile der Bevölkerung erreichen. Folglich stand bereits zu Beginn der Pandemie fest, in welche Richtung sich karrierebewusste Forscher im Diskurs mit der Öffentlichkeit zu orientieren hatten. Umgekehrt konnten auch Studierende (und andere Rezipienten der Leitmedien) wahrnehmen, dass sich venerable Professoren positiv zu autoritären Maßnahmen äußerten, den wissenschaftlichen Diskurs mit kritischen Kollegen verweigerten und Letztere damit öffentlich und in unsachlicher Weise abwerteten.55 Durch die Rückendeckung der „Qualitätsmedien“ und der Exekutive trugen ihre Aussagen sogar dazu bei, eine rechtliche Ebene zu konstruieren, von der die Hohepriester der Wissenschaft zu den Gläu-
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bigen sprachen. Anders formuliert: Wenn ein Über-Ordinarius wie Jürgen Habermas den unbedingten „Schutz des Lebens“ und das Aussetzen der Grundrechte forderte,56 dann lag in seinen Sätzen ein Gewicht, das bei vielen äußerlich gebildeten Menschen schwerer wog als manche Gerichtsentscheidung. Die Leitmedien vermochten wiederum, solche Wissenschaftler zur Steuerung des politischen Kurses einzusetzen. Verstärkt wurde diese Konstellation noch durch Einrichtungen wie die Leopoldina oder den Deutschen Ethikrat. Fast ausschließlich mit Wissenschaftlern besetzt, trugen sie in gleicher Weise zur Eindimensionalität der Debatten bei. Diese wurden zusätzlich verflacht durch die Anpassung der Kirchen und der Gewerkschaften, die in früheren Zeiten breitere Bevölkerungsschichten hörbar im gesellschaftlichen Diskurs vertreten hatten. Dabei spiegelten die simplen Corona-Debatten fachlich nicht einmal die gesamte Breite der Wissenschaft, sondern wurden im Wesentlichen von Naturwissenschaftlern, Medizinern, Rechtswissenschaftlern und Theologen beherrscht. Und doch, selbst wenn man unterschiedliche Fächerkulturen, damit implizite Diskursbegrenzungen voraussetzt, bleibt eine gemeinsame Basis. Die genannten Entwicklungen, Probleme, Fragen hätten von Wissenschaftlern bereits während der Pandemie diskutiert werden müssen. Denn Wissenschaftler, die mit einer Stimme einen Weg propagieren, machen sich selbst überflüssig – und erhöhen gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit, dass das Ziel nicht erreicht wird.57
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Vgl. dazu etwa die Stellungnahme der Gesellschaft für Aerosolforschung (GAeF), die in einem Offenen Brief an die Bundesregierung das Ansteckungsrisiko im Freien als sehr gering einschätzte: https://www1.wdr.de /nachrichten/themen/coronavirus/corona-aerosole-risiko-draussen-100. html https://www.uni-potsdam.de/de/medieninformationen/detail/2021-12 -08-praesenzlehre-sichern-universitaet-potsdam-fuehrt-ab-januar-2g-rege l-in-der-lehre-ein https://orcid.org/ Martina Frei, „Kriminelle Wissenschaftler betrügen mit Künstlicher Intelligenz. Zehntausende von vermeintlich wissenschaftlichen Arbeiten werden so fabriziert. Akademiker bezahlen dafür“, in Infosperber, 24.01.2023: h ttps://www.infosperber.ch/bildung/kriminelle-wissenschaftler-betrueg en-mit-kuenstlicher-intelligenz/
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In diesen Verfahren bewerten anonyme Gutachter anonymisierte, zur Veröffentlichung eingereichte Artikel oder Forschungsvorhaben. Vgl. Thomas Köster et al., Deutsche Forschungsgemeinschaft. Jahresbericht 2021. Aufgaben und Ergebnisse (Bonn: DFG, 2021). https://www.dfg.de/do wnload/pdf/dfg_im_profil/geschaeftsstelle/publikationen/dfg_jb2021.pdf Köster, S.6. Köster, S. 11. Köster, S. 11. Vgl. https://gepris.dfg.de/gepris/institution/10426?context=institution &task=showDetail&id=10426& https://www.ndr.de/nachrichten/info/Coronavirus-Update-Der-Podca st-mit-Christian-Drosten-Sandra-Ciesek,podcastcoronavirus100.html Beke Schulmann / Christian Drosten, „Die Lage ist ernst“, in Coronavirus Update. Folge 82. NDR Info. 30.03.2021 (https://www.ndr.de/nachrichten /info/coronaskript282.pdf) https://secure.avaaz.org/campaign/de/health_disinfo_letter/ Vgl. Marcel Kolvenbach, „Gegen das Virus der Falschinformation“, in Tagesschau / SWR, 7. Mai 2020. Aufgerufen als Screenshot auf: http://bullshif t.net/user/micc/view/2020/05/2020-05-07-aerzte-und-virologen-gegendas-virus-der-falschinformation Vgl. dazu die öffentlichen Fragen von fünf Wissenschaftlern an BioNTech zur Qualität des Impfstoffes Comirnaty: Chemiker an BioNTech: „,Diese Antwort finden wir etwas irritierend‘. Fünf Professoren wollen von BioNTech Näheres über den Impfstoff gegen Covid 19 wissen. Die ersten Antworten des Unternehmens werfen neue Fragen auf, in Berliner Zeitung, 01.02.2022: https://www.berliner-zeitung.de/gesundheit-oekologie/chemiker-an-biontech-diese-antwort-finden-wir-etwas-irritierend-li.209451 Konkret handelt es sich bei den Wissenschaftlern um die Professoren Jörg Matysik (Analytische Chemie, Universität Leipzig), Gerald Dyker (Organische Chemie, Ruhr-Universität Bochum), Andreas Schnepf (Anorganische Chemie, Universität Tübingen), Tobias Unruh (Physik der kondensierten Materie, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg) und Martin Winkler (Materials and Process Engineering, Zürcher Hochschule der angewandten Wissenschaften). Anon., Geschäftsbericht BioNTech. Für eine Medizin von morgen (Mainz: BioNTech, 2022), S. 78. https://investors.biontech.de/static-files/d6ebfee5e4f7-4736-b287-97e7ec124e90 Ibid., S. 79. Die EU erwarb 2021 beispielsweise zwei Milliarden Impfdosen. Vgl. https: //www.fuw.ch/article/hohe-schweizer-aerztedichte-copy Der Wert dieses Anteils beläuft sich gegenwärtig auf ca. 9,4 Milliarden USDollar (Stand: Juni 2021). 47,37 Prozent der BioNTech-Aktien sind im Besitz der AT Impf GmbH. Sie wird von der ATHOS KG kontrolliert, einer Beteiligungsgesellschaft der Zwillinge Andreas und Thomas Strüngmann, den Gründern des Pharmaunternehmens Hexal aus Holzkirchen in
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Bayern. Der Verkauf des Generika-Herstellers an Novartis im Frühjahr 2015 brachte den Zwillingen ein Vermögen in Höhe von rund 5,6 Milliarden Euro ein. Mit einem Teil dieses Geldes kauften die Brüder dann Anteile bei BioNTech und weiteren Biotechnologieunternehmen. Zu den weiteren Investoren bei BioNTech gehören Baillie Gifford (2,79 Prozent) und PRIMECAP Management (2,00 Prozent), die Investmentgesellschaft T. Rowe Price (0,86 Prozent), der Vermögensverwalter Fidelity (0,72 Prozent), Artisan Partners (0,66 Prozent) sowie die Bill und Melinda Gates Foundation (0,43 Prozent) und Investmentgesellschaften wie Invus, BlackRock, Redmile und Temasek. https://www.finanzen.net/nachricht/aktien/17in-gr uenderhand-das-sind-die-groessten-anteilseigner-des-corona-impfstoffen twicklers-biontech-9593919 Eine Überprüfung der Arbeitsverhältnisse nach dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz durch das Netzwerk Gute Arbeit in der Wissenschaft ergab, dass 82 % aller wissenschaftlichen Beschäftigungsverhältnisse an Hochschulen befristet sind, häufig mit Laufzeiten unter zwei Jahren, zu 37% in Teilzeit, im Durchschnitt bei 13 Überstunden pro Woche. Vgl. Mathias Kuhnt, Tilman Reitz, Patrick Wöhrle, Arbeiten unter dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz. Eine Evaluation von Befristungsrecht und -realität an deutschen Universitäten. Factsheet: https://mittelbau.net/wp-content/uploads/2022 /05/Evaluation-WissZeitVG_Factsheet.pdf Ibid. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/617347/umfrage/motive -fuer-den-beginn-eines-studiums-in-deutschland/ Dazu wurden 1039 Personen online befragt, zwischen 06. Und 09. September 2016. Der Genderstern wird hier und an anderen Stellen benutzt, um eine sprachpolitische Ideologisierung der erwähnten Person oder Personengruppe zu betonen. Die Kirchen sind durch Missbrauchsskandale befleckt. Die Bundeswehr stand noch immer im kalten Schatten des Dritten Reiches, rang nach dem Fall der Mauer um eine sinnvolle Neuausrichtung, nach der Abschaffung der Wehrpflicht um eine Verbindung zur Mitte der Gesellschaft. Erst der Ukraine-Krieg mit seinem (aus deutscher Sicht) blau-gelben Ersatz-Nationalismus restaurierte die Daseinsberechtigung des Militärs in Mitteleuropa. Eine Karriere in der Politik beginnt zumeist in Hinterzimmern und am Wahlkampftisch in der Fußgängerzone, wo Rückmeldungen auf schlechte Entscheidungen sehr unangenehm ausfallen können, aber doch nur ein milder Vorgeschmack auf manche medialen Kampagnen sind. RND/Teleschau, 40 Jahre „Terra X“: ZDF-Wissenssendung feiert Jubiläum. Redaktionsleiter über Kampf gegen Fake News. 18.10.2022. https:// www.rnd.de/medien/terra-x-wird-40-jeden-sonntag-vier-millionen-zusc hauer-trotz-wandel-der-medienlandschaft-FQOYB2YRXRGDVKX5BS6RF XC2X4.html Ibid.
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27 Nach den Zahlen des BMBF: Vgl. https://www.datenportal.bmbf.de/port al/de/K252.html Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 11, Reihe 4.3.1. Letzte Aktualisierung 17. Januar 2023. 28 Vgl. https://www.datenportal.bmbf.de/portal/de/Tabelle-2.5.20.html 29 Etwa bei der Studentenrevolte 1968, im Rahmen der friedlichen Revolution von 1989 in der DDR oder beim Bildungsstreik 2009. 30 Vgl. Ben Krischke, „Was macht die Antifa denn da? Proteste gegen die Corona-Demos“, in Cicero, 12. Januar 2022. https://www.cicero.de/kultur /proteste-gegen-corona-demos-antifa-querdenker-pandemie 31 Zu der Behauptung, dass die Corona-Proteste von rechts unterwandert gewesen seien, liegen bislang keine belastbaren wissenschaftlichen Studien vor. Selbst das Besetzen der Treppen des Reichstagsgebäudes am 29. August 2020 ist weder wissenschaftlich noch juristisch aufgearbeitet. 32 Z.B.: #ichbinhanna; #95vsWissZeitVG; eine Auflistung der vielen kleinen Initiativen findet sich auf: https://mittelbau.net/ Allerdings hat das Wissenschaftszeitvertragsgesetz hier Grenzen gesetzt: Insgesamt dürfen Wissenschaftler ohne Verbeamtung nur zwölf Jahre an Hochschulen beschäftigt werden. Selbst wenn man an einem vielversprechenden Projekt arbeitet, dafür sogar neue Fördergelder eingeworben hat, muss die aktuelle Tätigkeit also nach Ablauf von zwölf Jahren abgebrochen werden. Thematisiert werden diese Arbeitsverhältnisse jedoch nur von einer engagierten Minderheit. 33 Vgl. Ulrike Ackermann, Die neue Schweigespirale. Wie die Politisierung der Wissenschaft unsere Freiheit einschränkt (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2022), S. 36. 34 Vgl. Anzahl der hauptberuflichen Professoren und Professorinnen an deutschen Hochschulen von 1999 bis 2021 https://de.statista.com/statisti k/daten/studie/160365/umfrage/professoren-und-professorinnen-an-d eutschen-hochschulen/ 35 Einen guten Überblick auf solche (und weitere) Aufarbeitungsfragen gibt der ZDF-Journalist Dirk Jacobs: „Corona und die Medien. Wir müssen sprechen“, in Berliner Zeitung, 1. Juli 2023. https://www.berliner-zeitung. de/politik-gesellschaft/corona-und-die-medien-wir-muessen-sprechen-li .364686 36 Vgl. Das Beispiel Tübingen: Anon., „Studentenwohnungen haben sich massiv verteuert: Preissprung auch in Tübingen“, in Reutlinger General-Anzeiger, 28.08.2022. https://www.gea.de/neckar-alb/kreis-tuebingen_artik el,-studentenwohnungen-haben-sich-massiv-verteuert-preissprung-auchin-t%C3%BCbingen-_arid,6651553.html Nach dem aktuellen Mietspiegel (2023) der Stadt Tübingen lag der Quadratmeterpreis für eine Wohnung unter 30 m2 bei 19,10 Euro. Nur ein Jahr zuvor justierte sich der Preis bei 15,88 Euro; zehn Jahre davor (2012) mussten 11,15 Euro veranschlagt werden. Vgl. Mietspiegel Tübingen 3/2023: file:///C:/Users/matth/Download s/Mietspiegel_Tuebingen_2023.pdf
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37 Da Studierende rein theoretisch materiell durch BAföG abgesichert sind, entfällt ihr Anspruch auf Bürgergeld. Vgl. § 7 Abs. 5 SGB II. Allerdings sind die Auflagen für den Bezug von BAföG deutlich strenger, die im Einzelfall ausgezahlten Gelder wesentlich niedriger als beim Bürgergeld. 38 Manchmal hilft in solchen Situationen ein Studienkredit. Doch auch dabei handelt es sich letzten Endes um ein Geschäftsmodell. Für Kreditnehmer funktioniert es nur, wenn sie im Verlauf ihrer Biographie möglichst früh ein vergleichsweise hohes Einkommen generieren und sonst keine signifikanten Ausgaben haben. 39 https://www.spiegel.de/start/corona-studierende-leiden-unter-shutdo wns-nebenjobs-dringend-gesucht-a-ad7bb843-3e24-4725-a550-5a75c415c0d8 40 Vgl. Roland Wiesendanger, Studie zum Ursprung der Coronavirus-Pandemie (Hamburg: Universität Hamburg, 12.02.2021) https://www.researchgate. net/publication/349302406_Studie_zum_Ursprung_der_Coronavirus-Pa ndemie 41 Tweet vom 18. Februar 2021: https://twitter.com/AStA_UHH/status/13 62492712197455876 42 Max Matza & Nicholas Yong, “FBI chief Christopher Wray says China lab leak most likely”, in BBC News, 1. März 2023: https://www.bbc.com/news /world-us-canada-64806903 43 Vgl. etwa die Einschätzung Klaus Zierers https://www.augsburger-allgemeine.de/geld-leben/Es-ist-dramatisch-Erziehungswissenschaftler-besor gt-ueber-Lesekompetenz-von-Schuelern-und-Studenten-id55853371.html sowie ders. Ein Jahr zum Vergessen. Wie wir die drohende Bildungskatastrophe nach Corona verhindern können (Freiburg im Breisgau: Herder, 2021). Ralf Lankau (Hrsg.), Unterricht in Präsenz und Distanz. Lehren aus der Pandemie (Weinheim: Beltz, 2023); Christine Sälzer, Lesen im 21. Jahrhundert. Lesekompetenzen in einer digitalen Welt. Deutschlandspezifische Ergebnisse des PISABerichts “21st-century readers“. Eine PISA-Sonderauswertung der OECD gefördert von der Vodafone Stiftung Deutschland (2018). https://www.oecd.org/p isa/PISA2018_Lesen_DEUTSCHLAND.pdf 44 Vgl. Timo Rieg, Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Eine kommentierte Fallsammlung. Preprint-Version. März 2023. file:///C:/Users/Administrator/Do wnloads/Rieg_Qualittsdefizite_im-Corona-Journalismus_20230501.pdf 45 Daniel Wüstenberg, „Coronavirus stammt aus Labor in Wuhan? Vermeintliche Studie wird zum PR-Desaster für Uni Hamburg“, in Stern, 20.02.2021: https://www.stern.de/gesundheit/thesenpapier-zum-coronavirus-urspr ung--pr-desaster-fuer-die-uni-hamburg-30386516.html 46 Oliver Klein und Nils Metzger, „Ursprung des Coronavirus: Uni Hamburg verbreitet fragwürdige Theorie“, in ZDF Faktencheck. 11.02.2021: https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-labortheorie-universit aet-hamburg-100.html 47 Tetyana Klug und Uta Steinwehr, „Faktencheck: Hamburger Corona-Studie, die keine ist“, in Deutsche Welle, 20.02.2021: https://www.dw.com/de /faktencheck-studie-hamburg-coronavirus-labor-wuhan/a-56633526
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Auffällig ist, dass die beiden Faktencheckerinnen selbst nicht über den entsprechenden fachlichen Hintergrund verfügten, der ihnen geholfen hätte, die zahlreichen Widersprüche ihrer Einschätzung zu vermeiden. Steinwehr war damals Master-Studierende (Journalismus) an der Universität Leipzig: https://m.facebook.com/DWAkademie/photos/meet-uta-steinwehr-one-of-our-new-journalism-trainees-uta-was-born-in-neubranden/ 10152749944386946/ Klug wird auf ihrem Twitter-Konto als deutsche Journalistin aus der Ukraine bezeichnet: https://twitter.com/KlugTetyana; Angaben zu Ausbildung oder Studium ließen sich bei ihr nicht finden. Differenziertere Analysen finden sich etwa bei: Anna Buschmeyer, Claudia Zerle-Elsäßer (Hrsg.), Wie sich das Konzept 'Familie' im 21. Jahrhundert wandelt. Forum Frauen- und Geschlechterforschung, Band 50. (Münster: Westfälisches Dampfboot, 2020). Vgl. Mathias Albert, Klaus Hurrelmann, Gudrun Quenzel, 18. Shell-Jugendstudie. Jugend 2019. Eine Generation meldet sich zu Wort (Shell: Hamburg 2019) https://www.shell.de/about-us/initiatives/shell-youth-study/po dcast/_jcr_content/root/main/containersection-0/simple/simple/call_t o_action_copy_/links/item2.stream/1642665734978/9ff5b72cc4a915b9a6 e7a7a7b6fdc653cebd4576/shell-youth-study-2019-flyer-de.pdf Einen repräsentativen Überblick über den Umgang mit diesem Thema gibt die Webseite evangelisch.de: https://www.evangelisch.de/themen/lgbt Vgl. auch die Beiträge von Quinton Ceasar, Alexander Brandl und Constanze Pott beim Evangelischen Kirchentag in Nürnberg 2023. Selbstverständlich versehen Polizisten noch den Streifendienst; allerdings nicht mehr alleine, auch selten zu Fuß in Wohngebieten, wobei eine zunehmende Videoüberwachung des öffentlichen Raumes an Stelle des direkten menschlichen Kontaktes getreten ist. Z.B. im Programm Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage: https://ww w.schule-ohne-rassismus.org/ Auch an Waldorfschulen existieren ähnliche Bestrebungen, wie Albert Schmelzer und Martyn Rawson in ihrem Artikel „Bausteine für eine diverse, antirassistische Waldorfpädagogik“, in Erziehungskunst, November 2022, erklären: https://www.erziehungskun st.de/artikel/klare-kante-gegen-rechts/bausteine-fuer-eine-diverse-antir assistische-waldorfpaedagogik/ Vgl. die frühe Argumentation des Ethikrates: „In den Gestaltungsbereich dieser höchstpersönlichen Eigenverantwortung gehört auch das Bewusstsein, dass die eigenen Entscheidungen und die eigene Lebensführung immer Konsequenzen auf die Entscheidungen und die Lebensführung anderer zeitigen. Das gilt etwa für den Fall, dass Angehörige von Hochrisikogruppen für sich zu entscheiden geneigt sind, von besonderen Schutzstrategien zugunsten anderer Optionen abzusehen.“ Deutscher Ethikrat, Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise. Ad-hoc Empfehlung. (Berlin: Deutscher Ethikrat, 27. März 2020), S. 5. https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Ad-hoc-Empfehlungen/deutsch/ad-hoc-empfehlun
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MATTHIAS FECHNER
g-corona-krise.pdf. Zahlreiche Beispiele aus der aktivistischen Praxis lassen sich mit den Suchbegriffen „Antifa Corona Solidarität“ finden. 54 Vgl. dazu etwa Oliver Nachtwey und Carolin Amlinger, Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus (Berlin: Suhrkamp, 2022). 55 Aus dem umfangreichen Korpus der Diskursverweigerung könnte exemplarisch der Umgang mit den Erkenntnissen von Harald Matthes, Stefan Hockertz oder Andreas Sönnichsen angeführt werden. 56 Jürgen Habermas, „Corona und der Schutz des Lebens. Zur Grundrechtsdebatte in der pandemischen Ausnahmesituation“, in Blätter für Deutsche und Internationale Politik. September 2021. S. 65-78. Habermas veröffentlichte zwar in einer Fachzeitschrift, zu deren Herausgebern er zählt; allerdings wurden seine Aussagen auch und vor allem in den Leitmedien kolportiert.
Des Mephistopheles‘ Geschenk. Wissenschaft im goldenen Käfig Boris Kotchoubey
I.
Mark Gable lebt!
Der große Physiker Leo Szilard war auch ein phantasiereicher, wenngleich aus literarischer Sicht eher mittelmäßiger Science-Fiction-Autor. Der Held einer seiner Erzählungen (The Mark Gable Foundation) gelangt in eine ferne Zukunft. Dort trifft er einen Superreichen namens Mark Gable, der sich bei ihm über einen viel zu schnellen wissenschaftlichen Fortschritt beschwert. Die Menschheit, meint der Multimilliardär, könne mit der raschen Entwicklung nicht Schritt halten. Er frage sich, wie man den Fortschritt bremsen könnte? Der Held der Geschichte antwortet, das sei kein Problem, wenn Gable etwas mehr von seinem riesigen Vermögen in die Forschung investierte. Dieser reagiert überrascht: Wenn ich die Forschung fördere, beschleunige ich doch den wissenschaftlichen Fortschritt, statt ihn zu verhindern! Das sei eine falsche Schlussfolgerung, entgegnet der Held. You could set up a Foundation, with an annual endowment of thirty million dollars. […] Have ten committees, each composed of twelve scientists... Take the most active scientists out of the laboratory and make them members of these committees. And the very best men in the field should be appointed as Chairmen at salaries of $50,000 each. Also have about twenty prizes of $100,000 each for the best scientific papers of the year. This is just about all you would have to do. First of all, the best scientists would be removed from their laboratories and kept busy on committees passing on applications for funds. Secondly, the scientific workers in need of funds will concentrate on problems which are considered promising and are pretty certain to lead to publishable results. For a few years there may be a great increase in scientific output; but by going after the obvious, pretty soon Science will dry out. Science will become something like a parlor game. Some things will be considered interesting, others will not. There will be fashions. Those who follow the fashion will get grants. Those who won’t, will not, and pretty soon they will learn to follow the fashion too.1
Die Physiker erkannten diese Gefahr schon sehr früh. Bereits auf der Konferenz der American Association for the Advancement of Science
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im Dezember 1946 diskutierten sie das Problem, dass neuere physikalische Experimente eine neue Art von Finanzierung benötigten. Und dass die erhöhte Finanzierung die Abhängigkeit der Forscher von Geldgebern bestimmen kann: Wes Brot ich esse, des Lied ich singe. Die Wissenschaftler erforschen dann nicht mehr, was sie interessiert oder was sie aufgrund einer Erkenntnislogik wichtig finden, sondern das, was im Interesse des Geldgebers liegt. Diese Haltung ist nur einen Schritt davon entfernt, auch die Ergebnisse der Forschung an das Interesse des Geldgebers anzupassen.2 Isidor Rabi (Nobelpreis 1944 für die Entdeckung der Magnetresonanz) sagte in Bezug auf die stetig wachsenden Summen zur Förderung komplexer Experimente, dass es keine bessere Methode gäbe, Universitäten zu kontrollieren, als durch die Verteilung von Grants. Harold Urey (Nobelpreis für Chemie 1934 für die Entdeckung von Deuterium) machte einen eleganten, aber leider unpraktischen Vorschlag: Forscher und Universitäten sollten die Rivalität zwischen verschiedenen Förderorganisationen ausspielen, um zwischen ihnen manövrieren zu können und damit ihre Unabhängigkeit zu behalten. Der Chemiker George Kistiakowsky bemerkte dabei: It seems to me that the danger is not in the government offering large sums of money to the colleges, but in the eagerness with which a great many scientists accept this money and sacrifice their freedom accepting as they do, a specified program of research […]. If we would just be a little more independent and refused to accept this money unless it is offered on our own terms, there would not be so much danger as at present is foreseen.3
Zur gleichen Zeit zitierte Karl Taylor Compton, der Präsident des Massachusetts Institute of Technology (MIT), einen nicht näher benannten „ehemaligen hohen Beamten“ mit den Worten The trouble with American scientists is that they are emotionally unstable and don’t understand the first principles of democracy. I notice that when federal funds are available they line up at the trough; I think they will continue to do so.4
Langsam aber sicher verwirklichte sich der Plan von Mark Gable. Schon in der relativ preisgünstigen Epoche zwischen 1950 und 1980 hat die Finanzierung der mediko-biologischen Forschung in den USA inflationsbereinigt um 17,4 Mal zugenommen. Ähnliche Zuwächse ver-
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zeichnen sich auch in anderen Bereichen der Naturwissenschaft in anderen hochentwickelten Ländern. Lohnen sich diese Investitionen? Zweifellos hat die Forschung in den letzten 50 Jahren, dem Halbjahrhundert der explosionsartigen Kostensteigerung, große Erfolge gefeiert. Aber wer kann behaupten, dass der Fortschritt der Wissenschaft wirklich schneller (und zwar um Größenordnungen schneller) war als in der gleichen Periode davor (1920-1970), oder noch davor (1870-1920)? Der Nobelpreisträger Hans Bethe, einer der führenden Köpfe des Manhattan-Projekts, hat früh auf dieses Problem aufmerksam gemacht: There are now enormous accelerators, with large groups of scientists working on each, a wealth of detailed material is published in highly specialized journals every week so that it has become impossible to keep up with the literature even in the narrow part of nuclear physics. . . The life of physicists has changed completely, even of those not involved in politics or in technological projects like atomic energy. The pace is hectic. Yet the progress of fundamental discovery is no faster, and perhaps slower, than in the thirties.5
II.
Der Tod im Imperial College
Es folgt eine wahre Geschichte. Am 30. Mai 2013 saß X, ein 50-jähriger Professor für Toxikologie an der Medizinischen Fakultät des Imperial College London in seinem Büro, als die Tür weit aufging und Prof. Y, der Abteilungschef, mit seinem Assistenten den Raum betrat. Stellen wir uns den Dialog ungefähr so vor: „Wie viele Drittmittelprojekte haben Sie, X?“, fragte er. X listete sie auf. „Das ist zu wenig. Ihre Leistung ist für einen Professor des Imperial College unbefriedigend. Deswegen müssen wir uns leider in einem Jahr von Ihnen verabschieden. Spätestens in einem Jahr. Genauere Informationen bekommen Sie vom Dekan, Professor Z, in dessen Namen ich jetzt komme. Er wird Sie zu sich laden.“ Mit diesen Worten verließ er den Raum, mit seinem Assistenten, ohne sich zu verabschieden. Erst jetzt bemerkte X, dass die Zimmertür während dieser Zeit offengeblieben war. Professor Y hatte sich nicht bemüht, sie zu schließen, bevor er X ansprach. Hinter der offenen Türe stand ein Student, mit erschrockenem Blick. Er hatte alles gehört, und das Gehörte passte nicht zu seinen jugendlichen Vorstellungen von kollegialen Gesprächen unter Gelehrten.
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X wartete auf die Einladung des Dekans, die nie erfolgte. Stattdessen erhielt er im März 2014 eine E-Mail vom Dekanat. Darin wurde ihm mitgeteilt, dass seine Stelle nur jeweils um ein Jahr verlängert werde. Und auch nur, wenn Drittmittelgelder in Höhe von mindestens 200 000 britischen Pfund pro Jahr eingeworben werden. 200 000 Pfund pro Jahr, und zwar in einem großen Grant (einem sogenannten Program Grant), nicht als Summe mehrerer kleinerer Zuwendungen. Selbstverständlich stand diese Bedingung in keinem Arbeitsvertrag. X informierte seinen Vorgesetzten darüber, dass seine Gruppe in diesem Jahr vier Artikel in angesehenen wissenschaftlichen Journals6 veröffentlicht hatte. Darauf erfolgte jedoch keine Reaktion. Professor X fragte sich, ob er überhaupt bereute, in die Forschung gegangen zu sein. Nein, antwortete er sich selbst, das tue er nicht, aber er war wie viele andere in eine Falle geraten, indem er das Ideal der Wissenschaft mit der Realität des wissenschaftlichen Betriebs verwechselte. „Es gibt keine Universität mehr, sondern ein Großgeschäft mit einigen wenigen ganz oben und der Restmasse, die gemolken wird“. In der Mensa erzählte er seine Geschichte einem Kollegen. Dieser schwieg eine Zeitlang, sagte dann: „Ja, sie behandeln uns wie Scheiße.“ Am 25. September 2014 nahm sich Professor X das Leben. Das ist zwar ein Extremfall, aber Hunderte und Tausende ähnlicher Fälle spielten sich in den letzten Jahrzehnten an Universitäten ab. Und die oben erzählte Geschichte war nicht die einzige, die mit einem Todesfall endete.7 Allein die Tatsache, dass der Bericht über den tragischen Tod von X innerhalb von fünf Tagen nach der Publikation 100 000 Mal gelesen und kommentiert wurde, spricht für sich. Natürlich sind Länderunterschiede nicht zu unterschätzen; aus den deutschen Universitäten habe ich (noch) von keinem Todesfall gehört, der eindeutig mit der Ausübung von massivem finanziellem Druck auf einen Wissenschaftler in Zusammenhang gebracht werden könnte. Die meisten Beispiele solcher Schieflagen kommen aus Großbritannien. „Wissenschaftler werden zwar ein bisschen besser behandelt als Arbeiter bei Amazon, aber nur ein bisschen“, schreibt ein Blogger aus dem King‘s College London.8 Trotz der sehr unterschiedlichen Geschichtsverläufe, die z.B. Deutschland, die USA und Großbritannien in den letzten 40 Jahren erlebt haben, setzte sich eine allgemeine wissenschaftspolitische Tendenz durch. Die Universitäten haben sich daran gewöhnt, dass Forschungs-
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etats immer weiterwachsen. Selbst wenn die realen Budgets kurz stagnierten, wie in den USA 1979-80, dann nicht, weil der Staat sparsam geworden war, sondern weil eine ungewöhnlich hohe Inflation die wachsenden Zuschüsse „aufgefressen“ hatte. Das stete Wachstum der (v.a. staatlichen) Forschungsfinanzierung wurde nicht nur von den Wissenschaftsfunktionären, sondern auch von den meisten Wissenschaftlern fast wie ein Naturgesetz wahrgenommen, gegen welches nur „böse“, „wissenschaftsfeindliche“ Regierungen verstoßen könnten. Es entwickelte sich in dieser Zeit ein in seiner Naivität unfassbarer Glauben an den natürlichen Zusammenhang zwischen der Höhe der Investitionen und der Qualität der wissenschaftlichen Leistung. Nur ein Ketzer, ein Gotteslästerer konnte daran zweifeln, dass der Steuerzahler immer mehr Geld in die Forschung einzahlen müsse und selbstverständlich keinen Anspruch auf die Frage habe, was mit seinem Geld gemacht werde. Denn, so der Glaube, Investitionen in die Wissenschaft lohnen sich für die Gesellschaft immer, und zwar unabhängig davon, um welche Art von Wissenschaft es sich handelt, ob es etwa um die Erforschung neuer Energiequellen oder um die einfache Kompilation von Meinungen, um einen neuen Forschungsansatz oder um ein geschlossenes pseudowissenschaftliches Konzept wie die „Kritische Rassentheorie“ geht. Im Dezember 2022 schreibt der Editor der Zeitschrift Forschung und Lehre Felix Grigat, nach meiner subjektiven Meinung einer der besten deutschen Wissenschaftsjournalisten: Wissenschaftsorganisationen und Tausende von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern waren einmütig in ihrer Kritik und klaren Ablehnung der angedrohten dramatischen Kürzungen der Wissenschaftsetats […] Nun gibt es […] sogar mehr als im Haushaltsentwurf ursprünglich vorgesehen. Einmütig ist nun ihr Lob und ihre Freude über diese Rückkehr der wissenschaftspolitischen Vernunft. Das gilt auch für den Beschluss der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz, die ein Milliardenpaket für Forschung und Lehre verabschiedet hat […] Zu Recht werten die Präsidentinnen von Wissenschaftsrat und Deutscher Forschungsgemeinschaft dies als „klare Signale für die Wissenschaft“ und „weitere Stärkung der Spitzenforschung an Universitäten“. In der Tat muss man diese Kursänderung zugunsten von Wissenschaft und Forschung in Zeiten von multiplen Krisen hochschätzen. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass dies angesichts von über zehn Prozent Inflation und den großen Erwartungen an die Wissenschaft, zur Lösung vielfältiger Zukunftsprobleme beizutragen, nicht reichen wird. In den kommenden Jahren muss weiter zugelegt werden.9
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Bewundernswert ist die Klarheit, mit der Felix Grigat das Grundkonzept der Gegenwart in eine Formel, in eine Art wissenschaftspolitisches E=mc^2 gegossen hat: Wissenschaft ist Geld; Spitzenforschung ist Geld; wissenschaftspolitische Vernunft ist Geld; die Lösung aller Probleme der Gegenwart heißt mehr Geld; und was mit Geld nicht erreicht wurde, wird mit noch mehr Geld erreicht. Ein Milliardenpaket wird nicht reichen; legen Sie zu, denn unser Portemonnaie ist tief. Mit euren Milliarden, verehrte Steuerzahler, kann die Wissenschaft sogar die Probleme angehen, die sie selbst geschaffen hat. Den Artikel von Grigat las ich direkt nach dem Finale der Fußballweltmeisterschaft in Qatar. Es gab viele kritische Stimmen, die sagten, die Kommerzialisierung des Fußballs sei zu weit gegangen; das Spiel sei viel mehr als Umsätze und Erlöse; wir könnten das Wesentliche am Sport, die Begeisterung der Menschen verlieren, wenn wir alles nur mit Geld messen. Sogar der langjährige FIFA-Präsident Sepp Blatter, der mehr als jeder andere die Kommerzialisierung des Fußballs vorangetrieben hat, zeigte sich reumütig und sprach von einem „Monster“.10 Im Sport warnen uns solche Stimmen davor, Leistung mit Geld gleichzusetzen; in der Wissenschaft ist diese Gleichsetzung selbstverständlich. Ich will richtig verstanden werden: Natürlich will jeder Wissenschaftler mehr Geld für seine Arbeit, und ich selbst bin keine Ausnahme. Genauso würde sich jeder Sportler, Künstler, Bauer oder Fliesenleger über eine zusätzliche Förderung freuen. Aber wir würden herzlich lachen, wenn der Präsident eines Künstlervereins oder der Rektor eines Konservatoriums behauptet hätte, dass wir deshalb noch keine neue Gioconda und Zauberflöte bekommen haben, weil die Hundertmillionen Steuergelder dafür nicht ausreichen. Denn nur ein Milliardenpaket, geschnürt mit einem steten inflationsabhängigen Wachstum, gewährleistete Meisterwerke in Malerei und Komposition. Nicht nur wäre diese Argumentation offensichtlich absurd, sondern in der Welt der Kunst, in der das Wort „Freiheit“ seine Bedeutung noch nicht vollständig verloren hat, kämen einige Menschen schnell auf den Verdacht, dass die Erhöhung der staatlichen Investitionen sogar eine reale Gefahr darstellte, weil sie die Künstler vom Staat abhängig machte. Letztlich ist das materielle Niveau der Kunstschaffenden nirgends so hoch wie in totalitären Diktaturen. In der Wissenschaft wird diese Gefahr entweder vollständig ignoriert oder nicht als Gefahr angesehen.
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Genauso wenig bestreite ich die Tatsache, dass das Wissen immer vom Geld abhängig war, denn die Forschung war nie kostenlos. Deshalb kamen die meisten Forscher in der Geschichte aus begüterten Sozialschichten. Claude Bernard, der künftige Gründer der experimentellen Medizin, neben Charles Darwin einer der größten Biologen des 19. Jahrhunderts, musste nach dem Ratschlag seiner Lehrer seine Laufbahn damit beginnen, dass er eine reiche Frau heiratete, die er nicht liebte, und mit der er dann sein ganzes Leben lang unglücklich war; aber ohne ihre Mitgift hätte er für die ersten Schritte seiner Forschung keine Mittel gehabt. Dennoch entstand gegen Ende des 20. Jahrhunderts etwas ganz Neues. Früher fragte ein mittelloser Wissenschaftler: „Ich habe eine Forschungsidee; wo finde ich nur Geld, um diese Idee zu verwirklichen?“ Nun verkehrte sich die Denkweise: „Dort gibt es Geld, viel Geld; wo finde ich nur eine passende Idee, um an das Geld zu kommen?“ Das Geld wird zu unserem Orientierungspunkt. Noch 1974 zitierte Richard Feynman einen bekannten Kosmologen, der ihm sagte, dass er am nächsten Tag ein Interview im Rundfunk geben und auch von praktischen Anwendungen seiner Forschung erzählen sollte. „Es gibt keine“, reagierte Feynman. „Ja, aber wenn ich das sage, kriege ich keine Finanzierung“, entgegnete der Kollege.11
III. Das Grundparadox Das „unendliche“ Wachstum der Investitionen musste aber ein Ende finden, weil sich das reale Wirtschaftswachstum überall im Westen dramatisch verlangsamt hatte. Die nationalen Begebenheiten beeinflussten zwar den Zeitpunkt, wann die Schere zwischen den wachsenden Ansprüchen und den schrumpfenden Möglichkeiten als Krise empfunden wurde, aber nicht die Tatsache, dass sich diese Schere immer öffnet. Daraus entstand das Grundparadox, unter dessen Last wir heute leben: Während die Gesamtsummen an Geld, die Wissenschaftler im Prinzip für ihre Forschung bekommen könnten, regelmäßig zunehmen, nimmt der Anteil der Forschungsgelder, den sie „automatisch“, einfach kraft ihrer Position (als Professoren, Lehrstuhlinhaber, Gruppen-, Abteilungs-, Institutsleiter), als Komponente ihrer Grundausstattung bekommen, stets ab. Mit der Entstehung der Massenuniversitäten wurde sogar die Situation denkbar, dass diese Gelder gerade knapp für die Deckung eines Lehrprozesses ausreichen, ohne die For-
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schung abzudecken. Alles über diese immer bescheideneren Summen Hinausgehende muss nun extra eingeworben werden, als Drittmittel, wobei der mit Abstand größte Drittmittelgeber wiederum der Staat ist. Er ist der Mark Gable, der die Abhängigkeit der Wissenschaftler von sich verdoppelt: Er bietet einerseits ein immer größeres Stück Kuchen als Möglichkeit an. Andererseits verlangt er immer größere Anstrengung und Anpassung an seine Bedingungen, um mindestens einen kleinen Teil dieses Stücks tatsächlich zu bekommen. Der Forscher bewegt sich also in einem Hamsterrad, indem er Drittmittelgelder benötigt, um Projekte zu realisieren, um aus diesen Projekten mehr Daten zu bekommen, um diese Daten häufiger und besser zu publizieren, um aufgrund dieser Publikationen weitere Drittmittelgelder zu beantragen... Das Argument, dass mehr Wettbewerb um Drittmittel zum Fortschritt der Wissenschaft beitragen sollte, beruht auf groben Denkfehlern. Zwar trägt Wettbewerb unter Marktbedingungen zum Fortschritt bei. Doch es gibt mit wenigen speziellen Ausnahmen, wie in den Ingenieurfächern, keinen freien Markt in der Wissenschaft. Der freie Wettbewerb auf dem Markt bringt nur deshalb jenen Überfluss an materiellen und geistigen Gütern, an schlauen Erfindungen und intelligenten Innovationen, weil sich dieser Wettbewerb an einem klaren und natürlichen (nicht etwa von einem König, Kaiser oder demokratischen Gremium willkürlich aufgesetzten) Kriterium orientiert, und zwar: an der Maximierung des Gewinns durch Erfolg bei den Kunden. Aber wer kauft die wissenschaftliche Ware? Wer ist der Kunde eines Medizinprofessors: Das Gesundheitsministerium, die Medizinstudenten oder deren künftigen Patienten? Es ist unschwer zu erkennen, dass sie alle unterschiedliche Interessen haben; die Studenten würden z.B. möglichst leichte Prüfungen bevorzugen, die Patienten dagegen möglichst schwierige. Von einem Professor, der erfolgreich Drittmittelgelder akquiriert, sagt man manchmal, dass er „sich gut verkaufen kann“. Doch wer ist der Käufer in dieser Transaktion? Benjamin Peters hat in seiner hervorragenden Analyse der Geschichte des sowjetischen Internets gezeigt, warum das Konzept der Vernetzung von Computersystemen in der UdSSR trotz der besten Voraussetzungen (kreative Leitung, ausgezeichnetes Personal, zuverlässige Verbindungen mit den höchsten Parteiführern) wegen der kleinkarierten Konkurrenz zwischen den Behörden (von denen jede Angst
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hatte, dass ein anderer von der Entwicklung profitieren würde) gescheitert ist: The Soviet network projects did not fail because they did not possess the engines of particular Western political or technological values. […] Nor can it be that computer networks are somehow inimical to closed cultures because computer networks have been serving military, authoritarian, and cybersecurity cultures for decades. […] The network reform effort […] ran against the private interests of those who governed within an informal mixed economy. The root problem here appears to be not the cold war binary between international economic systems but the binary that was internal to the Soviet economic system. Hidden, informal, and often vicious administrative networks prevented public, formal, and potentially virtuous computer networks from taking the Soviet Union online.12
Der freie Markt ist ein Ort, an dem private Interessen verschiedener Akteure gegeneinander antreten. Aber nicht jeder Ort, an dem private Interessen verschiedener Akteure gegeneinander antreten, ist ein freier Markt. Ein administrativer Wettbewerb ist kein Freund, sondern der Erzfeind des wissenschaftlichen Fortschritts. Das war der Fall in der sozialistischen Planwirtschaft des Sowjetsystems. Dasselbe gilt auch für die „sozialistische Planwissenschaft“ von heute. Der zweite, noch wichtigere Unterschied zwischen wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Tätigkeiten besteht darin, dass in der Wirtschaft der Wettbewerb die Bedingung der produktiven Arbeit darstellt, während er in der Wissenschaft den inneren Inhalt dieser produktiven Arbeit ausmacht. Dasselbe in anderen Worten: Wissenschaft braucht keinen Wettbewerb, weil sie ein Wettbewerb ist! Forschung ist der einzige Bereich des öffentlichen Lebens, in dem Menschen ständig gegeneinander konkurrieren. Wenn ich nur etwas Neues erfahre – und darin besteht die Forschung schlechthin, Neues zu erfahren – dann steht mein neues Wissen sofort im Konflikt mit dem alten Wissen. Die harte Konkurrenz ist also nicht etwas, über das ein weises Bildungskartellamt den unmündigen Forscher erst belehren soll. Sie ist der immanente Teil seiner täglichen Aktivität. Wenn wir heute wissen, dass sich die Erde um die Sonne, und nicht die Sonne um die Erde dreht, dass ansteckende Krankheiten von Bakterien und Viren, aber nicht von Giftgasen übertragen werden, und dass Atome trotz ihres Namens teilbar sind, dann wissen wir es nur dank des Wettbewerbs. Also nur deshalb, weil eine bessere, produktivere Theorie einst im Laufe der harten Konkurrenz eine schlechtere und weniger konstruktive Theorie ver-
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drängt hat. Das hat Jahrhunderte lang funktioniert ohne jegliche Rankings, Exzellenz- oder Brain up-Initiativen. Dennoch bestehen zwischen diesem immanenten wissenschaftlichen Wettbewerb und dem aufgezwungenen Pseudowettbewerb um die Gunst der Verwaltungsbürokratie wesentliche Unterschiede. Die echte Konkurrenz findet innerhalb der Themenbereiche statt. Sie hat die Form einer Diskussion zwischen den Experten in ein und demselben Forschungsfeld. Da diese Experten trotz aller Meinungsunterschiede ein bestimmtes Grundwissen, bestimmte Grundfähigkeiten und – das Wichtigste – das Thema teilen, um das sie streiten, ist ein rationaler Diskurs möglich. Sogar wenn alle Seiten in diesem Meinungsstreit in der Tat nicht sachlich interessiert sind, sondern von Eitelkeit und Selbstsucht bewegt werden, müssen sie mindestens pro forma ihren Disput so veranstalten (mit handfesten Fakten und nachvollziehbaren Argumenten), als ginge es ihnen tatsächlich um die Wahrheit. Im administrativen Wettbewerb zwischen den Vertretern verschiedener Disziplinen dreht dagegen alles ums Geld: Schließlich gibt es nur einen gemeinsamen Topf.
IV. Den Bach runter In der letzten Zeit häufen sich Beschwerden der Wissenschaftler über zunehmende Einschränkungen ihrer Forschungsfreiheit. Diese Einschränkungen sind aber keine Erfindungen böser Mächte, sondern direkte Folgen der Abhängigkeit vom Geld. In Deutschland ärgern sich z.B. viele Wissenschaftler über die Verwendung der künstlichen und hässlichen Gender-Sprache anstelle der deutschen Literatursprache. Aber warum muss man diese benutzen? Nur deshalb, weil wahrscheinlich (egal ob dies tatsächlich stimmt oder nur geglaubt wird) ein in Gender-Sprache verfasster Forschungsantrag höhere Bewilligungschancen hat als der gleiche Antrag ohne Volapük. Das Gendern an sich ist für die allermeisten wissenschaftlichen Fragestellungen völlig irrelevant; würde ich bei Antragstellung daran denken, dass mein Vorhaben höhere Chancen hätte, wenn ich die Navajo-Sprache benutzte, würde ich eben Navajo lernen. Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Mikrobiologe. Wann haben Sie bessere Finanzierungschancen: Wenn Sie mit harmlosen Mikroorganismen arbeiten oder wenn Sie extrem gefährliche Bakterien oder Viren erforschen? Selbstverständlich im letztgenannten Fall. Ihr rationa-
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les Verhalten muss also im real existierendem Anreizsystem darin bestehen, Ihre Forschungsobjekte so gefährlich wie möglich zu machen – am besten tödlich. Wenn einmal das künstlich erschaffene Monster durch einen Zufallsfehler das Labor verlässt und ein paar Millionen Menschen ums Leben bringt, so steckt dahinter keine böse Absicht: “only business, nothing personal”. Empört versuchen wir, ein Moratorium gegen Gain-of-function-Forschung durchzusetzen. Das einzige Resultat wird sein, dass diese Forschung in Weltregionen mit niedrigeren Sicherheitsstandards verschoben wird, was die Wahrscheinlichkeit einer Leckage zusätzlich erhöht. Die ganze Geschichte des Sozialismus hat uns immer noch nicht gelehrt, dass ein Versuch, Menschen ein Verhalten zu verbieten, welches für sie profitabel ist, stets zur Katastrophe führt. Ebenso folgt die wachsende Bürokratisierung und Reglementierung des universitären Betriebs, über die an jeder Ecke geklagt wird, unmittelbar dem Anreizsystem. Im Übrigen beweist diese Reglementierung allein, wie unsinnig das Gerede über die „Ökonomisierung“ ist: Wo die „unsichtbare Hand“ des Marktes alles ordnen würde, bräuchte man keine Rankings und Audits. Weil aber immer mehr Geld verteilt werden muss, werden immer mehr formale Kriterien, Kennzahlen, Manager und Kontrolleure benötigt. Da die Kontrolleure fachfremd sind, können sie den Inhalt der Forschungsarbeit nicht in ausreichender Tiefe verstehen, und selbst wenn sie ursprünglich vom Fach kommen, werden sie mit Verwaltungsaufgaben in einem solchen Maße beschäftigt, dass sie sich vom Stand der Dinge notwendigerweise entfernen – sie haben keine Zeit, sich mit Inhalten zu befassen. Also brauchen sie einfache quantitative Messgrößen, die für jeden Forscher schnell berechnet werden können und die es erlauben, jedem einen Rang zuzuweisen. Diese Kontrolle frisst eine gute Menge an den Summen, die der Steuerzahler angeblich „für die Wissenschaft“ abgibt. In den USA verdoppelte sich die Anzahl der Verwaltungsangestellten innerhalb von 25 Jahren; zwischen 1987 und 2012 stellten die Universitäten an jedem Arbeitstag im Durchschnitt 87 neue Verwaltungsleute ein. Zugleich reduzieren die Universitäten, um Geld zu sparen, die Zahl der Dozentenstellen.13 Und in Deutschland? Hier nahm die Anzahl unbefristeter Stellen an universitären Verwaltungen in den ersten sieben Jahren nach dem
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Beginn der Exzellenzinitiative (2005 – 2012) um 17% zu, die Anzahl der unbefristeten wissenschaftlichen Stellen um weniger als 1%. Für jede neue unbefristete wissenschaftliche Stelle wurden zehn prekäre Stellen geschaffen.14 In den nächsten sieben Jahren setzte sich die Tendenz fort: Die Zahl der Professorenstellen nahm zwischen 2012 und 2019 um 11% zu, die Zahl der Dozenten und Assistenten um 8,6%, während das Verwaltungspersonal im gleichen Zeitraum um 30% wuchs.15 Eine sehr wichtige Folge der wissenschaftlichen Finanzpolitik ist die erschreckende politische Homogenisierung des universitären Milieus, die sich in den USA besonders ausgeprägt zeigt.16 Nicht nur wählt die überwiegende Mehrheit US-amerikanischer Professoren, vor allem in sozialwissenschaftlichen und medizinischen Fächern, die Demokratische Partei (DP), wobei dieser Trend von Jahr zu Jahr stärker wird. Und innerhalb dieses politischen Lagers vertreten die Wissenschaftler wiederum nur einen engen Streifen des Meinungsspektrums. Stellt man sich alle politischen Meinungen in der US-amerikanischen Gesellschaft als eine breite Landschaft vor, so drängen sich dort fast alle Sozialwissenschaftler und die Mehrheit anderer Universitätsprofessoren auf einem winzigen Fleck.17 In anderen Ländern findet der gleiche Trend statt, wenn auch mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. Warum aber ist die Universität, und warum v.a. die angelsächsische, in einem solchen Maße politisch homogen geworden? Die Ursachen sind zwar verschiedenartig, und die Analyse dieser Verschiedenartigkeit würde den Umfang dieses Artikels sprengen, doch sollte nicht vergessen werden, dass sich die zwei großen US-Parteien grundsätzlich in der Fiskalpolitik unterscheiden. Das Ideal der Republikanischen Partei ist traditionell eine klassisch-liberale Fiskalpolitik (niedrige Steuern, schlanker Etat und sparsame Ausgaben), was zwar sowohl Arbeitern als auch Unternehmern (und vielen anderen Berufen) im Schnitt mehr Netto vom Brutto auf dem Konto lässt. Doch es zwingt diejenigen, die vom Staatsetat leben, ihre Gürtel enger zu schnallen. Und zu diesen gehören neben den Beamten, Sozialhilfeabhängigen oder dem Militär auch die Forscher. Die Ideologie der Demokraten geht dagegen in Richtung einer etatistischen Fiskalpolitik: hohe Steuern, üppiger Etat und großzügige Ausgaben, was dem am Staatstropf hängenden modernen Gelehrten natürlich behagt. Die großen Forschungsmonopole wie das National Institute of Health (NIH) und die National Science Foundation (NSF) haben immer behauptet, dass jede
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beliebig hohe Investition in die Forschung für die Gesellschaft ein Segen sei, und dass jede Straffung der wissenschaftlichen Budgets ein Verbrechen gegen die Menschheit sei. Während der Ebola-Epidemie sagte der NIH-Direktor Francis Collins (derselbe, der später zusammen mit Antony Fauci die Covid-Panik orchestrierte), dass „wenn die Regierung in den letzten 10 Jahren keine Kürzungen unternommen hätte, wir wahrscheinlich rechtzeitig einen Impfstoff [gehabt hätten]“. Trotz des vorsichtigen „wahrscheinlich“ reagierten DP-nahe Medien sofort mit der Schlagzeile „Republikanische Budgetkürzungen töten“. Der republikanische Senator Tom Coburn antwortete, dass das NIH mit seinem Etat von 30 Milliarden US$ pro Jahr vielleicht doch ein paar Hunderttausend für die Impfstoffentwicklung ausgeben könnte, wenn es nur Prioritäten setzen würde; „es könnte z.B. bei Massagen für Kaninchen sparen“.18 Sollen wir uns wundern, dass gerade in dem Maße, in dem die universitäre Forschung zunehmend vom Staat als Drittmittelgeber abhängt, die Forscher immer stärker die Parteien wählen, die etatistische Programme proklamieren, wie die DP in den USA und die Grünen in Deutschland, und dass sie sich mit der autoritären Verbots- und Regulierungspolitik identifizieren? Wir können gut nachvollziehen, dass eine politische Partei, die z.B. den Autoverkehr einschränken will, keine Unterstützung von Autobauern bekommt. Genauso natürlich ist es, dass die Ergebnisse der Sozialwissenschaft ausgerechnet jene Sozialpolitik wissenschaftlich untermauern, von der die Sozialforscher wirtschaftlich profitieren: Honi soit qui mal y pense.
V.
Krisen
Die tiefe Erkrankung der Institution Wissenschaft drückt sich nach außen in drei zusammenhängenden Phänomenbereichen aus, genannt „Krisen“. Die Retraktionskrise bedeutet eine Zunahme von Publikationen, die wegen schwerwiegender (absichtlicher oder zufälliger) Fehler zurückgezogen werden. Die Replikationskrise bezeichnet die Proliferation von wissenschaftlichen Ergebnissen, die nur einmal beobachtet, oft breiter Öffentlichkeit dargestellt, dann aber niemals wiederholt (repliziert) werden können und somit aus der Wissenschaft verschwinden. Als Refutationskrise (Refutation = Zurückweisung) wird das Phänomen bezeichnet, dass immer weniger wissenschaftliche Arbeiten berichten, dass sie die Ausgangshypothese zurückgewiesen
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haben; immer häufiger wird am Ende alles bestätigt, was am Anfang vermutet wurde. Alle drei Krisen folgen auf natürlichste Art und Weise aus dem existierenden Anreizsystem. Die Anzahl der Retraktionen nimmt also zu. Im Jahre 2000 wurde ungefähr ein Artikel von 200 000 zurückgezogen, 2011 ein Artikel von 10 00019. Am häufigsten werden v.a. chinesische, iranische und ägyptische Artikel zurückgezogen.20 Unter den „traditionellen“ wissenschaftlichen Nationen tun sich die USA mit relativ vielen Retraktionen hervor, gefolgt von Deutschland. Allein in der Zeitschrift Tumor Biology erschienen innerhalb von fünf Jahren (2012-2016) 104 Artikel aus chinesischen Universitäten, die später wegen gravierender Fehler zurückgezogen werden mussten.21 Auch bei den anderen Formen des wissenschaftlichen Fehlverhaltens nimmt China den traurigen ersten Platz ein, mit einem (auf die Gesamtzahl von Publikationen korrigierten) Fehlverhaltensindex von 209 und einem großen Abstand zu den Plätzen 2 (Malaysia, Fehlverhaltensindex 42), 3 (Mexico, 34) und 4 (Taiwan, 24).22 Interessant ist dabei, dass die meisten chinesischen Universitäten spezielle Programme und Kommissionen zur Bekämpfung des wissenschaftlichen Fehlverhaltens haben.23 Der Nutzen dieser Einrichtungen ist zweifelhaft, da die Zahl der zurückgezogenen chinesischen Artikel kontinuierlich steigt. Mindestens fünf chinesische Wissenschaftler zogen mittlerweile je über 20 Publikationen zurück, 24 Personen zogen zwischen 5 und 15 Publikationen zurück.24 Mit anderen Worten: Dort wird kaltblütig weiter gefälscht, selbst nachdem man mehrmals beim Betrug ertappt wurde. Papers westlicher Wissenschaftler, die später zurückgezogen wurden, erschienen (zumindest tendenziell) überdurchschnittlich häufig in Zeitschriften mit sehr hohen Impact-Faktoren (wie Science und New England Journal of Medicine)25, während die entsprechenden chinesischen Papers eher in Zeitschriften mit niedrigen Impact-Faktoren erscheinen.26 Auch das ist natürlich. Wenn der Rang der Zeitschrift als das höchste quantitative Maß der Forschungsleistung fungiert, würde man selbstverständlich versuchen, gefälschte Ergebnisse in möglichst hochrangigen Zeitschriften zu unterbringen. Der deutsche Physiker Jan Hendrik Schön, der allein 56% aller in den Jahren 2002-2003 weltweit zurückgezogenen Artikel verantwortet, publizierte fast immer bei Science und Nature. Wenn aber die bloße Anzahl der Publikationen
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zählt, lohnt es sich dagegen, die Fälschungen in möglichst unbekannten Zeitschriften zu verstecken, wo sie schwieriger aufzudecken sind. Die auffälligen chinesischen Zahlen können damit zusammenhängen, dass China das erste Land war, das ein direktes Entlohnungssystem pro Publikation eingeführt hat. Nach dem Stand von 2016 erhielt ein chinesischer Wissenschaftler zusätzlich zu seinem Gehalt pro Artikel eine Prämie von 1000 US$ (z.B. für eine Publikation in PLoS One) bis 50 000 US$ (für eine Publikation in Nature).27 Da inzwischen auch andere Länder oder Regionen eine direkte Geldzahlung für Publikationen einführen28, könnte man erwarten, dass auch dort die Häufigkeit des wissenschaftlichen Fehlverhaltens ansteigen wird. Und siehe da: Bei den 2020 publizierten Covid-bezogenen Artikeln, die wegen gravierender Fehler oder Fälschungen zurückgezogen wurden, überholten die USA zum ersten Mal China.29 David A. Eisner, der über diese Tendenzen nachdenkt, bittet die Leser, die die eigene Forschungsmoral für hoch halten, sich zu fragen, welche Summe für sie ausreichen würde, um die Moral zu unterminieren.30 Für 50 000 US$ würde man wahrscheinlich noch nicht gegen sein wissenschaftliches Gewissen vorgehen; aber wie wäre es mit 100 000, mit einer Million, mit zehn Millionen? Die starke Zunahme an Retraktionen bleibt immer noch ein Randphänomen, das z.T. (aber nicht vollständig) auf eine bessere Qualitätskontrolle zurückzuführen ist. Die Replikations- und Refutationskrisen sind dagegen allgegenwärtig und betreffen in zwei bis drei Größenordnungen mehr Publikationen als die Retraktionskrise. Dabei sind Replikationen und Zurückweisungen von Hypothesen notwendige Bestandteile der Wissenschaft. Ein Phänomen, das nur einmal beobachtet wurde, bedeutet nicht „wir wissen das jetzt“, sondern lediglich „jemand hat es mal gesehen“; erst bei wiederholten Beobachtungen wird es zu einem wissenschaftlichen Fakt. Und eine Forschung, in der Ausgangshypothesen immer bestätigt werden, bedeutet entweder, dass nur triviale Hypothesen ausgestellt werden oder dass zurückweisende Studien nicht erscheinen. Ein Versuch, die 100 wichtigsten Ergebnisse der neuesten psychologischen Forschung zu replizieren, zeigte, dass die Replikation in nur 36 Fällen eindeutig gelang.31 Eine Studie analysierte 53 Publikationen im Bereich Krebsforschung und konnte nur 6 von ihnen (11%) replizieren.32 Eine andere betrachtete die 45 größten und meistzitierten Arbei-
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ten, die hohe Effektivität medizinischer Interventionen nachwiesen; nur 20 davon konnten eindeutig repliziert werden.33 1991 berichteten 38% der empirischen Studien im Bereich der physikalischen Wissenschaften ein negatives Resultat, d.h. die Ausgangshypothese konnte nicht bestätigt werden. 2007 waren es nur 19%. In den Biowissenschaften gab es 1991 28% negative Resultate, 2007 13%; in den Sozialwissenschaften entsprechend 31% und 10%.34 96% der Studien über Biomarker von Krebs berichteten signifikant positive Ergebnisse.35 In der Medizin ist es sogar zum Normalfall geworden, dass eine überwiegende Mehrheit vorklinischer Studien eine hohe Effektivität der vorgeschlagenen therapeutischen Intervention nachweist, doch sobald man versucht, diese Methoden in der Klinik anzuwenden, verschwindet ihre Wirksamkeit auf mysteriöse Weise. Liest man die Titel der entsprechenden Studien36, so kann man glauben, sie kopierten einander; aber das stimmt nicht. Es handelt sich um verschiedene Arbeiten zu völlig verschiedenen Themen in verschiedenen Bereichen der Medizin, und nur das Ergebnis ist das Gleiche: Alle Daten sind perfekt, solange man sie nicht in der klinischen Praxis anwendet.
VI. Erfindungsgeist ist unbesiegbar Der Wissenschaftler wird von Geldsummen geblendet, die nun erreichbar scheinen. Wer das Äquivalent dieser Mengen von Glanzmetall für seine Forschung bekommen könnte, bemerkt nicht, dass das Verb im Konjunktiv steht. Alles ist jetzt möglich; Du musst dich nur anpassen: an die Interessen des Geldgebers, an seine Zielsetzungen, an seine Denkweise. Der ideale Wissenschaftler sieht die Welt durch die Augen des Geldgebers, selbst seine Grundvorstellungen von Gut und Böse, von Richtig und Falsch sollten die Vorstellungen des Geldgebers sein. Wie oben gesagt, bleibt das Zurückziehen von gefälschten Studien trotz der Zunahme insgesamt ein eher seltenes Ereignis. Das gleiche gilt für die offensichtlich kriminellen, skandalösen Fälschungen, die u.a. Peter Goetzche analysiert hat.37 Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs. Das Journal of Cell Biology berichtete z.B., dass Spuren einer unerlaubten Bearbeitung („Nachbesserung“) in veröffentlichten mikroskopischen Bildern in etwa einem Prozent der Publikationen gefunden wurden38, was mehrere hundert Mal häufiger war als die damalige Häufigkeit des Zurückziehens. Forscher sind kreative Menschen; kein
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Wunder, dass sie in den letzten Jahrzehnten ein ganzes Spektrum von völlig straffreien Anpassungsmethoden entwickelt haben, mit denen sie die Ergebnisse ihrer Arbeit so nah wie möglich an Wünsche und Bedürfnisse der Drittmittelgeber bringen. Eines der meistverbreiteten und hochentwickeltsten Verfahren, beim Leser wissenschaftlicher Artikel einen verzerrten Eindruck zu hinterlassen, ohne dabei einer Fälschung überführt zu werden, ist unter dem Namen Spin bekannt. Spin ist eine Manipulation der Datendarstellung, die ein positives Ergebnis andeutet, obwohl die Evidenz dafür fehlt. So wird im Titel oder in der Zusammenfassung des Artikels gesagt, dass der erwartete Effekt beobachtet wurde. Doch erst in der Mitte des Textes wird klar, dass der Effekt statistisch nicht signifikant war. Wenn eine neue, teurere Methode mit der altbekannten und billigen verglichen wird, und wenn sich die beiden gleich wirksam zeigen, sagt man in der Zusammenfassung – wahrheitsgemäß! – dass die neue Methode wirksam war. Völlig unbegrenzte Spin-Möglichkeiten eröffnet die Sitte zahlreicher (v.a. führender) Zeitschriften, die Daten in zwei getrennten Dateien zu veröffentlichen: Die „wichtigsten“ im Artikeltext und alle anderen in einem Anhang (Supplement). So kann der Autor, ohne nur ein Wörtchen zu lügen, das vom Drittmittelgeber und vom Zeitschrifteneditor (der im Übrigen oft vom gleichen Geldgeber bezahlt wird) erwartete Ergebnis im Artikeltext zu bestätigen, während die ganze Wahrheit (die dieser Erwartung leider widerspricht) in zahlreichen Tabellen im Anhang dargestellt wird – verbunden mit der Hoffnung, dass dort schon keiner genau hinschauen wird. Übersichtsartikel haben ihre eigene Art von Spin, anders als empirische Studien. So wird aufgrund der Literaturanalyse zuerst korrekterweise eine schwache Schlussfolgerung gezogen, die dann aber immer stärker formuliert wird, als ob sie eine Wahrheit wäre. Ein Meisterstück bietet das Robert-Koch-Institut, das nach einer Analyse sehr indirekter Daten den Schluss zieht, dass neben anderen Maßnahmen auch das Maskentragen zur Eindämmung der Infektionsübertragung beitragen könnte, aber mit einem Absatz schließt, dass dieses Maskentragen in der Öffentlichkeit ein wichtiger Baustein in der Prävention ist.39 Diesen Übergang vom Konjunktiv zum Indikativ (und dann zum Imperativ: Du sollst eine Maske tragen!) kann man überall anwenden, wo nur etwas nicht vollständig ausgeschlossen werden sollte.
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Der Kreativität sind zwar keine Grenzen gesetzt, aber die meisten Tricks, mit denen Forschungsergebnisse frisiert werden, beziehen sich auf eine einfache Wahrscheinlichkeitsregel: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Ereignis allein durch Zufall auftritt, kann sehr klein sein, aber die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Ereignis mindestens einmal (aus vielen möglichen Malen) auftritt, ist dennoch sehr hoch. Wenn z.B. ein schwerkranker Patient nur 1% Überlebenschancen hat, und wenn ein erfahrener Arzt 1 000 solcher Patienten behandelt hat, dann liegt die Wahrscheinlichkeit über 99,9%, dass mindestens einer dieser Patienten überlebt hat. Genauso in der Nähe von 100% ist die Wahrscheinlichkeit, dass irgendeiner der 365 Tage in diesem Jahr an irgendeinem Ort Europas der wärmste Tag seit Beginn der Temperaturmessungen (oder sogar seit 120 000 Jahren40) ist. Das ist die Meldung, die wir täglich in den Nachrichten hören; und die beweisen soll, dass die Tagestemperaturen auf Rekordhöhe gestiegen sind. Das Prinzip lautet also: Man muss es immer wieder versuchen, irgendwann klappt es. Dabei ist die simple Wiederholung der Beobachtungen wirklich die einfachste und relativ fantasielose Methode. Sie wird häufig von Pharmaunternehmen angewendet, die oft mehrere Versuche durchführen, damit mindestens einer den Effekt des neuen Medikaments „beweist“. Studien, deren Hauptergebnis nicht signifikant ist, werden entweder nicht veröffentlicht oder selten zitiert.41 Aber die bloße Wiederholung der Beobachtungen ist nur das einfachste Verfahren. Viel kreativer ist das Variieren von Vergleichsbedingungen. Zu einer Experimentalbedingung kann man mehrere leicht abwandelnde Kontrollbedingungen einsetzen und nur diejenige als relevant erklären, die sich am stärksten unterscheidet. Man kann Untersuchungsobjekte (bzw. bei Humanstudien Versuchsteilnehmer) nacheinander einschließen, die Daten analysieren und die Untersuchung abbrechen, sobald das Ergebnis die Signifikanzgrenze überschritten hat. Man kann mehrere Gruppen vergleichen, aber nur einen Vergleich berichten, in dem das erwünschte Ergebnis erzielt wurde, und die anderen unterschlagen.42 Das Gleiche gilt für Hypothesen: Man überprüft mehrere davon parallel, berichtet aber nur von der einen, die nützlich war. Aber auch eine einzige Hypothese kann auf viele verschiedene Arten und Weisen getestet werden, etwa mit verschiedenen statistischen Verfahren, verschiedenen Untergruppenteilungen u.v.m. Sucht man beispielsweise einen Unterschied zwischen Jüngeren und Älteren,
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und findet, dass sich die Gruppen von 20 bis 40 Jahren und von 41 bis 70 Jahren nicht signifikant unterscheiden, so kann man die Gruppen von 20 bis 50 und von 51 bis 70 Jahren untersuchen. Wir können auch männliche Teilnehmer erst ab dem Alter von 55 Jahren als „älter“ definieren, weibliche Teilnehmerinnen aber schon ab 45 Jahren usw. usf. – bis das erwünschte Ergebnis statistisch signifikant wird. Je mehr Varianten ausprobiert werden, desto höher die Chance, einmal per Zufall eine statistische Signifikanz zu erreichen und dann über einen Erfolg zu berichten, der lediglich in der Untersuchung konstruiert wird. Dazu kommt eine massive Verzerrung der Faktenlage durch bevorzugte Publikation positiver Befunde und die Unterdrückung negativer Erkenntnisse (Publication Bias) sowie das unterlassene Zitieren negativer bzw. kritischer Studien selbst dann, wenn sie doch publiziert werden. Freilich treffen wir überall auf dieses Phänomen, nicht nur wo das Geld herrscht. In pharmakologischen Studien findet diese Verzerrung oft eine monetäre Erklärung: Positive Ergebnisse führen direkt zum finanziellen Gewinn. Aber die gleiche Tendenz zur bevorzugten Zitierung bestätigender und zur Vernachlässigung kritischer Studien findet ebenfalls im Bereich der Psychotherapie statt, obwohl dort ein unmittelbarer finanzieller Anreiz fehlt. Auch dort verbreitet sich Spin, und negative Studien mit Spin werden häufiger zitiert als ähnlich negative ohne Spin.43 Die Tendenz, nach bestätigender Information zu suchen und Widersprüche zu ignorieren („Konfirmationsverzerrung“ bzw. „kognitive Konsonanz“), gehört zu den Grundeigenschaften der menschlichen Natur überhaupt. Francis Bacon hat über diesen fundamentalen Denkfehler noch vor 400 Jahren geschrieben.44 In diese Falle gerieten gelegentlich sogar Koryphäen wie Isaac Newton und William Thompson (Kelvin). Wenn jedoch das gesamte Wissenschaftssystem das kritische Denken unterstützt und skeptische Einstellungen gegenüber fremden und eigenen Hypothesen als seinen Grundsatz betrachtet, entwickelt es effektive Gegenmechanismen,45 die verhindern, dass einmal beobachtete positive Befunde immer wieder bestätigt und für immer als wissenschaftliche Fakten gelten. Wenn aber das Anreizsystem so aufgebaut ist, dass ein Wissenschaftler dann „erfolgreich“ ist, wenn er seine Konzepte (und die seines Chefs, seiner Geldgeber, der herrschenden politischen Tendenz) verteidigt und durchsetzt, wenn sein meist ersehntes Ziel ein Hype über seine Befunde und seine Theorie in
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populären Massenmedien ist, dann sind Zweifel und die Suche nach widersprüchlichen Ergebnissen und alternativen Modellen absolut kontraproduktiv. Die Selbstbestätigung wird dann zur normalen wissenschaftlichen Praxis, während die Zurückweisung einer Hypothese einem persönlichen Angriff auf ihren Autor gleicht. Eine kumulative Auswirkung mehrerer Verzerrungsfaktoren kann man am Paradigma von Erick Turner und seiner Mitarbeiter sehen, die 105 kontrollierte Studien über antidepressive Medikamente unter die Lupe nahmen. Die Ergebnisse wurden zuerst unveröffentlicht für die Federal Drug Administration berichtet, wobei fast 50% davon (52 von den 105) negativ ausfielen. Von den 53 Studien mit positiven Ergebnissen wurden 52 (98%) veröffentlicht, von den 52 Studien mit negativen Ergebnissen aber nur 25 (48%). In zehn von diesen 25 Studien wurden die Ergebnisse so lückenhaft dargestellt, dass der Leser keine Schlussfolgerung ziehen konnte. Weitere fünf Studien beschrieben die Ergebnisse zwar korrekt, beinhalteten aber Spin in Titeln oder Zusammenfassungen, weshalb ein oberflächlicher Leser das Resultat schließlich als positives wahrnimmt. In der finalen Stichprobe standen also nur zehn relativ klar definierte negative Ergebnisse 67 positiv beschriebenen Ergebnissen gegenüber, was das Verhältnis positiv/negativ von 87/13 (statt 50/50) ergibt.46 Darüber hinaus wurden die wenigen verbliebenen negativen Studien seltener als positive zitiert. In Russland sind zwei Schelmenromane von Ilja Ilf und Jewgeni Petrow berühmt geworden, 12 Stühle (1928) und Das goldene Kalb (1931). Deren Held, ein gewisser Ostap Bender, erklärt immer wieder: „Ich respektiere das Strafgesetzbuch“ und „Ich kenne vierhundert relativ legale Arten und Weisen von Betrug“.47 Vierhundert ist vielleicht zu viel; aber im Prinzip bestätigt der Psychologe Roger Giner-Sorolla von der Universität Kent den gleichen Gedanken, indem er sagt: If all significant results are taken at face value, then regardless of a hypothesis’s truth, only the most unlucky, uncreative, or poorly resourced researchers will fail to scrape together 3.33 studies in support of it.48
VII. Radikale Schlankheitskur Vieles, was auf den vorangegangenen Seiten gesagt wurde, ist bekannt und wird innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft breit disku-
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tiert. Aber die meisten Lösungen, die vorgeschlagen wurden, wären nur zum Lachen, wenn sie nicht zum Weinen wären – etwa, dass die Universitäten verpflichtende Kurse für wissenschaftliche Ethik anbieten oder dass die Zeitschriften Platz für Replikationsstudien haben sollten. Solche Vorschläge verraten das völlige Unverständnis des Problems. Wenn man etwa in einer Gesellschaft nur durch Raub und Diebstahl zu Wohlstand kommen kann, während ehrliche Menschen in Armut vegetieren, ändert die Einführung eines Ethikunterrichts in den Schulen das Verhalten der Menschen nicht. Die Zeitschriften können für Replikationsstudien Platz einräumen, aber kaum jemand wird ihn nutzen, weil die Replikationsstudien im existierenden System nicht zum Karrierefortschritt beitragen. Ein allgemeiner Sittenverfall wird auch nicht durch das Einsetzen einer Sittenpolizei aufgehalten; vielmehr ist das Einsetzen einer Sittenpolizei ein Symptom des schlechten moralischen Zustandes. Arrièregarde-Kämpfe decken nur den Rückzug der Armee aus ihren verlorenen Positionen. Das in den letzten Jahren entwickelte Open Science Movement (OSM) setzt sich die Überwindung der auf den vorigen Seiten beschriebenen negativen Prozesse zum Ziel. Die OSM versteht sich als Ineinandergreifen von mehreren Aspekten, und zwar: (i) Open Methodology: Das Anwenden von Methoden sowie der gesamte methodische Vorgang soll präzise und relevant dokumentiert werden; (ii) Open Source: Man soll quelloffene Technologien (Soft- und Hardware) verwenden und eigene Technologien öffnen; (iii) Open Data: Erstellte Daten sollen frei zur Verfügung gestellt werden, und zwar rohe, noch nicht aufgearbeitete Daten; (iv) Open Access: Die Veröffentlichungen sollen in offenen Medien (Open Access Journals) erfolgen und für jeden zugänglich sein; (v) Open Peer Review: Die Begutachtung wissenschaftlicher Arbeiten soll offen und nachvollziehbar erfolgen; (vi) Open Educational Resources: Verwendung von freien und offen zugänglichen Materialien für Bildung und Lehre.49 Der ganze wissenschaftliche Prozess von der ersten Idee bis zur finalen Publikation soll transparent, nachvollziehbar und für alle nutzbar gemacht machen, und alle Daten dürfen von jedem überprüft und wiederverwertet werden. Die Idee ist gut, aber mit dem realen Anreizsystem unvereinbar. Sie setzt eine Kooperationsbereitschaft zwischen Personen voraus, die sich objektiv in einem harten Konkurrenzkampf befinden, nicht um die besten Argumente, sondern um sinnlose Kennzahlen, von denen aber
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der persönliche Auf- oder Abstieg abhängen kann. Da die Niederlage in diesem Kampf mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Ruin der unmittelbaren Lebenspläne bedeuten kann, muss der Sieg mit allen legalen und illegalen Mitteln erreicht werden. Die Anhänger der OSM sprechen über die Notwendigkeit einer „kulturellen Offenheit“, also eines „Willens“, die eigenen Gedanken zu teilen und diese an andere verständlich zu kommunizieren. Aber woher soll dieser Wille rühren, wenn das Teilen eigener Gedanken (und Daten!) mit den anderen einen Forscher schwer benachteiligen kann? Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten drei Jahre lang an einer hochwertigen randomisierten kontrollierten Studie, veröffentlichen das Ergebnis in hochprofessionellen Zeitschriften mit einem guten Impact-Faktor (etwa zwischen 5 und 10) und stellen die Rohdaten frei ins Internet. Ein anderer Kandidat auf eine Stelle, auf die Sie sich beworben haben, holt Ihre Zahlen, führt innerhalb eines Monats eine neue mathematische Analyse durch, publiziert sein Ergebnis im New England Journal of Medicine und bekommt die Stelle. Noch naiver ist die Idee, der Staat solle die Integrität der Forschung besser kontrollieren. Diese Idee gleicht dem Vorschlag, Bürokratie abzubauen, indem man ein Bürokratieabbauministerium gründet. Der Staat ist als weitaus größter Drittmittelgeber der größte Profiteur des gegenwärtigen Systems, mit dessen Hilfe er aus den Wissenschaftlern hörige Ja-Sager und willige Untertanen macht, die schon beim ersten Gedanken an Ungehorsam in Angst und Schrecken geraten. Er ist am wenigsten daran interessiert, das System zu wechseln. Die einzige Lösung wäre, auf gut Deutsch gesagt, ein konsequentes Defunding. Wie die Physiker um Leo Szilard noch Ende der 1940er gesehen haben, macht Geld die Wissenschaft nicht glücklich. Der Geldüberfluss schafft falsche Anreize und lockt Menschen in die Forschung, die kein Interesse an Wahrheitssuche haben, aber über Fertigkeiten verfügen, Geldströme auf sich zu lenken. Es entstehen Moderichtungen wie in der Bekleidungsindustrie, und Wissenschaftler wählen nicht die Themen, die ihnen persönlich spannend erscheinen, auch nicht die, die sich aus der inneren Logik der Forschung herauskristallisieren, sondern nur die, bei denen man am schnellsten an Drittmittel kommt. Wenn sich ein solches System entwickelt – und es hat sich in der Forschung bereits entwickelt – lässt es für den Einzelnen wenig Spiel-
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raum. Nicht mitspielen kann man kaum, denn wer nicht mitspielt, verliert, erhält immer weniger Forschungsgelder und rollt schließlich auf das Abstellgleis. Die enormen Geldmengen, die heutzutage durch die wissenschaftliche Welt geistern, ziehen besondere Kategorien von Menschen an, die dort früher nichts zu suchen hatten. Sie produzieren ein neues, nie dagewesenes Phänomen, das man – kühn formuliert – sogar als organisierte Wissenschaftskriminalität bezeichnen könnte. Die Literatur vergangener Jahrzehnte und Jahrhunderte berichtete natürlich auch über kriminelle Wissenschaftler, wie etwa Doktor Moreau oder Professor Moriarty, die ihr Wissen und Können in den Dienst verbrecherischer Ziele stellten. Doch im jüngsten Roman eines ehemaligen Tübinger Professors50 wird wahrscheinlich zum ersten Mal der ganze universitäre Betrieb als eine systematische kriminelle Tätigkeit dargestellt. Der Einwand, dass die Verdienstmöglichkeiten in der Wissenschaft immer noch viel geringer seien als in der Wirtschaft, dass der Vorstand eines börsennotierten Unternehmens mit höheren Beträgen operiert als der einflussreichste Wissenschaftsmanager, geht am Ziel vorbei. Das Ans-Geld-Kommen in der Wirtschaft ist ein anderes als in der stickigen Luft der Drittmittelprojekte, die Kontrollmechanismen sind in der Wirtschaftspolitik viel besser entwickelt, die Gesetzgebung strenger und daher die Möglichkeiten illegaler Operationen stärker eingeschränkt. Zu diesen Kontrollmechanismen gehört auch die Selbstkontrolle durch die „unsichtbare Hand des Marktes“, den es, wie oben gesagt, in der Wissenschaft nicht gibt. Deshalb riskiert ein wissenschaftlicher Geschäftsmann im Gegensatz zu seinem Gegenpart aus der Wirtschaft so gut wie nichts, weil die meisten Gelder schließlich vom Steuerzahler kommen, der nichts überprüfen, nichts kontrollieren, nichts genau wissen kann, sondern vom lieben Gott extra dafür erschafft zu sein scheint, gemolken und ausgebeutet zu werden. Die üppige staatliche Finanzierung der Wissenschaft führt direkt zur Massenproduktion falschpositiver, nie replizierbarer Befunde, zur Proliferation von Pseudowissenschaften und Orchideenfächern, sie fördert das Aufblähen einer kafkaesken Wissenschaftsbürokratie, begünstigt die Verflechtung der Wissenschaft mit der Politik, macht die Wissenschaft vom politischen Mainstream abhängig und gefährdet die im Grundgesetz verbürgte „Freiheit der Forschung und Lehre“.
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Diese Finanzierung muss radikal reduziert werden. Vor allem muss die absurde „leistungsbezogene“ Förderung vollständig abgeschafft werden, schon deshalb, weil es kein Leistungsmaß in Forschung und Lehre gibt, das nicht widersinnig und willkürlich wäre. Zugleich muss aber die verbliebene Finanzierung gesichert werden. Schnell (vielleicht innerhalb von ein oder zwei Anschlussjahren) nach einer Promotion muss geklärt werden, wer in der Forschung bleibt, und wer seinen Lebensweg woanders aufbaut; und wer bleibt, muss eine sichere Stelle erhalten und ruhig, ohne Druck forschen können. Es kann in der Wissenschaft keinen realen Markt geben. Alle Versuche, Wissenschaftler nach marktwirtschaftlichen Kriterien zum Arbeiten zu zwingen, sind ebenso sinnfrei wie ein „sozialistischer Wettbewerb“ in kommunistischen Ländern. Marktwirtschaftliche Slogans in der Wissenschaftspolitik sind lediglich heuchlerisches Gerede zur Verdeckung der eigentlichen Machtpolitik der Wissenschaftsmanager verschiedener Ebenen, die mit Hilfe des „Wettbewerbs“ die Forscher gegeneinander ausspielen und damit deren Abhängigkeit maximieren. Richtige Forscher befinden sich bereits im Wettbewerb mit den Kollegen, indem sie neue Ergebnisse erarbeiten, die unser bisheriges Wissen erweitern; und indem sie neue Theorien entwickeln, die alten Theorien widersprechen. Jeder weitere, zusätzliche Wettbewerb, über diesen immanenten hinaus, ist Gift. Das schließt anwendungsbezogene Forschung, damit industrielle und sonstige privat finanzierte Drittmittelprojekte oder Patente selbstverständlich nicht aus. Wissenschaftler, die mit ihren nützlichen Erfindungen an großes Geld kommen, wird es immer geben. Nicht ganz vermeidbar sind in diesen Anwendungsbereichen auch Betrugsversuche und Fälschungen. Aber sie werden wie in vorigen Jahrhunderten Einzelfälle und Ausnahmen bleiben. Die Coronakrise hat gezeigt: Die Unterwerfung unter private Interessen (in diesem Fall unter die Interessen von Pharmaunternehmen) wird erst dann zu einer tödlichen Gefahr für die Wissenschaft, wenn sich diese privaten Interessen zuerst mit den politischen Interessen verflechten, wenn das private Kapital die Politik korrumpiert und/oder staatliche und überstaatliche politische Strukturen direkt finanziert. Was wäre eine Impfkampagne, die der Pharmaindustrie viele Milliarden Dollar bringt, ohne den staatlichen Druck, ohne die massive Staatspropaganda, ohne die polizeilich durchgesetzten Einschränkungen für
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Ungeimpfte? – Nichts als eine bescheidene Werbung, eine von Tausenden Werbekampagnen neben der täglichen Werbung für Waschmittel und Zahnbürsten von „Doktor Best“. Überhaupt wäre die so gefürchtete Big Pharma wahrscheinlich nur eine Small Pharma ohne die von den Regierungen aufgezwungene Gesundheitspolitik, ohne die staatlich gelenkte Medikalisierung der Gesellschaft.51 Auch die mächtigsten privatwirtschaftlichen Konzerne können keine Durchsuchungen bei Ärzten anordnen, die ihren Patienten von bestimmten, für die Industrie profitablen Medikamenten abraten. Nur der Staat kann dies. Gute 20 Jahre vor Corona träumte ein bedeutender US-amerikanischer Medizinmanager, Alan I. Leshner, der damalige Direktor des National Institute of Drug Abuse (NIDA) davon, dass ein Arzt, der einem depressiven Patienten keine Serotonininhibitoren verschreibt, einer Gefängnisstrafe unterworfen wird.52 Die Marktwirtschaft bedroht die Wissenschaft nicht wesentlich; die Machtwirtschaft tut es aber. Das gesamte Anreizsystem sollte vom Kopf auf Füße gestellt werden. Wie der Nobelpreisträger für Chemie Richard Ernst sagte: And as an ultimate plea, the personal wish of the author remains to send all bibliometrics and its diligent servants to the darkest omnivoric black hole that is known in the entire universe, in order to liberate academia forever from this pestilence.53
Dafür muss sich die Wissenschaft verschlanken und entschlacken, der Verführung von immer mehr Geld für den Verrat ethischer Standards entsagen und endlich den Weg aus der goldenen Mausefalle finden, in die sie gelaufen ist.
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Leo Szilard, “Marc Gable Foundation”. Zit. nach https://library.ucsd.edu /dc/object/bb33804055/_1.pdf [17.02.2022]. Wigner E.P. (1946) (Ed.) Physical science and human values. https://archi ve.org/details/physicalscienceh00prin/page/40/mode/2up, aufgerufen am 09.03.2022. Wigner, Physical science…, S. 40 Wigner, Physical science…, S. 48. Silvan S. Schweber, In the Shadow of the Bomb: Oppenheimer, Bethe, And The Moral Responsibility Of The Scientist (Princeton: Princeton University Press, 2007), S. 101.
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Falls jemand diese Geschichte für eine Fiktion hält, hier sind die Artikel: Christoph Datler, Evangelos Pazarentzos, Anne-Laure Mahul-Mellier, Wanwisa Chaisaklert, Ming-Shih Hwang, Foy Osborne, Stefan Grimm, “CKMT1 regulates the mitochondrial permeability transition pore in a process that provides evidence for alternative forms of the complex” in Journal of Cell Science 127, 8 (2014), S. 1816 – 1828; Evangelos Pazarentzos, AnneLaure Mahul-Mellier, Christoph Datler, Wanwisa Chaisaklert, Ming-Shih Hwang, Jan Kroon, Ding Qize, Foy Osborne, Abdullah Al-Rubaish, Amein Al-Ali, Nicholas D. Mazarakis, Eric O. Aboagye, Stefan Grimm, “IκΒα inhibits apoptosis at the outer mitochondrial membrane independently of NF-κB retention”, in The EMBO Journal 33 (2014) S.2814-2828; Ming Hwang, Jakub Rohlena, Lan-Feng Dong, Jiri Neuzil, Stefan Grimm, “Powerhouse down: Complex II dissociation in the respiratory chain”, in Mitochondrion 19, A (2014), S. 20-28; Stefan Grimm, “Respiratory chain complex II as general sensor for apoptosis”, in Biochimica and Biophysica Acta (BBA) 1827, 5 (2013), S. 565-572. https://www.thetimes.co.uk/article/kew-scientist-told-to-reapply-for-jo b-is-found-dead-bg9npkx35wb [30.01.2022] http://www.dcscience.net/2014/06/07/bad-financial-management-at-kings -college-london-means-vc-rick-trainor-is-firing-120-scientists/ [18.02.2022]. Felix Grigat, „Es fließt“, in Forschung und Lehre 12 (2022), S. 925. https://www.welt.de/sport/article242818915/WM-Ausser-Kontrolle-Bl atter-bereut-was-er-dem-Fussball-angetan-hat.html https://thejeshgn.com/wiki/great-speeches/cargo-cult-science-by-richar d-feynman/, aufgerufen am 5.05.2023 Benjamin Peters, How Not to Network a Nation. The Uneasy History of the Soviet Internet (Boston: MIT Press, 2016), S.192-193. https://www.huffpost.com/entry/higher-ed-administrators-growth_n_4 738584, aufgerufen am 14.04.2022 https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/forschung-und-lehre/verbesser ung-der-arbeitsbedingungen-an-unis-13354907.html [14.04.2022] https://www-genesis.destatis.de/genesis/online?language=de&sequenz =tabellen&selectionname=213*#abreadcrumb Jose L. Duarte, Jarret T. Crawford, Charlotta Stern, Jonathan Haidt, Lee Jussim, Philip E. Tetlock, “Political diversity will improve social psychological science”, in Behavioral and Brain Sciences (2015), doi:10.1017/S014052 5X14000430, e130; Keith E Whittington, “The value of ideological diversity among university faculty”, in Social Philosophy and Policy 37, 2 (2020), S. 90113; https://spsp.org/sites/default/files/SPSP_Diversity_and_Climate_ Survey_Final_Report_January_2019.pdf, aufgerufen am 3.05.2022; Idan S Solon, “Scholarly elites orient left, irrespective of academic affiliation”, in Intelligence 51 (2015), S. 119-130. Siehe auch Clark, C. L., & Winegard, B. M. “Tribalism in war and peace: The nature and evolution of ideological epistemology and its significance for modern social science”, in Psychological
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Inquiry 31, doi: 10.1080/1047840X.2020.1721233, und die darauf folgende Diskussion in diesem Heft von Psychological Inquiry. Daniel B. Klein, Charlotta Stern, “Professors and their politics”, in Critical Review 17 (2005), Doi: 10.1080/08913810508443640, Zit. S. 271-272. Zit. nach: Daniel Sarewitz, “Science should keep out of partisan politics”, in Nature 516, December 4 (2014). Ferric C. Fang, Arturo Casadevall, “Retraction science and the retraction index”, in Infection and Immunity 79, 10 (2011), S. 3855-3859; Isabel CamposVarela, Ramón Villaverde-Castañeda, Alberto Ruano-Raviña, “Retraction of publications: a study of biomedical journals retracting publications based on impact factor and journal category”, in Gaceta Sanitaria 34 (2020), S. 430-434. doi: 10.1016/j.gaceta.2019.05.008 Hepeng Jia, “Retractions pulling China back”, https ://www.natureindex. com.news.call-for-tougher-sanctions. Torgny Stigbrand, “Retraction of multiple articles in Tumor Biology”. in Tumor Biology 20 (2017), S. 1 – 6. Behzad Ataie-Ashtiani, “World map of scientific misconduct”, in Science and Engineering Ethics 24, 5 (2018), S. 1653-1656. Nannan Yi, Benoit Nemery, Kris Derickx, “How do Chinese universities address research integrity and misconduct? A review of university documents”, in Developing World Bioethics 19 (2019), S. 64-75. doi: 10.11 11/dewb.12231 Ley Ley, Ying Zhang, “Lack of improvement in scientific integrity: An analysis of WoS retractions by Chinese researchers (1997-2016)”, in Science and Engineering Ethics 24, 5 (2018), S, 1409-1420. doi: 10.1007/s11948-017-99 62-7 Ferric C. Fang, Arturo Casadevall (2011). Ley Ley, Ying Zhang (2018). Wei Quan, Bikun Chen, Fei Shu, “Publish or impoverish: an investigation of the monetary reward system of science in China (1999 – 2016)”, in Aslib Journal of Information Management 69 (2017). Doi: 10.1108/AJIM-01-2017-0014 Alison Abritis, Alison McCook, Retraction Watch, “Cash incentives for papers go global”, in Science 357 (2017), S. 541. Ayman El-Menyar, Ahammed Mekkodathil, Mohammad Asim, Rafael Consunji, Sandro Rizoli, Ahmed Abdel-Aziz Bahey, Hassan Al-Thani, “Publications and retracted articles of COVID-19 pharmacotherapy-related research: A systematic review”, in Science Progress 104 (2021), S. 1-20; Caleb Anderson, Kenneth Nugent, Christopher Peterson, “Academic journal retractions and the COVID-19 pandemics”, in Journal of Primary Care and Community Health 12 (2021), S. 1-6. David A. Eisner, “Reproducibility of science: Fraud, impact factors and carelessness”, in Journal of Molecular and Cellular Cardiology 114 (2018), S. 364-368.
DES MEPHISTOPHELES‘ GESCHENK
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31 Patrick E. Shrout, Joseph L. Rodgers, “Psychology, science, and knowledge reconstruction: Broadening perspectives from the replication crisis”, in Annual Review of Psychology 69 (2018), S. 487-510. 32 C. Glenn Begley, Lee M. Ellis, “Drug development: Raise standards for preclinical cancer research”, in Nature 483 (2012), S. 531 – 533. 33 John P. A. Ioannidis, “Contradicted and initially stronger effects in highly cited clinical research”, in JAMA 294 (2005), S. 218 – 228. 34 Daniele Fanelli, “’Positive’ results increase down the hierarchy of the sciences”, in PLoS One 5 (2010), e10068; Daniele Fanelli, “Negative results are disappearing from most disciplines and countries”, in Scientometrics 90 (2012), S. 891-904. 35 Panayotis A. Kyzas, Despina Denaxa-Kyza, John P. A. Ioannidis, “Almost all articles on cancer prognostic markers report statistically significant results”, in European Journal of Cancer 43 (2007), S. 2559 – 2579. 36 Vgl. Lale Amiri-Kordestani, Tito Fojo, “Why do phase iii clinical trials in oncology fail so often?”, in Journal of the National Cancer Institute 104 (2012). S. 568 – 569; Pedro L. Lowenstein, Maria G. Castro, “Uncertainty in the translation of preclinical experiments to clinical trials. Why do most phase III clinical trials fail?”, in Current Gene Therapy 9 (2009), S. 368 – 374; Henry Krum, Andrew Tonkin, “Why do phase III trials of promising heart failure drugs often fail?”, in Journal of Cardiac Failure 9 (2003), S. 364 – 367; Rayaz A Malik, “Why are there no good treatments for diabetic neuropathy?”, in Lancet Diabetes & Endocrinology 2, (2014), S. 607 – 609; Alex Dyson, Mervyn Singer, “Animal models of sepsis: Why does preclinical efficacy fail to translate to the clinical setting?”, in Critical Care Medicine 37 (2009), S. 30 – 37; Donald G Stein, “Embracing failure: What the Phase III progesterone studies can teach about TBI clinical trials”, in Brain Injury 29 (2015), S. 12591272. 37 Peter C. Goetzsche, Tödliche Medizin und Organisierte Kriminalität (München: Riva, 2015). 38 Mike Rossner, Kenneth M. Yamada, “What's in a picture? The temptation of image manipulation”, in Journal of Cell Biology 166 (2004), S. 11 – 15. 39 Robert-Koch-Institut, „Mund-Nasen-Bedeckung im öffentlichen Raum als weitere Komponente zur Reduktion der Übertragungen von COVID-19“, in Epidemiologisches Bulletin 19 (2020), S. 3 – 5. 40 https://www.tagesspiegel.de/wissen/der-juli-schlagt-weltweit-alle-hitz e-rekorde-womoglich-warmster-juli-seit-120000-jahren-10212592.html#:~: text=Eine%20aktuelle%20Analyse%20hat%20nun,es%20vielerorts%20zu %20hohe%20Temperaturen.&text=Der%20Juli%20wird%20der%20w%C3 %A4rmste%20Juli%2DMonat%20seit%20wahrscheinlich%20120.000%20Ja hren. [05.08.2023]. 41 Miriym J. E. Urlings, Bram Duyx, Gerard M. H. Swaen, Lex M. Bouter, Maurice P. Zeegers, “Citation bias and other determinants of citation in biomedical research: Findings from six clinical networks”, in Journal of Clinical Epidemiology 106 (2021), S. 88-97.
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42 Joseph P. Simmons, Leif D. Nelson, Uri Simonsohn, “False positive psychology: Undisclosed flexibility in data collection and analyses allows presenting anything as significant”, in Psychological Science 22 (2011), S. 13591366. 43 Y.A. de Vries, A.M. Roest, P. de Jonge, P. Cuijpers, M.R. Munafo, J.A. Bastiaansen, “The cumulative effect of reporting and citation biases on the apparent efficacy of treatments: the case of depression”, in Psychological Medicine 48 (2018), S. 2453 – 2455. Doi : 10.1017/S0033291718001873 44 Francis Bacon, Neues Organon (Hamburg: Meiner, 2009/1620). 45 Vgl. Walter R. Schumm, “Confirmation bias and methodology in social science: An editorial”, in Marriage and Family Review 57 (2021), S. 285-293; Michael Allen, Hilary Coole, “Experimenter confirmation bias and the correction of science misconceptions”, in Journal of Science Teacher Education 23 (2012), S. 387 – 405. 46 Eric H. Turner, Annette M. Matthews, Eftihia Linardatos, Robert A. Tell, Robert Rosenthal, “Selective publication of antidepressant trials and its influence on apparent efficacy”, in New England Journal of Medicine 358 (2008), S. 252-260; siehe auch de Y.A. Vries, et al. (2018). 47 Zit. nach https://web.archive.org/web/20051218000444/http://lib.ru/I LFPETROV/telenok.txt, Kap.2. [12.10.2022]; eine deutsche Version siehe z.B. I. Ilf und E. Petrow, Das goldene Kalb. Übersetzt von Mascha Schillskaja (München: Goldmann, 1967). 48 Roger Giner-Sorolla, “Science or art? How aesthetic standards grease the way through the publication bottleneck but undermine science”, in Perspectives in Psychological Science 7, 6 (2012). S. 562-571, hier S. 563. 49 https://openscienceasap.org/open-science/ [14.09.2022]. 50 Gert Ueding, Herbarium, giftgrün (München: Kröner, 2021). 51 Robert Crawford, “Healthism and the medicalization of everyday life”, in International Journal of Health Services 10 (1980), S. 365-388; Thomas S. Szasz, “The therapeutic state: The tyranny of pharmacracy”, in The Independent Review V (2001), S. 485-521; Simon J. Williams, Paul Martin, Jonathan Gabe, “The pharamceuticalisation of society? A framework for analysis”, in Sociology of Health and Illness 33 (2011), S. 710-725. 52 David Samuels, “Saying yes to drugs”, in The New Yorker, March 23, 1998, S. 48-55. 53 Richard R. Ernst, “The follies of citation indices and academic ranking lists. A brief commentary to: ‘Bibliometrics as weapons of mass citation’”, in Chimia (Aarau) 64 (2010), S. 90.
Innere und äußere Korruption der Wissenschaft Klaus Morawetz
I.
Einleitung
Der Mathematiker und Freund Albert Einsteins Kurt Gödel bewies den wichtigsten Satz des 20. Jahrhunderts1, nämlich dass es kein logisches System geben kann, das vollständig und konsistent ist. Vielmehr wird es immer Annahmen enthalten, die vom System aus nicht beweisbar sind. Möchte man Fehlentwicklungen der Wissenschaftsorganisation herausfinden, müssen wir die interne Logik in Frage stellen und die unbewiesenen Annahmen suchen. Keiner wird innerhalb der Deutschen Forschungsgemeinschaft bestreiten, dass Projektgelder an die besten Projekte vergeben werden sollten und ein Wettbewerb damit sinnvoll ist. Wo sollte also der Fehler liegen? Inzwischen konkurrieren ganze Universitäten in Exzellenzinitiativen und Sonderforschungsbereichen mit dem Aufwand von hunderten Wissenschaftlern, die über Monate in Vollzeit Anträge schreiben. Damit fällt bereits ein geschätztes Viertel der Arbeitskraft für die Forschung allein der Antragsstellung zum Opfer. Offensichtlich ist das eine klar innovationsschädigende Fehlentwicklung, die aber im System selbst nicht erkennbar wird, da sie auf der stillschweigenden Annahme beruht, dass Konkurrenz immer beste Lösungen hervorbringt und Wissenschaft nach Marktgesetzen funktioniert; also wie ein Unternehmen zu managen ist. Das bringt die Notwendigkeit mit sich, den Erfolg der Wissenschaftler zu messen. Heute wird dafür als Maß der Hirsch-Index benutzt, der die Rangzahl der nach Zitaten sortierten Veröffentlichungen angibt, die der Anzahl der Zitate entspricht. Kurt Gödel hätte einen Hirsch-Index von 3, Albert Einstein von 4 und Max Planck von 132. Damit hätten die beiden erstgenannten Herren heute nicht einmal die Chance, eine Postdoktoranden-Stelle zu erhalten, geschweige denn eine Professur. Im Durchschnitt wird heute ein Physikprofessor bei einem Hirsch-Index von 20-30 liegen, Max-Planck-Direktoren bei über 40 und Spitzenpositionen um die 100. In der Medizin sind diese Nor-
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male um einen Faktor größer. Auch hier sehen wir offensichtlich eine abstruse Fehlentwicklung. Im folgenden Artikel soll aufgezeigt werden, dass die hierbei zugrundeliegende Annahme der Messbarkeit, Zählbarkeit von Erfolg und damit Kommerzialisierung der Wissenschaft gerade den Wissenschaftsgedanken korrumpiert und zu einem systemischen Versagen der Wissenschaftsorganisationen geführt hat. Hierbei reicht der weite Korruptionsbegriff als ein Abfall von einem Ideal nicht aus, um das spezielle Versagen dieser Organisationen und den Missbrauch der Wissenschaft zu erklären. Vielmehr wird zu zeigen sein, dass der enge Korruptionsbegriff des Missbrauchs anvertrauter Macht zum eigenen Vorteil aus der Kommerzialisierung des Wissenschaftsbegriffs folgt. Einhergehend damit wird als logische Konsequenz des Abwendens von der kritischen Methode die Korruption der Sprache zu zeigen sein. Dies führt dann in den persönlichen Bereich, wo wir von innerer Korruption, einer assimilierten und geglaubten Lüge sprechen können. Als bekannt gewordenes Beispiel für den mit dem kommerzialisierten Wettbewerb einhergehenden Veröffentlichungsdruck sei hier an den Fall Hendrik Schön erinnert. Als Postdoktorand arbeitete er an aufsehenerregenden Messungen, unter anderem zur Hochtemperatursupraleitung. Die zunächst sehr vielversprechenden Ergebnisse wurden ihm buchstäblich aus der Hand gerissen. Renommierte Zeitschriften wie Nature veröffentlichten ohne Gutachterprozess und bedrängten ihn, neue Daten und Manuskripte zu liefern. Zum Schluss veröffentlichte er bis zu 30 wissenschaftliche Publikationen pro Jahr, wohingegen 1-4 realistisch wären. Diese Erfolgsgeschichte mündete beinahe in einer Berufung zum Max-Planck-Direktor3 und sogar der Nobelpreis war im Gespräch. Erfahrene Forscher wunderten sich schließlich über das Tempo der Ergebnisse und versuchten vergeblich, diese Experimente nachzumessen. Dann untersuchte man die veröffentlichten Daten genauer und stellte mathematisch fest, dass ein Großteil der Daten extrapoliert, also nicht gemessen sein konnte. Eine Untersuchung der Bell Laboratories wies dann entsprechende Fälschungen nach4. Das Tragische an diesem Fall sind die zunächst richtigen und interessanten Messungen, die aber dem Karrieredruck der Veröffentlichungen beugend ausgeweitet und „verbessert“ wurden, um Aufsehen zu erreichen. Bestraft mit dem Ausschluss aus der Wissenschaft wurde leider nur Schön. Weder die versagenden Institutionen und Verlage, weder
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die Gutachter für die Auswahl zum MPI-Direktor noch der Betreuer haben diese Fälschung erkannt oder wurden zur Rechenschaft gezogen. Man war mehr am Erfolg interessiert als an der Wahrheit. Auch wenn hier ein wissenschaftliches Fehlverhalten vorrangig einem Einzelnen zugeschrieben wurde, zeigt es ein prinzipielles Versagen der kommerzialisierten Wissenschaftsorganisation auf. Nur die wissenschaftlich kritische Methode hat letztendlich den Fehler erkannt. Korruption in der Wissenschaft betrifft nicht nur einzelne Schwarze Schafe. Für viele und folgenreiche Fehlverhaltensmuster liegen regelrechte epidemische Bestandsaufnahmen aus Selbst- und Fremdberichten, Akten- und Veröffentlichungsauswertungen vor. Die vermeintlichen Einzelfälle markieren also Regeln des Systems.5
Hierbei ist eine Radikalisierung der Korruptionstechniken zu beobachten. Zu den Praktiken Impact-orientierter Ergebnisvermarktung gehören u.a. Zerlegung der gleichen Arbeit in Theorie-, Methoden-, Forschungsstandund […] Artikel (dies ist mittlerweile an den meisten deutschen Universitäten gelehrte Praxis der kumulativen Promotion); die Aufgliederung empirischer Ergebnisse in mehrere überlagernde Teilansätze oder Auswertung in unterschiedlichen Zeitschriften; die Ankündigung weiterer Resultate, die wiederholte Veröffentlichung ähnlicher Texte (sogenannte Selbstplagiate), etwa in Nachbardisziplinen; schließlich die Selbstzitation von Forschungsgruppen.6
Ganze Gutachterkartelle haben sich herausgebildet, die nur Veröffentlichungen der eigenen Kooperation und Lehrmeinung zulassen.
II.
Die Ursachen institutioneller Fehlentwicklungen
Es lohnt, einen kurzen Abstecher in die jüngste Geschichte des „Leitbildwechsels vom humboldtschen Bildungsideal hin zum hayekschen Glauben an die Überlegenheit der Markt- und Wettbewerbssteuerung einer vom Staat entfesselten Hochschule“7 und damit der „unternehmerischen Hochschule“ zu machen. Seit den 70er Jahren wurden die Hochschulen mit dem sogenannten „Öffnungsbeschluss“ chronisch unterfinanziert und damit gezwungen, Drittmittel einzuwerben, um die ureigensten Aufgaben der Lehre und Forschung überhaupt realisieren zu können. Hierbei war die massive gesellschaftliche Einfluss-
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nahme der Bertelsmann Stiftung mit dem eigens 1994 gegründeten Centrum für Hochschulentwicklung (CHE)8 die treibende Kraft, die unter dem Deckmantel, der Politik, dem Staat und der Gesellschaft zu helfen, indem die Steuerlast gesenkt wird durch Zurückdrängen des Staates, beabsichtigt, die „weitgehend staatlich finanzierten Hochschule in den Wettbewerb zu schicken und über die Konkurrenz um Studiengebühren und ergänzende private oder öffentliche Drittmittel das Hochschulsystem steuern zu lassen“.9 So wurde das Hochschulfreiheitsgesetz in NRW in den Jahren 2005 und 2006 fast wörtlich aus der Vorlage des CHE übernommen. Die Qualität einer Hochschule bestimmt sich nicht mehr aus ihrer wissenschaftlichen Anerkennung innerhalb der Scientific Community – also aus ihrem symbolischen oder ´kulturellen Kapital` (Pierre Bourdieu) – , sondern in der ‚unternehmerischen‘ Hochschule erweist sich Qualität in der ‚Konkurrenz mit Ihresgleichen‘ (so schrieb der damalige Innovationsminister Pinkwart von der FDP). Und die Qualität eines wissenschaftlichen Studiums läßt sich aus den Benchmarks von Hochschulrankings ableiten, die Qualität der Forschung aus der Höhe der Drittmitteleinwerbungen – also aus ganz handfestem Kapital.10
Abgesehen von dem Denkfehler, öffentliche Forschungsgelder in einem Pseudomarkt als profitbringende Investitionen umzudeklarieren, wird die Idee der Universität hierbei wesentlich korrumpiert. Es geht damit nicht mehr vorrangig um die Suche nach Wahrheit und die Vermittlung und Weitergabe von Wissen und Bildung, sondern um das Einwerben möglichst vieler Gelder. Studenten werden zu Kunden und das Produkt heißt Bachelor und Master. 2011 waren an deutschen Hochschulen 26 % des wissenschaftlichen und künstlerischen Personals, umgerechnet in Vollzeitbeschäftigte, durch Drittmittel finanziert. Bei den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern lag der Anteil an drittmittelfinanziertem Personal sogar bei 38%. Etwa jeder dritte Euro der Drittmitteleinnahmen kam von der (staatlich finanzierten) Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).11
Dagegen betrug 2023 der Anteil der Drittmitteleinnahmen mit 9,5 Mrd. Euro an den gesamten Einnahmen von 36,1 Mrd. Euro der Hochschulen bereits 25%. Die Grundfinanzierung des Bundes belief sich dagegen nur auf 0,13 Mrd. Euro12, wozu noch die Finanzierung durch die Länder kommt. Bei den Drittmitteln entfallen der größte Anteil mit 3 Mrd. Euro auf die DFG, 3 Mrd. Euro auf den Bund und 2,1 Mrd. Euro auf
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die Wirtschaft und Stiftungen. Die EU mit 0,8 Mrd. Euro und die Länder mit 0,2 Mrd. Euro stellen daneben kleine Posten. Durch diese Drittmittelfinanzierung ist aber neben der Verschiebung vom Fokus der Wahrheitssuche hin zu erfolgreichen Projekten auch eine direkte Einflussnahme des privaten oder öffentlichen Geldgebers auf die Forschungsthemen verbunden. Politisch unliebsame Themen haben somit keine Chance, gefördert zu werden. Die Erfolgsquote von DFG-Einzelanträgen ist innerhalb von 20 Jahren von 50% auf unter 23% gesunken13, zugunsten der vorrangigen Finanzierung von Großprojekten. Der unsinnige Verschleiß von Arbeitskraft für die Antragsstellung verhindert Innovation und wissenschaftlichen Fortschritt. Diese Art von Kommerzialisierung bereitet die Korruption der Themen und der Forschung vor. Als Ergebnis kann man auch das kollektive Versagen der Wissenschaftsorganisationen in der Corona-Zeit ansehen. Statt widerstreitende Erkenntnisse zu wichten und zu ordnen, Gesichertes von Hypothetischem zu scheiden, also normale wissenschaftliche Diskussion zu realisieren, erlebte man eine doktrinäre Festsetzung von Wahrheit, die durch keinerlei Empirie oder kritische Hinterfragung abgesichert worden ist. Als traurigen Höhepunkt kann man die gemeinsame Stellungnahme der Präsidenten der außeruniversitären Forschungsorganisationen (Helmholtz-, Leibniz-, Fraunhofer- und Max-Planck-Gesellschaften) „auf Basis von mathematischen Analysen der Datenlage für Strategien zur Eindämmung der COVID-19 Pandemie“ vom 28.4.2020 ansehen14. Dort wird herausgestellt, dass „[u]nterschiedliche und voneinander unabhängige Modelle verschiedener Gruppen zur Ausbreitung von SARS-CoV-2 […] zu konsistenten Ergebnissen“ kommen. Dies war bereits damals nicht wahr. Die Fokussierung auf eine einzige Gruppe und die dort zugrunde gelegten mathematischen Modellierungen beruhten auf ungenügenden willkürlichen Annahmen und widersprachen schon damals dem Wissensstand der Epidemiologie. Oder wie soll man die dortige Fixierung auf den R-Wert verstehen, der heute weitgehend unbekannt ist und immer noch um den Wert von 1 schwankt?15 Oder wie darf man die empfohlenen Maßnahmen, eine Überlastung des Gesundheitswesen zu verhindern, interpretieren, wenn maximal 8% der Intensivbetten belegt waren, trotz eines gleichzeitigen Abbaus von 30% der Kapazität aus finanziellen Gründen?16 Darauf basierend wird im Jahr 2020 in einem internen Strategiepapier
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des Innenministeriums zur Corona-Pandemie17 ein Rechenmodell bemüht, dem zufolge sich 70 % aller Deutschen mit Corona infizieren, 1 Millionen Bürger und mehr sterben und das Gesundheitssystem massiv überlastet wird. Deshalb wurden nicht nur PCR-Massentests, Maskenpflicht und Lockdown, sondern auch eine Art psychologische ‚Kriegsführung‘ empfohlen, mit dem Ziel, die Bevölkerung maximal in Angst und Schrecken zu versetzen. Da war von ‚qualvollem Ersticken alleine zu Hause‘ die Rede. Den Kindern sollte Angst gemacht werden, dass sie ihre Eltern und Großeltern infizieren und dann schuld an deren Tod wären. […] Da stellt man sich die Frage, wie kommen diese Leute [sic!] zu diesen Ergebnissen? Die Antwort: Angeblich wissenschaftlich evidenzbasiert. […] Wer etwas von Wissenschaft versteht, der muss sich fragen, um welche Wissenschaft es sich hier handelt?18
Warum wurde nicht ein Expertenrat aus verschiedenen Bereichen und Gruppen einberufen, der verschiedene Ansätze und Modellierungen abgewogen hätte, mit entsprechenden Vertrauensbereichen, statt einem Beratungsgremium aus dem Umfeld einer einzigen Arbeitsgruppe der Charité? Dabei gab es viele andere Ansätze, die zu realistischeren Modellen geführt hatten, z.B. allein der Einfluss individueller Aufnahmefähigkeit19 oder die Berücksichtigung der weit komplexeren Strukturen in der Realität.20 Treffend erkennt Klaus Kroy21: D. A. Henderson’s overriding principle of epidemiology, namely that experience has shown that communities faced with epidemics or other adverse events respond best and with the least anxiety when the normal social functioning of the community is least disrupted.22
Und weiter mit: C. G. Jung’s insistent warnings that there is no adequate protection against psychic epidemics, which are infinitely more devastating than the worst of natural catastrophes.
Damit waren alle diese Perspektiven bekannt. Statt Wettstreit der Erkenntnisse und Diskussion wurde Wahrheit im Namen der Wissenschaft gemeinsam von allen vier großen deutschen Wissenschaftsorganisationen ad hoc verkündet, wodurch die Idee der Wissenschaft selbst Schaden genommen hat. Diese Fehlleistung ist Ausdruck einer tieferen Korrumpierung der Wissenschaft. Einhergehend mit den verschiedenen Formen der institutionellen Korruption ist auch ein systematischer Niveauverfall der Themen für
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Berufungen auf Professuren zu beobachten. Während vor 20 Jahren zum Beispiel noch etwa 10 Stellen für ein anspruchsvolles Fach wie die Theoretische Physik pro Jahr ausgeschrieben wurden, hat sich diese Zahl jetzt auf 1-2 pro Jahr reduziert. Gleichzeitig findet man vermehrt Themen wie Professuren für „International Sports Management“, für „Fitnessökonomie“, für „Nachhaltigkeits- und Risikowissenschaften“, für „Green Digital Engineering“ oder für „Digital Sexual Health“. Besonders aufschlussreich sind auch Professuren für „Creating Impact“, „Quantitative Methoden“ oder sogar „Nachwuchsgruppenleiter (m/w/d) im Bereich Modellierung von Geist, Gehirn und Verhalten“ sowie einfach „Professur W2 Licht, Raum, Mensch“23. Man beachte, dass es sich in dieser kleinen Auswahl von vielen anderen scheinwissenschaftlichen Professuren um volle W2- Stellen auf Lebenszeit handelt. Wie kann sich eine Gesellschaft von einer bisher wissens- und erkenntnisbasierten Forschung und Lehre, worin explizit die Natur- und Geisteswissenschaften einbezogen sind, auf solche Abwege begeben? Hierin kann man einen expliziten Ausdruck der Korruption der Institution „Universität“ durch politisch aktuelle Interessenslagen und verschwindendes kritisches Denken sehen. Damit verbunden ist auch eine zunehmende Infantilisierung zu beobachten24. Diese geht über kindliche Wortwahl, wenn z.B. Experimentierräume „Schlauraum“ benannt werden, scheinbar gendergerechte Bezeichnungen bis zur Verbannung von eventuell verstörender Literatur, wie etwa die Romane George Orwells, von der Universität25; wodurch diese zu „realitätsbereinigten Schutzzonen für sensible Seelen“26 umgestaltet werden sollen.27 Hierbei beginnt die Infantilisierung der Studenten bereits bei der Anwesenheitspflicht, wo doch Freiheit und Verantwortung konstitutive Momente des Studiums sein sollten.28 Die Bedrohung der freien Auseinandersetzung durch Cancel Culture ist ein sich verfestigendes Resultat. Konsequenterweise treten dann Politiker als Erziehungsberechtigte auf und behandeln das Volk wie unmündige Kinder. Drei Impulse werden dabei vermischt: Da ist einmal die Komplexitätsreduzierung – ein Widerwillen gegen alles Komplizierte, Widersprüchliche und Relativierende. Zweitens ist die Verwandlung aller Kommunikationsformen in ‚Spiel und Spaß‘ zu beobachten, mit einem Hang zu Intimisierung und Verniedlichung. Und drittens ist da der Sieg des kindlichen Narzißmus und Egoismus über erwachsene Verantwortlichkeit und Reflexion.29
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Diese Angst behüteter Seelen vor der Welt könnte ein treibendes Element sein und die Folgsamkeit vieler Studierender während der Corona-Jahre erklären. Das damit auszumachende Versagen der institutionalisierten Wissenschaft in dieser gesellschaftspolitischen Krise“ geht „über bloßes Schweigen weit hinaus. In vielen Fällen haben Wissenschaftler bei Wortmeldungen, Studien und Publikationen zu ‚Maßnahmen‘, SARS-CoV-2 oder den fälschlicherweise ‚Covid-Schutzimpfung‘ genannten modRNA-Injektionen gegen sämtliche Regeln wissenschaftlichen Arbeitens verstoßen, nur um das von Politikern vorgegebene Narrativ zu unterstützen.30
Ein exponiertes Beispiel struktureller Korruption der Wissenschaft ist die Einführung des Corman-Drosten-PCR-Tests. Die entsprechende Publikation31 vom 21. Januar 2020 ist innerhalb von eineinhalb Jahren mehr als 4500-mal zitiert worden und müsste damit nach den oben beschriebenen Maßstäben eine der erfolgreichsten Veröffentlichungen sein. Leider wurden fast alle Regeln wissenschaftlichen Standards verletzt. Während bei der Zeitschrift Eurosurveillance 2019 die durchschnittliche Zeit vom Einreichen über den Referee-Prozess bis zur Veröffentlichung für Original-Forschungsarbeiten 172 Tage betrug, wurde diese Veröffentlichung in sage und schreibe 3,5 Stunden (nach Zeitstempel letzter Zitate) bzw. maximal 27,5 Stunden durchgewunken.32 Mithin kann kein regulärer Gutachter-Prozess stattgefunden haben. Dass Christian Drosten als Mitglied des Redaktionsbeirats möglicherweise Einfluss auf den Prozess genommen hat, darf vermutet werden. Sein skandalöses PCR-Test-Protokoll sieht bis zu 45 Amplifikationszyklen vor, währenddessen nur bei maximal 28 Auswertungszyklen und bei zusätzlicher ärztlicher Feststellung signifikanter Krankheitssymptome von einer Infektion gesprochen werden kann. Dieses Ergebnis wurde weltweit sofort von Experten wiederholt beanstandet.33 Und trotz des unbestritten genialen Nachweises von Virenteilen durch diese von Kary Mullis erfundene PCR-Methode34 ist seine Untauglichkeit, Infektionen festzustellen, inzwischen erwiesen35. Die in der Veröffentlichung erklärten, nicht vorhandenen Interessenskonflikte haben sich ebenfalls als falsch herausgestellt. Co-Autorin Marion Koopmans ist Teil eines WHO-Gremiums, welches Drostens PCR-Test bereits einen Tag nach der Veröffentlichung zum „Goldstandard“ erklärte, nur zwei Tage nach der Einreichung des Papiers. Die darauf beruhenden weltweit geschaffenen, falschen enormen Infektionszahlen haben
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durch die darauf beruhende Fehleinschätzung ein unsägliches Leid hervorgebracht. Die Tatsache, dass das Vorgehen von Drosten einem ähnlichen Drehbuch folgt wie bei der Schweinegrippe-‚Pandemie‘ im Jahr 2009 (d.h. Zusammenarbeit mit Olfert Landt bei der Erstellung des PCR-Tests, Panikmache usw.), hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack. Der angesprochene Skandal muss vollständig aufgeklärt werden, insbesondere was die Rollen aller beteiligten Personen und Parteien (insbesondere Drosten und Ines Steffens) betrifft.36
Dieser eigentlich große wissenschaftliche Skandal wurde bisher nur in alternativen Medien thematisiert und löste kaum öffentliche Empörung aus; wahrscheinlich wegen eines unausgesprochenen „Provenienzparadigmas“, dass es die „falschen Leute“ gesagt haben. Bei ‚Corona‘ war nicht nur der Konformitätsdruck von Anfang an besonders hoch, auch die Wissenschaftsprostitution [sic] hat bei diesem Thema buchstäblich pandemische Ausmaße angenommen. Und wurden Artikel, deren Schlussfolgerungen vom politischen Narrativ der ‚tödlichen Pandemie‘, der ‚wirksamen Maßnahmen‘ sowie der ‚lebensrettenden Impfungen‘ abweichen, doch irgendwo veröffentlicht, dann konnten die Autoren sicher sein, dass sie nicht nur von Politikern und Journalisten, sondern auch von karrierebewussten und daher [regierungs]treuen Kollegen massiv angefeindet werden würden - John loannidis, einer der meistzitierten Wissenschaftler unserer Zeit und einer der wenigen, die dem politischen Druck standgehalten haben, kann ein Lied davon singen.37
Unisono wurde in den öffentlich-rechtlichen Medien jede abweichende Erkenntnis verteufelt und diffamiert. Der vernünftigere Weg Schwedens unter Leitung von Dr. Anders Tegnell38 wurde explizit mit falschen Behauptungen verunglimpft39, um dann im nachhinein diesen bis dato „gefährlichen Sonderweg“ ohne Einschränkungen der Grundrechte als den richtigen mit den wenigsten Opfern zu feiern.40 Als die alternativen unabhängigen Medien das taten, galten sie als CoronaLeugner und Schwurbler.
III. Gründe für das strukturelle Versagen des Systems Wissenschaft Was sind die tieferen Gründe für diese Fehlleistungen, die nur die Spitze eines Eisberges sein dürften? Andreas Zimmermann41 hat vier Gründe für das strukturelle Versagen des Systems Wissenschaft im Zu-
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sammenhang mit der gesellschaftspolitischen Krise „Corona“ herausgearbeitet:
a) Ein struktureller Drang zum Konformismus Durch das Peer-Review-System werden Veröffentlichungen von anderen Wissenschaftlern des Gebietes begutachtet, ob sie den wissenschaftlichen Kriterien genügen. Die Gutachter haben häufig nicht die Zeit, Fehler oder Fälschungen zu erkennen und lehnen durchaus gern einmal den eigenen Überzeugungen widersprechende Ergebnisse ab. Um möglichst viele Veröffentlichungen durchzubekommen, was für Projektgelder und Stellen ausschlaggebend ist sowie für Kongresseinladungen und Ansehen, werden sich die allermeisten Autoren der herrschenden Meinung im Fach anschließen. Das Ergebnis ist nicht nur eine Masse an wissenschaftlichen Veröffentlichungen mit eher geringem Neuigkeitswert – Thomas Kuhns ‚Normalwissenschaft‘ im Endstadium –, sondern auch eine steigende Anzahl an Wissenschaftlern, die peinlich darauf achten, ja nicht den ‚erlaubten Meinungskorridor‘ zu verlassen. Schlimmer noch, dieses System ist selbstreproduzierend, weil Menschen, die von ihrem Charakter her kein Problem damit haben, sich der Mehrheitsmeinung anzupassen und sich damit wohlfühlen, in einem solchen System natürlich besser klarkommen, erfolgreicher sind und sich auch viel eher davon angezogen fühlen als Freigeister und Querköpfe. Im Ergebnis haben wir mittlerweile ein Wissenschaftssystem, in dem vor allem Menschen arbeiten, deren erstes Interesse nicht etwa bahnbrechende neue Erkenntnisse sind oder gar der Wunsch, etablierte Meinungen kritisch zu hinterfragen, sondern viel eher möglichst nirgendwo anzuecken und auf keinen Fall von der Autoritätsmeinung abzuweichen.42
Dies führt zu einer konformistischen Sozialisation, die wiederum über die Expertengremien, Gutachtersysteme und Beiräte ein Veröffentlichungssystem generiert, das strukturelle Filter entwickelt.43 Aktuelle Beispiele, wie schwer es ist, kritische Artikel zu Corona-Maßnahmen oder dem Virus zu veröffentlichen, finden sich genug, die direkt zensiert wurden oder in zweitrangigen Zeitschriften erscheinen mussten.
b) Ein seit langer Zeit größer werdender Einfluss der Politik Hier ist die direkte Einflussnahme der Politik durch die Projektvergabe zu nennen. Der Großteil der Projektgelder wird in Großprojekten vergeben mit vorgegebenen thematischen Rahmen.
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KLAUS MORAWETZ Forschungsprojekte, deren zukünftiges Ergebnis nicht schon relativ deutlich aus dem Antrag als politisch opportun erkennbar ist, haben in solchen Programmen wenig Chancen. Und wer gewitzt genug ist, bei erfolgreichem Antrag dann doch ergebnisoffene Forschung zu betreiben, muß damit rechnen, bei einem falschen Ergebnis spätestens in der nächsten Antragsrunde nicht mehr berücksichtigt zu werden. Dafür sorgen dann schon alleine die stromlinienförmigen Kollegen, die den Antrag begutachten. Nachdem erfolgreiche Projektanträge ein wichtiger Karrierefaktor sind, läßt sich über diesen Mechanismus natürlich auch ein Teil der Wissenschaftler aussortieren, die starrköpfig genug sind, dass sie sich vom allgemeinen Konformismus an Wissenschaftsinstitutionen (siehe oben) nicht beeindrucken lassen.44 Wenn führende Wissenschaftler und Akademiker ungeprüften Behauptungen eine offizielle Zustimmung erteilen oder von Fachkollegen begutachtete Forschungsarbeiten oder ganze Bereiche, die möglicherweise unpopulär sind, pauschal verurteilen, hat dies Auswirkungen auf das gesamte Feld, beendet die Diskussion und kann zu Selbstzensur führen.45
c) Die moderne Aufmerksamkeitsökonomie Aus dem übergroßen Rauschen der Veröffentlichungen kann man sich nur abheben durch mediale Aufmerksamkeit. Hier sind nicht mehr originelle Charaktere der alten Schule, die nur für ihre Wissenschaft leben, gefragt, sondern redegewandte Selbstdarsteller, die die öffentliche Aufmerksamkeit besonders erhalten, wenn sie das erzählen, was gerade opportun ist. Dann muss man es mit den Fakten auch nicht mehr so genau nehmen. Inzwischen ist diese öffentliche Aufmerksamkeit ein wesentlicher Karrierefaktor. Eine Schwemme von Preisen und Auszeichnungen bedient diesen Bedarf, wobei die institutionelle Korruption der Preisvergabe innerhalb der Auswahlkomitees und Funktionäre der Forschungsinstitutionen erschreckende Ausmaße angenommen hat. (Man liste nur die Preisträger der letzten 4 Jahre zusammen mit ihren Funktionen auf.) Da ideologische Übergriffe wissenschaftliche Institutionen, Gesellschaften und Zeitschriften zu korrumpieren beginnen, könnte man sich fragen, warum sich nicht mehr Wissenschaftler dafür aussprechen, die Naturwissenschaften vor diesem Eindringen zu verteidigen. Die Antwort ist, daß viele Akademiker aus gutem Grund Angst davor haben, dies zu tun. Sie zögern, wissenschaftlichen Führungsgruppen zu widersprechen, und sie sehen, was mit den Wissenschaftlern geschehen ist, die dies tun. Sie sehen, wie Forscher Gelder verlieren, wenn sie nicht rechtfertigen können, wie ihre Forschungsprogramme angeblichen systemischen Rassismus oder Sexismus explizit bekämpfen, was derzeit bei diversen Bewilligungsbehörden eine Voraussetzung für Forschungsanträge ist. Wann immer die Wissenschaft korrumpiert
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worden ist, indem sie der Ideologie zum Opfer gefallen ist, leidet der wissenschaftliche Fortschritt. Dies war der Fall in Nazideutschland, der Sowjetunion – und in den USA im 19. Jahrhundert, als rassistische Ansichten die Biologie dominierten, und während der McCarthy-Ära, als prominente Wissenschaftler wie Robert Oppenheimer wegen ihrer politischen Ansichten geächtet wurden. Um die Talfahrt einzudämmen, müssen wissenschaftliche Führer, wissenschaftliche Gesellschaften und leitende akademische Verwaltungsbeamte öffentlich nicht nur für die Redefreiheit in der Wissenschaft, sondern auch für Qualität eintreten, unabhängig von der politischen Dok– trin und losgelöst von den Forderungen der politischen Fraktionen.46
d) Finanzierungs- und Karrieresystem durch nachgelagerte Korruption Unter klassischer Korruption versteht man, dass zuerst das Geld fließt und dann wird die entsprechende ‚Leistung‘ erbracht. Von nachgelagerter Korruption können wir sprechen, wenn es umgekehrt ist; erst wird die ‚Leistung‘ erbracht, danach gibt es die Belohnung. Wer die richtigen Statements liefert, kann damit rechnen, anschließend über deutlich mehr Forschungsgelder zu verfügen als der Kollege, der es vielleicht wagt, die Weisheit politischer Ratschlüsse in Frage zu stellen. Nachdem Politiker ja nicht ihr eigenes Geld ausgeben, sondern das Geld der Steuerzahler, können sie damit entsprechend großzügig sein – und im Vergleich zu den Summen, mit denen sie zu anderen Gelegenheiten hantieren, handelt es sich bei den Geldern, die nötig sind, um Wissenschaftler zu Aussagen auf Regierungslinie zu bewegen, ohnedies um Peanuts, sprich um Summen im Millionenbereich. Auf Forschungsebene sind dies aber natürlich ganz erhebliche Summen. So hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung (offizieller Titel) 2021 satte 150 Millionen Euro vergeben, um die Forschungsaktivitäten der deutschen Universitätsmedizin zur Bewältigung der aktuellen Pandemie-Krise zu bündeln und zu stärken. Wundersamerweise landete ein erheblicher Teil der Gelder an Christian Drostens Wirkungsstätte, der Charité, ist sie doch zugleich Koordinatorin, hat einen Sitz im Steuerungsgremium und bekommt nun auch noch die meisten Führungsrollen bei den geförderten Projekten. Ein Schelm, wer vermutet, dass dies vielleicht auch damit zu tun haben könnte, dass Herr Drosten stets ein treuer Unterstützer jeglicher noch so unsinnigeren [sic!] Regierungsmaßnahmen war. Nicht ganz so üppig weggekommen ist Sandra Ciesek, mit der er sich ab September 2020 den NDR-Corona-Podcast teilen durfte. Bei ihr hat es ‚nur‘ für 1,4 Millionen im Rahmen einer LOEWE-Spitzenprofessur gereicht. […] Auch sogenannte Wissenschaftsjournalisten oder Influencer können bei entsprechendem Verhalten mit Belohnungen rechnen, wie Eckart von Hirschhausen und Mai Thi Nguyen-Kim beispielhaft zeigen. Beide haben im Zusammenhang mit ‚Corona‘ in den letzten Jahren mit bemerkenswert menschenverachtenden Wortmeldungen auf sich aufmerksam gemacht. So hat Hirschhausen unter anderem Menschen, die auf eine so nutzlose wie
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KLAUS MORAWETZ gesundheitsschädliche, im schlimmsten Fall tödliche Injektion mit modifizierter RNA lieber verzichten wollen, als ‚asoziale Trittbrettfahrer‘ bezeichnet. Und Frau Nguyen-Kim hat bereits am 14. November 2021 Zwangsinjektionen mit diesen Substanzen gefordert. Und so hat Eckart von Hirschhausen an der Universität Marburg im Januar dieses Jahres47
neben vielen Geldern der Regierung sowie der Melinda und Bill Gates Stiftung48 eine Honorarprofessur im Fachbereich Medizin erhalten, während Frau Nguyen-Kim im kommenden Semester als Gastprofessor Veranstaltungen zum Thema ‚Wissenschaftskommunikation‘ an der Universität Heidelberg leiten soll. Es ist anzunehmen, dass bei den Entscheidungen der jeweiligen Universitätsleitungen, diesen Personen eine solche akademische Ehre zuteil werden zu lassen, neben politischen Überlegungen auch die oben erwähnte Aufmerksamkeitsökonomie eine Rolle gespielt haben dürfte. Denn auch die Mitglieder der Hochschulleitungen finden ‚ihre‘ Hochschule gerne in den Medien wieder. Und natürlich am besten mit Aussagen auf Regierungslinie, weil sich dadurch die Chance erhöht, in der nächsten Runde politischer Geldervergabe wie etwa der sogenannten ‚Exzellenzinitiative‘ bevorzugt berücksichtigt zu werden. Und vielleicht hofft man ja, auch ein paar Gelder der Gates-Stiftung oder der Pharmaindustrie abzubekommen. Das heißt, wissenschaftliche Institutionen sind nicht nur Empfänger nachgelagerter Korruption, sondern beteiligen sich auch aktiv daran, was nicht weiter verwunderlich ist, denn wie mittlerweile in so vielen Gesellschaftsbereichen ist der Einfluss der Politiker auch im Wissenschaftsbereich mittlerweile sehr stark ausgeprägt, wie etwa ein Blick auf die Zusammensetzung des wissenschaftlichen Senats der Max-Planck-Gesellschaft – dem übrigens auch Frau Nguyen-Kim angehört – eindrucksvoll zeigt.49
In diesem Zusammenhang muss auf die Manipulation internationaler Datenlagen verwiesen werden. „Gerade die Transparenz wissenschaftlicher Methode ermöglicht ihre gezielte Unterwanderung.“50 Bei industrienaher Forschung, die dem Auftraggeber genehme Forschung hervorbringt, ist die „Möglichkeit zur Herstellung falscher Ergebnisse, die nur mit großem Aufwand erkennbar sind“ exemplarisch an der Pharmaindustrie nachgewiesen. Geschätzte drei Viertel der Forscher in der Medizin werden in irgendeiner Form durch die Pharmaindustrie bezahlt.51 Die Beeinflussung von Ärzten und Forschern bei Studien ist enorm. Es werden kostenlose Aus- und Weiterbildungen finanziert, in attraktiven Hotels mit Familienurlaub, Arzneimittel überlassen, Ehrenmitgliedschaften in gut honorierten Beiräten der Gesellschaften, bezahltes Ghost Writing und Entgelte für die Vermittlung günstiger Artikel in Fachjournalen bis hin zu hochwertigen Geschenken angeboten.
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Um entsprechende Umsätze zu generieren, konstruiert man zu Medikamenten passende Krankheiten und Beschwerden, die dann auf dem Markt beworben werden. Die Umdefinition der Cholesterinwerte, die über Nacht 40% der Deutschen als krank definierte, die Adipositas und viele andere Beispiele sind bei Jörg Blech52 aufgelistet. Hierbei ist die wissenschaftliche Rechtfertigung für die wirtschaftliche Bereicherung wesentlich über die Medien realisiert. Ein bekanntes Beispiel war die Definition der Schweinegrippe als Bedrohung für die Bevölkerung und der Verkauf erheblicher Mengen überflüssiger Impfdosen an die deutschen Länder. Paul-Ehrlich- und Robert-Koch-Institut hatten den Ankauf von Impfstoff für 80% der Bevölkerung empfohlen, ohne Erkenntnisse über deren Impfmotivation und ohne allzu eingehende Würdigung der Morbiditäts- und Mortalitätsrisiken, und die Politik mit ihrer wissenschaftlichen Autorität in Zugzwang gebracht […]. Man darf nach Einschätzung wichtiger gesundheitspolitischer Akteure die Symbiose von Fachargument und interessegeleitetem Lobbyismus im deutschen Gesundheitswesen mittlerweile als normalen Vorgang auffassen.53
Diese Sätze wurden 2011 geschrieben. Wie müsste das Fazit über die 10 Jahre später ausgelöste pandemische Angst vor Corona und die für viele Altersgruppen unnötige und gefährliche Verabreichung einer Gentherapie ausfallen? Man kann gespannt sein auf den Ausgang des Betrugsverfahrens gegen Pfizer, Moderna und Johnson &Johnson54, die vermutlich systematisch Zulassungsstudien gefälscht und damit Gefahren dieser genbasierten Impfung heruntergespielt haben. Dies dürfte in der weltweiten Dimension der Konsequenzen ein neuer trauriger Höhepunkt der Wissenschaftskorruption im Dienste der Profitmaximierung sein.
e) Die moralische Korruption Als neuen fünften Punkt könnte man jetzt die moralische Aufladung der Diskussion ergänzen, die in den letzten drei Corona-Jahren typischerweise zu beobachten war. Wenn eine „Pandemie“ der „gefährlichsten Krankheit aller Zeiten“ höchste Gefahr bedeutet, ist natürlich jeder Schutz gerechtfertigt und damit auch die Einschränkungen der Grundrechte. Denn wer wollte nicht für den Schutz von Schwachen, Alten und Kranken sein? Mit bestem Wissen und Gewissen haben sich viele Ämter und die Ärzteschaft dafür eingesetzt, also für das Gute. Jeder, der dagegen argumentierte oder gar die „Maßnahmen“ in Frage stellte, musste doch dann ein Egoist, Schmarotzer oder überhaupt nicht
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ganz zurechnungsfähig sein. Diese scheinbar so klare moralische Logik hat leider mehrere Fehler. Erstens wissen wir aus den Daten, dass die Corona-„Pandemie“ – von den Todesfällen her gerechnet – nicht gefährlicher als eine Grippewelle war55, was spätestens seit 2021 bekannt ist. Damit fällt als rationaler Grund die Begründung einer totalen Angst wie vor Pest, Ebola oder sonstigen menschheitsvernichtenden Seuchen weg. Analysiert man die Maßnahmen nach der Zweckmäßigkeit und Effektivität, kommt ein sehr negatives Fazit heraus, so dass die Einschränkung der Grundrechte – welcher Begriff ja schon semantisch ein Widerspruch ist – sowie die menschenverachtende Diskriminierung und Ausgrenzung Ungeimpfter nicht nur nicht gerechtfertigt, sondern nie eine sinnvolle Option war. Die Überhöhung mit moralischen Begriffen hat hierbei jede kritische und wissenschaftliche Diskussion unterbunden. Damit sind wir aber in finstersten Zeiten des Aberglaubens angekommen. Jedes durch die Medien propagierte und dem Narrativ entsprechende Heilsversprechen, wie eine Maske zu tragen, wurde als Wahrheit ungefragt geglaubt. Man erinnere sich an den bezeichnenden Ausspruch des Leiters des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler: „Diese Maßnahmen dürfen überhaupt nie hinterfragt werden“56. Das wichtigste moralische (Totschlag-)Argument, dass Kritik Menschenleben gefährden würde, hat sich inzwischen durch die Tatsachen gegen die Protagonisten selbst gewandt. Die dramatische Übersterblichkeit, die in allen Ländern mit dem Beginn der mRNAImpfungen korreliert57 und deren Nutzlosigkeit58, die schweren Impfnebenwirkungen59, das um ein Vielfaches erhöhte Ansteckungsrisiko von Geimpften gegenüber Ungeimpften60 und die Nichtverhinderung von schweren Krankheitsverläufen hat auch das Heilsversprechen der Pharmaprofiteure ad absurdum geführt. Es ist an der Zeit, diese moralisch aufgeladene Diskussion auf echte Wissenschaftlichkeit, also auf die Überprüfbarkeit und das Infragestellen zurückzubringen. Letztendlich muss man die Verantwortung für diese voraufklärerischen Exzesse dem eklatanten Versagen der verantwortlichen Wissenschaftsinstitution zuschreiben. Wissenschaft wurde als Begriff und methodische Institution der Redlichkeit einfach missbraucht. Diese Fehlentwicklung wurde bereits Jahre zuvor durch Jürgen Mittelstraß vorahnend so charakterisiert: Das hat im übrigen auch damit etwas zu tun, dass sich der Forschungsbegriff selbst gravierend verändert hat. In seiner ursprünglichen Form war er
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eng mit dem forschenden Subjekt verbunden – Forscher forschten, nicht Einrichtungen –, doch ist es eben diese Verbindung zwischen Forschen und Forschung, die sich zunehmend auflöst. Aus der Gemeinschaft der Forscher wird die Forschung, aus forschender Wahrheitssuche, die zur Idee der Wissenschaft gehört, von Anfang an Teil des Selbstverständnisses des Wissenschaftlers ist und diesen allererst zum Forscher macht, ist Forschung als Betrieb geworden, als organisierbarer und organisierter Prozess, hinter dem der Wissenschaftler, vermeintlich auswechselbar wie die Subjekte in der ökonomischen Welt, selbst verschwindet. Die moderne Vorliebe für Schwerpunkte, Zentren, Cluster, Allianzen, Netzwerke in der Forschung ist Ausdruck dieses Wandels. Sie stärkt die industriellen Formen der Wissenschaft und schwächt ihre Selbstreflexionsfähigkeiten, zumal Wissenschaft in ihren alltäglichen Formen, in den Worten Peter Graf Kielmanseggs und bezogen auf die Aufgaben einer Akademie, ohnehin ein naives Verhältnis zu sich selbst hat‘.61 Könnte es sein, dass daher auch wachsende Probleme professioneller und ethischer Art rühren? Wo Forschung, wo Wissenschaft nicht mehr als Idee und Lebensform begriffen wird, sondern nur noch als ein Job wie jeder andere, verschieben sich auch die lebensformrelevanten und die ethischen Gewichte. Das forschende Subjekt, das seine Bedeutung verloren hat, verliert sich selbst und seine Verantwortlichkeiten aus dem Auge.62
IV. Korruption der Sprache und des Denkens Die beschriebene Verschiebung der Schwerpunkte weg von persönlichem kritischem Denken hin zur ideologisierten Indoktrination wird besonders deutlich an der Korruption der Sprache. Der Leitspruch in Ludwig Klemperers berühmten Buch LTI63: „Die Sprache, die für dich dichtet und denkt“ ist nach wie vor aktueller Maßstab. In einer denkwürdigen Rede auf der Vollversammlung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft 1964 in Berlin hat Josef Pieper aufgezeigt, wie vom Missbrauch des Wortes der Weg direkt zum Missbrauch der Macht führt64. Man denke hier an die jetzt gebräuchlichen diffamierenden Wortschöpfungen wie „…leugner“, oder „Verschwörungstheoretiker“, die wahlweise für alle unbequem Denkenden eingesetzt werden können. Als subtileres Beispiel verstehen wir unter einer „Reform“, einen Missstand zu beseitigen und haben den „Fortschrittsgedanken der Aufklärung sowie das Zutrauen“ im Hinterkopf, dass wir uns aus Fremdbestimmungen und Inhumanität befreien können, indem wir uns zu Subjekten unserer eigenen Geschichte aufschwingen. Doch im Unterschied zum emanzipatorischen Ansatz der Aufklärer werden die Menschen durch die ‚Reformen‘, welche auf den ‚Wandel‘ reagieren, nicht wirklich freier. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall: Sie sollen keine gestaltenden Subjekte des Politischen, sondern nur noch getriebene Objekte
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KLAUS MORAWETZ von konstruierten Sachzwängen [sein]. ‚Reformen‘ werden dabei immer durch dasselbe Narrativ, man könnte auch sagen ‚Lügenmärchen‘, angestoßen: Durch den ‚Wandel‘ von Rahmenbedingungen, etwa aufgrund der ‚Globalisierung‘, ‚Klimawandels‘ [sic] oder ‚Pandemie‘ [sic], könne man nicht weitermachen wie bisher, so dass dringend eine Anpassung erfolgen müsse. Dies gelte ebenso für das Gesundheitswesen und die Sozialsysteme wie für die Bundeswehr oder für Schulen und Universitäten. Der Begriff ‚Wandel‘ verschleiert dabei wunderbar, dass die vermeintlich zwingenden Verhältnisse zuvor politisch geschaffen oder zugelassen worden sind, nicht zuletzt, um die Partikularinteressen von globalen Finanz- und Machteliten zu realisieren. Zugleich stellt die Logik des ‚Sachzwanges‘ in Frage, dass es – was jedoch stets der Fall ist – Alternativen zur vermeintlich einzig möglichen Reform gibt.65
Hier kann man auch die „Reform“ des Publikationsunwesens in der Wissenschaft anführen. Durch sogenanntes „Open Access“ sollen Fachartikel frei verfügbar gemacht werden, ohne Bezahlschranke. Die Realität sieht aber so aus, dass die Verlage natürlich die trotzdem anfallenden Kosten in Rechnung stellen und die Universitäten diese zum Teil an die Autoren weitergeben. Als Begründung wird angenommen, dass Publikationen durch Projekte und Drittmittel realisiert werden und dafür Gelder vorhanden sind. Damit hat sich die Freiheit von Forschung weitgehend erledigt und kann nur noch bei vorhandenen Projektmitteln und somit genehmigten Forschungsthemen realisiert werden. Die Reform entpuppt sich als das Gegenteil von dem, was sie versprach und zensuriert die Wissenschaft, ist faktisch somit eine Lüge. Als ein weiteres Beispiel vergegenwärtige man sich einmal, wie oft in den ersten zwei Corona-Jahren geradezu panisch die Begriffe „Maßnahmen“ und „Geschehen“ benutzt wurden. Mit letzterem Wort wurden unendlich viele verschiedene Dinge, wie unerklärliche Vorgänge, Ansteckungen, Erkrankungen, Stimmungen, Proteste, politische Abstimmungen usw. subsumiert. Diese absolute Verkürzung der Sprache auf Schlagwörter, die summarisch und undifferenziert für verschiedenste Erscheinungen benutzt werden, tritt typischerweise nach einer Zeit der Kasernierung z. B. in der Armee auf. Es ist Ausdruck eines verkürzenden Denkens und simplifizierten Weltbildes, das sich mit einer Sprache von maximal 50 Wörtern fassen lässt. Es ist faszinierend, was die Sprache damit über mentale Kriegsvorbereitung verrät.66 Verbunden mit der Korruption der Wissenschaft und der Sprache ist eine Beschädigung elementarer Logik zu beobachten. Die epidemiologische Analyse der WHO stellt fest, dass das Maskentragen keinen
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nennenswerten Effekt hat67, der Beitrag von Aerosolen bei der Übertragung sei vernachlässigbar.68 Neben vielen anderen Untersuchungen kam eine dänische Studie schon frühzeitig zu dem Ergebnis, dass eine chirurgische Maske die Corona-Inzidenz nicht verringerte.69 Die immensen Schäden durch das langanhaltende Maskentragen insbesondere bei Kindern wurden bereits seit 2020 regelmäßig in Publikationen thematisiert.70 Im Rechtsgutachten des Netzwerkes kritischer Staatsanwälte und Richter71 sind die Schäden ausführlich dokumentiert worden. Selbst der Evaluationsbericht einer von der Bundesregierung eingesetzten Gruppe konnte eine Wirksamkeit nicht belegen: „[…] denn randomisierte, klinische Studien zur Wirksamkeit von Masken fehlen.“ Die Wirkung sei vor allem psychologischer Art „[…] da durch Masken im Alltag allgegenwärtig auf die potentielle Gefahr des Virus hingewiesen wird.“ Entgegen jeder Logik wird in vollständigem Gegensatz zur negativen Beurteilung im Text der Studie dann eine positive Empfehlung in der Zusammenfassung gegeben.72 Ein anderes Beispiel ist die zu beobachtende, eskalierende Logik: Weil trotz Impfung so viele Menschen angesteckt werden, muss noch mehr geimpft werden.73 In diesen Zusammenhang gehört auch die Logik von Vertreter der STIKO: ‚Die aktuelle Debatte um das sogenannte Post-Vac-Syndrom habe keinen Einfluss auf die jetzige Empfehlung der Stiko gehabt‘, betonten die StikoMitglieder Professor Christian Bogdan und sein Kollege Martin Terhardt laut ‚MDR‘: Es könne zwar durchaus dazu kommen, dass Menschen schwere Reaktionen auf eine Impfung entwickelten, die mitunter zu langanhaltenden, manchmal sogar bleibenden Schäden führten. Das hat aber oft weniger mit dem Impfstoff zu tun, sondern mit immunologischen Effekten, die ungewöhnlich, aber bekannt sind.74
Soll das also heißen, dass Impfschäden nicht vom Impfstoff kommen? Wendet man einmal den rigorosen Anspruch, Lüge als solche zu benennen, als Filter und Maß auf verschiedene Lebensbereiche der Öffentlichkeit an, stellt man fest, dass die Schmeichelrede der Werbung, vor der Josef Pieper gewarnt hatte, inzwischen überhaupt nicht mehr auffällt. Wer stört sich daran, wenn Zugverspätungen mit nichtssagenden Sätzen wie „Verspätung aus vorheriger Fahrt“ oder „wegen erhöhten Verkehrsaufkommens“ über die Bahnhofsansage begründet werden? Und wer wundert sich noch über Aussagen wie „in der 1. Klasse fahren Sie mit 100% Ökostrom“ – als ob es zwei Leitungen für die 1.
100 KLAUS MORAWETZ und die 2. Klasse gäbe? Erwähnt sei an dieser Stelle auch die erstaunliche Erklärung amtierender Politiker, dass der Atomstrom die Leitungen verstopfen würde.75 Diese alltäglich über die Werbung in den Medien eindringende Lüge stumpft ab und schwächt das kritische Denken. Studienanfänger sind immer mehr davon geprägt, nur das wahrund aufzunehmen, was werbemäßig aufbereitet, eingängig und unterhaltsamer methodischer Zirkus ist. Der Fachinhalt, der sich nur mit Arbeit und Anstrengung erschließen und aneignen lässt, wird nicht mehr wahrgenommen und führt zu einem jährlich abnehmenden kognitiven Niveau der Anfänger. Hier deutet sich eine katastrophale Unterbrechung der Wissensvermittlung an den Universitäten und den weiterführenden Schulen an. Korruption der Sprache wirkt sich direkt auf die Studienmoral und damit die Rezeption der wissenschaftlichen Inhalte aus.
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Zusammenfassung und möglicher Ausweg
Wen wundert es, wenn als Resultat nicht enthusiastische Wissenschaftler, die für die Suche nach Wahrheit brennen, hervorgebracht werden, sondern mittelmäßige Manager und Karrieristen? Hier schließt sich auch der Bogen zum systemischen Versagen von außeruniversitäten Forschungseinrichtungen. Nimmt man die Max-Planck-Gesellschaft als Beispiel, so ist das Harnack-Prinzip76, dass die Besten die Besten auswählen, konstituierend. Was passiert aber, wenn durch unvermeidliche Fehlentscheidungen einmal mittelmäßige Manager ausgewählt werden? Wie der Amerikaner sagt: “First-class people call first-class people, second-class people call third-class people” – und die Abwärtsspirale ist vorprogrammiert. Hier hat die MPG einen systematischen Konstruktionsfehler. Die Machtbefugnisse eines Max-PlanckDirektors und die hierarchische Struktur sind in der Welt keine nachahmenswerten Beispiele mehr. Wenn die Ausstattung mit Mitarbeitern und die finanziellen Ressourcen eines MPI-Direktors das 100-fache eines FH-Professors betragen, aber im Hirschindex nur das Doppelte herauskommt, darf man die Frage nach der Effektivität solch einer Machtkonzentration selbst innerhalb des korrumpierten Messsystems stellen. Als Vorbild für international neugegründete Institute wird dagegen oft das Prinzip der Kavli-Institute77 als attraktiver angesehen. Dort gibt es eine kollegiale Leitungsstruktur der Professoren und die
INNERE UND ÄUßERE KORRUPTION DER WISSENSCHAFT 101 Postdoktoranden haben 4 Jahre vollständige Freiheit der Kooperation und sind keinem Professor zugeordnet. Das bringt uns zu der Frage nach dem Ausweg aus der dargestellten Sackgasse der institutionellen Korruption der Wissenschaft. Aus den geschilderten strukturellen Missständen ergibt sich als erste und einfachste Konsequenz die Forderung, dass die Universitäten von einer Drittmittelfinanzierung wieder auf eine Grundfinanzierung umgestellt werden müssen. Würden alleine die Hälfte der jetzigen DFGGelder und Bundesmittel (also insgesamt 6 Mrd. Euro) durch die etwa 50.000 Professoren in Deutschland geteilt, könnte jede Professur eine zusätzliche Mitarbeiterstelle erhalten. Die Vielfalt der Forschung würde mit dieser flächendeckenden Grundförderung einen Innovationssprung machen. Der Wegfall des unsäglichen Antragswesens würde noch einmal die Hälfte der jetzigen Arbeitskraft für Forschung befreien. Wohlgemerkt, alles als Nullsummenspiel, keine zusätzlichen Mittel wären nötig, um diese innovative Revolution zu bewerkstelligen. Das dem zugrundeliegende Ideal ist allerdings, dass die durch Freiheit von Forschung und Lehre Privilegierten diesen Freiraum auch wahrnehmen. Damit muss ein wesentlicher Faktor der Nachwuchsförderung in der Heranbildung von Selbständigkeit und Verantwortungsbewusstsein für das Ethos der Wahrheitssuche bestehen. Leitende Akteure müssen in der Lage sein, persönlich Verantwortung für die Forschung übernehmen zu können und sich nicht zu funktionierenden Gliedern eines Forschungsbetriebes degradieren zu lassen. Diese persönliche Eignung durch Willen zur Wahrheitssuche muss durch einen anstrengenden Weg der Qualifizierung über die Promotion und Habilitation – wieder im wörtlichen Sinne – erworben werden. Verbunden damit ist dann notwendigerweise eine fachliche und charakterliche Bestenauswahl für Professuren und nicht der Erfolg von Pseudoprofit durch Drittmittel. Als erlebtes und charakterisierendes Gegenbeispiel, wie es nicht weitergehen kann, wurde einmal der Vorzug einer Kandidatin mit nur einem Zehntel der Veröffentlichungen im Vergleich zu einem anderen Kandidaten so begründet: „Die Besten auszuwählen, können sich nur große Universitäten leisten. Wir als kleine Universität müssen sehen, wer am besten zu uns passt“. Oder, wie dem Autor nach dem Hinweis auf seine überdurchschnittliche Anzahl von Veröffentlichungen ein Max-Planck-Direktor offen ins Gesicht sagte: „Ehrliche Arbeit reicht eben nicht. Die Karrieren werden in
102 KLAUS MORAWETZ Deutschland anders gemacht“. Damit ist der Kontrast aufgezeigt, welche echten Reformen bei der Nachwuchsförderung und der Werteorientierung nötig sind. Wenn universitäre Professoren wieder dem Humboldtschen Bildungsideal verpflichtet sind und von kommerziellen Zwängen unabhängig, würde sich auch eine Resilienz gegen totalitäre Zeitströmungen entwickeln. Auswüchse, wie der Ausschluss von Studenten und Lehrkräften nach der 2G-Regel, also die Segregation von Ungeimpften in den Universitäten und das kritiklose Übernehmen abergläubischer Vorstellungen und Diskriminierungen, die im Normalfall jeden wissenschaftlichen Intellekt beleidigen, wären dann nicht so einfach möglich. Um es kurz zusammenzufassen: Das Ideal der Bildung und der Weitergabe von Wissen mit dem Anspruch der Wahrheitssuche steht gegen den kommerzialisierten und den politischen Zwängen unterworfenen Funktionär. Diese Entscheidung bedeutet nichts Geringeres, als den Weg der Menschheit für die Zukunft zu bestimmen. Um mit einem Ausspruch von Albert Einstein zu schließen, der über dem Eingang des Fachbereichs Physik an der Universität Rostock die Diktaturzeiten bis 1989 überdauert hatte; und dann als nicht mehr passend entfernt wurde: „Es kommt nicht darauf an, nur ein Spezialfach zu lehren. Dadurch wird der Mensch zu einer Art benutzbarer Maschine. Es ist viel wichtiger, ein lebendiges Gefühl dafür zu vermitteln, was erstrebenswert ist.“78 1
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Kurt Gödel, „Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I“, in Monatshefte für Mathematik und Physik 38 (1931), S. 173 – 198, doi:10.1007/BF01700692. Zentralblatt MATH Gesucht auf https://www.webofscience.com/ am 3.5.2023. https://www.heise.de/news/Letzter-Akt-in-Wissenschafts-Betrugsskandal-100075.html Report of the Investigation Committee on the Possibility of Scientific Misconduct in the Work of Hendrik Schön and Coauthors. Bell Labs Research Review Report, September 2002 (Memento vom 9. November 2014 im Internet Archive). Thomas Kliche, „Von Selbstvermarktung zu korporativer Korruption: Risikolagen anwendungsorientierter Forschung im Zeitalter der Drittmittelabhängigkeit. Das Beispiel Gesundheitswesen“, in Thomas Kliche, Stephanie Thiel (Hrsg.), Korruption: Forschungsstand, Prävention, Probleme (Lengerich: Papst Science Publishers, 2011), S. 265-305, hier S. 265. Kliche, „Von Selbstvermarktung“.
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Referat von Wolfgang Lieb, 19.9.2015, https://www.nachdenkseiten.de/? p=27623 Susanne Schiller, Untersuchung der politischen und gesellschaftlichen Einflußnahme der Bertelsmann Stiftung auf die Reformen im öffentlichen Bereich (Universität Bremen: Diplomarbeit, 2007). Referat von Wolfgang Lieb, 19.9.2015, https://www.nachdenkseiten.de/? p=27623 Ebd. Ebd. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/71441/umfrage/einnah men-der-hochschulen-in-deutschland-2006/ https://www.dfg.de/dfg_profil/zahlen_fakten/statistik/bearbeitungsd auer/index.html https://www.mpg.de/15426163/stellungnahme-ausseruniversitaere-fors chungsorganisationen-covid-19-epidemie Andreas Zimmermann, „Die Corona-Abrechnung: Die Herrschaft der Lügen“ (2) https://www.achgut.com/artikel/die_corona_abrechnung_die_ herrschaft_der_luegen_2 Wissenschaft für die Gesellschaft, https://wiges.org/ https://www.abgeordnetenwatch.de/recherchen/informationsfreiheit/ das-interne-strategiepapier-des-innenministeriums-zur-corona-pandemie, 20. Mai 2020: Das Bundesinnenministerium hat eine Fassung des zunächst als Verschlusssache eingestuften Papiers auf seiner Internetseite zugänglich gemacht, welches inzwischen wieder gelöscht wurde; https://www.f ocus.de/politik/deutschland/aus-dem-innenministerium-wie-sag-ichs-d en-leuten-internes-papier-empfiehlt-den-deutschen-angst-zu-machen_id_ 11851227.html https://www.yamedo.de/blog/innenministerium-corona-studien/ J. Neipel et al., „Power-law population heterogeneity governs epidemic waves“, PLoS ONE 15, 10 (2020) e0239678, https://doi.org/10.1371/journ al.pone.0239678 Klaus Kroy, “Superspreading and Heterogeneity in Epidemics”. Chapter 23, in Armin Bunde et al., Diffusive Spreading in Nature, Technology and Society (Cham: Springer, 2023) (https://doi.org/10.1007/978-3-031-05946-9_23). Kroy, „Superspreading“. Thomas V. Inglesby et al., „Disease mitigation measures in the control of pandemic influenza, Biosecurity and Bioterrorism: Biodefense Strategy, Practice, and Science 4, 4 (2006), S. 366-375, PMID: 17238820. Alle genannten Professuren sind öffentlich an Universitäten ausgeschrieben worden. Nähere Angaben können bei Bedarf nachgereicht werden. https://www.deutschlandfunk.de/klartext-reden-die-gesellschaft-im-so g-der-infantilisierung-100.html https://www.berliner-zeitung.de/news/cancel-culture-universitaet-war nt-vor-1984-li.224245
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26 https://theoblog.de/die-infantilisierung-der-amerikanischen-universitae ten/26214/ 27 https://aeon.co/ideas/how-university-students-infantilise-themselves 28 Sascha Liebermann, Forschung & Lehre 3, 15 (2015), S. 194. 29 https://www.deutschlandfunk.de/klartext-reden-die-gesellschaft-im-so g-der-infantilisierung-100.html 30 Andreas Zimmermann (Pseudonym), Wissenschaft im freien Fall, https://w ww.achgut.com/artikel/wissenschaft_im_freien_fall 31 Victor M. Corman et al, “Detection of 2019 novel coronavirus (2019-nCoV) by real-time RT-PCR”, in Eurosurveillance 25,3 (2020), pii=2000045. https:// doi.org/10.2807/1560-7917.ES.2020.25.3.2000045 32 https://drsimon.substack.com/p/how-scientific-fraud-took-the-world 33 https://www.sciencemediacentre.org/expert-reaction-to-updated-cochra ne-review-of-studies-on-accuracy-of-rapid-tests-including-lateral-flow-an d-molecular-tests-to-detect-sars-cov-2/; Michael J Mina et al., „Clarifying the evidence on SARS-CoV-2 antigen rapid tests in public health responses to COVID-19“, https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS 0140-6736(21)00425-6/fulltext; Andreas Stang et al, “The performance of the SARS-CoV-2 RT-PCR test as a tool for detecting SARS-CoV-2 infection in the population”, in Journal of Infection 83,2 (2021), Letter to the editor, S. 237-279, DOI:https://doi.org/10.1016/j.jinf.2021.05.02OI; Pieter Borger et al., „External peer review of the RTPCR test to detect SARS-CoV-2 reveals 10 major scientific flaws at the molecular and methodological level: consequences for false positive results“, 2020, http://dx.doi.org/10.5281/zenod o.4298004 34 https://twitter.com/robinmonotti/status/1326933369222029312; Andreas Stang, Johannes Robers, Birte Schonert, Karl-Heinz Jöckel, Angela Spelsberg, Ulrich Keil, Paul Cullen, "The performance of the SARS-CoV-2 RT-PCR test as a tool for detecting SARS-CoV-2 infection in the population: A survey of routine laboratory RT-PCR test results from the region of Münster, Germany", Journal of Infection, 83, 2 (2021) S. 237-279, https://doi.org/10.10 16/j.jinf.2021.05.022, full text: doi: https://doi.org/10.1101/2021.05. 06.21256289 35 Ulrike Kämmerer et al, “PCR Test Targeting the Conserved 5'-UTRof SARS-CoV-2 Overcomes Shortcomings of the First WHO-Recommended RT-PCR Test”, in International Journal of Vaccine Theory, Practice, and Research 3, 1 (2023), S. 818, https://doi.org/10.56098/ijvtpr.v3i1.71 36 https://drsimon.substack.com/p/how-scientific-fraud-took-the-world 37 Zimmermann, „Wissenschaft im freien Fall“. 38 https://www.irishtimes.com/health/2023/04/27/swedens-decision-tokeep-schools-open-through-pandemic-was-correct-says-former-senior-he alth-official/ 39 „Corona: Schwedens Sonderweg hat dramatische Folgen: Forscher werfen Regierung Versagen vor“, https://www.merkur.de/welt/corona-schwed en-sonderweg-wissenschaft-menschen-tod-regierung-versagen-kritik-stu
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die-91462454.html; „Fußball, und zwar mit Zuschauern: Der gefährliche Sonderweg der Schweden“, https://www.n-tv.de/sport/fussball/De r-gefaehrliche-Sonderweg-der-Schweden-article21732270.html; Markus Lanz, „Schweden ungeschminkt“, ZDF-Mediathek, https://www.zdf.de/ gesellschaft/markus-lanz/presse-schweden-ungeschminkt-100.html https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/corona-uebersterblichkeitschweden-100.html Zimmermann, „Wissenschaft im freien Fall“. Ebd. Kliche, „Von Selbstvermarktung“. Zimmermann, „Wissenschaft im freien Fall“. Lawrence M. Krauss, „Die ideologische Korruption der Wissenschaft“, htt ps://de.richarddawkins.net/articles/die-ideologische-korruption-der-wi ssenschaft, https://www.wsj.com/articles/the-ideological-corruption-ofscience-11594572501 Ebd. Zimmermann, „Wissenschaft im freien Fall“. https://reitschuster.de/post/14-millionen-von-bill-gates-fuer-hirschhaus en-stiftung/; https://schweizerzeitung.ch/gekaufte-kuenstler-eckard-vo n-hirschhausen-erhaelt-von-bill-gates-stiftung-100-000-monatlich/; https: //weltwoche.de/daily/gekaufte-journalisten-moderator-und-comedianeckart-von-hirschhausen-liess-sich-waehrend-corona-von-der-regierung-f inanzieren/ Zimmermann, „Wissenschaft im freien Fall“. Kliche, „Von Selbstvermarktung“. John Virapen, Nebenwirkung Tod: Scheinwissenschaftlichkeit, Korruption, Bestechung, Manipulation und Schwindel in der Pharma-Welt (Kleinsendelbach: Buchner, 2009). Jörg Blech, Heillose Medizin – Fragwürdige Therapien und wie Sie sich davor schützen können (Frankfurt: Fischer Taschenbuch Verlag, 2007). Kliche, „Von Selbstvermarktung“. https://tkp.at/2023/05/02/texas-leitet-untersuchung-gegen-covid-19-im pfstoffhersteller-ein/ https://www.transparenztest.de/post/neue-ioannidis-metastudie-nur-1von-3000-sars-cov2-infizierten-unter-60-jahren-stirbt https://www.achgut.com/artikel/fundstueck_aha_regeln_rki_verlangt_ gehorsam; https://ruhrkultour.de/lothar-wieler-faq/corona-regeln/ https://www.ons.gov.uk/peoplepopulationandcommunity/birthsdeath sandmarriages/deaths/bulletins/deathsinvolvingcovid19byvaccinations tatusengland/latest; https://transition-news.org/ubersterblichkeit-in-de n-impfjahren-ein-weltweites-phanomen Conny Turni, Astrid Lefringhausen, „COVID-19 vaccines – An Australian Review“, Journal of Clinical & Experimental Immunology 7, 3 (2022), S. 491508.
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59 https://www.berliner-zeitung.de/news/corona-impfung-halbe-million-f aelle-mit-schweren-nebenwirkungen-li.226019 60 Wissenschaft für die Gesellschaft, https://wiges.org/ 61 Peter Graf Kielmansegg, „Wozu und zu welchem Ende braucht man Akademien?“ in Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 17.9.2009, S. 8. 62 Wissenschaftskultur – Zur Vernunft wissenschaftlicher Institutionen, Festrede von Jürgen Mittelstraß, Mitglied der Leopoldina am 26. Februar 2010 anlässlich der Übergabe des Präsidentenamtes der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften. 63 Victor Klemperer, LTI - die Sprache des Dritten Reiches, (Leipzig: Reclam, 1982). 64 Josef Pieper, Missbrauch des Wortes – Missbrauch der Macht (Ostfildern: Schwabenverlag, 1986). 65 Matthias Burchardt, „Über das Alphabet der politischen Psychotechniken“, https://www.telepolis.de/features/Change-Reform-und-Wandel-3 372625.html 66 Explizit sagte der französische Präsident Emmanuel Macron: «Nous sommes en guerre». 67 Non-pharmaceutical public health measures for mitigating the risk and impact of epidemic and pandemic influenza; 2019. Licence: CC BY-NC-SA 3.0 IGO 68 WHO-Report, 28.2.20, S.8: https://www.who.int/docs/default-source/co ronaviruse/who-china-joint-mission-on-covid-19-final-report.pdf 69 Henning Bundgaard, Johan Skov Bundgaard, Daniel Emil Tadeusz Raaschou-Pedersen, et al., “Effectiveness of Adding a Mask Recommendation to Other Public Health Measures to Prevent SARS-CoV-2 Infection in Danish Mask Wearers: A Randomized Controlled Trial”, in Ann Intern Med. 174 (2021), S. 335-343. [Epub 18 November 2020]. doi:10.7326/M206817 70 Literatur-Recherche: Gefährdung durch die Verwendung einer Mund-NasenBedeckung (MNB1) bei Kindern und Jugendlichen? Care4Truth – Interdisziplinäres Recherche-Team, 01. Dezember 2020, Care4Truth-Presse@protonmail.com 71 https://netzwerkkrista.de/2022/04/08/koerperverletzung-durch-masken/ 72 „S3-Leitlinien. Maßnahmen zur Prävention und Kontrolle der SARS-CoV2-Übertragung in Schulen, Lebende Leitlinie“, AWMF-Registernummer 027-076, Kurzfassung Version 1.1, November 2021, in Sas Portal der Wissenschaft. 73 https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/COVID-Impfen/gesamt.html; ht tps://www.br.de/nachrichten/bayern/impfschaeden-durch-mangelnde -aufklaerung-klage-gegen-freistaat,TdwFwGc 74 https://reitschuster.de/post/impfschaeden-kommen-nicht-vom-impfsto ff/; https://www.mdr.de/wissen/corona-impfung-nur-ueber-sechzig-ni cht-fuer-kinder--rki-stiko-aendert-empfehlung-100.html
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75 https://weltwoche.ch/daily/katrin-goering-eckart-loest-die-letzten-raets el-der-energieversorgung-der-boese-atomstrom-hatte-die-leitungen-verst opft/ 76 https://de.wikipedia.org/wiki/Harnack-Prinzip 77 https://kavlifoundation.org/institutes 78 Albert Einstein. Mein Weltbild. Zitiert nach https://denkstil.bankstil.de/er ziehung-zu-selbstaendigem-denken-albert-einstein.
Die Mehrheitsmeinung in der Wissenschaft Gerald Dyker Um politische Entscheidungen zu rechtfertigen, werden „Mehrheitsmeinungen der Wissenschaft“ gerne eine große Bedeutung zugesprochen. Aussagen wie „Es herrscht wissenschaftlicher Konsens“, „Es ist wissenschaftlich anerkannt“ oder „Eine Mehrheit an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ist der Meinung“ lassen sich steigern, bis zur plakativen Forderung „Folgt der Wissenschaft!“ Entscheidungen auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu treffen, scheint die Erfolgschancen des gewählten Handlungs- oder Maßnahmenplans selbstverständlich zu erhöhen, verglichen zum Beispiel mit Entscheidungen, die rein ideologiebasiert getroffen werden. Aber der blinde Glaube an “die Wissenschaft“ ist aus einer Reihe von Gründen unangebracht. Ein gehöriges Maß an Vorsicht ist geboten, wie im Folgenden erörtert werden soll. Ganz besonders, wenn die politischen Entscheidungen massiv in die Lebensumstände der Betroffenen eingreifen oder gar deren Schicksal negativ bestimmen können. Zu den Gründen zählen erkenntnistheoretische Erwägungen, die den Grad der Gewissheit, aber auch das Wesen der Wissenschaft an sich betreffen, ferner Unzulänglichkeiten des Wissenschaftsbetriebes wie hintergründige Eigeninteressen und Abhängigkeiten der Protagonisten. Der Hinweis auf einen wissenschaftlichen Konsens wird als gleichsam „argumentative Keule“ missbraucht. Ihm werden hier Regeln guter wissenschaftlicher Praxis entgegengestellt, und da es um Entscheidungen für oder gegen politische Handlungen geht, werden auch ethische Erwägungen nicht fehlen. Die Problematik der „wissenschaftlichen Mehrheitsmeinung“ als Entscheidungsgrundlage wird durch einen Blick auf historische, wissenschaftliche Irrtümer der Mehrheit sowie auf aktuelle Spannungsfelder zwischen Politik und Wissenschaft näher illustriert.
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I.
Wissen, Meinung, Glauben und das Wesen der Wissenschaft
Zur guten wissenschaftlichen Praxis gehört es, für begriffliche Klarheit zu sorgen. Zum einen, um Missverständnisse zu vermeiden, zum anderen um schlüssige Gedankengänge zu ermöglichen, für die wohldefinierte Begriffe eine Voraussetzung sind. Dies ist in der Begriffswelt der Erkenntnistheorie kein einfaches Unterfangen, wie deren Geschichte zeigt. Aber es lohnt sich, den wörtlichen Sinn von “Mehrheitsmeinung in der Wissenschaft“ näher zu betrachten, um besser einschätzen zu können, welche Bedeutung ihr für die Entscheidungspraxis zukommen sollte. Meinung ist nach Kant „ein mit Bewußtsein sowohl subjektiv als objektiv unzureichendes Fürwahrhalten“.1 Eine stichhaltige Begründung für einen unumstößlichen Wahrheitsanspruch fehlt. Ein hoher Prozentsatz oder eine große Anzahl an Personen, die eine Meinung teilen, macht aus der Meinung noch kein Wissen, das sich definitionsgemäß über einen höchstmöglichen Grad an Gewissheit auszeichnet. Dies gilt auch für eine Meinung, die durch eine Mehrheit von Wissenschaftlern vertreten wird. Im Namen dieser ehrenvollen Gilde steckt zwar der Anspruch, das Wissen zu mehren, aber in der wissenschaftlichen Praxis geht es in der Regel darum, Hypothesen zu formulieren, die durch das Sammeln von Argumenten oder Daten untermauert oder auch widerlegt werden, um sich so der Wahrheit anzunähern. Dabei wird in der Tat Wissen produziert, unter der Prämisse, dass man weiß, dass die generierten Daten unter bestimmten Bedingungen experimentell reproduzierbar erhalten werden. Diese Detailbetrachtung kann dann als gesichert gelten, aber die Interpretation der Daten im Sinne der zu untersuchenden Hypothese und erst recht die Gesamtschau im wissenschaftlichen Kontext bleiben vulnerabel für Erschütterungen durch möglicherweise doch noch auftretende Gegenbeispiele oder durch Ergebnisse, die nicht ganz ins Bild passen und somit Modifizierungen an Hypothesen und Interpretationen erforderlich machen. Besonders bei den (seltenen) fundamentalen Entdeckungen, die die Sichtweise eines Fachgebietes revolutionieren, vergeht eine lange Zeit, bis so gut wie alle Zweifel ausgeräumt sind. Eine allmähliche Annäherung an die Wahrheit und eine Entwicklung hin zu einem besseren Verstehen sind im Wesen der Wissenschaft verankert. Diese all-
110 GERALD DYKER mähliche Entwicklung ist gespickt mit einer Vielzahl von Fehlschlägen und Irrtümern. Fehlgeschlagene Experimente sind einerseits ärgerlich, aber gleichzeitig auch Ansporn. Denn durch einen Fehlschlag wird deutlich, dass man noch nicht alle Aspekte hinreichend erfasst und verstanden hat. Es ist sogar so, dass auf Fachgebieten mit einer unbefriedigenden Stagnation geradezu sehnsüchtig auf ein den etablierten Theorien widersprechendes Experiment gewartet wird. Denn dann ergeben sich neue Entwicklungsmöglichkeiten, Türen in Richtung Wahrheit werden aufgestoßen, und ein Paradigmenwechsel steht möglicherweise an. Eine spannende Zeit für Forschende. Die wichtigen Entdeckungen finden allmählich ihren Weg in die Lehrbücher. Nach Mehrheiten wird dabei nie explizit gefragt und insofern handelt es sich eben nicht um einen demokratischen, sondern um einen selbstorganisierten, eher langsamen Prozess, mit Publikationen sowie Vorträgen und meist konstruktiven Diskussionen unter der Kollegenschaft. Es gibt kein Wissenschaftsparlament, in dem Wissenschaftler darüber abstimmen, was nunmehr als gesichertes Wissen zu gelten hat. Allein die Vorstellung eines solchen Wissenschaftsparlaments dürfte den meisten Forschenden als völlig abstrus erscheinen. Verweise auf eine vermeintliche oder auch nachweisbare „wissenschaftliche Mehrheit“ sind praktisch immer mit einem politischen Kontext verknüpft, wenn höchst umstrittene Entscheidungen anstehen, bei denen eine Mehrheitsmeinung in der Wissenschaft als geeignete Rechtfertigung erscheint. Diese Mehrheitsmeinung repräsentiert, wie oben dargelegt, keineswegs ausgereiftes Wissen. Aber es mag zumindest auf den ersten Blick eine gute Idee sein, diese für eine Entscheidungsfindung in Erwägung zu ziehen, ähnlich einem heißen Tipp beim Pferderennen. Wie bei einer aussichtsreichen Wette sollte man keinesfalls zu viel riskieren. Unabdingbar ist eine gewissenhafte Abwägung mit ethischen Grundregeln und mit gesellschaftlichen Faktoren. Und man muss sich zudem der vielfältigen Unsicherheiten und Problematiken bewusst sein: Sind die im Meinungsspiegel erfassten Wissenschaftler sowohl kompetent als auch ohne Wenn und Aber glaubwürdig? Wird die Mehrheitsmeinung möglicherweise opportunistisch auch aus finanziellen Abhängigkeiten und Vorteilen oder aus Karrieregründen vertreten? Wissenschaftler sind auch nur Menschen und nehmen ungern eine Außenseiterposition ein. Haben alle erfassten Wissenschaftler sich aktiv hinterfragend eine eigene Meinung gebildet
DIE MEHRHEITSMEINUNG IN DER WISSENSCHAFT 111 oder einfach auf Treu und Glauben die Meinung der Kollegenschaft übernommen? Aus einer sich abzeichnenden knappen Mehrheit könnte sich auf diese Weise eigendynamisch durchaus eine überwältigende Mehrheit entwickelt haben. Ohnehin dürften solche Verweise auf eine Mehrheitsmeinung der Wissenschaftler eher rhetorischen Charakter haben. In der Praxis wird auf einzelne wissenschaftliche Berater zurückgegriffen, bei denen allerdings die gleichen Fragen zu Kompetenz und Glaubwürdigkeit angebracht erscheinen. Hinzu kommt die Gefahr, dass bei den anzugehenden vielschichtigen Problemen ein „Chefberater“ für ihn fachfremde Betrachtungsweisen mit einer Art Tunnelblick ausblendet, einzig sein Fachgebiet und deren Blickweise für relevant haltend. Gerade bei der Corona-Epidemie konnte man in mehreren Ländern feststellen, dass fächerübergreifende Beratergremien eine untergeordnete Rolle spielten und im Wesentlichen auf einzelne prominente Protagonisten mit allzu enger Expertise gehört wurde, wie die Virologen Drosten in Deutschland und Fauci in den USA, wodurch mögliche Kollateralschäden der Maßnahmen nicht hinreichend berücksichtigt wurden.
II.
Missbrauch des Wissenschaftsbegriffes
Wenn auf die „Mehrheitsmeinung in der Wissenschaft“ verwiesen wird, geht es praktisch immer um gesellschaftspolitisch umstrittene Themen. Diese Behauptung lässt sich einfach überprüfen, indem man diesen Ausdruck in einschlägige Internet-Suchmaschinen eingibt; als damit verknüpfte Themen erhält man: Corona-Maßnahmen; Klimawandel; Energieversorgung, Atomkraft und Endlager; Spekulative Investments verknüpft mit Preisentwicklung bei Nahrungsmittel und Ressourcen; Mindestlohn; Pflanzenschutzmittel, insbesondere Glyphosat. Diese Themen haben gemeinsam, dass sie einerseits nachvollziehbar mit tiefer Besorgnis oder gar Ängsten verknüpft sind und dass die diskutierten Maßnahmen andererseits in Grundrechte und Entfaltungsmöglichkeiten der Bürger eingreifen. Dafür wird nach starken und überzeugenden Argumenten gesucht. Eine Steigerung ist der Appell „Folgt der Wissenschaft“, der sich bei den beiden erstgenannten Themen geradezu etabliert hat. Ein solcher Slogan ist jedoch hochproblematisch. Zum einen verstärkt er bei vielen berechtigterweise die Zweifel an der Stichhaltigkeit. Denn wenn nicht in Wirklichkeit erheb-
112 GERALD DYKER liche Zweifel und Risiken vorlägen, dann würden Politiker doch nicht eine verbal personifizierte Wissenschaft beschwören. Zum anderen steht dieser imperative Slogan dem Wesen der Wissenschaft diametral entgegen. „Folgt der Wissenschaft“ soll heißen, leistet Folge, stellt keine Fragen und stellt die Anweisungen nicht in Frage. Doch das ist das Gegenteil von dem, was Wissenschaft ausmacht. Zur guten wissenschaftlichen Praxis gehört unstrittig eine gewissenhafte Auseinandersetzung mit anderen wissenschaftlichen Auffassungen und eine integre Argumentationsweise gegenüber den Beiträgen anderer. Diese Regel findet sich sinngemäß in den entsprechenden Leitlinien namhafter Wissenschafts-Institutionen und Organisationen. Jede begründete Frage ist erlaubt und muss ernst genommen werden. Die Auseinandersetzung mit begründeten kritischen Fragen bringt die Wissenschaft voran. Eine Verweigerung, auf argumentativ untermauerte Fragen einzugehen, die Fragesteller gar zu diffamieren, fällt unter wissenschaftliches Fehlverhalten. In solchen Fällen liegt der Verdacht nahe, dass valide Daten fehlen und hinter dem Fehlverhalten eine Art wissenschaftlicher Insolvenzverschleppung steckt.
III. Ethische Erwägungen Wir gehen nun der Frage nach, ob die Mehrheitsmeinung in der Wissenschaft unter ethischen Gesichtspunkten die wesentliche Grundlage politischen Handelns sein sollte. Der Kantsche kategorische Imperativ rät2 „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Kann also die Mehrheitsmeinung in der Wissenschaft die Maxime sein, der zu folgen für alle Bürger jederzeit und ohne Ausnahme akzeptabel wäre? Wohl kaum! Denn dann wären wir wieder nahe an der bereits erwähnten Vorstellung eines Wissenschaftsparlaments, mit einer Vielzahl an damit verbundenen Problemen und Risiken. Konkret für die Entscheidungsfindung zu Maßnahmen während der Corona-Epidemie hätten sich folgende Fragen ergeben: Welche Fachgebiete werden bei der Erfassung der Mehrheitsmeinung überhaupt befragt? Nur Mediziner, oder dürfen auch Naturwissenschaftler sowie Soziologen und Wirtschaftswissenschaftler zur festzustellenden Mehrheitsmeinung beitragen? Oder schränkt man das Spektrum noch weiter ein und hört ausschließlich auf die Virologen? Sollen möglichst viele Wissenschaftler befragt werden, oder werden Repräsentanten
DIE MEHRHEITSMEINUNG IN DER WISSENSCHAFT 113 ausgewählt? Wenn ja, nach welchen Kriterien? Nach Anzahl der Publikationen und Zitationen oder gar der Höhe der Drittmitteleinwerbungen, oder doch nach Bekanntheitsgrad und Medienpräsenz? Oder soll nur die „Mehrheitsmeinung“ derjenigen zählen, die bereits angeblich erfolgreich als wissenschaftliche Berater der Politik bei der Schweinegrippe und der damaligen Impfkampagne mitgewirkt haben? Alternativ könnte man sich auch auf Berechnungen von Computermodellen verlassen und deren Ergebnisse als Entscheidungsgrundlage nehmen. In diese Richtung gingen bereits manche Entscheidungen während der Corona-Epidemie. Die lange Fixierung auf die zweifelhaften Inzidenzwerte gehört ebenfalls zu den technokratischen Auswüchsen. Es ist zu befürchten, dass auch in der Nachbetrachtung noch nicht allgemein verstanden worden ist, dass durch rein technokratische Entscheidungsprozesse soziale und psychologische Aspekte an den Rand gedrängt werden und die Mitmenschlichkeit zumindest ein Stück verloren geht, weil die Verantwortlichkeit auf angebliche Sachzwänge geschoben wird. Dabei haben sich längst ethische Grundsätze gerade im medizinischen Bereich etabliert, auf die man sich nur besinnen muss und die man konsequent als die eigentliche Maxime der Entscheidungsfindung im Blick bewahren sollte. Eine Diskussion um eine übergeordnete Bedeutung einer Mehrheitsmeinung wird dann obsolet. Die vier Prinzipien ethischen Handelns3 in der Medizin betreffen das Selbstbestimmungsrecht des Patienten, das Prinzip der Schadensvermeidung, das Patientenwohl und die soziale Gerechtigkeit. Der Arzt darf dem Patienten auf keinen Fall Schaden zufügen und hat unter allen Umständen die selbstbestimmte Eigenentscheidung für oder gegen eine Behandlung – auch einer prophylaktischen – zu respektieren. Bei den CoronaImpfungen greift zudem der erste Grundsatz des Nürnberger Kodex,4 denn sogar höchste politische Amtsträger haben einen experimentellen Charakter der Impfungen bestätigt, wenn auch wahrscheinlich versehentlich (Der damalige Kanzlerkandidat Olaf Scholz im September 2021: „Wir waren ja alle die Versuchskaninchen für diejenigen, die bisher abgewartet haben.“). Der Nürnberger Kodex stellt klar, dass eine freiwillige Zustimmung für medizinische Versuche an Menschen unbedingt erforderlich ist, unbeeinflusst durch Gewalt, Betrug, List oder Nötigung. Ein konsequentes Einhalten dieser ethischen Grundsätze
114 GERALD DYKER hätte die verhängnisvollen Fehlentscheidungen der Corona-Politik verhindern können (s. Abschnitt V).
IV. Irrtümer der Wissenschaft Dem Begründer der Analytischen Psychologie, Carl Gustav Jung, wird das Zitat zugesprochen: „Irrtümer bildeten schließlich meist die Fundamente der Wahrheit, und wenn man von einem Ding nicht weiß, was es ist, dann bedeutet es schon einen Erkenntniszuwachs, wenn man weiß, was es nicht ist.“5 Die Geschichte der Wissenschaft als eine Abfolge von Irrtümern zu sehen, ist folglich eine zu negative oder gar zynische Betrachtung; denn nicht die Irrtümer, sondern das Aufdecken und Korrigieren der Irrtümer machen einen wesentlichen Teil des wissenschaftlichen Fortschritts aus, neben den ständigen Verbesserungen der Modellvorstellungen und den überraschenden Neuentdeckungen. Wissenschaftliche Mehrheitsmeinungen, die sich als ganz große Irrtümer herausstellten, waren zum Beispiel in der Astronomie das geozentrische Weltbild, das vom heliozentrischen Weltbild abgelöst wurde. Dieses stellte sich ein paar Jahrhunderte später ebenfalls als zu anthropozentrisch heraus, als klar wurde, dass „unsere“ Sonne auch nur ein Stern ist und ihre Position eben keine Sonderstellung einnimmt. Die Mehrheit der Chemiker glaubte an das Phlogiston als gemeinsamen Inhaltsstoff brennbarer Substanzen und die Mehrheit der Physiker an den Äther als hypothetisches Medium zur Ausbreitung des Lichts. Der Glaube an Phlogiston und an den putativen Äther hat keinen Schaden angerichtet. Wenn aber die „etablierten“ Wissenschaftler ihre Irrtümer mit Diffamierungen verteidigen oder gar politischer Druck, früher in Form der Inquisition, das gängige Narrativ aufrecht erhalten will, dann konnte und kann es für den Wissenschaftler mit der abweichenden Meinung sehr unangenehm bis gefährlich werden. Und wie hier zu reflektieren ist, kann es auch für am wissenschaftlichen Disput Unbeteiligte tödlich enden. Nikolaus Kopernikus versteckte aus Angst vor Verfolgung seine Entdeckungen hinter mathematischen Formeln und vermied die Veröffentlichung seines Hauptwerkes zu Lebzeiten. Galileo Galilei widerrief seine Veröffentlichungen, und Giordano Bruno landete auf dem Scheiterhaufen für das von ihm entworfene Weltbild von Sternen als ferne Sonnen mit eigenen Planetensystemen in einem unendlichen Weltraum.6 Eine „Mehrheit“ von 100 Autoren gegen Einstein – so der
DIE MEHRHEITSMEINUNG IN DER WISSENSCHAFT 115 Titel eines 1931 erschienenen Buches – nahm für sich in Anspruch, die Relativitätstheorie widerlegt zu haben, was Einstein anekdotisch zu der Entgegnung veranlasste „Hätte ich unrecht, würde ein einziger Autor genügen, um mich zu widerlegen.“ Dem Entdecker der Kontinentalverschiebungen, Alfred Wegener, blieb die Anerkennung zeitlebens verwehrt. Denn die Vorstellung von herumdriftenden Kontinenten erschien der wissenschaftlichen Mehrheit lange Zeit als abwegig. Katastrophale Folgen kann es haben, wenn ein wissenschaftlicher Irrtum zur Staatsdoktrin erhoben wird. Über mehr als 20 Jahre hielt sich in der Sowjetunion der Lyssenkoismus, der davon ausging, dass man Nutzpflanzen anstelle langfristiger, genetischer Auslese besser durch kurzfristiges Anpassungstraining an widrige klimatische Verhältnisse, also an Kälte und Trockenheit, gewöhnen könnte. Massive Ernteausfälle und die Verschärfung von Hungersnöten waren die Folge, was aber offiziell nie dem Irrtum zugeschrieben wurde. Dadurch, dass Kritiker und insbesondere Genetiker in der Sowjetunion verfolgt wurden, entwickelte sich der Lyssenkoismus auf dem Staatsgebiet rasch zur wissenschaftlichen Mehrheitsmeinung, die sogar in den Schulen auf dem Lehrplan stand. Die Challenger-Katastrophe von 1986 ist ein beredtes Beispiel, wie politischer Druck auf wissenschaftlich-technische Abstimmungen letztlich sogar zum tragischen Tod Dritter führen kann. Roger Boisjoly, ein Ingenieur der Herstellerfirma der Booster-Raketen, hatte bereits im Jahr zuvor vor Leckage-Problemen mit Dichtungsringen gewarnt. Allan McDonald, leitender Ingenieur der Booster-Raketenproduktion, verweigerte am Tag vor dem Start eine Unterschrift, weil er Bedenken für die Funktionsfähigkeit angesichts der für den Start angekündigten frostigen Temperaturen hegte.8 Die Unterschrift für die Startempfehlung leistete dann sein Firmenchef. Von der Mehrheit der bei der NASA zur Startberatung Versammelten wurden McDonalds Einwände als nicht stichhaltige Einzelmeinung abgetan, wohl angesichts des politischen Drucks, eine Verschiebung zu vermeiden. Denn dieser Flug hatte die besondere Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, weil zum ersten Mal Unterrichtsstunden einer Lehrerin aus der Raumfähre in der Umlaufbahn übertragen werden sollten. Nach der Explosion der Trägerrakete hielten die beiden weitsichtigen Ingenieure ihre belastenden, aber richtigen Aussagen aufrecht. So gerieten sie in der Firma ins Abseits, wurden degradiert und diffamiert, obwohl ihre Warnungen
116 GERALD DYKER offenkundig berechtigt waren. Ihre Rehabilitierung erfolgte erst mit der Bestätigung durch den Bericht der vom Präsidenten eingesetzten Untersuchungskommission und auch nur, weil der prominente Physiker Richard Feynman, gegen erhebliche Widerstände, die Wahrheit ans Licht brachte. Feynman stellte abschließend fest: „Für eine erfolgreiche Technologie muss die Realität Vorrang vor der Öffentlichkeitsarbeit haben, denn die Natur kann nicht getäuscht werden.“ 9 Was können wir aus diesen Beispielen lernen, vor allem aus den letzten beiden, die uns auch zeitlich näherstehen? Der Lyssenkoismus zeigt die fatalen Folgen, wenn Politik eine ihr genehme wissenschaftliche Meinung massiv protegiert. Die Challenger-Katastrophe ist ein frappantes Beispiel, wohin es führen kann, wenn eine Mehrheit von Wissenschaftlern und Ingenieuren lieber Einwände Einzelner abweist, um sich für das politisch gewünschte Handeln einzusetzen. Das Risiko, das Leben zu verlieren, trugen schließlich Dritte. Handelt es sich dabei um tragische Einzelfälle aus der Vergangenheit, oder lassen sich auch aktuelle Parallelen finden? Gibt es also auch heutzutage Fälle, die zeigen, wie von einer angeblichen oder realen Mehrheit abweichende Meinungen nicht durch Gegenargumente entkräftet werden, sondern stattdessen ein Diskurs vermieden wird und warnende Abweichler diffamiert oder degradiert werden? Gibt es aktuelle Beispiele dafür, dass einer politischen Ideologie oder Öffentlichkeitsarbeit Vorrang vor dem verantwortungsvollen Umgang mit einer realen Gefahr gegeben wird, oder dass sogar wissenschaftliche Meinungen mit ihrer immanent verbliebenen Unsicherheit zur Staatsdoktrin erhoben werden? Die Politikfelder, auf denen sich die Suche nach erschreckenden Parallelen lohnen könnte, sind folglich diejenigen, bei denen die Politik auf Meinungsmehrheiten verweist und somit das Alarmsignal sendet, dass man einem argumentativen Diskurs gegenüber abgeneigt ist oder diesen ganz verweigert. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Epidemie sind ein solches, umstrittenes Thema. Offenkundig virulenter werdend, bestimmen die Themenfelder Klimawandel und Energieversorgung die Tagespolitik.
V.
Politik auf Basis unzureichender Evidenz
Ein besonders eindringlicher Appell, der Wissenschaft zu folgen, findet sich im Internet-Portal der Universität zu Köln in Form eines
DIE MEHRHEITSMEINUNG IN DER WISSENSCHAFT 117 Interviews mit dem Titel „Die Philosophie und ihre Rolle in der Corona-Krise“.10 Die Kernaussagen des Interviews mit einem Philosophieprofessor wurden zudem im Kölner Universitätsmagazin unter dem Titel „Kompass für die Krise: die Philosophie“ referiert:11 „Wie die Politik rational und evidenzbasiert in der Krise agieren kann, dazu hat die Philosophie einiges zu sagen.“ Philosophen sollten stärker in den Ethikräten des Bundes und der Länder repräsentiert sein, ist das Anliegen des Interviews. Gerade wenn bei einem neuartigen Phänomen wie der Corona-Infektion sich die Wissenschaftler täuschen können und sich sogar widersprechen, dann komme es gemäß einer einfachen erkenntnistheoretischen Überlegung auf die Mehrheitsmeinung der wirklich einschlägigen Wissenschaftler an. Der solle man folgen, auch wenn das „natürlich eine gewisse Zumutung für den gesunden Menschenverstand“ sei. Hier gilt es festzuhalten, dass aus der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln heraus allen Ernstes empfohlen wird, sich in eine Unmündigkeit gemäß Kantscher Definition zu begeben und den Leitspruch der Aufklärung angesichts der Corona-Krise zu vergessen.12 Statt „Sapere aude!“ – Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen! – nunmehr ein „Lasse Spezialisten für Dich denken“. Erst im nachfolgenden Satz wird die Einschränkung erwähnt „Es ist klar, dass zunächst einmal alle relevanten wissenschaftlichen Fakten auf den Tisch müssen, wenn die Politik evidenzbasiert entscheiden soll.“ Dieses Interview wurde im Juni 2021 durchgeführt, letzte Änderungen wurden im März 2022 vorgenommen und es ist zu Beginn 2023 unverändert abrufbar. Das ist insofern bemerkenswert, als inzwischen klar geworden ist, dass relevante wissenschaftliche Fakten zu den Corona-Maßnahmen eben nicht auf dem Tisch lagen, schlimmer noch, dass für die Beurteilung der Sicherheit der Impfstoffe relevante Daten niemals erhoben wurden. Wo sind die systematischen, offiziellen Daten, die getrennt nach Alterskohorten die Coronafälle auf Intensivstationen und die Corona-Todesfälle mit dem Impfstatus korrelieren, um den Schutz vor schwerem Verlauf entweder zu bestätigen oder zu falsifizieren? Wo sind die Daten, die einen Anstieg an Fällen von Myocarditis, Aneurysmen, Krebs oder gar plötzlichen und unerwarteten Todesfällen mit dem Impfstatus korrelieren, und zwar ohne systematische Fehlerquellen? Es sei daran erinnert, dass man erst zwei Wochen
118 GERALD DYKER nach der Impfung als geimpft gilt. Auf diese Weise würden Todesfälle in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Impfung den Ungeimpften zugeschlagen. Werden diese Daten nicht benötigt, um Warnsignale vor fatalen Wirkungen der neuartigen mRNA-Impfungen zu erfassen? Das Fehlen der Daten wird von renommierten Ärzten und Wissenschaftlern moniert. Man muss allerdings ein wenig nach solchen authentischen Informationen suchen, da diese gerne, wenn überhaupt in den “Qualitätsmedien“ referiert, hinter irreführenden Überschriften und Bezahlschranken versteckt werden, wie diese dezidierte Aussage:13 „Bei der gänzlich neuartigen mRNA-Impfung sei es ein Skandal, dass eine besonders aufmerksame Beobachtung von Wirkungen und Nebenwirkungen in Deutschland fehle, kritisiert Thomas Voshaar, Chefarzt des Lungenzentrums Moers und Vorsitzender des Verbandes Pneumologischer Kliniken, gegenüber Welt: „Noch schlimmer und eigentlich von kriminellem Charakter ist das Ignorieren von Daten. Oder sie gar nicht erst regelgerecht zu erheben.“ Voshaar ist der renommierte Lungenfacharzt, der mit seinem Moerser Modell einer mehrstufigen Covid-Behandlung und seiner eindringlichen Mahnung „Frühe künstliche Beatmung ist größter Fehler im Kampf gegen Corona“ weltweit zahlreiche Menschenleben gerettet hat.14 Einer der renommiertesten Pharmakologen, Peter Doshi, Professor für Pharmazie an der University of Maryland und Mitherausgeber des British Medical Journals stellte unlängst in einem Interview mit der Welt fest, dass die Pharmahersteller wichtige Daten nicht herausgeben, die die Sicherheit der Covid-Impfungen betreffen:15 „Keine Daten, keine Wissenschaft – und auch von ‚wissenschaftlich geprüft‘ kann keine Rede sein. Die Geheimhaltung von Daten ist inakzeptabel. Da steht die Frage im Raum, wie Regierungen solche Produkte empfehlen oder gar anordnen können.“ Welche Erkenntnisse können inzwischen als gesichert gelten, wurden von der Politik aber bisher weitgehend ignoriert? Der Epidemiologe John Ioannidis von der Stanford University ermittelte für die in 2020 dominierenden Covid-Varianten eine um mehr als eine Zehnerpotenz geringere Fallsterblichkeit16 als ein verständlicherweise Panik erzeugender Wert von bis zu 4%, der ursprünglich über die Medien verbreitet wurde. Der realistische 0.2%-Wert lag somit in einer ähnlichen Größenordnung wie bei einer schweren Grippe-
DIE MEHRHEITSMEINUNG IN DER WISSENSCHAFT 119 Epidemie, mit hoher Vulnerabilität bei der ältesten Generation und einer überaus geringen Sterblichkeit bei den jungen Generationen. Besonders sportliche, junge Menschen sind von heftigen Impfnebenwirkungen wie dem Fatigue-Syndrom und Myokarditis betroffen, wie der Kardiologe Bernhard Schiefer vom Universitätsklinikum Marburg in Interviews mit ZDFheute17 und der Zeitschrift Cicero18 ausführt. Offenbar handelt es sich eben nicht um „sehr, sehr seltene Fälle“ wie in der Anmoderation zu Berichten über Impfschäden gebetsmühlenartig wiederholt wird.19 Die Marburger Post-Vax-Ambulanz erhält nach Schiefers Angaben bis zu 400 Anfragen pro Tag und hat eine Warteliste von mehreren Tausend Betroffenen. Die Impfungen schützen weder zuverlässig vor Ansteckung noch vor der Weitergabe.20 Häufige Impfungen sorgen möglicherweise für eine Desensibilisierung, was das Immunsystem gegenüber einer Covid-Ansteckung gewissermaßen lahmlegen könnte. Aus einer aktuellen Studie in einer der renommiertesten Fachzeitschriften ergibt sich eine erhebliche Änderung des Antikörperspektrums ab der dritten Covid-Impfung.21 Die Folgen dieses Befundes sind unklar, und interpretierende Befürchtungen müssen nicht zutreffen.22 Aber solche „Überraschungen“ machen mehr als deutlich, dass man sich auf Grund von Ängsten oder sogar Panik in das Abenteuer der mRNA-Massenimpfungen hat treiben lassen, ohne hinreichende Datengrundlage, ohne hinreichendes Verständnis der überaus komplexen molekularbiologischen Vorgänge sowie der möglichen Risiken und ohne hinreichendes Monitoring der Impfkampagne. Häufige mRNA-Impfungen scheinen das Gegenteil von dem zu bewirken, was sie eigentlich sollten. Dies deckt sich mit persönlichen Erfahrungen; statt Schutz vor Ansteckung erfolgt im Ergebnis eine häufigere Ansteckung. Wer kennt nicht Personen, die sich trotz mehrfacher Impfung bereits wiederholt mit Corona angesteckt haben? Ungeimpfte mit zwei oder gar drei Ansteckungen wird man dagegen seltener finden.23 Noch schwerer wiegt die auffällige Übersterblichkeit in den Jahren 2021 und 2022, während in 2020, dem Jahr mit den gefährlicheren Virusvarianten und ohne mRNA-Impfungen, keine Übersterblichkeit zu verzeichnen war.24 Offizielle Stellen tappen mit Erklärungen noch im Dunkeln.25, 26 Parallelen sind zu der im Jahre 2009 von der WHO ausgerufenen Schweinegrippe-Pandemie auszumachen, auch wenn außer Zweifel
120 GERALD DYKER steht, dass Covid-19 ungleich mehr Opfer gefordert hat. Eine Retrospektive im Wochenmagazin Spiegel kam zu folgender Beurteilung: „Rückblickend war die Schweinegrippe-Pandemie in Wahrheit eher eine weltweite Massenhysterie. Heute kann man kaum noch glauben, dass alles wirklich so passiert ist, wie es passiert ist. Kann nicht fassen, dass niemand irgendwann auf den Tisch gehauen und gesagt hat: Leute, jetzt wacht doch mal auf!“ Und „Jetzt leiden rund 1300 der Geimpften lebenslang an Narkolepsie, einer schweren neurologischen Erkrankung, die sie immer wieder unerwartet einschlafen lässt.“27 Die damaligen Berichte der Tagesschau und der Süddeutschen Zeitung zu Schweinegrippe und Impfstoffen verhelfen zu einem frappierenden Déjà-vu-Erlebnis, was die beteiligten Protagonisten und deren Äußerungen angeht. Karl Lauterbach kommt darin zu Wort mit der Einschätzung „Beide Impfstoffe wirken, beide Impfstoffe sind sicher und beide haben keine gravierenden Nebenwirkungen.“27 Christian Drosten appelliert dringend, sich impfen zu lassen: „Bei der Erkrankung handelt es sich um eine schwerwiegende allgemeine Virusinfektion, die erheblich stärkere Nebenwirkungen zeitigt, [sic] als sich irgendjemand vom schlimmsten Impfstoff vorstellen kann.“ 29 Damals wie heute neigten beide zu alarmierenden Prognosen, was den Verlauf einer und die Bedrohung durch eine Epidemie betrifft, waren aber völlig unkritisch bezüglich der potentiellen Gefahren neuer, in Windeseile auf den Markt gebrachten Impfstoffe. Die Genannten gehören nun offenbar zu den einschlägig präsenten Wissenschaftlern oder Ratgebern der Bundesregierung, denen man folgen sollte, gemäß der erkenntnisphilosophischen Überlegung aus der Universität zu Köln, auch wenn sich der eigene gesunde Menschenverstand dagegen sträubt. Was soll die erkenntnisphilosophische Begründung dafür sein? Vielleicht, dass die einschlägigen Experten doch nicht immer danebenliegen können? Oder sollte man sich nicht doch besser an denjenigen orientieren, die bereits zuvor nachweislich die Risiken der Epidemie und der vorgeschlagenen Gegenmaßnahmen besonnen gegeneinander abgewogen haben? Doch damals wie heute wurden die Besonnenen in den Medien verspottet bis angefeindet. Im Kontext der Corona-Epidemie ist allerdings neu und auffällig, dass sich Verbalinjurien und üble Unterstellungen auch in Pressemitteilungen und Verlautbarungen von Universitäten finden, so wie in dem hier vorgestellten Beitrag aus der philosophischen Fakultät der
DIE MEHRHEITSMEINUNG IN DER WISSENSCHAFT 121 Universität zu Köln,10 in dem es heißt: „Verschlimmert wird die Sache noch dadurch, dass geschickte Wissenschaftsleugner oder Pseudowissenschaftler die Daten so selektiv präsentieren, dass alles gegen die Wissenschaften und für sie selbst zu sprechen scheint. Genau das passiert in Beiträgen und Büchern von Corona-Leugnern. Folgen wir allein unseren Plausibilitätserwägungen, dann möchten wir ihnen 100% recht geben, weil alles, was sie vorbringen, so einleuchtend erscheint und zudem für einen entspannten Umgang mit der Pandemie spricht. Genau das ist dem Buch Corona Fehlalarm? aus dem Sommer letzten Jahres geglückt […]“. Die Autoren des Buches, Karina Reiss und Sucharit Bhakdi, werden nicht genannt. Vielleicht um nicht anzusprechen, dass die als Wissenschaftsleugner Verfemten vielfach für Forschung und Lehre ausgezeichnete Wissenschaftler sind und in vielem Recht behalten haben, wie die obigen neueren Erkenntnisse zur Epidemie und den Impfungen belegen. Auch der Virologe Drosten, mehrfach anerkennend als „die Stimme und das Gesicht der Wissenschaft in Zeiten Coronas“ bezeichnet, beschimpfte Kollegen, die seine Sicht der Maßnahmen und Empfehlungen nicht teilten, als Pseudo-Experten und Wissenschaftsleugner, selbst wenn es sich dabei um Harvard-Professoren und namhafte deutsche Virologen handelte.30 Im NDR-Podcast „Coronavirus Update“ Nr. 113 vom 29.03.2022 schlug Drosten sogar vor,31 es solle von wissenschaftlichen Institutionen, wie zum Beispiel der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Mandate erteilt werden, welche Wissenschaftler sich in der Öffentlichkeit zu strittigen Themen äußern dürfen. Nichtlizensierte öffentliche Äußerungen könnten als wissenschaftliches Fehlverhalten eingestuft werden und über den Entzug von Forschungsmitteln sanktioniert werden. Ohne Zweifel würde dieses Buch, das der geschätzte Leser in Händen hält, in Drostens Idealvorstellung einer autoritären Wissenschaft verboten oder die Autoren zumindest abgestraft werden. Muss denn nun der virologische, medizinische oder auch insgesamt wissenschaftliche Laie wirklich der Einschätzung einschlägiger Experten auf Gedeih und Verderben vertrauen, oder gibt es nicht doch eine Möglichkeit, Kants Aufforderung „Sapere aude!“ beim Wort zu nehmen, um zu einer eigenständigen Gesamtbeurteilung der CoronaMaßnahmen zu gelangen? Zumindest rückblickend ist dies mit Hilfe der auf der Internetseite Worldometers.info/coronavirus einfach zu-
122 GERALD DYKER gänglichen und übersichtlich präsentierten Daten möglich. Auf dieser auch von Journalisten häufig verwendeten Internetseite kann sich jeder eigenständig ein Bild machen, wie gut oder wie schlecht Deutschland im internationalen Vergleich anhand von Kennzahlen wie Corona-Fällen und Todesfällen pro Million Einwohner abgeschnitten hat. Es empfehlen sich besonders Vergleiche mit Ländern oder Regionen ohne restriktiven Impfdruck, ohne Maskenzwang und ohne mediale Panikkampagne, wie Schweden, Texas oder South Dakota. Und auch Vergleiche mit Ländern wie Großbritannien, wo die Maßnahmen wesentlich früher beendet wurden, woraufhin hierzulande von einschlägigen Experten erwartungsgemäß vor den Folgen gewarnt wurde. Im internationalen Vergleich wird man bilanzierend feststellen, dass die strikten Corona-Maßnahmen in Deutschland – wenn überhaupt – kaum Positives bewirkt haben. Massentestungen, Massenimpfungen, Lockdowns, Gängelungen und die Segregation der Bevölkerung in drei normative Kategorien haben enorme Kosten verursacht, sowohl finanziell als auch psychisch. Eine ehrliche Bilanz wäre verheerend. Der Wissenschaft sei man angeblich gefolgt. De facto wurde aber nur auf Inzidenzwerte zweifelhafter Aussagekraft gestarrt und diese wurden auch noch als absolutes Entscheidungskriterium für das Inkrafttreten immer neuer, restriktiver Regelungen gewählt. Mit Wissenschaftlichkeit oder mit evidenzbasierten Entscheidungen hat das nichts mehr zu tun. Für eine gewissenhafte, wissenschaftliche Bilanzierung wurden äußerst wichtige Daten, wie oben erläutert, nie gesammelt. Aus Krankenkassen-Daten lassen sich zumindest indirekt Erkenntnisse zu Erfolgen und Misserfolgen der Corona-Maßnahmen ablesen. Offizielle Stellen scheinen daran nicht interessiert zu sein. Freie Datenanalysten haben stattdessen diese Aufgabe übernommen. Ein technokratischer Kollektivismus war mithin die eigentliche Seuche, die sich über fast die ganze Welt ausgebreitet hat. Ihm sollte sich die gesamte Bevölkerung unterordnen, zunächst veranlasst durch Angstkampagnen,32 dann auch mittels Strafandrohung und Schikanen. Eigenverantwortung und Freiheit wurden von offiziellen Stellen jedenfalls weithin als hinderlich und obsolet betrachtet. Die repressive Politik wurde publizistisch willfährig unterstützt, bis hin zu einer aktivistischen Sprachpolizei, die die Begriffe Eigenverantwortung und Freiheit in 2021 und 2022 zu den Floskeln des Jahres kürte, was sogar von der Tagesschau unkritisch gewürdigt und bekannt gemacht wurde.33
DIE MEHRHEITSMEINUNG IN DER WISSENSCHAFT 123 Dabei bilden die Maßnahmen und deren breite, mediale Unterstützung während der Corona-Jahre keine Ausnahmen. Recht ähnlich verhält es sich mit dem nun in der Tagespolitik in den Vordergrund gerückten Themenbereich „Klimawandel und Energieversorgung“. Dort hat sich eine vergleichbare Vorstellung von Wissenschaft etabliert – mit ähnlicher „Treffsicherheit“ der Computerprognosen, erneut ohne echten Diskurs, aber mit den gleichen Methoden der Diffamierung: wieder werden Pseudo-Experten und Wissenschaftsleugner ausgemacht, diesmal jedoch Klimaleugner genannt statt Coronaleugner. Vor allem aber zeichnet sich der anvisierte und teilweise schon umgesetzte Maßnahmenkatalog gegen den Klimawandel durch die gleiche Radikalität und angebliche Alternativlosigkeit aus.
VI. Technokratischer Kollektivismus versus ethische und rechtliche Grundsätze Der technokratische Kollektivismus, wie er sich als Regierungsform in der „Corona-Krise“ formierte und in der „Klima-Krise“ ebenfalls aufblüht, beruft seine Entscheidungen auf vermeintlich gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse oder auch technologische Entwicklungen und ordnet die Interessen sowie die Rechte des Individuums mehr oder weniger kompromisslos dem Wohlergehen des Kollektivs unter. Dabei wird nicht nur an den Gemeinschaftssinn appelliert, sondern das gewünschte, angeblich der Gemeinschaft nützende Verhalten mittels Zwangsmaßnahmen gegen individuelle Rechte durchgesetzt. Diffamierung und Diskriminierung werden als probate, zielführende Mittel gesehen oder als Begleiterscheinung in Kauf genommen. Der technokratische Kollektivismus stellt seine Entscheidungen als alternativlos dar. Eine personifizierte Wissenschaft oder eine „Mehrheitsmeinung der Wissenschaftler“ werden argumentativ ins Feld geführt. Mitunter reichen aber bereits Computersimulationen als Begründung aus, oder politisch beschlossene Grenzwerte setzen Gebote und Verbote beim Überschreiten automatisch in Kraft. Bei den notorischen Inzidenzwerten ist die Willkür überdeutlich, da diese stark von Einflussgrößen wie der Anzahl der täglichen Messungen abhängen, die wiederum von politischen Entscheidungen beeinflusst werden. Ob der technokratische Kollektivismus ausschließlich der Krisenbewältigung dienen soll oder nicht auch mit den Interessen anderer
124 GERALD DYKER politisch-kollektivistischer Strömungen einhergeht oder Partikularinteressen einer politischen Kaste samt deren Entourage und den Big Tech-Größen dienlich ist, sei an dieser Stelle nicht Thema. Besorgniserregend ist aber die Erkenntnis, dass sich mit der Kombination aus Technokratie und Solidaritätsbekundung früher undenkbare Maßnahmen „zum Wohle aller“ durchsetzen lassen. Mit ein wenig Phantasie kann man sich leicht vorstellen, welche dystopischen Szenarien sich daraus entwickeln können. Wer dies für übertrieben hält, möge sich daran erinnern, dass mancherorts Sterbende zwar keinen Besuch von den Angehörigen erhalten durften, wohl aber noch eine Corona-Impfung auf dem letzten Weg.34 Was können wir dem technokratischen Kollektivismus entgegensetzen? Den Kanon an ethischen und rechtlichen Grundsätzen unserer Gesellschaft. Das Dilemma besteht darin, dass der technokratische Kollektivismus genau diese Grundsätze für die Durchsetzung seiner Ziele auszuhebeln trachtet und es mit Hilfe von Angstkampagnen auch schaffen kann, wie die Erfahrung der Corona-Jahre zeigt: die durchgesetzten Corona-Maßnahmen fanden augenscheinlich mehrheitlichen Zuspruch. Landauf, landab war die Forderung nach noch härteren Maßnahmen zu vernehmen und die klammheimliche oder gar offenkundige Freude über die gesellschaftliche Ausgrenzung von Abweichlern war zu registrieren. Später dann die Enttäuschung mancher darüber, dass die finanziellen Strafen und die in der Zwangsvollstreckung angedrohten Haftstrafen für „Impfverweigerer“ fallengelassen wurden.35 Von Politik, Medien und vielen in der Gesellschaft wurde denjenigen mit Unverständnis begegnet, die demonstrierend das Grundgesetz hochhielten. Es mangelte an Bewusstsein, dass die auch im Grundgesetz manifestierten ethischen und rechtlichen Grundsätze immer zu gelten haben, auch in einer gefühlten Krisensituation. „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ heißt es in Artikel 1 Grundgesetz. Die Würde des Menschen wird ebenso in Artikel 1 der UN-Charta für Menschenrechte addressiert:36 „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ Vor dem Hintergrund der Corona-Maßnahmen sind auch die Artikel 12 (Freiheitssphäre des Einzelnen) und Artikel 19 (Meinungs- und Informationsfreiheit) von Interesse: „Niemand darf willkürlichen Eingriffen in das eigene Privatleben, die eigene Familie, die eigene Wohnung und den eigenen Schriftverkehr
DIE MEHRHEITSMEINUNG IN DER WISSENSCHAFT 125 oder Beeinträchtigungen der eigenen Ehre und des eigenen Rufes ausgesetzt werden. Jeder Mensch hat Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen solche Eingriffe oder Beeinträchtigungen.“ Und: „Jeder Mensch hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.“ Es stellt sich die Frage, inwieweit die Corona-Maßnahmen und die Begleitumstände die Bürger entmündigt und ihre Würde, ihre Freiheitssphäre und ihre Meinungsfreiheit angegriffen haben. Schon unter diesem Aspekt ist eine kritische Aufarbeitung der Corona-Jahre dringend erforderlich. Gleiches gilt für die bereits in Kapitel III aufgeführten vier Prinzipien ethischen Handelns in der Medizin,3 vor allem das Selbstbestimmungsrecht des Patienten und das Prinzip der Schadensvermeidung. Diese haben immer zu gelten, gerade auch in Krisenzeiten. An den ersten Grundsatz des Nürnberger Kodex4 sei dem Sinn gemäß erinnert: Niemand darf zur Teilnahme an medizinischen Experimenten gezwungen werden, mit welchen Mitteln auch immer. Eine objektive Bilanzierung der Corona-Jahre einschließlich eines vorbehaltlosen Vergleichs mit weniger restriktiven Ländern – wie in Kapitel V beleuchtet – würde zu dem Ergebnis gelangen, dass Deutschland mit einem strikten Festhalten an den ethischen und rechtlichen Grundsätzen die Krise weit besser bewältigt hätte. Auch das Vertrauen in die wissenschaftlichen Institutionen wäre weniger beschädigt worden, hätte man sich an die gute wissenschaftliche Praxis eines offenen Diskurses unter Einbeziehung kritischer Stimmen gehalten. Diese gute wissenschaftliche Praxis war bisher immer der beste Garant für die Annäherung an eine gesicherte Erkenntnis und auch für wissenschaftlichen Fortschritt. Diese hier wiedergegebenen Regeln sind und waren immer als Maximen gedacht und geeignet. Es ist zu wünschen, aber bis dahin offenbar noch ein weiter Weg, dass sich diese ethischen und rechtlichen Grundsätze im kollektiven Bewusstsein wirklich verankern. Dies ist erst dann der Fall, wenn kein Hinweis auf eine Mehrheitsmeinung in der Wissenschaft, kein sonstiges technokratisches Argument und auch keine vorgegebene Solidargemeinschaft an diesen Grundsätzen rütteln kann. Wenn ein Katastrophenszenario heraufbeschworen wird, die Angst davor durch politische und mediale Dauerpräsenz geradezu
126 GERALD DYKER eingehämmert wird und die Aufgabe der Rechte des Individuums als einzige Rettung angeboten wird,37 dann stellt dies die größte Hürde für das unbeirrbare Festhalten am Kanon ethischer und rechtlicher Grundsätze dar. Sich dennoch nicht beirren zu lassen, dazu ist wohl eine allgemeine Geisteshaltung nötig, wie sie schon Thomas Paine als politischer Philosoph der Aufklärung zum Ausdruck brachte:38 „Die Rechte des Menschen, der sich in Gesellschaft begibt, können weder vermacht, noch übertragen, noch vernichtet werden, sondern gehen auf die folgenden Generationen über; und kein Geschlecht hat die Macht, diese Erblinie gewaltsam zu durchschneiden. Wenn die gegenwärtige oder eine andere Generation Lust hat, Sklaven zu sein, so wird das Recht der folgenden Generation zur Freiheit dadurch nicht vermindert. Ein Unrecht kann keine rechtmäßige Abkunft haben.“ 1 2
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, 1781, S. 822. Immanuel Kant, Gesammelte Schriften. Hrsg.: Bd. 1 – 22 Preussische Akademie der Wissenschaften, Bd. 23 Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ab Bd. 24 Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Berlin 1900ff., AA IV, 421. 3 https://ethica-rationalis.org/die-vier-prinzipien-ethischen-handelns-in-d er-medizin/ 4 Nürnberger Kodex gemäß: Alexander Mitscherlich und Fred Mielke (Hrsg.), Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses (Frankfurt a.M./Hamburg: Fischer Bücherei, 1960), S. 272f. 5 Carl Gustav Jung, wird das Zitat zugesprochen „Irrtümer bildeten schließlich meist die Fundamente der Wahrheit, und wenn man von einem Ding nicht weiß, was es ist, dann bedeutet es schon einen Erkenntniszuwachs, wenn man weiß, was es nicht ist.“ 6 https://www.deutschlandfunk.de/giordano-bruno-dominikanermoench -und-moderner-astronom-100.html 7 https://www.spektrum.de/kolumne/kleine-geschichte-eines-mannes-de r-die-genetik-der-udssr-zerstoerte/1759042 8 https://www.nytimes.com/2021/03/09/us/allan-mcdonald-dead.html 9 Im Wortlaut: “For a successful technology, reality must take precedence over public relations, for nature cannot be fooled.” Richard P. Feynman, “Volume 2: Appendix F – Personal Observations on Reliability of Shuttle” June 6, 1986, in Report of the Presidential Commission on the Space Shuttle Challenger Accident. NASA. 1986. 10 https://portal.uni-koeln.de/universitaet/aktuell/interviews/philosophi e-und-ihre-rolle-in-der-corona-krise 11 https://portal.uni-koeln.de/universitaet/aktuell/koelner-universitaetsm agazin/unimag-einzelansicht/kompass-fuer-die-krise-die-philosophie
DIE MEHRHEITSMEINUNG IN DER WISSENSCHAFT 127 12 Immanuel Kant, „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ in Berlinische Monatsschrift 1784, S. 481. 13 https://reitschuster.de/post/nach-kbv-horror-todeszahlen-nebelbomben -in-der-welt/ 14 https://m.focus.de/gesundheit/news/bis-zu-50-prozent-sterben-daran-l ungenarzt-fruehe-kuenstliche-beatmung-ist-groesster-fehler-im-kampf-ge gen-corona_id_12787476.html 15 https://www.welt.de/politik/deutschland/plus241005455/Corona-Imp fung-US-Gesundheitsbehoerde-liess-sich-von-acht-Labormaeusen-ueberz eugen.html 16 John P. A. Ioannidis, “Infection fatality rate of COVID-19 inferred from seroprevalence data”, in Bull. World Health Organ. 2021, 99, S. 19 – 33 17 ZDFheute: Fatigue-Syndrom, Durchblutungsstörungen: Wie Menschen unter Impfnebenwirkungen leiden. https://www.youtube.com/watch?v =V758qKFRCdE 18 https://www.cicero.de/innenpolitik/corona-impfung-nebenwirkungeninterview-bernhard-schieffer 19 „Seltene“ Nebenwirkung Post-Vac-Syndrom; Das Erste: https://www.das erste.de/information/wirtschaft-boerse/plusminus/videos/plusminusmaerz-impfschaeden-video-100.html; Bayerischer Rundfunk: https://ww w.youtube.com/watch?v=KoeQv7HLxM8; Norddeutscher Rundfunk: htt ps://www.youtube.com/watch?v=ciAgSGQyLa4; Definition für selten und sehr selten: https://www.berliner-zeitung.de/news/schwere-nebenwirkungen-gesundheitsministerium-veroeffentlicht-falsche-zahlen-paul-e hrlich-institut-corona-impfung-biontech-karl-lauterbach-li.248896 20 https://reitschuster.de/post/impfstoff-wurde-vorab-gar-nicht-auf-verhi nderung-von-ansteckungen-getestet/ 21 P. Irrgang et al.: Class switch towards non-inflammatory, spike-specific IgG4 antibodies after repeated SARS-CoV-2 mRNA vaccination; https://w ww.science.org/doi/10.1126/sciimmunol.ade2798. 22 https://sciencefiles.org/2023/01/03/virologischer-supergau-was-bleibtvom-immunsystem-nach-mrna-gentherapie-studie-zeigt-wie-mrna-genth erapien-immunsysteme-veraendern-nicht-notwendig-zum-besseren/ 23 https://www.epochtimes.de/gesundheit/mrna-erfinder-malone-covid-1 9-geimpfte-infizieren-sich-haeufiger-mit-omikron-a3935610.html; https:/ /reitschuster.de/post/100-prozent-der-hospitalisierten-sind-geimpft/;h ttps://reitschuster.de/post/geimpfte-leiden-viel-oefter-an-schweren-co rona-folgen-als-ungeimpfte/ 24 Christof Kuhbandner, Matthias Reitzner, “Excess mortality in Germany 2020-2022”, auf https://www.researchgate.net/publication/362777743_E xcess_mortality_in_Germany_2020-2022/link/63dcdb1262d2a24f92f49c68 /download 25 https://www.tagesschau.de/faktenfinder/uebersterblichkeit-deutschlan d-101.html 26 https://reitschuster.de/post/jeder-vierte-kennt-jemanden-der-infolge-de r-impfung-gestorben-ist/
128 GERALD DYKER 27 https://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/schweinegrippe-pande mrix-nebenwirkungen-ignoriert-futter-fuer-impfgegner-a-1229428.html 28 https://www.tagesschau.de/inland/schweinegrippe580.html 29 https://www.sueddeutsche.de/wissen/schweinegrippe-die-welle-hat-be gonnen-1.140006 30 https://www.welt.de/kultur/plus230155717/Lockdown-Christian-Dros ten-und-die-Leugner.html 31 NDR-Podcast Coronavirus Update Nr. 113 vom 29.03.2022, als Skript zu erhalten unter https://www.ndr.de/nachrichten/info/Coronavirus-Upd ate-Die-Podcast-Folgen-als-Skript,podcastcoronavirus102.html 32 https://www.focus.de/politik/deutschland/aus-dem-innenministerium -wie-sag-ichs-den-leuten-internes-papier-empfiehlt-den-deutschen-angstzu-machen_id_11851227.html 33 https://www.tagesschau.de/inland/floskel-des-jahres-101.html 34 https://www.24vita.de/praevention/corona-impfung-sterbende-tod-pal liativ-pflegerin-patienten-aerzte-forderung-ethikrat-koeln-91401471.html 35 https://www.bundestag.de/parlament/plenum/abstimmung/abstimm ung?id=767 36 https://www.amnesty.de/alle-30-artikel-der-allgemeinen-erklaerung-de r-menschenrechte 37 Zitat: „Es ist absurd, sich eine Welt vorzustellen, in der individuelle Freiheit vor Selbsterhaltung geht […] Die adaptive, solidarische Gesellschaft wird kein Paradies werden, aber sie bietet Chancen.“ https://taz.de/Sozio loge-Philipp-Staab-ueber-Klimakrise/!5905406/ 38 Die politischen Werke von Thomas Paine, Philadelphia 1852, 66.
„Objektivität in der Beteiligung“. Zu Formen und Vertiefung wissenschaftlicher Erkenntnismethoden Harald Schwaetzer
I.
Einleitung: Die Frage nach der Wissenschaft – Paul Feyerabend
In Erkenntnis für freie Menschen beginnt Paul Feyerabend den zweiten Teil mit „Drei Fragen“. Alle drei haben nichts von ihrer Bedeutung verloren und können den nachfolgenden Überlegungen zur Einleitung dienen, um auf denjenigen Ausgangspunkt zur Kritik am Wissenschaftsbegriff aufmerksam zu machen, der im Zentrum der Aufmerksamkeit dieses Beitrages steht. Feyerabends erste der drei Fragen lautet: (A) Was sind die Wissenschaften – wie gehen sie vor, was haben sie zu bieten, wie unterscheiden sich ihre Maßstäbe, Ergebnisse, Verfahrensweisen von den in anderen Gebieten akzeptierten Regeln, Maßstäben, Ergebnissen, Verfahrensweisen?1
Offenkundig zielt diese Frage auf eine Abgrenzung der Wissenschaft von anderen methodisch verfahrenden Erkenntnisformen. Was vielleicht auf den ersten Blick harmlos klingt, erweist auf den zweiten seine Sprengkraft. Diese Frage impliziert, dass es andere und möglicherweise gerechtfertigte Formen der Erkenntnis – der Wahrheit – gibt, die außerhalb oder unabhängig von der Wissenschaft sich vollziehen: (B) Welche besonderen Vorteile haben die Wissenschaften – was sind die Gründe (falls es Gründe gibt), die uns veranlassen können, die Wissenschaften anderen Lebensformen vorzuziehen? Zum Beispiel was macht die moderne Wissenschaft besser als die Wissenschaft des Aristoteles oder die Kosmologie der Hopi?2
Die zweite Frage folgt konsequent aus der ersten. Sie trägt aber selbst wiederum eine weitere in sich. Die Frage zu stellen, warum wir das, was wir Wissenschaften nennen, vorziehen, impliziert in der Weise, wie Feyerabend sie stellt, eine Antwort, deren Charakter auf Gründe
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„OBJEKTIVITÄT IN DER BETEILIGUNG“ 131 zielt (falls es solche gibt). Nun kann aber die Antwort auf die Frage nicht in einer Methodik liegen, welche bereits die Gültigkeit von Wissenschaft voraussetzt. Die Frage kann also nicht auf eine Art beantwortet werden, welche im Vollzug bereits die Gültigkeit der Wissenschaft voraussetzt. Darauf verweist Feyerabend unmittelbar, nachdem er die dritte Frage gestellt hat: „Wie sollen wir Wissenschaften verwenden […]?“3, indem er auf Folgendes aufmerksam macht: Man beachte, dass man bei der Beantwortung von Frage B die Alternativen nicht auf wissenschaftliche Weise beurteilen darf. Wenn wir Frage B beantworten wollen, dann untersuchen wir die Maßstäbe der Wissenschaften, wir können sie also nicht in unseren Urteilen verwenden.4
Systematisch gesehen, hat Feyerabend folglich darauf hingewiesen, dass es das Konzept von „Wissenschaft“ nicht nur zu rechtfertigen und gegebenenfalls zu begründen gilt, sondern dass eben diese Unternehmung darauf verweist, dass es eine Erkenntnisform gibt, welche genau dieses zu leisten imstande ist. Insofern diese Erkenntnisform das, was man Wissenschaft zu nennen pflegt, zu rechtfertigen oder sogar zu begründen in der Lage ist, ist sie ihr fraglos vorgeordnet. Sie fragt nicht nur nach der Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis, sondern auch nach der Bedingung der Berechtigung der Anwendung dieser Möglichkeit und ihrer Reichweite. Diese vorgelagerte Wissensform als vorgelagerte ist also per se nicht nur theoretisch, sondern zugleich auch wertbehaftet, normativ. Man beachte dabei, dass dieses nicht impliziert, dass bestimmte Ergebnisse dieser Wissensform normativ sind. Aber ihr Vollzug als Begründung einer Methode, die wissenschaftliche Denkergebnisse garantiert, ist es sehr wohl. Ob es diese Erkenntnisform gibt und was sie leistet, steht an dieser Stelle noch nicht zur Debatte. Die Einleitung dient bis hierher nur dazu, auf diese häufig unbemerkte Voraussetzung der Diskussion um Wissenschaft aufmerksam zu machen. Möglichkeit und Gehalt dieser Form wird im Folgenden diskutiert werden. Der Beitrag argumentiert damit, klassisch formuliert, im Folgenden für einen Primat der Erkenntnistheorie vor der Wissenschaftstheorie. Besonders zwei Punkte stehen auf dem Prüfstand: Geltungsbereich und Alleingültigkeit des vorherrschenden Wissenschaftsbegriffs in seinen unterschiedlichen Spielarten, die am Ende alle auf einem methodischen Zusammenspiel von Induktion oder Deduktion fußen und
132 HARALD SCHWAETZER eine sprachlich oder mathematisch verfasste Begründungsstruktur verlangen. Es soll nicht gegen diese Form der Erkenntnis überhaupt gestritten werden, sondern nur gegen ihren umfassenden Anspruch einerseits und die Behauptung, dass damit die einzig sichere Form von Erkenntnis gegeben sei.5 Zugleich wird die Argumentation positive Formen anderer Erkenntnisformen im Gegenentwurf akzentuieren. Der geführte doppelte Einwand ist als solcher nicht neu. Im Gegenteil, er ist in der Geschichte der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts gut verankert. Insofern hat der Beitrag nichts weiter zu unternehmen, als auf bestimmte Positionen zu verweisen, die mit hinreichender Deutlichkeit die von Feyerabend in den Blick genommene Voraussetzung im Sinne eines Aufweises einer vorwissenschaftlichen Erkenntnissphäre, die ihrerseits gesicherte Erkenntnis ermöglicht, bearbeitet haben. Dazu wird in einem zweiten Schritt zunächst die Thematik von Feyerabend abgelöst und an einem prominenten Beispiel in die Kultur der Wissenschaften des – sit venia verbo – langen 20. Jahrhunderts gestellt. Jenes Jahrhunderts, welches seinen Wissenschaftsbegriff trotz aller „Krisis“ am Anfang des 20. Jahrhunderts doch weitgehend aus einem 19. Jahrhundert speist und auch im 21. Jahrhundert viel mehr von diesem Erbe in sich trägt, als zumeist bewusst ist.
I.
Vom Marburger Logizismus zur Kulturanthropologie – Ernst Cassirer
Ernst Cassirer soll für eine Erweiterung der Fragestellung als Beispiel dienen. Gewiss hätte auch auf andere Denker verwiesen werden können; Heidegger, Arendt, Anders, Picht, Jonas, auch Popper, bei dem Feyerabend in London arbeitete6, oder Polanyi wären in Frage gekommen. Indessen wird Cassirer gewählt, weil mit einer gewissen Strenge ein exemplarischer Befund vorliegt, der auch den Rahmen für die weiteren Überlegungen zu bilden vermag. Denn Cassirer ist ein „Marburger“.7 Sein Ausgangspunkt ist also ein strenger Wissenschaftsbegriff geradezu logizistischer Art. Von ihm her entwickelt sich Cassirer über seine historischen Arbeiten weiter zu einem philosophischen Kulturanthropologen im späten „Versuch über den Menschen“.8 Was dazwischen liegt, ist inzwischen so hinreichend bekannt, dass wenige allgemeine Bemerkungen genügen. Cassirer entwickelt die „Philosophie
„OBJEKTIVITÄT IN DER BETEILIGUNG“ 133 der symbolischen Formen“, deren Grundgedanke darin liegt, dass es unterschiedliche Bereiche und Dimension von Erkenntnis gibt. Auch Mythos oder Kunst sind Erkenntnisformen. Diese Weitung gegenüber dem Marburger Erkenntnisbegriff korrespondiert, wie auf den ersten Blick sichtbar ist, mit dem Horizont der Frage, die eingangs von Feyerabend her gestellt worden ist. Die Genese dieses Umschwungs ringt dabei vor dem Hintergrund des Seelenbegriffs von Cassirers Dissertation mit der strengen Wissenschaft etwa in Substanzbegriff und Funktionsbegriff, aber auch mit der Entstehung dieses Begriffs im Erkenntnisproblem auf der einen Seite und auf der anderen Seite mit Fragen des Ästhetischen und einer Logik des Symbolischen.9 Dabei geht es Cassirer um einen grundlegenden Griff, den Tobias Endres in Ernst Cassirers Phänomenologie der Wahrnehmung10 mit Recht ausführlich entfaltet: Und die ‚Erkenntnistheorie’ darf sich nicht allseitig auf einen einzigen Maßstab verpflichten und all das, was ihm nicht entspricht, verdächtigen, ihm die objektive ‚Wahrheit‘ absprechen - sie muss vielmehr versuchen, zunächst einmal alle Wissensformen als solche zu beschreiben, ehe sie über ihr ‚Recht‘ oder ‚Unrecht‘ entscheidet – sie muss zunächst einmal ‚Phaenomenologie der Erkenntnis‘ sein, ehe sie Kritik der Erkenntnis werden kann – .11
Cassirers Weitung der Erkenntnisfrage, so klar sie in der Sache ist, mag das Misstrauen erwecken, dass sie mit dem Begriff der „Phänomenologie“ bereits in einen anderen Hafen gesegelt ist, also bereits eine Entscheidung vollzogen habe. Freilich wäre Cassirer damit missverstanden. Um die historische wie systematische Weite dieses Ansatzes zu unterstreichen, sei auf zwei Bezüge verwiesen, die meines Erachtens mehr Aufmerksamkeit für die Genese und Geltung des Cassirerschen Ansatzes verdienten. Mit Blick auf die Phänomenologie sei auf seinen Bezug zu Goethe verwiesen.12 Cassirer erkennt bei Goethe eine Methodik, die genau auf die von ihm gesuchte Form abzielt. Wenngleich er selbst in der Bewertung des goetheschen Erfolgs zurückhaltend bleibt, so wird ihm daran doch der Grundzug klar: Goethe dagegen verlangt eine neue Weise der Verknüpfung des Anschaulichen, die den Gehalt eben dieser Anschauung als solcher unangetastet läßt.13
Neben Goethe dürfte es hilfreich sein, auch die Stellung des Nikolaus von Kues für Cassirer gerade in der Erweiterung des Wissenschaftsbegriffs stärker, als bisher geschehen, zu berücksichtigen.14 Insbesondere
134 HARALD SCHWAETZER die anthropologisch-erkenntnistheoretische Seite findet Cassirer bei Cusanus: Und doch dringt schon in den ersten Sätzen der Schrift ‚De docta ignorantia‘ ein Gedanke durch, der auf eine völlig neue geistige Gesamtorientierung hinweist. Vom Gegensatz zwischen dem Sein des Absoluten und des Empirisch-Bedingten, des Unendlichen und des Endlichen wird auch hier ausgegangen. Aber dieser Gegensatz wird nun nicht mehr schlechthin dogmatisch gesetzt, sondern er soll in seiner letzten Tiefe erfaßt, er soll aus den Bedingungen der menschlichen Erkenntnis begriffen werden. Diese Stellung zum Erkenntnisproblem charakterisiert Cusanus als den ersten modernen Denker.15
Mit diesen beiden Hinweisen auf Goethe und auf Cusanus wird deutlich, dass Cassirer nicht nur einen umfassenden Ansatz einer „Phänomenologie der Erkenntnis“ jenseits der Wissenschafts- oder Erkenntnistheorie im Sinne des ausgehenden 19. Jahrhunderts sucht, sondern dass diese mit einer ästhetisch-symbolischen Erweiterung der Betrachtung mit Blick auf die Fähigkeiten des Menschen einhergeht, die zugleich, wie am Zitat zu Cusanus ersichtlich, eine anthropologisch-existentielle Vertiefung begleitet. Diese Präzisierung des anhand von Feyerabend akzentuierten Ansatzes soll im Folgenden bei einem anderen Marburger systematisch genauer vertieft werden. Gemeint ist Heinrich Barth.16
II.
„Das Selbstverständnis der Erkenntnis“ – Heinrich Barth
Grundlage der folgenden Überlegungen bildet die bislang unpublizierte Vorlesung Heinrich Barths Das Erkenntnisproblem.17 Der Grund, weshalb diese Vorlesung herangezogen wird, liegt darin, dass Heinrich Barth in ihr den Versuch unternimmt, vom Marburger Erkenntnisideal eines gewissen Logos-Universalismus aus zu einem dessen ‚logizistische‘ Grenzen sprengenden Ansatz zu gelangen, ohne den ‚monistischen‘ Charakter aufzugeben.18 Die Vorlesung bietet also aus dieser Sicht exakt den systematischen Versuch, die bei Feyerabend artikulierte Frage in einer Parallele zu Cassirers Versuch im Rahmen einer erkenntnistheoretischen Konzentration und Vertiefung anzugehen.19 Im Folgenden werden Grundgedanken aus den beiden ersten Kapiteln der Vorlesung skizziert. Barth beginnt seine Überlegungen mit Bemerkungen zur „Universalität der Erkenntnis“. Gleich eingangs der
„OBJEKTIVITÄT IN DER BETEILIGUNG“ 135 Vorlesung verweist er darauf, dass Locke das Erkenntnisproblem zwar als solches aufgreife, aber es faktisch doch als ein Problem unter anderen behandele. Das sei aber ein Widerspruch; denn das Erkenntnisproblem sei ein „einzigartiges“ (6)20. „In den Wissenschaften“ sei Erkenntnis „Voraussetzung“; es sei eine „Priorität des (echten!) Erkenntnisproblems vor den Wissenschaften einleuchtend“, eben weil Erkenntnis nicht aus ihnen abgeleitet, sondern ihnen vorausliegend sei (ibid.). In diesem Zusammenhang macht Barth folgende, für den systematischen Zusammenhang einer Wissenschaftskritik einschlägige Bemerkung: Gefahr einer Verkürzung unserer Problemstellung; einer Einseitigkeit; nur die Wissenschaften im Blickfelde; […] Unbedachte Eingrenzung des Problemes! Anschein einer Ausschließlichkeit dieses Anknüpfungspunktes! […] Jede Einengung vermeiden. ‚Erkenntnis‘ auch außerhalb der Wissenschaft; eine Verkürzung auf den wissenschaftl. Bereich nicht zu rechtfertigen. ‚erkenntnis‘ im täglichen Leben, in der Beziehung von Mensch zu Mensch […]. (6)
Damit akzentuiert Barth im Sinne der beiden vor ihm angeführten Ansätze die bis ins Vorwissenschaftliche reichende Dimension von Erkenntnis, ohne dieselbe zu einer Art Erkenntnis zweiter Art oder niedriger Gattung herabzustufen. Es ist im Gegenteil deutlich, dass von der vorgelagerten universalen Problematik der Erkenntnis der spezielle Fall der Wissenschaften abhängt. Im Folgenden zeigt Barth geschichtlich auf, dass es einen Vernunftuniversalismus verschiedener Spielarten ebenso immer gegeben hat wie einen Widerstand dagegen (etwa anhand von Pascal gegen Descartes oder von Kierkegaard gegen Hegel). Barth macht diesen Widerstand sehr stark.21 Bevor auf diesen Konflikt eingegangen wird, sei eine Bemerkung angeführt, die gerade für die Gegenwart der jüngst vergangenen Jahre eine gewisse Aktualität gewonnen hat. Barth kritisiert nämlich den Glauben an „Tatsachen“ oder „Fakten“: Ungenügend z. B. die populäre Berufung auf die ‚Tatsachen’; mit ihr das ‚Denken‘ noch nie außer Kurs gesetzt. Ungenügend aber auch die wissenschaftliche Formulierung des Tatsachenbewußtseins im Empirismus u. Positivismus22; hier überall Konzessionen an das „Denken“ wahrzunehmen, in der Annahme von Erkenntniselementen (besonders ‚Beziehungen‘), die
136 HARALD SCHWAETZER über die gegebenen Tatsachen hinausgehen. […] Auch empirische Wissenschaft zu sehr auf das Denken angewiesen! (16)
Angesichts einer solchen Problemlage verschärft sich die Frage, wie zwischen der Scylla eines universalen Vernunftuniversalismus und der Charybdis eines auf Leben und Subjekt verweisenden Widerstandes hindurchzusegeln sei. Ohne auf die ausführliche geschichtsphilosophische Überlegung zu Antike, Mittelalter und Neuzeit einzugehen, sei lediglich auf das Resultat verwiesen. Gegen einen Vernunftuniversalismus zeigt sich eine berechtigte Gegnerschaft, „ausgerüstet mit viel Geist, Tiefe, echter Lebenserfahrung“ (21). Diese Beobachtung führt Barth in einem Terminus zusammen: „Gegeninstanz der ‚kontingenten‘ Begebenheit“ (ibid.). Um es in der Sprache des nominalistischen Mittelalters zu sagen: Der Universalismus zerbricht am „quia voluit“ Gottes: Die Welt ist geschaffen, weil er es wollte. Vernunft und Wille sind also nicht einfach geschieden. „Der ‚Wille‘ offenbar nicht außer der ‚Erkenntnis‘“ (20). Umgekehrt wird daraus die Krisis der Erkenntnis ersichtlich. Denn die Kontingenz verweist auf ein Moment der Entscheidung des Willens für die Erkenntnis. „An dieser Kontingenz Erkenntnis scheinbar zerbrochen“ (20). Um dieses „scheinbar“ fruchtbar zu vertiefen, geht Barth einen Weg, der die Beteiligung des Subjektes in den Blick nimmt. Dazu wendet er sich den zunächst einmal traditionell höchsten Seiten des Erkenntnisvorgangs zu: der Intuition und der Anschauung. Die Intuition mit all ihren Spielarten meint das unmittelbare geistige Innewerden; sie ist seit der Antike (Barth verweist explizit auf Plotin), wie der Name (auch der griechische) schon sagt, selbst eine Anschauung (21f.). Aber auch die Anschauung selbst ist ein sehr vieldeutiger Begriff (22f.). Barth setzt, da sich die Idee der Kontingenz als unaufgebbar erwiesen hat, einerseits zunächst an dieser Stelle ein, also bei der sinnlichen Wahrnehmung eines Subjektes als demjenigen Akt, der sich einer Universalierung der Vernunft zunächst einmal grundsätzlich widersetzt. Andererseits verweist er darauf, dass Vernunft in der Antike im Mythos zur Anschauung geworden sei, dabei weniger an Mystik denkend als etwa an Platons Gebrauch des Mythos.23 Von dieser zweiten Seite her gewinnt er, sie systematisch zuspitzend, den Begriff der „Offenbarung“. Die Kontingenz einer (göttlichen) Offenbarung ist die radikale
„OBJEKTIVITÄT IN DER BETEILIGUNG“ 137 Gegeninstanz zur Universalität der Erkenntnis (26); sie erscheint als geistiges Bild, ist also Anschauung. Ihr Charakter ist der einer evidenten „Erkenntnisquelle“. Allerdings ist sie entweder (etwa bei Kierkegaard) das Paradoxon des total Anderen, oder aber es gilt auch für sie, was oben zum Faktum gesagt worden ist: Es braucht eine Erkenntnisleistung auch für Offenbarung; sie ist dann wirklich eine Erkenntnisquelle, wenn sie nicht nichts sein soll. Also verbleibt auch sie innerhalb der Erkenntnis. Es gilt also ganz im Marburger (und im Theologischen) Sinne: „Damit zweifellos der Boden des Logos betreten“ (30).24 Auf der Seite des ‚Gewinns‘ ist zu verbuchen, dass das Denken als Voraussetzung sich bewährt hat; einen Raum außerhalb der Erkenntnis kann es so für den Menschen nicht geben. Gleichzeitig ist aber auch deutlich, dass auf der anderen Seite kein Vernunftuniversalismus angesetzt werden kann, sondern dieser immer durch den Faktor Kontingenz gebrochen wird. Von hier aus kehren wir zur Anschauung zurück. Barth bleibt erst einmal in der „Theoria“. Die dort vermittelte Schau ist rein; ihr antiker Ort ist die Muße, aus der sie entsteht. Das verweist darauf, dass der Schauende unbeteiligt sein soll. Souveränität gegenüber Welt u. Leben im Sichzurückziehen auf den außerhalb ihrer liegenden Ort des Überblicks; Durchschauen auch der praktischen Probleme u. Konflikte in der Haltung unbeteiligter Objektivität. (42)
Aber schon innerhalb dieser Haltung gibt es eine merkwürdige Spannung, die Barth in der Gegenüberstellung von Aristoteles und Spinoza thematisiert. Denn beim letzten liegt in dieser Haltung noch etwas anderes: Bei Sp. dagegen in der Anschauung ein verborgenes Ergriffensein, bis zur höchsten inneren Beteiligung im ‚amor Dei intellectualis‘. Und doch ‚Theorie‘ im eminentesten Sinne: hier als liebevolles geistiges Beschauen der Gottheit. (42)
Das sich abzeichnende Problem wird in den Diskussionsformeln des frühen 20. Jahrhunderts erfasst: Objektivität, unbeteiligte Distanz einerseits, andererseits ein Sich-Einfühlen, Beteiligtsein (43). Von hier aus wendet sich Barth nun direkt zur Anschauung. Ist sie distanziert oder beteiligt? Er betont nochmals Stärke und Leistungsfähigkeit der kalten, unbeteiligten Anschauung. Dann aber macht er gegenüber der „kühlen Wissenschaftlichkeit“ Folgendes geltend:
138 HARALD SCHWAETZER Der Modus der Anschauung in der Wissenschaft ist die Auflösung der Anschauung in Begriffe (der Einzelfall wird aufgelöst in das Naturgesetz). „Dieses Wirkliche“ zeigt sich als eine „unendlich komplexe Verkörperung von Begriffen“ (45). Das macht aber deutlich, dass die Anschauung des Naturwissenschaftlers nicht als Anschauung überhaupt gelten kann. So wie Barth an anderer Stelle zwischen der Erscheinung in ihrer Fülle und dem Phänomen der Naturwissenschaft unterscheidet,25 so auch hier (mit Blick auf den Vollzug): Anschauung ist nicht Beobachtung (dieses Wort genommen als Vollzug des naturwissenschaftlichen Blicks). Die Beobachtung ist, weil von vornherein begriffsunterlegt, „präjudizierte Anschauung“ (45). Das Experiment ist methodisch genau angelegt; es stellt bestimmte Fragen an die Natur, auf die es auch nur Antworten in diesem bestimmten Rahmen geben wird; anderes ist irrelevant, mag es auch durchaus zur Anschauung gehören. Etwas Anderes ‚Anschauung‘. Ihr Gegenstand nicht durch die von einem Begriffe geleitete Frage vorbestimmt, die nur mehr Bestimmtes zu sehen erlaubte; nicht gebrochen durch vorgreifende Schemata des Denkens. Anschauung, sofern sie es wirklich ist! Wo zu finden? In der ‚aesthetischen’ Anschauung! Keine Beziehung zur Erkenntnis, zur Wissenschaft? Aber ohne Zweifel „Anschauung“, die wirklich anschaut! Und zwar auch ‚Natur‘ anschaut. Und nun: in echter Anschauung der Anschauende eigenartig beteiligt, auch in der Naturanschauung! (45)26
An dieser Stelle ist ein entscheidender Punkt mit Blick auf Wissenschaftskritik vorgelegt. Wirklichkeit wird nur in Anschauung, nicht in Beobachtung erfasst. Die Anschauung verlangt eine Beteiligung des Einzelnen, eine Art „amor intellectualis“ zur Anschauung. Erst dieses beteiligte Anschauen kann zu einer „unverfälschten Anschauung“ führen (46). Ohne diese Beteiligung jedenfalls ist immer schon eine kontingente Entscheidung getroffen für eine unvollständige Wahrnehmung (mag sie auch in manchen Fällen berechtigt sein – nur die Notwendigkeit der Entscheidung, nicht ein abstraktes ‚Sic et non‘ der Alternative steht hier in Frage). Es ist schon für die physikalische Seite zutreffend, dass es einen Unterschied zwischen Beobachtung und Anschauung gibt. Umso mehr gilt es für die weiteren Stufen. Im Organischen knüpft sich für Barth die Anschauung an die „Formen und Gestalten des Lebens“ (46). Der Begriff der Form sei schon bei Aristoteles mit dem Leben verknüpft,
„OBJEKTIVITÄT IN DER BETEILIGUNG“ 139 und er meine etwas wesentlich anderes als ein „mechanischer Zusammenhang“. Während beim Physiker die Wahrnehmungsfähigkeit für Formen vorauszusetzen sei, sei es beim Organischen anders. Dieses könne – eine wenig überraschende Parallele zu Cassirer – „kaum ohne einen Funken Goetheschen Geistes“27 geschehen (47); denn es komme nicht darauf an, Merkmale aufzuzählen, sondern eine Anschauung „ästhetisch adäquat zu erfassen“ (ibid.). Im Folgenden geht Barth von der Organik zum Seelischen über. In der Psychologie gebe es noch größere Schwierigkeiten, eine erfüllte Anschauung auszubilden. Bleibe man hier distanziert, so komme es höchstens zu einem „uninteressanten Durchschnitt“.28 […] bei aller überlegenen Objektivität des Psychologen auch hier eine ursprüngliche Anteilnahme an allem Menschlichen vorausgesetzt, geschweige denn bei komplexeren, seelisch differenzierteren Phänomenen. Fähigkeit, sich ein fremdseelisches Problem zu eigen zu machen, als das auch den Psychologen ‚etwas angeht‘; dies eben ‚Verstehen’. (48)29
Noch etwas anderes und viertes ist es schließlich, nicht nur auf die Seele, sondern auf das Wesen des Menschen zu blicken.30 Hier begegnet uns die Zusammenführung von Anschauung und Theorie: Wesentliche Erkenntnis eines Menschen in der Physiognomie seines Wesens, in der Grundhaltung seines Lebens, in seinem Tun u. Lassen. Unmittelbar anschaulich (also wirkliche ‚Theorie‘) dies Alles nur, sofern es im Phänomene sichtbar wird. (48)31
Diese beteiligte Erkenntnisform findet ihren prägnantesten Ausdruck in der Erkenntnis des Antlitzes – eine Figur, die sich auch bei anderen Denkern der Existenzphilosophie prominent findet, etwa bei Levinas. Barth bringt die darin liegende systematische Frage folgendermaßen auf den Punkt: Ist der ‚Eindruck‘ als solcher darum subjektiv; nicht auch der Objektivität fähig? Selbstverständlich nicht ohne ‚Verstehen‘ u. ‚Deutung‘ des Aufgefaßten (fraglich, mit welcher Angemessenheit an den Gegenstand!); nicht ohne Bewertung u. Stellungnahme! Und dies unbeschadet der echten Objektivität des ‚Eindrucks‘! So auch im Hinblick auf den Menschen in seiner gesamten Haltung u. seiner Tätigkeit! Vorzüglich im Hinblick auf den geschichtlichen Menschen! Hier die letzte Zuspitzung des Problems. Frage der ‚objektiven‘ Geschichtsund Gegenwartsbetrachtung. Ideal der „unbeteiligten“ auf Bewertung u. Parteinahme verzichtenden Betrachtung? Z. B. von Max Weber in Bezug auf
140 HARALD SCHWAETZER die Sozialwissenschaften leidenschaftlich verfochten; von H. Rickert philosophisch fundiert, aber nicht überzeugend, wie in mühsam festgehaltener Position. – Hier Zuspitzung der Frage des ‚Beteiligtseins’ des Erkennenden. ‚Stellungnahme‘ eine Zerstörerin der Erkenntnis? (49)
Die Zuspitzung des Problems muss dabei in aller Klarheit betrachtet werden. Barth ist durch vier ‚Stufen‘ von Wissensgebieten gegangen, die alle ihrerseits zueinander eine gänzlich neue Art und Weise der Erkenntnismethode verlangen. Nach der Physik ist er auf die Organik übergegangen; hier geht es, um nochmals an Cassirer zu erinnern, um eine an Goethe sichtbar werdende Methode, die aus der Anschauung heraus eine völlig neue Art der Verknüpfung der Wahrnehmungen fordert, welche diese selbst in ihrem Gehalt unangetastet lassen. Schon hier ist für Barth und Cassirer das Erkenntnissubjekt involviert. Diese Stufe des Problems findet sich zum Beispiel im ganzen Bereich der qualitativen Forschung, aber auch der Phänomenologie als Wissenschaft. Beide Bereiche haben sich genau deswegen immer wieder zu rechtfertigen, ihnen fehlen Anerkennung und – pragmatisch gesprochen – Fördermittel. Sie machen unter den vorhandenen Forschungsaktivitäten nur noch einen geringen, eher einstelligen Prozentsatz aus. Aber Barth geht von hier aus auf eine nächste Stufe: Die Psychologie, bei der nicht nur an den hinter ihm liegenden Methodenstreit zu denken ist, in den seine Doktormutter Tumarkin mit einem dreistufigen Modell ähnlich dem Barthschen eingegriffen hatte.32 Vielmehr geht es grundsätzlich, so Barth in einer klaren Positionierung, um ein „Verstehen“ als ein Sich-Einfühlen in Fremdseelisches in seiner Komplexität.33 Die Anteilnahme und Beteiligung ist nochmals höher, und so hoch, dass ihre Möglichkeit in noch weitergehendem Maße als in der qualitativen Forschung bis heute bestritten wird. „Kunst als Forschung“ wäre ein Beispielbereich jenseits psychologischer Fragestellungen, an dem dieses ersichtlich ist. Über eine Schärfung der Wahrnehmung und ihrer Lebendigkeit und Prozessualität hinaus, bedarf es hier der Kultivierung bis zur eindeutigen Erkenntnismöglichkeit im empathischen Auffassen seelischer Vollzüge – fremder wie eigener. Aber auch über diese Stufe geht Barths Zuspitzung noch hinaus. Um es nochmals von einer anderen Perspektive aus zu ordnen: Im Physikalischen geht es um das materielle Phänomen in der sinnlichen Er-
„OBJEKTIVITÄT IN DER BETEILIGUNG“ 141 scheinung. In der Organik soll das Leben selbst in seiner Prozessualität in der sinnlichen Erscheinung aufscheinen. In der Psychologie soll das Seelische selbst in dieser Weise sinnenfällig werden. Auf der vierten Stufe des existentiellen Ich als des eigentlich Menschlichen tritt das Wesen selbst in die Erscheinung. So zusammengefasst, wird Fragestellung wie Lösungsansatz deutlicher. Bei allen drei anderen Erkenntnisformen lässt sich am Ende noch von der eigentlichen Individualität absehen. Gesetzt, man hält eine Wahrnehmung der Urpflanze mit einem Funken Goetheschen Geistes für möglich, so liegt dahinter eine Methodik der Anschauung, für die Individualität nur die Rolle spielt, dass sie sich entscheiden muss, diese Erkenntnisform einzuüben. In der Psychologie ist es darüber hinaus eine je eigene seelische Fähigkeit, die kultiviert werden kann und muss. Heinrich Barth hat dabei auch die Schilderung Diltheys durch Tumarkin vor Augen: Wer die Methode des einfühlenden Verstehens an Dilthey selbst beobachtet hat, konnte sich dem Zauber dieser Menschenbeschwörung kaum entziehen. Aber mitten in aller Bewunderung mußte man sich sagen: das ist seine Gabe, die Gabe einer wunderbar impressionablen und auf Grund der Impressionabilität divinatorischen Natur; aber eine sichere, übertragbare, allgemein mitteilbare Methode ist es nicht.34
Dass eine solche Gabe einer divinatorischen Impressionabilität heute keinen Credit mehr genießt, zumindest nicht als Wissenschaft, braucht kaum gesagt zu werden. Es ist diese aber noch keine Leistung eines Ichs sensu proprio, sondern „seine Gabe“, eine seelische Fähigkeit oder Eigenschaft. Noch immer ist nicht der Bereich des Wesens oder der Substanz erreicht, sondern die Bestimmung betrifft nach wie vor ein Akzidenz, eine Eigenschaft. Alles Seelische ist in diesem Sinne (einer alten, aristotelischen Psychologie) akzidentell. Die eigentliche Zuspitzung erfolgt also nun auf der Ebene des Wesens selbst. Hier steht eine Erkenntnisform, die nur erreicht wird, wenn die Individualität selbst, jenseits der Seele, sich ins Spiel bringt. Lässt sich bei den anderen Formen immerhin noch eine Diskussion führen, ob und in welchem Maße diese als Erkenntnisweisen mitteilbar oder verallgemeinerbar sind, so lautet das Problem nunmehr: Es gibt eine Erkenntnisform, die gar nicht anders erreichbar ist als durch höchsten Einsatz (Ausbildung und Übung) des individuellen Wesens
142 HARALD SCHWAETZER selbst. Da dort Wesen Wesen erkennt, ist ein Bereich jenseits des Eigenschaftlichen im Blick. Wo aber das „Ich“ (um für das individuelle menschliche Wesen diesen Terminus des Idealismus, den auch Barth verwendet, zu gebrauchen) in die sinnenfällige Erscheinung tritt, zeigt es sich in Zeit und Raum. Ich-Erkenntnis ist also immer in der Zeit und damit als und in Geschichte. Von hierher kommt Barth zu seiner Betonung des „geschichtlichen Menschen“, in dem das Problem kulminiere.35 Nun ist allerdings für Barth auch einsichtig, dass die Lösung der Frage nicht das Niveau der vorigen Stufen unterschreiten darf. Dabei werden vorige Stufen zu notwendigen Voraussetzungen der höheren, am Beispiel der seelischen Sphäre: Menschlich relevante Anliegen, um die es geht: Staatsbildungen u. deren Auseinandersetzungen, Recht, Kultur, Wirtschaft, Nation, Rasse, Religion, – all dies aber nicht abstrakt, sondern in den Verschlingungen geschichtlicher Realitäten. Der Erkennende muß wissen, worum es geht; Verstehen der Anliegen; Zueigen-machen der Probleme. Nur so ein echtes Überblicken, nicht ein leeres über-der-Geschichte-schweben; in der Pose eines, der über den Problemen u. Konflikten steht! Anteilnahme an den geschichtlichen Problemen die Voraussetzung einer Erkenntnis der Geschichte. (50)
Barth fragt nach dieser Klärung nochmals, ob es sich um einen „gefährlichen Weg“ handele, der eine „Auflösung“ des Erkenntnisbegriffs nach sich ziehe. Man laufe Gefahr, so sieht er, die Errungenschaften einer Erkenntnisform, die subjektive und die Sache trübende Elemente mit Recht ausscheidet, aufs Spiel zu setzen, auch Positives wie Universalität und vor allem Objektivität. Insbesondere verweist er nochmals auf die mathematischen Naturwissenschaften und hält emphatisch fest: „Deren Objektivität nicht preiszugeben!“ (51). Auch hier möchte also Barth im strengen Sinne daran festhalten, dass die ‚aufsteigenden‘ Erkenntnismethoden von der Physik über die Organik und die Seelenwissenschaft bis hin zum Wesen im Aufsteigen niemals das Niveau unterbieten. Es kann also der Begriff der Objektivität nicht aufgegeben werden. Aber die Form, in der sich die erste Art der Erkenntnis darbietet, ist auch keine abschließende. An dieser Stelle zeigt sich, warum in dieser Ausführlichkeit die Barthschen Überlegungen für die dem Beitrag zugrundeliegende These vorgestellt worden sind. Der Geltungsbereich
„OBJEKTIVITÄT IN DER BETEILIGUNG“ 143 dieser Erkenntnisform und ihre Alleingültigkeit sind es, die in Frage gestellt werden, so war eingangs formuliert. Barth selbst fasst es im Anschluss an die Skizze des Objektivitätsideals folgendermaßen zusammen: Verkörpert in der mathematischen Naturwissenschaft. Deren Objektivität nicht preiszugeben! Hier ohne Zweifel eine Ebene von objektiven ‚Erkenntnissen‘; nach bestimmter ‚Methode‘ gewonnen. Am Erkenntniswerte als solchem natürlich nicht zu zweifeln. Nur nicht ‚die Erkenntnis‘; keine Erfüllung des Erk.-begriffs. Auch nicht notwendig, daß sie beansprucht werde von dieser Wissenschaft; auch ohne Totalitätsanspruch denkbar! Noch von ihr durchgehend beansprucht! Also kein Konflikt mit ihr; nur Begrenzung! (51)
Die einfache Frage, die Barth stellt, lautet: Erschöpft sich Objektivität in der mathematischen Naturwissenschaft? Ist Objektivität notwendig und nur ein Unbeteiligtsein? Die Antwort ist deutlich: Es ist eine zunächst willkürliche Setzung, diese Begrenzung vorzunehmen und ihr auch einen Totalitätsanspruch zuzuschreiben. Dem stellt er andere Formen der Objektivität gegenüber: „Objektivität in der Beteiligung, im Erleben, im Eingehen, im Verstehen, sogar in der Stellungnahme“ (52). Den Ausgangspunkt für eine „Objektivität in der Beteiligung“ bildet für ihn die Anschauung, von der die Überlegungen auch ausgegangen waren: Das Erlebnis der ‚Anschauung‘ nicht als solches „subjektiv“; warum denn? Gerade in der reinsten, ‚objektivsten‘ Anschauung (der echten künstlerischen Intuition) auch die tiefste ‚Ergriffenheit’. Ein ‚Eindruck’ – u. zwar vielleicht ein tiefgreifender, erschütternder Eindruck – durchaus ‚objektiv‘ zu erfahren, also in wirklicher ‚Erkenntnis’; trotz unseres Betroffenseins! Ein ‚Eingehen‘ auf menschliche Lebensrealitäten u. -probleme durchaus in objektiver Überlegenheit möglich; objektive Erkenntnis etwa der bestimmenden Motive in einem Lebenskonflikte. (52)
Auf die Art, wie sich Barth die Einlösung dieser Form vorstellt, aber auch welche Grenzen er dabei sieht, ist abschließend noch zu blicken. Dazu konzentriert sich die Darstellung auf die Zuspitzung des Problems im Bereich der geschichtlichen Erkenntnis; sie bildet auch für Barth selbst, wie gezeigt, den wichtigsten Fall. Die Beteiligung in der Erkenntnis stößt auf eine bestimmte Grenze: Bis dahin ‚Theorie‘ im weitesten Sinne in Betracht gezogen, von der begrifflich-mathematischen Objektivierung über die ‚Anschauung‘ bis zur
144 HARALD SCHWAETZER Reflexion auf Existenz. In der Reflexion die Schranke der ‚Theorie‘ offenbar; Existenz als gegenständliches Etwas, als Gegenstand der Theorie, nicht mehr Existenz. ‚Theorie‘ sieht gleichsam an ihr vorbei. (56)
Barth wendet diese Grenze wiederum produktiv. Erkenntnis, auch objektive, ist nicht getrennt von Existenz. Erkenntnis ist nie „Erkenntnis als solche“ oder „Erkenntnis neben der Existenz“. Erkenntnis existiert immer „in der Existenz“. Jeder Erkenntnis, jede Wahl eines bestimmten Erkenntnismodus ist ein Sich-Entscheiden und insofern ein existentieller Akt. Wenn auch die Existenz selbst niemals als solche in die Erkenntnis eingeht, bedeutet dieser Sachverhalt aber doch, dass darauf folgt, dass „Theorie als Erkenntnis nichts Endgiltiges“ ist (56) – eine Einsicht, zu der Popper etwa zeitgleich von einer anderen Seite her gelangt.36 Bei Barth aber ist sie, anders als bei Feyerabends zeitweisem Lehrer, keine methodische Frage der Falsifikation, sondern eine existentielle der Ausbildung anderer Formen der Erkenntnis. Erkenntnis ist für Barth – auch als Objektivität und gewonnenes Forschungsergebnis – „eine offene Frage“ (ibid.). Sie ist nicht relativ, sie ist nicht absolut, sondern sie ist wahr als wahrer Schritt auf einem Wege. Diese Idee teilt Barth mit dem etwas jüngeren Zeitgenossen Georg Picht37 ebenso wie mit Nikolaus von Kues, dessen Konjekturenlehre sicherlich das prominenteste Beispiel der frühen Neuzeit für diese Position ist.38 Nimmt man Erkenntnis von dieser Seite, so ist sie ein praktischer Vollzug. Erkenntnis selbst je und je eine Entscheidung der Bestimmung eines „Sein-Sollenden“. Dieser Umschwung gehört sicherlich zu den wesentlichsten Einsichten für die Gegenwart. Das vermeintlich objektive Pochen auf eine Wahrheit überzeugt genau deswegen nicht mehr, weil Wahrheit gewollt werden muss. Es ist die berühmte Frage Nietzsches, die an dieser Stelle wiederkehrt: Was in uns will eigentlich ‚zur Wahrheit‘? – In der Tat, wir machten lange halt vor der Frage nach der Ursache dieses Willens – bis wir, zuletzt, vor einer noch gründlicheren Frage ganz und gar stehenblieben. Wir fragten nach dem Werte dieses Willens. Gesetzt, wir wollen Wahrheit: warum nicht lieber Unwahrheit?39
Die Frage nach der Wahrheit ist eine Frage der Moral. Der Erkenntnisakt ist ein Entscheidungsakt; und zwar ein solcher, in dem ich mich auch entscheide, der Wahrheit ihren Raum zu lassen. Für das Erkennen braucht es die Entscheidung, die Wahrheit als das Vorzüglichere je-
„OBJEKTIVITÄT IN DER BETEILIGUNG“ 145 weils auch im Vollzug umzusetzen und Geltung haben zu lassen, um dann jenes je und je konkrete Vorzügliche als Vorzuziehendes auch zu tun. Barth gibt an dieser Stelle eines der nichts so häufigen Beispiele: Das ‚Vorzüglichere‘ nicht ‚theoretisch‘ zu erkennen, nur als was man wirklich vorzieht, nur als was zu tun vorzüglich ist, u. als das, erkannt, auch getan wird. Diese Erkenntnis ihrem Begriffe nach von der ‚Praxis‘ nicht abzulösen. Nimmt als solche die Entscheidung, das Tun, die Existenz in Anspruch. (Eine Reise, die man machen, etwas Anderes, als die man beschreiben will. Hier Erkenntnis in der Betrachtung des Ereignisses; dort das Ereignis als ‚vorzüglich‘ erkannt; auch in seiner Ausgestaltung im Plane das Vorzügliche durch erkennendes Vorziehen herausgehoben vor andern Möglichkeiten künftiger Lebensinhalte. In dieser ‚Erkenntnis‘ aber kein ‚Verweilen‘, vielmehr Inanspruchnahme zu ihrer Ausführung oder zu ihrer Vorbereitung.) (56f.)
Mit diesem Gedanken, der noch nicht das Ende der Überlegungen Barths darstellt, ist für die vorliegende Argumentation indes ein Schlusspunkt erreicht. Denn aus ihm ergibt sich ein einfacher, aber ärgerlicher Sachverhalt: Die Formen der Erkenntnis durch die vier Stufen von Physik, Organik, Psychologie und Geschichte (als Ich-Wissenschaft verstanden) zu steigern, bedeutet eine Vertiefung der Wahrheit durch Moralität. Diese Moralität ist nicht abstrakt oder theoretisch, sondern in existentieller Entscheidung je und je geübte Haltung auf den unterschiedlichen Ebenen. Alle geschilderten Niveaus sind nicht erreichbar, wenn sie nicht in und mit Wahrheit erreicht werden. Die Erkenntnisformen lassen sich nur als Vertiefung im Raume der Wahrheit gewinnen; ansonsten gibt es sie nicht. Ob und wie sich Lügen steigern lassen, steht auf einem anderen Blatt; aber der von Barth eingeschlagene Weg beschreibt eine Methode, auf der nur Schritte in der Wahrheit gegangen werden können. Barth notiert lapidar: „Das Problem dieser Erkenntnis aber in seiner Größe u. Weite zu sehen; in seiner grundsätzlichen Unterschiedenheit vom dem der Theorie.“ (55)
II.
Was bleibt?
Die Argumentation des Beitrags zielt darauf, dass eine Beschränkung des Wissenschaftsbegriffs auf seine übliche Form, die wesentlich von der Objektivität und dem Unbeteiligtsein des Erkennenden lebt, nicht
146 HARALD SCHWAETZER angemessen ist. Es wurde gezeigt, dass sich von der Seite einer strengen Marburger Erkenntnistheorie her, am Primat der Erkenntnistheorie gegenüber der Wissenschaftstheorie festhaltend, bei Cassirer und, detaillierter verfolgt, bei Barth eine systematische Begründung weitergehender Formen von Erkenntnis gibt, die ebenfalls auf Gültigkeit in ihrem Bereich Anspruch erheben dürfen. In einer genaueren Nachzeichnung der Überlegungen von Barth zeigte sich eine Abfolge von vier Arten der Erkenntnis, in Abhängigkeit von der jeweiligen Erkenntnissphäre. Alle diese Arten verlangen notwendig erstens eine Beteiligung des Erkennenden, weil sie ansonsten nicht zustande kommen. Sie gelingen zweitens immer nur, wenn eine Entscheidung für sie getroffen wird; individuell ausgebildete und verantwortete Moralität ist eine Erkenntnisbedingung. Drittens vollziehen sich die vier Formen nur als Vertiefung der Wahrheit, nicht außerhalb von ihr. Auf der einen Seite sind diese Erkenntnisformen dadurch vor einem gewissen Missbrauch geschützt. Eine lügenhafte Wesenserkenntnis gibt es nicht; es kann nur fälschlich eine solche vorgetäuscht werden. Auf der anderen Seite ist der Erkenntnisvertiefungsweg aber auch von der wahrheitsbezogenen Moralität des Individuums abhängig. Viertens ist durch diese Verbindung von Erkenntnis und Existenz Erkenntnis als Wahrheit immer eine offene Frage, jenseits der Relativität, diesseits eines Absoluten. Sollte mit dieser Analyse eine Einsicht wie ein Weg beschrieben sein, so hätte dieses offenkundig entsprechende Folgen für die Bildung wie für die Wissenschaft. Es ist freilich, wie gezeigt, nur bedingt hilfreich, diese im Modus des Theoretischen vorzustellen. Auch dafür müssen im Wissenschaftsbetrieb neue Formen gefunden werden. „Hier ist die Rose, hier tanze“.40 1
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Paul Feyerabend, Erkenntnis für freie Menschen (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 19812), S. 113. Es sei angemerkt, dass Feyerabend diesem Band sein Horoskop voranstellt. Ibid. Ibid. Ibid. Man kann und hat auf verschiedene Weise Kritik an diesem sich historisch ausbildenden Ideal geübt. Vom Begriffe der Objektivität her vgl. Lorraine Daston, Peter Galison, Objektivität (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007). Man kann auch auf das unklare Konzept von Determinismus blicken, was
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diesem Ansatz zugrunde liegt, und eng bestimmt, nicht sehr aussagekräftig in der Breite wird, vgl. Donata Romizi, Dem wissenschaftlichen Determinismus auf der Spur. Von der klassischen Mechanik zur Quantenphysik (Freiburg/München: Karl Alber, 2019). Paul Feyerabend, Zeitverschwendung (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995), S. 121-137. Interessanterweise berichtet Feyerabend dort, Buber kennengelernt und einen Vortrag für ihn übersetzt zu haben. Ibid., S. 132. Vgl.: Kirstin Zeyer, Cusanus in Marburg. Hermann Cohens und Ernst Cassirers produktive Form der Philosophiegeschichtsaneignung (Münster: Aschendorff, 2015). Dies.: Erkenntnistheorie im 20. Jahrhundert. Die kontroversen klassischen Positionen von Spicker, Cassirer, Hartmann, Dingler und Popper (Hildesheim u.a.: Olms Weidmann, 2005). Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur (Hamburg: Meiner, 1996/1944). Die Entwicklung ist gut dargestellt worden von: Arno Schubbach, Die Genese des Symbolischen. Zu den Anfängen von Ernst Cassirers Kulturphilosophie (Hamburg: Meiner, 2016). Ernst Cassirer, Phänomenologie der Wahrnehmung (Hamburg: Meiner, 2020). Ernst Cassirer, Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929-1941. ECN 05. Herausgegeben von Rüdiger Kramme. (Hamburg: Meiner, 2004), S. 88. Um nur einen Beleg für die Bedeutung, die Cassirer Goethe zumisst, zu geben, vgl.: Ernst Cassirer, Goethe-Vorlesungen. Der junge Goethe – Göteborg 1940-1941. Goethes geistige Leistung – Lund 1941. Mit Beilagen: Der junge Goethe, Goethe und die deutsche Sprache, Notizen über Goethe und die deutsche Sprache, Goethe und die Bibel, Brahm: Das deutsche Ritterdrama des 18.ten Jahrhunderts, Über Gellerts Lustspieltechnik. Hg. v. John Michael Krois, Ernst Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte. Band 11 ECN 11. (Hamburg: Meiner, 2003): „Ich war von jeher überzeugt [...], daß Goethe nicht nur in der allgemeinen Geistes- und Bildungsgeschichte, sondern auch in der Philosophiegeschichte des 18ten Jahrhunderts ein hervorragender Platz gebührt. Ich empfand es stets als eine Lücke in unserer traditionellen Darstellung der Geschichte der neueren Philosophie, daß sie an Goethe vorüberzugehen oder ihn nur kurz zu erwähnen pflegt. Meiner Ansicht nach gehört in jede Darstellung des Entwicklungsganges der Philosophie des 18ten Jahrhunderts nicht nur ein Kant-Capitel und ein Hegel-Capitel, sondern auch ein eigenes Goethe-Capitel.“ Vgl. dazu: Barbara Naumann und Birgit Recki (Hrsg.), Cassirer und Goethe. Neue Aspekte einer philosophisch-literarischen Wahlverwandtschaft (Berlin/Boston: Akademie Verlag, 2002). Ernst Cassirer, Idee und Gestalt (Darmstadt: WBG, 19242/1971), S. 75. Die Grundlagen dafür sind gelegt durch die Arbeit von Kirstin Zeyer, Cusanus in Marburg, 2015. Ernst Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance (Darmstadt: WBG, 1927/1994), S. 10. Vgl. auch: Kirstin Zeyer, „‚Willst du ins Unendliche schreiten, Geh im Endlichen nach allen Seiten‘“ – Ernst Cassirers Cusanus-Rezeption mit Blick auf den Subjektbegriff“, in Harald
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Schwaetzer und Marie-Anne Vannier (Hrsg.), Zum Subjektbegriff bei Meister Eckhart und Nikolaus von Kues (Münster: Aschendorff, 2011), S. 123-146. Leider liegen vergleichende Arbeiten zu Barth und Cassirer nach meinem Kenntnisstand gegenwärtig noch nicht vor. Für ein Verständnis des 20. Jahrhunderts und seiner produktiven Erweiterung des Wissenschaftsbegriffs schiene mir eine solche vergleichende Betrachtung sehr produktiv. Mit Blick auf die Cusanus-Rezeption bei Barth vgl.: Kirstin Zeyer, „‚Das Universum der Erscheinungen entfällt‘ – Heinrich Barth über Cusanus und Descartes“, in Christian Graf und Harald Schwaetzer (Hrsg.) in Verb. mit Andreas Siemens, Existentielle Wahrheit. Heinrich Barths Philosophie im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, Kunst und christlichem Glauben (Regensburg: S. Roderer, 2010), S. 187-200. Ferner: Harald Schwaetzer, „Cusanus als Existenzphilosoph?“ in Bulletin der Heinrich Barth-Gesellschaft 20 (2016), S. 5-19. Die Vorlesung wird demnächst erscheinen; die Edition von Stefan Kaiser und Sophie Asam liegt mir dankenswerterweise bereits vor. Ich zitiere im Folgenden gleichwohl nach der Barthschen Nummerierung der handschriftlichen Blätter, die auch der Edition beigegeben sein wird. Der Nachlass Heinrich Barths (in dem sich auch diese Vorlesung befindet) liegt im Archiv der Basler Universitätsbibliothek. Barth hat seine Vorlesungsmanuskripte gut vorbereitet für den Vortrag: Es finden sich darin differenzierte Formen der Betonungen, Unterstreichungen etc. Ich gebe diese Auszeichnungen in den folgenden Zitaten nicht wieder. Sie sind in der kritischen Ausgabe aber ausgewiesen. Auf diesen Charakter der Vorlesung aufmerksam gemacht hat mich Christian Graf; von ihm stammt auch das Wort ‚monistisch‘ in diesem Zusammenhange. Ihm gilt mein Dank für diesen Hinweis. Vorausgesetzt werden kann der Kontext der Barthschen Entwicklung von „Marburg“ zu einer Existenzphilosophie, insofern dieser für die folgenden Überlegungen systematisch nicht relevant ist und insofern dazu einiges an Arbeiten vorliegt. Grundlegend noch immer: Christian Graf, Ursprung und Krisis. Heinrich Barths existential-gnoseologischer Grundansatz in seiner Herausbildung und im Kontext neuerer Debatten (Basel: Schwabe, 2008). Zum Horizont des Barthschen Denkens im vorliegenden Problemkreis: Christian Graf und Harald Schwaetzer (Hrsg.): Existentielle Wahrheit. Heinrich Barths Philosophie im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, Kunst und christlichem Glauben. (Regensburg: Roderer, 2010). Christian Graf, Harald Schwaetzer (Hrsg.): Das Wirklichkeitsproblem in Transzendentalphilosophie und Metaphysik. Heinrich Barth im Kontext (Basel: Schwabe, 2014). Die folgenden Angaben in Klammern, ohne weiteren Verweis, beziehen sich auf die Seitenzahlen des Barthschen Vorlesungsmanuskriptes. Vgl.: Christian Graf, Johanna Hueck und Harald Schwaetzer, Philosophische Systematik an ihren Grenzen. Zu Heinrich Barths Philosophie (Regensburg: S. Roderer, 2019).
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22 Hier fügt Barth in späterer Überarbeitung noch als Randnotiz an: „Deren wissenschaftliche Geradheit i. Beflissenheit übrigens anzuerkennen!“ 23 Vgl. dazu auch: Heinrich Barth, Die Seele in der Philosophie Platons. Neu herausgegeben von Harald Schwaetzer und Kirstin Zeyer (Regensburg: S. Roderer, 2017). Und darinnen zur Rolle des Mythos: Harald Schwaetzer, „Philosophische Geistesentfaltung als Erkennen geistiger Beziehungen. Zum Philosophie- und Hermeneutikbegriff in Heinrich Barths PlatonBuch“, XXVII-LVII. 24 Vgl. zum neukantischen Kontext derartiger Überlegungen: Harald Schwaetzer / Christian Graf (Hrsg.), Das Wirklichkeitsproblem in Transzendentalphilosophie und Metaphysik. Heinrich Barth im Kontext (Basel: Schwabe, 2014). 25 Vgl. Heinrich Barth, Philosophie der theoretischen Erkenntnis. Epistemologie. Hrsg. v. Christian Graf, Alice Loos u. Harald Schwaetzer (Regensburg: S. Roderer, 2005/20122), S. 34-36. 26 Zu dieser Passage vgl. Heinrich Barth, Aesthetik. Herausgegeben von Christian Graf, Cornelia Müller und Harald Schwaetzer (Regensburg: S. Roderer, 2006/2016²), S. 82-84. 27 Ausdrücklich verweist Barth darauf, man dürfe Goethes Naturanschauung nicht mehr mit derjenigen der Romantiker verwechseln. Das sagt er sicher nicht ohne einen Funken Tumarkinschen Geistes. Vgl. von seiner Doktormutter Anna Tumarkin, Die romantische Weltanschauung (Bern: Paul Haupt, 1920). Barth und Tumarkin teilen sicher die Vorliebe für Novalis unter den Romantikern; gleichwohl bleibt für beide die Differenz zu Goethe in der Auffassung der Natur. Stichwort: „Mystifikation der Natur“ (47). 28 Der Begriff ist nicht einfach nur abwertend. Im Hintergrund steht sicher auch die Qualifikation, die sich bei Tumarkin findet, vgl. Anna Tumarkin, Prolegomena zu einer wissenschaftlichen Psychologie (Leipzig: Meiner, 1923), wo sie die Erklärung der Seelenphänomene, das Beschreiben von einem allgemeinen Begriff des Menschen aus und die vom individuellen Zweckzusammenhang abhängige Erfassung des einzelnen Individuums unterscheidet. Barths Formulierung geht hier auf die zweite der drei Stufen. 29 Zu Barths Stellung in der Psychologie und ihrem Methodenstreit nochmals der Verweis auf Tumarkin (die ihrerseits sich bei Dilthey habilitierte); neben dem bereits genannten Band der Prolegomena vgl. auch von derselben: Die Methoden der psychologischen Forschung (Leipzig: Teubner, 1929), mit drei Kapiteln zu erklärender (Seelenphänomene, naturwissenschaftlich), beschreibender (Gattung) und verstehender (Individuum) Psychologie. 30 Barth folgt hier den alten aristotelischen Stufen des Anorganischen, Organischen, Seelischen und Menschlichen; auch in seiner Theoretischen Erkenntnis hat er sie als vier Dimensionen der Vernunft beschrieben. Vgl. Harald Schwaetzer, „Die Mehrdimensionalität der Vernunft. Theoretische Erkenntnis als Profil der Existenz bei Heinrich Barth“, in Christian Graf / Stephan Grätzel / Harald Schwaetzer (Hrsg.), Existenz. Genese, Umfeld und Facetten eines zentralen Begriffs Heinrich Barths (Regensburg: S. Roderer, 2007), S. 67-87.
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31 Zur Frage und Bedeutung einer – recht verstandenen – Physiognomie in diesem Sinne vgl.: Helene Schaefermeyer, „Erkenntnis und Gemeinschaft – eine Relationsfrage“, in Johanna Hueck / Christian Graf (Hrsg.), Koexistenz. Ein Brennpunkt der Existenzphilosophie Heinrich Barths (Regensburg: S. Roderer, 2017), S. 83-97. 32 Vgl. oben die Endnoten zu Tumarkin. 33 Die Diskussion um die Einfühlungsfrage und das Fremdseelische übergehe ich an dieser Stelle. 34 Tumarkin, Prolegomena, S. 50f. 35 Die Diskussion mit Formen der objektivierenden Geschichtsschreibung, die Barth führt, werden an dieser Stelle übergangen. Eine solche bloße „Konstatierung“ ist für ihn vollkommen „unzulänglich“ (49f.). 36 Zur Verortung vgl. Kirstin Zeyer, Erkenntnistheorie im 20. Jahrhundert, 2004. 37 Vgl. Harald Schwaetzer, „Natur, Geist, Existenz – Horizonte einer Naturphilosophie. In Anlehnung an Georg Picht“, in Coincidentia. Zeitschrift für Europäische Geistesgeschichte 10 (2019), S. 337-362. Ferner. Ders., „Bildung als fragile Ordnung“, in Philosophisches Jahrbuch 127 (2020), S. 227-247. 38 Inigo Bocken, Die Kunst des Sammelns (Münster: Aschendorff, 2013). Ferner: Harald Schwaetzer, „Die Geburt der Naturphilosophie aus dem Geiste der Mystik. Zur Aktualität transzendentaler Konjekturalität für eine Philosophie im Anthropozän“, in Enrico Peroli / Marco Moschini (eds.), Why we need Cusanus? Warum wir Cusanus brauchen? (Münster: Aschendorff, 2022), S. 121-144. 39 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. 1. Hauptstück, § 1 (KSA 5,15). 40 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1979), S. 25.
Die Ambiguität empirischer Forschung und ihre Gefahren Rainer Baule1 „Folgt der Wissenschaft!“ ist ein in den letzten Jahren häufig vorgebrachter Slogan, insbesondere im Zusammenhang mit der Klimapolitik sowie der Corona-Politik.2 Als politische Botschaft darf und muss ein Slogan vereinfachen; sachliche Kritik an einer wortwörtlichen Interpretation ist hinlänglich geäußert worden. Insbesondere existiert nicht „die“ Wissenschaft, sondern eine Vielfalt an Disziplinen von Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften,3 und um aus wissenschaftlichen Erkenntnissen politische Schlussfolgerungen abzuleiten, bedarf es zuvor einer Einordnung in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge, unter Abwägung von legitimen Zielen auf Basis normativer Werturteile.4 Die Betonung der „Artenvielfalt“ der Wissenschaft macht deutlich, dass es in der Regel unterschiedlichste wissenschaftliche Herangehensweisen an eine Fragestellung gibt. Und natürlich herrscht auch innerhalb einer Disziplin verbreitet Dissens.5 Hingegen haben sich im Rahmen der Corona-Politik politische Entscheidungsträger wie auch kommentierende Journalisten zur Rechtfertigung grundrechtseinschränkender Maßnahmen oftmals auf vermeintlich eindeutige empirische Evidenz berufen, die jeweils nur eine Schlussfolgerung zulasse. In dem nachfolgenden Beitrag soll daher diskutiert werden, inwieweit empirische Wissenschaften typischerweise eindeutige oder aber ambivalente Resultate liefern. Eine solche Diskussion ist natürlich alles andere als neu und findet in den unterschiedlichsten Disziplinen statt.6 Das hier verfolgte Anliegen ist darin zu sehen, die Ambiguität empirischer Forschung vor dem Hintergrund einer Systematisierung von deren Ursachen in den Kontext des gesellschaftlichen Umgangs zu stellen.
I.
Empirische Erforschung empirischer Forschung
Im Jahr 2021 beteiligten sich 164 Teams renommierter Wissenschaftler an einem großangelegten finanzwirtschaftlichen Forschungsprojekt:7
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AMBIGUITÄT EMPIRISCHER FORSCHUNG UND IHRE GEFAHREN 153 Ausgestattet mit identischen Daten erhielten sie die Aufgabe, insgesamt sechs Forschungsfragen aus dem Bereich des Börsenhandels zu beantworten.8 Dabei analysierten sie durchschnittliche jährliche Trends verschiedener finanzwirtschaftlicher Größen, beispielsweise der prozentualen Handelskosten.9 Die Ergebnisse waren höchst bemerkenswert: Für fünf der sechs Fragen konnte mindestens ein Viertel aller Forschergruppen einen positiven Trend erkennen, während ein anderes Viertel einen negativen Trend konstatierte. Dabei war die Variation enorm und reichte von hohen zweistelligen prozentualen Steigerungsraten bis hin zu hohen zweistelligen Abschmelzungsraten – teilweise wurden sogar noch extremere Trends berichtet. Immer fanden sich Teams, die ihren jeweiligen Trend für statistisch signifikant hielten – so sahen etwa bei der Frage nach den Kundenkosten 15 Forschergruppen einen Rückgang der Kosten als „statistisch bewiesen“ an, acht Teams hingegen eine Kostensteigerung. Das Projekt reiht sich ein in einen seit kurzem aufblühenden Zweig der Meta-Forschung, den man als empirische Erforschung empirischer Forschung bezeichnen könnte. Die erste größere derartige Studie aus der Psychologie stammt aus dem Jahr 2018 und hatte zum Gegenstand, wie verschiedene Forschergruppen die Frage beantworteten, ob dunkelhäutige Fußballspieler eher mit Platzverweisen bedacht werden als weiße.10 Ein anderes Beispiel im Bereich der Soziologie untersucht auf der Metaebene, wie der Frage nachgegangen wird, welchen Einfluss Status und Geschlecht eines Wissenschaftlers auf die Wortwahl bzw. „Ausschweifigkeit“ in Gruppendiskussionen haben.11 Die Antworten und Ergebnisse der verschiedenen empirischen Forscher sind dabei ähnlich heterogen wie im eingangs genannten Beispiel. Gründe für Heterogenität empirischer Befunde werden weiter unten erörtert. An dieser Stelle sei eingeschoben, dass zunächst keinesfalls die empirischen Wissenschaftler oder gar die empirische Forschung an sich zu kritisieren sind. Es ist davon auszugehen, dass die beteiligten Forschergruppen profunde Methoden angewandt, sauber gearbeitet und die Ergebnisse nach bestem Wissen und Gewissen abgeleitet haben. Die heterogenen Resultate sind also nicht unbedingt auf methodische Fehler oder auf unzulässige Auswertungen zurückzuführen. Vielmehr gibt es in der Regel nicht das eine „richtige“ Verfahren, das einzig die korrekten Ergebnisse und Schlussfolgerungen liefert.
154 RAINER BAULE
II.
Fahrlässiger und vorsätzlicher Missbrauch
Wie ist nun mit dieser Ambiguität umzugehen? Bevor auf die Ebene der Wissenschaft bzw. der empirischen Forschung eingegangen wird, sind deren Konsequenzen und Gefahren auf gesellschaftlicher Ebene zu beleuchten. Wenn wissenschaftliche Erkenntnisse Eingang in gesellschaftliche Diskussionen und politische Entscheidungen finden, ist dies natürlich grundsätzlich zu begrüßen. Nur zu häufig ist allerdings festzustellen, dass sich politische Entscheidungsträger der Ambiguität empirischer Forschung entweder nicht bewusst sind oder aber diese gezielt für ihre jeweilige Agenda ausnutzen. Möglicherweise stößt eine Politikerin oder ein Journalist zufällig auf eine der acht eingangs erwähnten Studien, die gestiegene Kundenkosten im Börsenhandel „nachgewiesen“ haben. „Die Wissenschaft“ hat also festgestellt, dass Anleger im Laufe der Jahre immer mehr für Finanzdienstleistungen bezahlen müssen.12 Der voreilige Schluss wäre nun, diesen Zusammenhang medial auszubreiten und auf Basis vermeintlicher wissenschaftlicher Evidenz mehr Verbraucherschutz zu fordern. Ein solches Vorgehen wäre fahrlässig – wie dargelegt, gibt es etliche Studien mit Evidenz für einen gegenteiligen Trend und eine noch größere Mehrheit, die keine eindeutige Aussage trifft. Neben einem fahrlässigen Umgang mit empirischer Forschung ist aber auch ein vorsätzlicher Missbrauch denkbar: Politiker oder Journalisten suchen gezielt nach wissenschaftlichen Studien, die ihre ohnehin feststehende Agenda unterstützen und diese nun aus den Studien ableiten können. So würde eine Partei, die eine stärkere Regulierung des Börsenhandels in ihrem Programm stehen hat, problemlos wissenschaftliche Unterstützung finden: Offenbar gibt es verschiedene empirische Studien, die belegen, dass Anleger immer höheren Kosten ausgesetzt sind. Folgt man der wissenschaftlichen Evidenz, so die vorsätzlich falsche Schlussfolgerung, muss der Börsenhandel zugunsten der Verbraucher reguliert werden. Dieses Beispiel ist fiktiv. Die letzten Jahre haben hingegen im Zusammenhang mit der Corona-Politik unzählige Fälle gesehen, in denen sich Medien und Politik – ob fahrlässig oder vorsätzlich – auf vorgeblich eindeutige empirische Evidenz bezogen haben, während die Gesamtlage der Forschung tatsächlich ambivalent war. Ambivalenz bzw. Ambiguität empirischer Forschungsergebnisse kann verschiedene
AMBIGUITÄT EMPIRISCHER FORSCHUNG UND IHRE GEFAHREN 155 Ursachen haben, die im Weiteren systematisiert werden. Der Vollständigkeit halber ist zu erwähnen, dass es auch sehr prominente Fälle gab, in denen die Politik auf „die Wissenschaft“ Bezug nahm, ohne dass überhaupt eine Evidenz vorlag – etwa im Beschluss des „Winter-Lockdowns“ 2020/21, der am 8. Dezember 2020 in einem reinen Meinungspapier13 ohne nennenswerten wissenschaftlichen Gehalt von der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina gefordert und alsdann von der Bundesregierung unter expliziter Bezugnahme14 umgesetzt wurde. Hier folgte die Politik also nicht wissenschaftlicher Evidenz, sondern berief sich schlicht auf vermeintliche wissenschaftliche Autorität. Eine Erörterung derartiger Vorgänge liegt jedoch jenseits des Rahmens dieses Beitrags.
III. Gründe für Ambiguität Wie kommt es zu ambivalenten empirischen Erkenntnissen? Menkfeld et al. (2023, a. a. O) unterscheiden zwischen den zugrunde liegenden Daten einer Studie sowie der angewandten Methodik. Diesbezüglich identifizieren sie einen „data generation process“ sowie einen „evidence generation process“, die beide Ursache für Heterogenität in den Ergebnissen sein können. Ihre Untersuchung bezieht sich ausschließlich auf den zweiten Teil, also die Frage, mit welcher Methodik aus gegebenen Daten Erkenntnisse gewonnen werden. Implizit verknüpfen sie damit einen Punkt, der es wert ist, hervorgehoben zu werden: Ein wesentlicher Bestandteil der Methodik liegt darin, wie die originäre Fragestellung in eine zu überprüfende Hypothese übersetzt bzw. operationalisiert wird. So bezog sich in der eingangs erwähnten Meta-Studie beispielsweise eine der sechs Fragen auf die „Markteffizienz“ – wie aber diese genau zu messen ist, wurde von den beteiligten Forschergruppen unterschiedlich interpretiert. Der Aspekt der Operationalisierung einer originären, möglicherweise unscharf formulierten Fragestellung kann dabei auch Teil des Datengenerierungsprozesses sein, da in Abhängigkeit von der Hypothesenformulierung in der Regel unterschiedliche Daten zu erheben sind. Deswegen und um die Wichtigkeit zu betonen, sollte dieser Aspekt nicht der Evidenzgenerierung subsumiert werden, sondern explizit neben die beiden anderen gestellt werden. Insgesamt lassen sich so drei Ursachen für Heterogenität empirischer Ergebnisse identifizieren:
156 RAINER BAULE
die Operationalisierung der Fragestellung, die Auswahl und Erhebung der Daten sowie die Methodik der Datenauswertung.
Dabei sind diese Aspekte nicht zwingend unabhängig voneinander zu sehen. So hat die Operationalisierung der Fragestellung Einfluss auf die benötigten Daten und verwendeten Methoden, und die anwendbaren Methoden hängen wiederum von der Datenlage ab. Auf allen drei Ebenen ist zwischen zwei Arten der Heterogenität zu unterscheiden:15 Einerseits gibt es unsystematisches „Rauschen“ in den Ergebnissen – sie streuen um eine „wahre Antwort“, der sich prinzipiell durch geeignete Gewichtung der Einzelergebnisse genähert werden könnte. Die Abweichung durch die Wahl der Operationalisierung, der Daten oder der Methodik ist a priori zufällig. Andererseits gibt es systematische Verzerrungen. Das Ergebnis tendiert fälschlich in eine bestimmte Richtung – z. B. wird ein tatsächlicher Wert durch ein Studiendesign grundsätzlich überschätzt. Verzerrungen entstehen durch fehlerhafte Interpretation der Fragestellung, ungeeignete Daten oder unzulässige Methoden. Dabei ist es denkbar, dass Forscher solche Fehler und damit Ergebnisverzerrungen bewusst in Kauf nehmen (müssen), wenn beispielsweise keine besseren Daten zur Verfügung stehen. Wichtig wäre es dann natürlich, in ihren Arbeiten darauf hinzuweisen und die Richtung sowie das Ausmaß der Verzerrung abzuschätzen. Im Weiteren wird näher auf Rauschen und Verzerrungen auf den drei Ebenen Operationalisierung, Daten und Methodik eingegangen. Als Anwendungsfall dient die Fortführung einer weitreichenden „Maskenpflicht“, die der Deutsche Bundestag am 8. September 2022 unter Bezugnahme auf vermeintliche empirische Evidenz beschlossen hat.16
IV. Operationalisierung der Fragestellung Die erste Ursache für Ambiguität liegt wie skizziert in der Interpretation bzw. Übersetzung der untersuchten Fragestellung in empirisch überprüfbare Hypothesen. Anders formuliert liefern verschiedene Studien verschiedene Resultate, weil sie verschiedene Hypothesen untersucht haben – auch wenn die übergeordnete Fragestellung identisch war. So wurde die übergeordnete Fragestellung „Ist eine Masken-
AMBIGUITÄT EMPIRISCHER FORSCHUNG UND IHRE GEFAHREN 157 pflicht sinnvoll?“ häufig interpretiert im Sinne von „Reduziert eine Maskenpflicht die Ausbreitung des Coronavirus?“. Damit wird eine zunächst offene, potenziell multikriterielle und interdisziplinär angelegte Fragestellung verengt auf eine bestimmte, rein technische Teilfrage. Eine derart monofokale Sichtweise verkennt, dass die übergeordnete Fragestellung auch mögliche gesundheitsschädliche Auswirkungen umfasst, des Weiteren soziale und psychologische Dimensionen, und schließlich als Grundrechtseingriff auch von juristischer bzw. rechtsphilosophischer Seite betrachtet werden kann.17 Die Kritik ist hier zunächst nicht bei den Wissenschaftlern zu sehen; denn natürlich ist es legitim und sinnvoll, einen Aspekt der übergeordneten Fragestellung herauszugreifen und zu untersuchen. Problematisch wird es hingegen, wenn aus der Beantwortung des Teilaspekts eine Antwort auf die übergeordnete Fragestellung abgeleitet wird. Selbst wenn die empirische Evidenz eindeutig wäre, dass eine Maskenpflicht die Ausbreitung des Coronavirus reduziert, kann daraus nicht geschlussfolgert werden, dass eine Maskenpflicht sinnvoll ist – hierzu sind weitere Teilaspekte mit potenziell ambivalenter Evidenz zu berücksichtigen. Aber auch die nachgelagerte Fragestellung „Reduziert eine Maskenpflicht die Ausbreitung des Coronavirus?“ ist nicht eindeutig in der Interpretation. Einige Untersuchungen bezogen diese Frage auf die Schutzwirkung von Masken unter Laborbedingungen, andere auf das freiwillige Maskentragen. Wird die Frage „Infizieren sich Personen, die regelmäßig eine Maske tragen, seltener mit dem Coronavirus als solche, die das nicht tun?“ positiv beantwortet, ist das nicht gleichbedeutend mit einer Reduktionswirkung einer allgemeinen Maskenpflicht. Stattdessen könnte der gefundene Zusammenhang schlichtweg darauf basieren, dass maskentragende Personen grundsätzlich vorsichtiger sind und soziale Kontakte eher vermeiden. Es bleibt festzuhalten, dass die Interpretation bzw. Operationalisierung der Fragestellung einerseits zwangsläufig zu heterogenen Ergebnissen führen kann. Das ist dann der Fall, wenn verschiedene Aspekte der übergeordneten Frage berechtigterweise untersucht werden. Diese Form der Ambiguität ist unvermeidbar und kann als Rauschen verstanden werden. Andererseits ist es mitunter auch der Fall, dass eine Operationalisierung eine zielgerichtete Verzerrung der eigentlichen Frage darstellt. Hier ist wiederum zu unterscheiden zwischen vermeidbaren
158 RAINER BAULE Fehlern sowie unvermeidbaren Behelfslösungen. Vor erstmaliger Einführung einer Maskenpflicht gab es noch keine entsprechenden Daten, so dass eine empirische Studie zwangsläufig auf potenziell verzerrte Daten, etwa von freiwilligen Maskenträgern, zurückgreifen muss. Hierüber sollten sich aber die beteiligten Wissenschaftler im Klaren sein und auf entsprechende Limitationen explizit hinweisen.
V.
Auswahl und Erhebung der Daten
Der zweite Grund für Ambiguität ist in den verwendeten Daten von empirischen Studien zu sehen. Auch hier ist zwischen Rauschen und Verzerrungen zu unterscheiden. Wird dieselbe Frage mit derselben Methodik anhand eines anderen Datensatzes untersucht, so entsteht Rauschen in den Ergebnissen, wenn die Daten jeweils als rein zufällige Stichprobe gezogen werden. Verzerrte Ergebnisse entstehen hingegen potenziell immer dann, wenn die Daten keine zufällige (bzw. repräsentative) Stichprobe der relevanten Grundgesamtheit darstellen. Einfache Beispiele für Verzerrungen im Rahmen personenbezogener Untersuchungen sind etwa die ausschließliche (oder überwiegende) Betrachtung von Männern, älteren Personen oder ländlichen Bevölkerungsgruppen. Rauschen in den Ergebnissen ist unvermeidbar, da man in aller Regel auf Stichproben angewiesen ist und nicht die vollständige Grundgesamtheit untersuchen kann. Wiederholt man die Untersuchung mit anderen zufälligen Daten, so werden die Ergebnisse um den „wahren Wert“ streuen. Gleichwohl birgt auch eine zunächst zufällige Datenauswahl die Gefahr impliziter Verzerrungen. Bekannt ist etwa der Auswahleffekt: Wird eine a priori zufällige Stichprobe an Personen gebeten, an einer Meinungsumfrage teilzunehmen, so könnte die reine Teilnahme mit der eigenen Meinung korrelieren (man nimmt eher teil, wenn einem das Thema wichtig ist), so dass die Subgruppe der tatsächlichen Teilnehmer nicht mehr zufällig ist. Derartige und andere Quellen für Verzerrungen werden in jedem guten Einführungskurs in das empirische Arbeiten erörtert.18 Im Rahmen wissenschaftlicher Publikationen kommt ein weiterer Effekt hinzu, der in letzter Zeit vermehrt diskutiert wird: Akademische Zeitschriften sind eher geneigt, statistisch signifikante Ergebnisse zu veröffentlichen als insignifikante. Statistische Signifikanz ist dabei so zu verstehen, dass das Ergebnis – etwa die Wirksamkeit eines Medika-
AMBIGUITÄT EMPIRISCHER FORSCHUNG UND IHRE GEFAHREN 159 ments – „wahrscheinlich real“ ist und nur mit einer vernachlässigbaren Irrtumswahrscheinlichkeit (z. B. 5 %) auf reinem Zufall basiert. Wird nun aber dieselbe Studie 20-mal mit jeweils anderen zufällig ausgewählten Daten durchgeführt, so wird im Mittel eine darunter sein, die ein positives Ergebnis zeigt, das in 95 % der Fälle nicht zu sehen ist. Die Studienautoren würden ihr positives Ergebnis leichter veröffentlichen können, während die Autoren der 19 anderen Studien mangels Erfolgsaussicht zumeist gar keine Veröffentlichung ihrer insignifikanten Ergebnisse anstreben. So entsteht ein verzerrtes Bild von vermeintlich signifikanten Ergebnissen, die aber gar nicht real sind, sondern auf dem Auswahlprozess der Zeitschriften basieren. Dieser „PublicationBias“ ist Gegenstand intensiver Diskussionen in verschiedenen Disziplinen.19 Neben derartigen Verzerrungen auf der Meta-Ebene können die einer Studie zugrunde liegenden Daten aber auch eine inhärente Verzerrung in Bezug auf die zu beantwortende Fragestellung aufweisen. Ein Beispiel sind wiederum die seitens der Bundesregierung (o. V. 2022, a. a. O.) herangezogenen Studien zur vermeintlich wissenschaftlichen Begründung einer Maskenpflicht. Sämtliche dieser Studien verwenden Daten aus einer frühen Phase der Pandemie im Jahr 2020. Da im Herbst 2022 die pandemische Lage mit den vorherrschenden Omikron-Varianten des Corona-Virus eine gänzlich andere war, stellt die unreflektierte Übertragung von Erkenntnissen mit veralteten Daten eine mögliche Quelle der Ergebnisverzerrung dar.20
VI. Methodik der Datenauswertung Schließlich kann die Methodik empirischer Studien Ursache für Ambiguität in den Ergebnissen sein. Im eingangs zitierten Projekt identifizieren die Koordinatoren (Menkfeld et al. 2023, a. a. O) verschiedene Gründe für die Abweichungen. Hierzu zählen unter anderem die Datenbereinigung (Identifikation von und Umgang mit „Ausreißern“, also extremen Werten), die Auswertungsfrequenz (die von täglichen über monatliche bis hin zu jährlichen Daten reichte) oder die Modellwahl (z. B. lineares oder nicht-lineares Modell). Hierbei handelt es sich um Rauschen im Sinne der in diesem Beitrag verwendeten Definition, im Gegensatz zu Verzerrungen durch methodische Fehler. Häufig gibt es mehrere denkbare Verfahren, die a priori gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Ein Beispiel ist die Behandlung von Ausreißern. Han-
160 RAINER BAULE delt es sich bei extremen Daten womöglich um Datenfehler oder aber um reale Informationen? Sollte man zur Vermeidung von Unplausibilitäten die 1 % extremsten Datenpunkte weglassen oder verliert man dadurch wichtige Informationen? Und wenn ja, warum 1 % und nicht 0,1 % oder 5 %? Derartige Fragen scheinen auf den ersten Blick möglicherweise nur geringfügige Auswirkungen auf die Gesamtaussage einer Untersuchung zu haben. Dass dem mitnichten so ist, zeigen einfache reale Beispiele, wie sie etwa im Zusammenhang mit der Messung der Übersterblichkeit von Kuhbandner und Reitzner (2023) dargelegt werden.21 Auch im Zusammenhang mit den Maskenstudien hängen die Ergebnisse von der Methodik ab – so konnten Studienautoren mit einer univariaten Analyse einen Effekt nachweisen, mit einer multivariaten Analyse hingegen nicht.22 Methodische Verzerrungen entstehen durch nicht adäquate Verfahren. Ein Fehler wäre es beispielsweise, bei korrelierten Daten Tests für unabhängige Stichproben zu verwenden. Häufig liegen die Dinge jedoch komplexer und Fehlerquellen sind nicht offensichtlich. Mitunter unterlaufen auch guten Wissenschaftlern methodische Fehler. Idealtypisch sollten diese spätestens im Rahmen des Begutachtungsprozesses aufgedeckt werden.
VII. Konsequenzen für die Wissenschaft Was folgt aus dem Wissen um Ambiguität empirischer Forschung? Wie bereits ausgeführt, ist davon auszugehen, dass die überwiegende Mehrheit der empirischen Wissenschaftler sich dieser Problematik bewusst ist. Allerdings wird sie teilweise massiv unterschätzt: In der Untersuchung von Menkfeld et al. (2023, a. a. O.) wurden die teilnehmenden Projektteams auch nach ihrer Einschätzung hinsichtlich der Streuung der Ergebnisse ihrer Kollegen gefragt. Fast alle Projektgruppen gaben eine deutlich zu niedrige Heterogenität an; im Mittel lag die tatsächliche Standardabweichung der Ergebnisse um mehr als eine Größenordnung über der im Median geschätzten (also etwa 10% anstatt 1%). Hinsichtlich datenbezogener Probleme wird die Diskussion um Replizierbarkeit, Publication-Bias etc. an vielerlei Stellen extensiv geführt und soll an dieser Stelle nicht aufgegriffen werden.23 Methodische Probleme, so sie unsystematisch sind (also potenziell Rauschen verursachen), sollten von den an einer Studie beteiligten Wissenschaft-
AMBIGUITÄT EMPIRISCHER FORSCHUNG UND IHRE GEFAHREN 161 lern selbst erkannt und adressiert werden. Dementsprechend sind im Rahmen von Robustheitsanalysen verschiedene plausible Methoden zu verwenden (etwa hinsichtlich der Ausreißerbereinigung) und die Streuung der Ergebnisse in der Interpretation zu berücksichtigen.24 Wenn sich ein Effekt nur bei bestimmten Methoden zeigt, ist dessen reale Existenz anzuzweifeln. Methodische Fehler lassen sich durch sorgfältiges Arbeiten und regelmäßiges kollegiales Feedback – am eigenen Institut, auf Tagungen und Konferenzen und schließlich durch Gutachter der Zeitschriften – reduzieren. In Krisenzeiten sind hingegen möglichst schnelle Ergebnisse erwünscht, was einem monate- bis jahrelangen Erkenntnisprozess entgegenläuft. In diesem Spannungsfeld zeichnet sich ein Trend hin zu schnellen kleinteiligen und weg von sorgfältigen umfassenden Publikationen ab,25 der zumindest bedenklich ist. In Bezug auf die aus der Multidimensionalität übergeordneter Fragestellungen resultierende Heterogenität wäre es wünschenswert, wenn sich Wissenschaftler etwas mehr zurückhielten, gesellschaftliche oder politische Implikationen aus ihren Ergebnissen abzuleiten. Zwar mag es naheliegend und verlockend sein, der eigenen Forschung dadurch mehr Relevanz zu verleihen; aber wie dargelegt nehmen die allermeisten Einzelstudien eine monofokale Sichtweise ein, indem sie einen Teilaspekt einer typischerweise komplexen Thematik adressieren und operationalisieren. So wichtig derart gewonnene Erkenntnisse auch sein mögen, stellen sie im Lichte der übergeordneten Fragestellung doch in aller Regel nur Mosaiksteinchen dar, die zusammenzusetzen anderen obliegt. Während für die Interpretation des Mosaiks in Bezug auf politische Schlussfolgerungen wie eingangs erwähnt Abwägungen unterschiedlicher legitimer Zwecke notwendig sind, welche die Wissenschaft der Politik nicht abnehmen kann, können gleichwohl Hilfestellungen bei der Gesamtbetrachtung aus der Wissenschaft in Form von Meta-Studien kommen. Meta-Studien verfolgen das Ziel, die heterogenen Ergebnisse einzelner Studien zusammenzuführen und auf dieser Basis eine aggregierte Antwort auf eine Fragestellung zu geben. Dies ist einerseits sehr sinnvoll, können doch auf diese Weise unsystematische Streuungen (Rauschen) der Einzelergebnisse reduziert werden. Andererseits können systematische Verzerrungen gerade nicht behoben werden. Da die Methodik von Meta-Studien selbst ebenso der Ge-
162 RAINER BAULE fahr von Rauschen und Verzerrung ausgesetzt ist, sind die hiermit gewonnenen Erkenntnisse in der Regel nicht so aussagekräftig, wie sie teilweise selbst vorgeben zu sein.26
VIII. Rezeption empirischer Forschung in der Gesellschaft Weder einzelne empirische Studien noch Meta-Studien können daher eine umfassende Antwort auf gesellschaftliche Fragestellungen geben. Dessen ungeachtet kommt es immer wieder vor, dass selbst Politiker mit höheren akademischen Weihen nicht davor zurückschrecken, zweifelhafte Studien zur Flankierung ihrer Agenda heranzuziehen. Ein Beispiel im Zusammenhang mit der Fortführung der Maskenpflicht ist Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach, der am Tag ihres Erscheinens als ungeprüftes Arbeitspapier eine Meta-Studie mit gravierenden methodischen Mängeln ins Feld geführt hat, um auf Twitter unter zusätzlich falscher Wiedergabe des Papiers den Nutzen von Masken als „sehr groß“ und „unumstritten“ zu erklären.27 Das Papier wurde kurze Zeit später von renommierten Wissenschaftlern zur „Unstatistik des Monats“ gekürt.28 Aber nicht alle Verweise auf Meta-Studien sind derart plump. Wie weiter oben diskutiert, kann die Verzerrung auch außerhalb der Wissenschaft liegen, wenn eine in sich methodisch saubere Studie zur Beantwortung einer nicht dazu passenden Fragestellung herangezogen wird. So beruft sich die Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf vom Herbst 2022 auf eine Meta-Studie, die sich – ungeachtet methodischer Probleme der ihr zugrunde liegenden Einzelstudien – auf eine gänzlich andere pandemische Phase bezieht und daher zumindest die große Gefahr einer Verzerrung bei Anwendung auf eine neuere Phase birgt.29 Zudem wurde auch diese Meta-Studie in derselben Ausgabe der Zeitschrift, in der sie erschienen ist, kritisiert und die gefundene Evidenz als „low or very low“ eingestuft.30 Diese Kritik – unmittelbar unterhalb der Studie selbst platziert – kann dem Stab der Regierung nur bei vorsätzlicher Ignoranz entgangen sein und wird in dem Gesetzentwurf mit keiner Silbe erwähnt. Abschließend ist auf einen Umstand hinzuweisen, der in der gesellschaftlichen Rezeption empirischer Forschung häufig zu kurz kommt: Was heißt eigentlich, „es gibt empirische Evidenz“ für diesen
AMBIGUITÄT EMPIRISCHER FORSCHUNG UND IHRE GEFAHREN 163 oder jenen Effekt? Typischerweise wird in der Wissenschaft darunter verstanden, dass ein Effekt „statistisch signifikant“ ist, dass dessen Beobachtung also nicht auf reinem Zufall basiert. Über das Ausmaß des Effekts, die Effektstärke, wird damit noch keinerlei Aussage getroffen. Für die gesellschaftliche Relevanz ist aber insbesondere dieses Ausmaß von Bedeutung – es genügt nicht, dass ein Effekt existiert, er muss auch eine gewisse Mindestwirkung haben. In Bezug auf das Maskenbeispiel mag es möglicherweise zutreffen, dass das Tragen von Masken die individuelle Infektionsgefahr reduziert – wenn aber 100.000 Menschen einen Monat lang eine Maske tragen müssten, um eine Hospitalisierung zu verhindern, wäre die Effektstärke marginal und das AufwandNutzen-Verhältnis im Vergleich zu anderen Vorsichtsmaßnahmen (etwa im Straßenverkehr) völlig disproportional. In diese Überlegung spielt der bereits angesprochene Aspekt der monofokalen Zielsetzung hinein: Um eine politische Maßnahme umzusetzen, darf nicht nur ein einziges Ziel verfolgt werden, sondern es müssen Nebenwirkungen beachtet und eine gesamtheitliche Einordnung vorgenommen werden. Auch wenn beispielsweise einige Mediziner im Jahr 1998 der Ansicht waren, „Mäßiger Alkoholkonsum besitzt erwiesenermaßen einen positiven Effekt auf die Gesamtmortalität“31, wurde hieraus vernünftigerweise keine Alkoholpflicht abgeleitet. Hinzu kommt: In den Debatten der letzten Jahre ging es nicht um Tagespolitik, sondern um Grundrechtseinschränkungen, vor die die zumindest auf dem Papier hohen Hürden der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit zu stellen sind. Vor diesem Hintergrund erscheint es substanzlos, mit teilweise ausgeklügelten statistischen Verfahren einen Effekt zu suchen – sollte eine Maßnahme den letzten Test der Angemessenheit bestehen wollen, müsste die Evidenz für jedermann offensichtlich sein. Das Bundesverfassungsgericht sieht dies gleichwohl anders, wie etwa im Urteil über die Rechtmäßigkeit der einrichtungsbezogenen Impfpflicht deutlich wird. Dort heißt es: „Die insoweit vom Gesetzgeber ermächtigte Bundesregierung bündelt den für eine sachgerechte Bewältigung dieser Herausforderungen erforderlichen Sach- und Fachverstand.“32 Dies darf bezweifelt werden. Das Gericht ist hier – wie viele andere in den letzten Jahren – der Gefahr erlegen, vermeintliche wissenschaftliche Evidenz als Begründung für grundrechtseinschränkende
164 RAINER BAULE Politik zu sehen. Dabei war die Evidenz in der Regel alles andere als eindeutig – vielmehr wurden seitens der Politik gezielt Studien aus dem vielstimmigen Chor der Wissenschaft herausgepickt, die die gewünschte Tonlage trafen.
IX.
Fazit: Listen to the science – aber richtig!
Vor dem Hintergrund politischer Einflussnahme und wissenschaftlicher Rosinenpickerei ist freie, unabhängige Wissenschaft nötiger denn je. Ein „Follow the science!“ ist im Lichte der in diesem Beitrag skizzierten Ambivalenz dabei schlichtweg unmöglich, da dies ohne wissenschaftsfremd vorab festgelegte Richtung einer Irrfahrt gleichkäme. Aber ein „Listen to the science!“33 ist unbedingt zu begrüßen. Nur möge man bitte der ganzen Breite der Wissenschaft zuhören, nicht nur einzelnen Disziplinen, einzelnen Studien oder einzelnen Experten.
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Der Autor bedankt sich bei Klaus Kroy und Robert Obermaier für wertvolle Anregungen und Hinweise. Der Slogan wird häufig der schwedischen Klimaaktivistin Greta Thunberg zugeschrieben. Tatsächlich sagte sie während ihrer Rede vor der französischen Nationalversammlung am 23. Juli 2019 “listen to the science” sowie den von ihrer Bewegung später verwendeten Slogan “unite behind the science”; vgl. https://www.france24.com/en/20190723-live-swedish-ecolog ist-greta-thunberg-french-parliament. Vgl. z. B. Schneider, Peter: „Follow the science? Ein Plädoyer gegen wissenschaftsphilosophische Verdummung und für wissenschaftliche Artenvielfalt“, in Critica Diabolis 284 (Berlin: Edition Tiamat, 2020). Vgl. z. B. Rainer Baule et al.: „Kritischer Geist in der Krise. Zur Aufgabe von Wissenschaft“, in Forschung & Lehre 28 (8/2021), S. 648–649. Ein Beispiel aus der Volkswirtschaftslehre ist der Streit zwischen Keynesianismus und Monetarismus hinsichtlich staatlicher Wirtschaftspolitik; vgl. z. B. grundlegend Gregory N. Mankiw und Mark P. Taylor, Grundzüge der Volkswirtschaftslehre (Stuttgart: Schäffer-Poeschel, 8. Auflage 2021). Als zwei von vielen Beispielen seien genannt aus den Wirtschaftswissenschaften Jerome Geyer-Klingeberg, Markus Hang und Andreas Rathgeber, “Meta-analysis in finance research: opportunities, challenges, and contemporary applications”, in International Review of Financial Analysis 71 (10/2020), 101524; sowie aus der Medizin John Ioannidis, “The mass production of redundant, misleading, and conflicted systematic reviews and meta-analyses”, in The Milbank Quarterly 94 (3/2016), S. 485–514.
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Der wirtschafts- bzw. finanzwirtschaftliche Einschlag gewählter Beispiele ist ein bewusster dem akademischen Hintergrund des Autors geschuldeter Auswahleffekt. Albert J. Menkfeld et al., “Non-standard errors”. Erscheint in Journal of Finance. Preprint (2023) abrufbar unter https://papers.ssrn.com/sol3/paper s.cfm?abstract_id=3961574. Präziser formuliert ging es unter anderem um die Geld-Brief-Spanne, ferner um eher abstrakte Größen wie die Markteffizienz sowie um auch um konkretere Größen wie den Anteil an Markt- relativ zu Limit-Ordern. Datengrundlage waren von der Deutschen Börse AG bereitgestellte Handelsdaten von Eurostoxx-50-Futures im Zeitraum 2002 bis 2018 mit insgesamt 720 Millionen Datensätzen. Raphael Silberzahn et al., “Many analysts, one data set: making transparent how variations in analytic choices affect results, in Advances in Methods and Practices in Psychological Sciences 1 (9/2018), S. 337–356. Martin Schweinsberg, “Same data, different conclusions: radical dispersion in empirical results when independent analysts operationalize and test the same hypothesis”, in Organizational Behavior and Human Decision Processes 165 (7/2021), S. 228–249. Bei den untersuchten Daten handelte es sich fast ausschließlich um Börsenumsätze professioneller Marktteilnehmer. Insofern ist das konstruierte Beispiel lediglich angelehnt an die zitierte Studie von Menkfeld et al. (2023, a. a. O.). Vgl. Leopoldina Nationale Akademie der Wissenschaften, CoronavirusPandemie: Die Feiertage und den Jahreswechsel für einen harten Lockdown nutzen. 7. Ad-hoc-Stellungnahme, 08. Dezember 2020. Vgl. Bulletin der Bundesregierung Nr. 139-1: „Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel zum Haushaltsgesetz 2021 vor dem Deutschen Bundestag am 9. Dezember 2020 in Berlin“. Die damalige Bundeskanzlerin verwendet in ihrer Rede mehrfach die Bezeichnung „die Wissenschaft“ und setzt diese mit der Leopoldina gleich. Zur Unterscheidung zwischen Rauschen (“noise”) und Verzerrung (“bias”) im Kontext von Entscheidungen vgl. grundlegend Daniel Kahneman, Andrew M. Rosenfield, Linnea Gandhi und Tom Blaser: “Noise: How to overcome the high, hidden cost of inconsistent decision making”, in Harvard Business Review (10/2016), S. 36 – 43. Eine populärwissenschaftliche Übersicht und grundlegende Betrachtung beider Fehlerarten mit Schwerpunkt auf dem Rauschen geben Daniel Kahneman, Oliver Sibony und Cass R. Sunstein, Noise. Was unsere Entscheidungen verzerrt – und wie wir sie verbessern können (München: Siedler, 2020). Vgl. O. V. (2022): Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Schutzes der Bevölkerung und insbesondere vulnerabler Personengruppen vor COVID-19 – Formulierungshilfen für Änderungsanträge der Fraktionen der SPD, von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP – , online verfügbar unter https://www.bun desgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/Geset
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ze_und_Verordnungen/GuV/I/Formulierungshilfen_AendAntraege_C OVID-19-SchG.pdf [17.03.2023]. Zur Verengung gesellschaftlicher Ziele und Sichtweisen vgl. auch Rainer Baule, „Monofokalität. Warum Gesellschaften weiter denken müssen“, in Sandra Kostner und Tanya Lieske (Hrsg.), Pandemiepolitik. Freiheit unterm Rad? (Stuttgart: ibidem Verlag, 2022), S. 193–199. Vgl. als eines von vielen entsprechenden Lehrbüchern Nicola Döring und Jürgen Bortz, Forschungsmethoden und Evaluation in den Sozial- und Humanwissenschaften (Heidelberg: Springer, 5. Auflage 2016). Die erste Erwähnung des Effekts findet sich bereits in den 1950er Jahren, vgl. Theodore Sterling, “Publication decisions and their possible effects on inferences drawn from tests of significance – or vice versa“, in Journal of the American Statistical Association 54 (285/1959), S. 30–34. Vgl. zu dieser Thematik auch Boris Kotchoubeys Beitrag in diesem Band. Tatsächlich gibt es Erkenntnisse, die auf eine Abschwächung einer etwaigen Effektivität von Masken hindeuten; vgl. Roger Chou, Tracy Dana und Rebecca Jungbauer, “Update alert 8: masks for prevention of respiratory virus infections, including SARS-CoV-2, in health care and community settings”, in Annals of Internal Medicine 175 (9/2022), W108–W109. Der geneigte Leser mag einwenden, dass der Autor dieses Beitrags selbst der von ihm kritisierten Praxis verfällt, eine einzelne empirische Studie als Beleg für eine Aussage heranzuziehen. Der Einwand ist prinzipiell berechtigt, allerdings wird hier lediglich auf die Möglichkeit einer Verzerrung verwiesen. Vgl. Christof Kuhbandner und Matthias Reitzner, “Estimation of excess mortality in Germany during 2020 – 2022”, in Cureus 15 (5/2023), e39371. Vgl. Yu Wang et al., “Reduction of secondary transmission of SARS-CoV2 in households by face mask use, disinfection and social distancing: a cohort study in Beijing, China”, in BMJ Global Health 5 (5/2020), e002794. Vgl. etwa den wegweisenden Beitrag “Open Science Collaboration: Estimating the reproducibility of psychological science”, in Science 349 (6251/2015); sowie die Websites des Center for Open Science (www.cos.io) oder der Open Science Foundation (www.osf.io). Ein Beispiel hierfür ist die Studie von Kuhbandner und Reitzner (2023, a. a. O.), die verschiedene Methoden zur Berechnung erwarteter Sterberaten in ihre Analyse einbeziehen. So rühmt sich etwa die Verlagsgesellschaft MDPI einer Median-Zeit von Einreichung bis zu Publikation von fünf bis sechs Wochen; vgl. O. V.: 2022 Annual Report, March 2023, online verfügbar unter https://res.mdpi.com/ data/2022_web.pdf. Innerhalb dieser Frist findet die Begutachtung, typischerweise eine Revision und eine nochmalige Begutachtung statt. Ein sorgfältiger Begutachtungs- und Überarbeitungsprozess ist – auch nach Erfahrungen des Autors – innerhalb dieser Frist kaum möglich. Vgl. Ioannidis (2016), a. a. O. Vgl. https://twitter.com/Karl_Lauterbach/status/1553832826822344704? s=20&t=yZLoDJrNTlPBoeUnJckX_A [24.03.2023].
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28 Vgl. https://www.rwi-essen.de/presse/wissenschaftskommunikation/u nstatistik/detail/mega-studie-zum-maskentragen-hat-viele-maengel [24.03.2023]. 29 Vgl. Stella Talic et al., “Effectiveness of public health measures in reducing the incidence of covid-19, SARS-CoV-2 transmission, and covid-19 mortality: systematic review and meta-analysis”, in BMJ 375 (11/2021), S. 314 und e068302. 30 Vgl. Paul P. Glasziou, Susan Michie und Atle Fretheim, “Lack of good research is a pandemic tragedy” in BMJ 375 (11/2021), S. 314f. 31 Reinhold Kluthe und Rainer Thimmel, „Gesundheitliche Vorteile durch mäßigen Konsum alkoholischer Getränke?“, in Deutsches Ärzteblatt 95 (7/1998), A-355–359. 32 Bundesverfassungsgericht: Beschluss des Ersten Senats vom 27. April 2022, 1 BvR 2649/21, Rn. 1-281, 137. 33 Vgl. auch Fn. 2.
Krisen, Profit und Politik. Zur Politischen Ökonomie der Krise im Kapitalismus Robert Obermaier
I.
Einführung
Spätestens mit dem Aufkommen des Kapitalismus hat auch der Begriff der Krise selbst Konjunktur bekommen: Seine Verwendung erlebt Phasen des Auf- wie des Abschwungs; aber Krise scheint immer zu sein. Karl Marx wähnte noch, der Kapitalismus werde an seiner Krisenhaftigkeit, an seinen inneren Widersprüchen scheitern, während Joseph Schumpeter voraussagte, der Kapitalismus werde am eigenen Erfolg zugrunde und in eine sozialistische Planwirtschaft übergehen, die schließlich das Krisenproblem überwinden könne.1 So weit – so viel lässt sich zumindest sagen – ist es (noch) nicht gekommen. Unter Kapitalismus soll hier ein Wirtschaftssystem verstanden werden, das auf Privateigentum an den Produktionsmitteln beruht und die Entscheidungsautonomie über die Produktion bei den Kapitaleignern verortet. Nicht notwendigerweise beinhaltet Kapitalismus auch dezentrale Koordination von Tauschakten durch Preise und Wettbewerb auf Märkten; dies wäre eine kapitalistische Marktwirtschaft. Demgegenüber ist Kapitalismus auch unter staatswirtschaftlichen Strukturen und ebenso unter oligopolistischen oder monopolistischen Verhältnissen möglich; eine Marktwirtschaft hingegen nicht. Der vorliegende Beitrag geht daher lediglich von einer kapitalistischen Wirtschaft in einem demokratischen Ordnungsrahmen aus und befasst sich speziell mit dem Auftreten von Krisen und deren Bekämpfung mittels staatlicher Krisenpolitik. Die dabei zutage tretende enge Verzahnung von Politik und Ökonomie stellt den Kern der Betrachtung und zugleich das herauszuarbeitende Problem dar. Der ursprünglich aus dem Altgriechischen stammende Begriff der κρίσις meint einen Moment der Entscheidung; eine bedrohliche, sich zuspitzende Situation, deren Unsicherheit und Dringlichkeit nach Entscheidungen und Handlungen verlangt. Diese Bedeutung hat sich
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KRISEN, PROFIT UND POLITIK 169 im Deutschen bis heute erhalten, obwohl der Begriff erst im 16. Jahrhundert in die medizinische Wissenschaftssprache entlehnt wurde, zunächst zur Kennzeichnung des Wendepunkts einer Krankheit (zum Guten oder Schlechten), und von da schließlich im 18. Jahrhundert im heutigen Sinne zur Kennzeichnung schwieriger politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Lagen übertragen wurde.2 Und in ebenjener Bedeutung hat der Begriff seither auch eine ganz eigene Dynamik entwickelt. Dies mag zum einen an der Menge tatsächlich als krisenhaft angesehener (von wem?) Phänomene (welche?) und an deren Wahrnehmung (durch wen?) liegen;3 zum anderen aber auch an den universellen Verwendungsmöglichkeiten des Krisenbegriffs. Krisenzeiten zeichnen sich durch eine weit um sich greifende Verwendung des Krisenbegriffs aus (Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Hungerkrise, Klimakrise, Regierungskrise, Rentenkrise, Umweltkrise, Ukrainekrise, Wirtschaftskrise etc.), die keineswegs nur wertfrei, deskriptiv, sondern durchaus auch interessengeleitet, um Aufmerksamkeit heischend im Spannungsfeld von Akteuren aus Medien, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft stattfindet. Die Häufigkeit der Verwendung zieht dabei allerdings mit gewisser Regelmäßigkeit einen Bedeutungsverschleiß des Krisenbegriffs nach sich, der zu einer Entleerung des Krisenbegriffs und nach seinem „Wertverlust“ schließlich zu einem Rückgang seiner inflationären Verwendung führt, mithin also zur Krise des Krisenbegriffs; allerdings nur solange, bis sich ein neuer Krisenanlass findet, was im Ergebnis eine Permanenz der Krise mit konjunkturellem Verlauf, damit aber auch eine Krise des Krisenbegriffes, nach sich zieht. Und ganz zweifellos ist gerade das kapitalistische Zeitalter durch eine rasche Abfolge und Gleichzeitigkeit von Krisen (polycrisis) geprägt, deren Häufigkeit und Heftigkeit – wenn vielleicht auch nur im Auge der Zeitgenossen – zuzunehmen scheinen. Deren konkrete Unvorhersagbarkeit ist aber so gewiss wie die vage Gewissheit, dass die nächste Krise mit Bestimmtheit kommt, weswegen zu deren Vermeidung – so die zunehmend gezogene Schlussfolgerung – alles Menschenmögliche zu tun sei, um die Krisen zu bewältigen und die Welt in Zukunft endlich krisenfester zu machen. Damit wird der Zweck der Krise im kapitalistischen Zeitalter offenbar: Krisen sind dazu da, gelöst zu werden und zwar durch technischen Fortschritt, der seinerseits allerdings wieder Krisen auslösen
170 ROBERT OBERMAIER wird, da unabsehbar ist, welche Folgen aus dem Neuen erwachsen werden; ein Perpetuum Mobile des Fortschritts durch Krise und der Krise durch Fortschritt. Das Paradoxe an dieser fortschreitenden Dauerkrise ist, dass sie von einem schier unerschütterlichen Fortschrittsglauben begleitet wird, der aber den zentralen Antrieb der kapitalistischen Wachstumsdynamik ausmacht. Das ist zugleich die Grundthese des vorliegenden Beitrags, der darauf abzielt, das sich aus Krisen ergebende und zugleich Krisen erzeugende faustische Zusammenwirken insbesondere von Politik und Wirtschaft, mithin also die Politische Ökonomie der Krise, besser zu verstehen.
II.
Krisen im Kapitalismus
Als Wirtschaftskrise im engeren Sinne wird der Wendepunkt eines konjunkturellen Aufschwungs hin zum Abschwung bezeichnet; in der Regel mit der Einschränkung versehen, dass die Auswirkungen dieses Umschwungs mit einer gewissen Heftigkeit auf die Wirtschaftssubjekte trifft und sich in entsprechenden quantitativen Größen (Wachstumsraten der Produktion, Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts, Börsenkurse, Unternehmensinsolvenzen, Arbeitslose etc.) messen lässt. Im weiteren Sinne wird zur Krise aber regelmäßig auch die dem Umschwung folgende Depressionsphase gerechnet, die sich nicht nur durch eine längere Zeitspanne, sondern auch durch sich zuspitzende Entscheidungsnöte des Krisenmanagements auszeichnet, von dem eine Besserung erhofft wird.4 Während in der vorindustriellen Zeit Wirtschaftskrisen durch exogene Ereignisse wie z.B. Dürren, Überschwemmungen, Seuchen oder auch Kriege ausgelöst wurden und in der Folge meist zu erheblichen Hungersnöten oder anderen gravierenden ökonomischen Konsequenzen, z.B. Einkommensrückgängen oder Inflation führten, zeichnet sich im neunzehnten Jahrhundert mit dem Beginn der Industrialisierung ein neuer, endogener Krisentypus ab, der über technologisch bedingte Investitionen im Wirtschaftssystem und damit einhergehender Ungewissheit über die zukünftigen Erwartungen spekulatives Verhalten der Marktteilnehmer bei deren Finanzierung nach sich zieht (“waves of optimism and pessimism”5). Ungewissheit hat in der Ökonomie eine ganz besondere Bedeutung, auf die insbesondere Frank H. Knight hingewiesen hat. Sie besteht darin, die Unsicherheit, also den Zustand unvollkommener Infor-
KRISEN, PROFIT UND POLITIK 171 mation, der es nicht erlaubt, Handlungskonsequenzen derart genau vorherzusagen, dass nur ein Ergebnis die Folge ist, in die beiden Unterkategorien Risiko und Ungewissheit aufzuteilen.6 Von Risiko wird nach Knight dann gesprochen, wenn Angaben über die Eintrittswahrscheinlichkeiten entweder objektiv “either through calculation a priori or from statistics of past experience”7 oder zumindest vermittels subjektiver Wahrscheinlichkeitseinschätzungen (“estimates”) möglicher Ergebnisse von Alternativen gemacht werden können. Dies ist im Ungewissheitsfall gerade nicht möglich, womit eine bedeutsame epistemische Grenze zwischen Risiko und Ungewissheit gezogen wird, die zum einen zum Ausdruck bringen soll, dass man weiß, was man nicht weiß (“known unknowns”), und die zum anderen auch durch subjektive Überzeugungsgrade nicht überwunden werden kann. Ökonomisch fundamental ist diese Unterscheidung deshalb, weil nach Knight nur die Ungewissheitssituation den unternehmerischen Gewinn oder den Verlust ermöglicht, der im Risikofall, weil grundsätzlich versicherbar, theoretisch ausbleiben müsste. Damit sind Ungewissheitssituationen solche, die „echte“ Gewinnchancen in sich tragen, die explizit durch die Unternehmerfunktion eingegangen werden müssen, um Aussicht auf Realisierung zu haben (ohne aber die Quoten dieser Lotterie zu kennen). Der Gewinn stellt im Erfolgsfall die Entlohnung für die Übernahme dieses unternehmerischen Wagnisses dar.
III. Finanzialisierung der Realwirtschaft Die vorindustrielle Wirtschaft nach Karl Marx war eine stationäre Reproduktionswirtschaft, die zwar durch exogene Ursachen ausgelöste Agrarkrisen kannte. Sie war aber nicht durch konjunkturelle Wachstumszyklen geprägt, sondern allenfalls durch sich im Zeitablauf wiederholende Saisonzyklen. Erst mit dem Aufkommen der Industrialisierung änderte sich die Zyklik bzw. die Volatilität des Wirtschaftens. Denn eine durch Neuinvestitionen wachsende kapitalistische Wirtschaft ist durch in Länge und Stärke unbestimmte und damit ungewisse Zyklen von Auf- und Abschwüngen charakterisiert, die neben den exogenen Krisen zu entsprechend größerer Volatilität der wirtschaftlichen Verhältnisse führen können. Damit zusammen hängt ein weiteres Differenzierungsmerkmal: während die einfache Reproduktionswirtschaft nach dem Muster Ware-Geld-Ware (W-G-W) abläuft, um spezifische Warenbedürfnisse
172 ROBERT OBERMAIER durch die angebotenen Waren befriedigen zu können, ändert sich dies in der kapitalistischen Wirtschaft. Denn hier beginnt der Kapitalist als Investor mit Geld, wandelt es in Kapital im Sinne von Produktionsfaktoren um, die ein Produkt für den Markt hervorzubringen haben, wo es wieder in Geld umgewandelt wird. Dieser Prozess nach dem Muster G-K-G macht für den Investor dann keinen Sinn, wenn das G am Ende nicht größer als am Anfang ist. Daraus folgt, dass der Kapitalismus durch einen Prozess G-K-G‘ gekennzeichnet ist, bei dem G‘ größer als G sein soll. Dieser spezifische kapitalistische Transformationsprozess zieht damit die realwirtschaftliche Produktion auf die finanzwirtschaftliche Ebene des Geldes und kann daher als Finanzialisierung der Wirtschaft bezeichnet werden. Schon im 17. Jahrhundert hat die ökonomische Literatur ein entsprechendes Marktidyll für den ökonomischen Menschen geschaffen, auf den herab es Papierscheine regnen lässt, wie es in der wunderbaren Abbildung des Midas von James Gillray dargestellt wurde, der alles in Gold, nein, eben doch nur in Papiergeld verwandelt. Dabei nimmt das Kapital eine transzendente Form an, die von realen wirtschaftlichen Vorgängen abstrahiert, Reales in Finanzielles überführt und sich aus sich selbst heraus schafft. Auch die Zeit wird in diese Finanzialisierung integriert, indem das Kapital heute als Gegenwert des Morgen gilt: jedes (reale) Unternehmen wird nach dieser Lesart als eine (finanzielle) Investition gesehen, die künftige Zahlungsströme erwarten lässt und für die heute ein bestimmter Preis zu entrichten ist, der auf einem perfekt funktionierenden Kapitalmarkt dem Gegenwartswert der erwarteten Zahlungsströme entspricht.8 Ist der Kapitalmarkt imperfekt, kann es hingegen zu Abweichungen des Börsenpreises vom potentiellen Marktwert, mithin folglich zu lukrativen Spekulationsgeschäften (einschließlich der damit verbundenen Verlustgefahren), führen. Diese Finanzialisierung ist es damit aber auch, die das realwirtschaftliche Idyll des Marktes, wo sich Produzenten, Händler und Konsumenten treffen, Eier gegen Geld und Geld gegen Schuhe tauschen, der realen Sphäre entledigt. Der Markt wandelt sich zu einem reinen Finanzmarkt, auf dem Anteile von Schuhfabriken oder von Legebatterien ge- und verkauft werden können, deren Zweck dann nicht mehr das reale Ding, der Schuh, das Ei ist, sondern die Erwartungsänderung in Form steigender oder fallender Börsenkurse aufgrund der auf diesen Märkten vorherrschenden Ungewissheit.
KRISEN, PROFIT UND POLITIK 173 Die Finanzialisierung hat dabei nicht nur die Realwirtschaft aus ihrem Idyll gerissen. Auch die mit ihr befasste Betriebswirtschaftslehre war in ihrer frühen Konzeption eng eingewoben in dieses Idyll, das den produzierenden Betrieb zum Gegenstand hat, der sich in einem wettbewerblichen Umfeld zur Deckung von Konsumentenbedarfen müht; freilich nicht selbstlos, sondern zur Erzielung von Einkommen, Gewinn genannt, für den Unternehmer. Ursprünglich vereinte die Rolle des Unternehmers jene des Kapitaleigners (Eigenkapitalgeber) mit der die Verfügungsgewalt ausübenden Rolle eines Managers. Im Zuge der Entstehung von Großunternehmen löste sich diese Einheit zunehmend auf. Denn Fragen der Finanzierung spielten in diesem Idyll nur insoweit eine Rolle, als die Zahlungsfähigkeit über einen ausreichenden Kapitalfonds dauerhaft gesichert werden muss. Diesem realwirtschaftlichen Idyll entspricht ziemlich genau die von Erich Gutenberg9 in den 1950er Jahren konzipierte Betriebswirtschaftslehre mit den drei Bänden Produktion, Absatz und Finanzierung, das erst in den 1990er Jahren abgelöst wurde durch eine den Unternehmenswert ins Visier nehmende, d.h. am sog. Shareholder Value orientierte, Unternehmensführung.10 Denn die Finanzialisierung hat dieses trügerische Idyll der Realwirtschaft jäh auf die Bühne der Finanzwirtschaft gezerrt, auf der Unternehmen nichts anderes als Investitionsobjekte sind, durch erwartete Zahlungsströme repräsentiert, denen der Kapitalmarkt börsentäglich, im Grunde andauernd, einen Preis beimisst, der Investoren dann in Abhängigkeit von ihren Erwartungen zu Kauf- und Verkaufsentscheidungen über Unternehmensbeteiligungen veranlasst (und damit zusammenhängend etwaig möglicher Spekulationsgeschäfte auf unvollkommenen Märkten)11 und die Unternehmensführung faktisch zur Ausrichtung ihrer Entscheidungen auf die Interessen der Aktionäre verpflichtet. Dem voraus ging ein Wandel, der mit der Entstehung von Großunternehmen insbesondere in Form der Aktiengesellschaft eingeleitet wurde und mit der von Berle und Means beschriebenen Trennung von Eigentum und Verfügungsgewalt einherging.12 Dabei teilt sich die ursprüngliche Rolle des Eigentümerunternehmers in jene der Anteilseigner (Shareholder) und in jene der angestellten Manager auf. Vor allem bei zunehmender Streuung des Aktienbesitzes an einem Unternehmen (sog. Publikumsgesellschaft) gewinnen die Manager die faktische Ver-
174 ROBERT OBERMAIER fügungsmacht, ohne jedoch über das Eigentum an den Produktionsmitteln zu verfügen (“power without property”), das in den Händen zahlloser Aktionäre liegt und das Thorstein Veblen als “absentee ownership” bezeichnete.13 Diese Phase der Managerherrschaft wurde in der darauf aufbauenden betriebswirtschaftlichen Theorie durch einen Prinzipal-Agenten-Konflikt problematisiert, d.h. eines potentiellen Interessenkonflikts der Manager mit den Eigenkapitalgebern. Diese konnten sich nämlich nicht ohne weiteres darauf verlassen, dass ihr Kapital von jenen bestmöglich verwaltet wurde, da sich Aktionäre von Publikumsgesellschaften in einer Informationsasymmetrie gegenüber Managern befinden und nur schwer zu erwarten war, dass von diesen ohne weiteres “shareholder value for absent shareholders” geschaffen würde. Der Bedarf nach entsprechender Corporate Governance, die dafür Sorge tragen soll, dass die mit der Verfügungsgewalt beauftragten Manager auch im Interesse der sie beauftragenden Shareholder agieren, ist daher im Zeitverlauf eher gestiegen als gesunken. Auch in der Praxis der sog. Deutschland AG, jenen bis dato über Kreuz verflochtenen Großunternehmen, Banken und Versicherungen, die solange von Managern beherrscht waren, als diese sich durch Überkreuzbeteiligungen nur einer sehr mangelhaften Kontrolle gegenübersahen, standen die Aktionärsinteressen eher am Rande. Erst als Investoren über Kapitalbeteiligungen an Unternehmen Druck auf das Management ausüben konnten, entstand ein Markt für Unternehmenskontrolle (“market for corporate control”), der das Management zunehmend zwang, die Unternehmensführung an einer Steigerung des Unternehmenswertes (“shareholder value”) auszurichten. Für Deutschland ist dieser Phasenübergang verbunden mit der Auflösung der Deutschland AG, die in den 1990er Jahren mit einer Änderung von Eigentumsstrukturen und einer zunehmenden Kapitalmarktorientierung einherging. Die durch die Finanzialisierung auf den Kapitalmarkt gezerrten Unternehmen sehen sich dort allerdings nicht ihren Kapitalgebern, als vielmehr einem Phantasma, einem „Gespenst des Kapitals“ gegenüber.14 Denn die eigentlichen Shareholder bleiben für die Öffentlichkeit unsichtbar. Dennoch greift die unsichtbare Hand des Kapitalmarkts unaufhörlich zu oder stößt ab und wirft nur durch steigende oder fallende Börsenkurse einen Schatten. Dieses finanzielle Schattenbild ist
KRISEN, PROFIT UND POLITIK 175 ein die reale Sphäre der Unternehmen transzendierendes Abbild der unsichtbaren Hand und liefert in vagen Umrissen gegenwärtige Einschätzungen der künftigen Erfolgsaussichten von Unternehmen. So wirft die Finanzialisierung durch die erwartete Zukunft ihren finanziellen Schatten in die Gegenwart. Relativ neu ist in diesem Zusammenhang, dass an die Stelle der (individuellen) absentee shareholders über die Emission insbesondere von sog. Exchange-Traded Funds (ETF) in beachtlichem Ausmaß Kapitalverwaltungsgesellschaften als institutional shareholders getreten sind. Bei ETFs handelt es sich um börsengehandelte Investmentfonds, die zum Zwecke der Risikostreuung Aktienindizes abbilden und den Zeichnern dieser ETFs die Möglichkeit günstiger Investments in breit gestreute Portfolios ermöglichen. Im Gegensatz zum direkten Aktienerwerb schieben sich damit jedoch solche ETFs emittierenden Kapitalverwaltungsgesellschaften zwischen Anleger und Unternehmen und übernehmen – im Fall direkter Replikation – dabei die Rolle der Aktionäre (Shareholder) gegenüber den Unternehmen. Die Kapitalanleger erwerben hingegen lediglich Zertifikate der erworbenen Investmentfonds.15 Angesichts der enormen Kapitalzuflüsse in den vergangenen Jahren bündeln solche Kapitalverwaltungsgesellschaften in ganz erheblichem Ausmaß Eigentumsrechte führender Unternehmen ganzer Branchen. Hierdurch entsteht eine erhebliche Marktmacht und aufgrund der geringen Anzahl bei enormer Größe dieser Akteure ein regelrechtes Shareholder-Oligopol, von dem noch nicht geklärt ist, welche Konsequenzen daraus zu erwarten sind.16 Dieser neue Investorentyp bringt eine gemeinsame Eigentümerstruktur (“common ownership”) an Unternehmen mit sich, die die frühere „Macht der Banken“ abgelöst, aber seit der Finanzkrise 2008/09 paradoxerweise ähnliche Machtballungsphänomene erzeugt hat. In zunehmendem Maße legen empirische Studien nahe, dass solche institutionellen Investoren über ihre vernetzten gemeinsamen Eigentümerstrukturen auch tatsächlich Einfluss auf Unternehmen ausüben und ihr wettbewerbliches Verhalten untereinander zulasten der Konsumenten aber zugunsten der Aktionäre ausüben.17 Joseph Schumpeter sah im Aufkommen der Großkonzerne noch das Ende des Kapitalismus heraufziehen, weil im Großkonzern die Figur des Unternehmers zugunsten einer bürokratischen Hierarchie ver-
176 ROBERT OBERMAIER loren ginge.18 Dieses Ende ist nicht eingetreten. Wirtschaftshistorisch wandelte sich der ursprüngliche entrepreneurial capitalism hingegen zu einem managerial capitalism und dieser sich im Zuge der Finanzialisierung zu einem shareholder capitalism. War ursprünglich also der Eigentümerunternehmer „Herr im Haus“, wurden es später die Manager; letztlich aber wurde der Kapitalmarkt zum Souverän der (börsennotierten) Unternehmen. Dabei ist allerdings ein Kapitalismus entstanden, dem konstitutive Elemente einer Marktwirtschaft abhanden gekommen sind, und der stattdessen oligarchische Züge trägt, „in der Marktmacht und konzentrierte Eigentümerschaft, Informationsmacht und mediale Einflussnahme verschmelzen.“19
IV. Krisen und Krisentheorien des Kapitalismus Mit der Wachstumsdynamik und den Krisen des Kapitalismus hat sich früh Karl Marx beschäftigt. Aufbauend auf Ricardo steht für Marx der technische Fortschritt im Zentrum der kapitalistischen Dynamik, da in der Abschwungphase mit dem Einsatz von neuen Technologien (i.S.v. Rationalisierungsinnovationen) Arbeit durch Kapital ersetzt wird, um mehr Profit zu erzielen. Daraus folgt zwangsläufig ein Anstieg der Kapitalintensität sowie der Arbeitsproduktivität; allerdings auch – so Marx – ein tendenzieller Fall der Profitrate.20 Dies zwingt die Kapitalisten zur weiteren Produktionsausdehnung und Rationalisierung, was die Kapitalintensität weiter erhöht und den Kapitalstock neu bildet, aber das vorhandene Kapital zumindest in Teilen entwertet, die bis dato vorherrschenden Bedingungen stört und Produktions- und Absatzprozesse ins Stocken bringt.21 Diese Dynamik des Kapitalismus vollzieht sich nach Marx in sich verschärfenden Zyklen. Denn im Rahmen des von Marx als „Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate“ formulierten Zusammenhangs erzwingt der Einsatz von neuen Technologien den tendenziellen Fall der Profitrate durch steigenden Kapitaleinsatz, womit überdies eine Zunahme der Kapitalkonzentration sowie der Arbeitslosigkeit („industrielle Reservearmee“)22 verbunden sei, die die Klassengegensätze durch Verteilungsungerechtigkeit verschärfe und eine Verelendung der Massen aufgrund latenten Lohndrucks nach sich ziehe. Während die Analyse der Krisendynamik sowie die Berücksichtigung des technischen Fortschritts unbestreitbar ein Verdienst der Marxschen Krisentheorie ist, steht ihr empirisch jedoch entgegen, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten mit der
KRISEN, PROFIT UND POLITIK 177 Zunahme der Kapitalintensität zwar sehr wohl die Arbeitsproduktivität, nicht aber entsprechend die Arbeitslosigkeit erhöht, sondern sich stattdessen vielfältige Beschäftigungsmöglichkeiten in weiteren Sektoren ergeben haben. Der befürchteten Verelendung der Massen steht in den Industrieländern ein bis dato in der Wirtschaftsgeschichte nicht gekannter Einkommenszuwachs pro Kopf der Bevölkerung gegenüber. Dennoch hat die Marxsche Krisentheorie und vor allem deren apokalyptische Schlussfolgerung, der Kapitalismus werde an seiner immanenten Krisenanfälligkeit zugrunde gehen, da die zunehmenden Klassengegensätze zu einer Revolution führen und das kapitalistische System so letztlich zum Zusammenbruch bringen müssten, viel Aufmerksamkeit erfahren; vielleicht aufgrund der zweifellos zu beobachtenden Krisenzyklik, wobei nur das Ende des Kapitalismus noch (immer) nicht eingetreten ist.23 Arthur Spiethoff versuchte demgegenüber wirtschaftshistorisch fundiert einen „Musterkreislauf der wirtschaftlichen Wechsellagen“ zu beschreiben und gelangte zu einem Phasenzyklus der Konjunktur: 1. Niedergang, 2. Erster Anstieg, 3. Zweiter Anstieg, 4. Hochschwung, 5. Kapitalmangel und 6. Krise mit Zusammenbruch des Kredits und gehäuften Zahlungseinstellungen.24 Als Maßgröße für die jeweiligen Phasen fokussiert Spiethoff weniger die gesamtwirtschaftliche oder branchenspezifische Produktion als vielmehr ein Bündel von Indikatoren wie z.B. Preise, Börsenkurse, Umsätze, Zinssätze, Insolvenzen, Unternehmensgründungen oder Investitionen. Sehr wohl hob Spiethoff häufig als Krisenursache die Überproduktion hervor, die für ihn aber eher Folge vorhergehender spekulativer Investitionen war.25 Joseph Schumpeter greift Spiethoffs empirische Konzeption von Konjunkturzyklen auf, wendet aber gegen die einem Perpetuum Mobile ähnelnde Krisentheorie von Karl Marx ein, dass es nicht genüge zu sagen, es gäbe einen Aufschwung, weil es einen Abschwung gab und einen Abschwung, weil es einen Aufschwung gab. Zwar biete der Abschwung die Möglichkeit günstiger zu investieren als im Aufschwung, aber es fehle der Theorie doch die eigentliche Unternehmerfunktion. Denn während Marx den technischen Fortschritt exogen voraussetzt, macht ihn Schumpeter endogen an der „schöpferischen Zerstörung“ des Bestehenden durch den Unternehmer fest.26 Dadurch werden bislang erfolgreiche Produkte oder Verfahren verdrängt (mithin also zerstört) und durch Innovationen ersetzt, wozu zusätzlich ein Vorschuss
178 ROBERT OBERMAIER von Risikokapital erforderlich ist, um diese Innovationen überhaupt hervorbringen und am Markt durchsetzen zu können. Erst dadurch entstehen für erfolgreiche Innovatoren (und deren Investoren) Extragewinne, die andere Unternehmen „scharenweise“ zur Nachahmung bewegen und so einen Aufschwung auslösen können. In Erwartung dieser Extragewinne steigen die Investitionen, treten neue Unternehmen in den Wettbewerb ein, was jedoch die Gewinnmöglichkeiten im Wettbewerb erodieren lässt, bis der Grenzertrag den Grenzkosten entspricht und unrentable Unternehmen ausscheiden. Dabei geht Schumpeter nicht vom Erreichen eines (neoklassischen) Gleichgewichtsszustandes aus, sondern beschreibt den Aufschwung evolutorisch als eine (positive) Gleichgewichtsstörung mit sich überlappenden, aber per definitionem keinesfalls gleichförmigen Zyklen, die langfristig (Kondratjew-Zyklus) durch die Entwicklung von Schlüsseltechnologien, mittelfristig (Juglar-Zyklus) durch unternehmerische Innovationen und Investitionsphasen und kurzfristig (Kitchin-Zyklus) durch die betriebliche Produktions- und Absatzplanung, mithin also die Lagerhaltung, beeinflusst werden. Den Abschwung erklärt Joseph Schumpeter mit überschießenden und letztlich einbrechenden Erwartungen, d.h. einer Korrektur der übertriebenen Erwartungen der Unternehmer. Kennzeichnend für das Ende der Aufschwungphase ist die Überproduktion, die bei zunehmender Unverkäuflichkeit der Produkte zu Preissenkungen führen muss und zu Zahlungsunfähigkeit bei Unternehmen führen kann, wenn die Kostendeckung nicht mehr gewährleistet ist. Hiervon sind i.d.R. jüngere Unternehmen stärker betroffen als ältere; allerdings solange ältere Unternehmen höhere Liquiditätsreserven oder stabilere Finanzierungsbeziehungen aufweisen.27 Je kapitalintensiver die Produktion ist, umso stärker wiegt neben der Überproduktion die aufgrund überschießender Erwartungen auf frühere Investitionszyklen zurückzuführende Überkapazität, die jedoch nicht ohne weiteres zu reduzieren ist.28 Mit dem Aufkommen der Wertpapierbörsen zur Finanzierung unternehmerischer Vorhaben entstand ein neuer und bis heute für moderne Volkswirtschaften bedeutsamer Krisentypus: die Spekulationskrise. Ausgangspunkt sind meist zukunftsträchtige Innovationen, deren Geschäftsaussichten in Form von Wertpapieren, z.B. Aktien, gehandelt werden. Dies ermöglicht den Innovatoren Zugang zu benötigtem Kapital und den Investoren Aussicht auf künftige Gewinne, was
KRISEN, PROFIT UND POLITIK 179 sich bei günstig oder aussichtsreich erscheinenden Erwartungen zu maßlosen Überspekulationen steigern kann. Kritisch wird es jedenfalls, wenn der Handel mit diesen Zukunftsaussichten aber Renditen erwarten lässt, die das zugrundeliegende Geschäft voraussichtlich nicht erreichen kann. Solange der Glaube daran jedoch überwiegt, steigen die Kurse weiter; stockt das Vertrauen, ist die Krise da und die Kurse brechen ein, weil sich die Spekulanten möglichst schnell von den überbewerteten Wertpapieren trennen wollen. Zwar beginnen Spekulationskrisen im Finanzsystem, allerdings können sich die Konsequenzen bis weit in die Realwirtschaft ausdehnen. Eines der frühesten Zeugnisse für eine Spekulationskrise ist der holländische Tulpenschwindel von 1637. Später folgten in England die South Sea Bubbles und in Frankreich der Zusammenbruch der Mississippi-Gesellschaft und der Banque Royale.29 Im Zuge der Industrialisierung kam es zu regelrechten Gründerzeiten mit entsprechenden Spekulationskrisen: in der Mitte des 19. Jahrhunderts bei Eisenbahnund Montanindustrieaktien vor allem in den USA, aber auch nach einem regelrechten Gründungsfieber von Aktiengesellschaften in den Jahren 1870-73 in Deutschland, dessen Auswüchse in einem „Gründerkrach“ endeten; eine Entwicklung, die sich von Zeit zu Zeit wiederholt, wie beispielsweise 1929 – mit weltweiten Konsequenzen – ; oder auch gegen Ende der 1990er Jahre, als die Interneteuphorie zu zahlreichen Unternehmensgründungen und Börsengängen führte, von denen viele jedoch die in sie angesichts hoher Börsenkurse gesetzten Gewinnerwartungen nicht erfüllen konnten, was zu Beginn des Jahres 2000 einen heftigen Börsenkrach (Dotcom-Krise) auslöste. Für derartige Entwicklungen hatte John Maynard Keynes den treffenden Begriff des KasinoKapitalismus eingeführt: Speculators may do no harm as bubbles on a steady stream of enterprise. But the position is serious when enterprise becomes the bubble on a whirlpool of speculation. When the capital development of a country becomes a by-product of the activities of a casino, the job is likely to be ill-done. The measure of success attained by Wall Street, regarded as an institution of which the proper social purpose is to direct new investment into the most profitable channels in terms of future yield, cannot be claimed as one of the outstanding triumphs of laissez-faire capitalism.30
Neben den Wertpapierbörsen kam es für die Finanzierung des im Entstehen befindlichen Industriesystems und die Vorfinanzierung des
180 ROBERT OBERMAIER zunehmend internationalen Handels gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch zu einer wachsenden Inanspruchnahme des Bankensystems. Mit der hierfür notwendigen Zunahme des Einlagengeschäfts vergrößerten sich aber nicht nur die Geschäftsumfänge, sondern auch die Risiken im Bankensystem. Denn gerieten einzelne Banken durch riskante Kreditgeschäfte in Schwierigkeiten, löste das mitunter einen panikartigen Bankrun auf sämtliche Banken eines Landes und – als neuen Krisentypus – entsprechende Bankenkrisen aus.31 Das zugrundeliegende ökonomische Problem hatte schon Adam Smith erkannt. Denn schon er zweifelte, dass von Vorständen einer Kapitalgesellschaft, however, being the managers rather of other people’s money than of their own, it cannot well be expected, that they watch over it with the same anxious vigilance with which the partners in a private copartnery frequently watch over their own. Like the stewards of a rich man, they are apt to consider attention to small matters as not for their master’s honour, and very easily give themselves a dispensation from having it. Negligence and profusion, therefore, must always prevail, more or less, in the management of the affairs of such a company.32
Dieses „Anderer-Leute-Geld-Problem“ wird in der ökonomischen Prinzipal-Agenten-Theorie mit einer Informationsasymmetrie zwischen Beteiligten erklärt, die nicht den gleichen Informationsstand aufweisen. Denn der in einer Bank mit der Verwaltung der Einlagen von Kunden oder Aktionären (Prinzipal) beauftragte Manager (Agent) weiß annahmegemäß mehr über das mit der Kapitalverwendung verbundene Risiko als der Kapitalgeber. Es ist daher nicht nur naheliegend, sondern empirisch auch gut belegt, dass sich das Verhalten von Managern ändert, wenn sie über fremdes Geld anstatt über ihr eigenes entscheiden.33 Muss überdies der Manager nicht für die potentiell riskanten Folgen seines Handelns einstehen, weil dieses Risiko wie im Bankenfall von einer Gruppe von Kapitalgebern oder einem Kreditgeber der letzten Instanz (lender of last resort), der letztlich dafür einsteht, die Bank zu retten (bail out), ist mit einem moral hazard (moralisches Risiko) zu rechnen, d.h. mit einer Situation, die leichtfertiges (negligence) oder verschwenderisches (profusion) Handeln von Managern zulässt oder sogar fördert. Ein lender of last resort ist allerdings eine nicht per se existierende Instanz, sondern eine zu errichtende Institution, wie beispiels-
KRISEN, PROFIT UND POLITIK 181 wiese ein Staat oder eine Zentralbank. Die darin liegende Paradoxie ist, dass ein lender of last resort zwar die Stabilität des Finanzsystems erhöhen soll, indirekt aber dazu beiträgt, dass die einzelnen Akteure des Finanzsystems darauf spekulieren können, noch riskantere Geschäfte tätigen (gambling for resurrection) und somit die Instabilität des Gesamtsystems vergrößern.34 Hyman Minsky hat insbesondere aus dem Zusammenspiel des notwendigen Kapitalbedarfs zur Finanzierung von Investitionen mit den Finanzierungsquellen der Wertpapierbörsen und des Bankkredits ein generisches Modell einer Finanzkrise beschrieben, das von prozyklischen Veränderungen des Kreditangebots ausgeht, welches in Zeiten der Hochkonjunktur zu- und in Zeiten des Abschwungs abnimmt. Während der Expansionsphase blicken die Anleger optimistischer in die Zukunft und korrigieren ihre Profitabilitätseinschätzungen für ein breites Spektrum von Investitionen nach oben, so dass sie hierfür bereitwilliger Kredite aufnehmen. Minsky unterscheidet drei Arten von Kreditnehmern: Neben Schuldnern bester Bonität, die in der Lage sind, die Kreditzinsen zu zahlen und auch den Kredit zu tilgen, gibt es eine wachsende Zahl spekulativ eingestellter Schuldner, die wohl die Zinsen zahlen, aber schließlich ihre Kredite nicht werden tilgen können und damit auf eine stetige Refinanzierung ihrer Kredite angewiesen sind. Schließlich tritt eine dritte Art von Kreditnehmern auf, die jedoch zu arm sind, um auf ihre Kredite auch nur Zinsen zu zahlen. Sie bauen alleine auf erwartete Preissteigerungen der Vermögensgüter, die sie auf Kredit gekauft haben und aus deren teilweisem Verkauf sie hoffen, die Kredite bedienen zu können. Je mehr sich eine Verschiebung hin zur letzteren Schuldnerkategorie (Ponzi-Schuldner)35 einstellt, umso fragiler werden die Kredite. Solange der Boom aber anhält, sinkt gleichzeitig sowohl die Risikobewertung einzelner Investitionen als auch die Risikoaversion der Kreditgeber, so dass sie eher bereit sind, Kredite zu vergeben, auch für Investitionen, die ihnen zuvor riskant erschienen waren. Dies ergibt ein sich selbst befeuerndes System, das sich an seinen eigenen Erwartungen berauscht. Schwächen sich die wirtschaftlichen Bedingungen jedoch ab, werden die Anleger weniger optimistisch und zunehmend besorgter. Kommt es hingegen zu Ausfällen bei einzelnen Krediten, wirkt
182 ROBERT OBERMAIER das auf das gesamte System zurück, wodurch auch die Kreditgeber vorsichtiger werden müssen. Im Ergebnis führt die prozyklische Zunahme des Kreditangebots in guten Zeiten und der Rückgang des Kreditangebots in weniger guten wirtschaftlichen Zeiten zu Übertreibungen und damit zu einer immanenten Erhöhung der Krisenanfälligkeit finanzieller Beziehungen mithin also einer endogenen Instabilität des gesamten Finanzsystems.36 Als auslösendes Moment braucht es mithin nicht viel (MinskyMoment); auch kleine Ereignisse vermögen ein derart fragiles System zum Kollabieren zu bringen. Ein besonders markantes Beispiel hierfür liefert die Finanzkrise 2008/09, die ihren Anfang einige Jahre früher in einem spekulativ aufgeblähten Immobilienmarkt in den USA, insbesondere im SubprimeSegment nahm. Dort wurden Immobilienkredite an Käufer geringer Bonität vergeben und damit eine entsprechende Immobilienpreisblase erzeugt, wobei die kreditgewährenden Banken ihre Kreditrisiken zunehmend über verbriefte Wertpapiere (Asset Backed Securities) ausgelagert hatten. Nachdem Zahlungsausfälle im Subprime-Segment zunahmen, entstand ein Vertrauensverlust im Interbankengeschäft, da Wertverluste bei den mit Kreditrisiken behafteten Wertpapieren auftraten und diese nicht mehr zu denselben Konditionen refinanziert werden konnten. Als am 9. August 2007 die Zinsen für Interbankfinanzkredite sprunghaft anstiegen, begann eine Spirale von hastigen Wertpapierverkäufen mit weiteren Wertverlusten, die – als äußerer Höhepunkt der Krise – am 15. September 2008 zur Insolvenz von Lehman Brothers geführt hat, damals eine der größten US-amerikanischen Investmentbanken. In der Folge kam der weltweite Interbankenmarkt nahezu vollständig zum Erliegen. Den dargestellten Krisenformen ist gemein, dass sie systemimmanente, endogene Krisen des Kapitalismus darstellen. Durch die Finanzialisierung werden reale Wachstumsinvestitionen entdinglicht und als Wertpapier handelbar, die jedoch damit Gegenstand von Spekulationskrisen in verschiedenen Segmenten von Kapitalmärkten werden können. Durch überzogene Erwartungen können dann PonziSpiele entstehen, die das Risiko solange kumulieren, bis erste Zweifel in die Werthaltigkeit der Papiere entstehen und das System kollabieren lassen. Die Investorenkaskade ist den Anlegern dabei unbekannt, so dass einem Filmtitel entsprechend gilt: Die Letzten beißen die Hunde.
KRISEN, PROFIT UND POLITIK 183 Dadurch entstehen technisch gesprochen zwar „nur“ Vermögensverschiebungen, die jedoch – insbesondere wenn die Tragfähigkeit der Verluste begrenzt ist – massive realwirtschaftliche Auswirkungen haben können: die Finanzialisierung schlägt zurück; trifft aber die Falschen (jedenfalls nicht die Verursacher). Diese implizit die Vermögensverteilung ungerechter machende Wirkung verstärkt zugleich das moralische Risiko endogener Krisen des Kapitalismus; was bedeutet, Kapital aus der Krise schlagen zu können, die entstanden ist, weil überzogene Erwartungen korrigiert wurden, für die andere (die Verlierer) bezahlen müssen.
V.
Krise der Krisenpolitik. Krisenpolitik zwischen Markt und Staat
Welche verheerenden Folgen ein Zusammenspiel aus Börsen- und Bankenkrise nach sich ziehen können, lehrt besonders die Weltwirtschaftskrise von 1929 eindrucksvoll. Ein mehrjähriger teilweise kreditfinanzierter Aktienboom in den USA brach Ende Oktober 1929 mit einem jähen Absturz der Börsenkurse zusammen. Die Börsenpanik griff rasch um sich und führte zu einer gravierenden bis in das Jahr 1932 reichenden Depression, die jedoch ebenso rasch, insbesondere durch den Abzug von Auslandsgeldern, auf viele andere Länder übergriff. Dem Rückgang des Welthandels folgte ein bis dato nicht gekannter Rückgang der Produktion, soziales Elend und vor allem Massenarbeitslosigkeit bislang nicht gekannten Ausmaßes. Das wirtschaftspolitische Dogma der damaligen Zeit vertraute sehr auf die „Selbstheilungskräfte des Marktes“. So argumentierten die Anhänger der Neoklassischen Schule, in der Weltwirtschaftskrise müsse man hohe Arbeitslosigkeit in Kauf nehmen, damit es zu einer Selbstheilung mittels sinkender Löhne komme. Zudem hielt die damalige Haushaltspolitik am Etatausgleich fest, um mit dieser Parallelpolitik die Selbstheilungskräfte nicht zu stören; allerdings verschärfte sich durch die prozyklische Deflationspolitik die Lage erheblich.37 Hinzu kam, dass durch die vielfach kreditfinanzierten Aktienkäufe aber auch viele Banken in den USA in Zahlungsschwierigkeiten gerieten, was zu Bankruns und Bankzusammenbrüchen führte. Auch in Deutschland brachte der massenweise Abzug kurzfristiger ausländischer Kredite, durch den Ausgang der Reichstagswahl 1930 nochmals befeuert, das
184 ROBERT OBERMAIER Banksystem schließlich im Sommer 1931 zum vollständigen Zusammenbruch. Die Folge waren staatlich angeordnete Bankschließungen, Zwangsfusionen sowie die Verstaatlichung etlicher Großbanken, aber vor allem der massenweise Abzug ausländischen Kapitals mit verheerenden Folgen für die deutsche Wirtschaft.38 Nachdem der Glaube an die Selbstheilungskräfte des Marktes spätestens mit der Weltwirtschaftskrise von 1929 an Überzeugungskraft eingebüßt hatte, war das Ende einer liberalistischen Auffassung im Umgang mit Krisen eingeläutet. Die theoretische Kritik fand ihren stärksten Ausdruck in John Maynard Keynes‘ General Theory of Employment, Interest and Money, die allerdings erst 1936, nach der Weltwirtschaftskrise, veröffentlicht wurde. Keynes widersprach darin dem neoklassischen Dogma: In einer schweren Krise müsse der Staat als Nachfrager einspringen und dafür gegebenenfalls Schulden aufnehmen (deficit spending), die wieder abzubauen in der folgenden Aufschwungphase ausreichend sei; denn primär sei es, Vollbeschäftigung herzustellen, um aus dem Unterbeschäftigungsgleichgewicht herauszukommen; nachrangig sei der Staatshaushalt. Keynes selbst war dabei durchaus der Auffassung, dass nach Erreichen der Vollbeschäftigung wieder die neoklassischen Bedingungen gelten würden, weil dann nicht mehr die gesamtwirtschaftliche Nachfrage die Produktion begrenzt, sondern die vorhandenen Ressourcen an Arbeit und Kapital.39 Allerdings entwickelte sich der „Keynesianismus“ als neues wirtschaftspolitisches Dogma weitaus umfassender und Ideen einer makroökonomischen Globalsteuerung von Konjunkturen begannen sich in konkreten Maßnahmen niederzuschlagen.40 Deren Zweck war zwar der Ausgleich zyklischer Schwankungen; allerdings zeigte sich, dass viele Maßnahmen nicht oder verspätet wirkten und andere Parameter der Wirtschaft veränderten, so dass nicht nur Staatshaushalte ins Ungleichgewicht gerieten, sondern auch erforderlicher Strukturwandel möglicherweise gebremst oder verzerrt wurde, was erneute Krisen verursachen konnte. Und seit Mitte der 1970er Jahren mehrte sich auch die Kritik am Keynesianismus, als in den von Ölkrisen schwer getroffenen westlichen Industrieländern die staatlichen Konjunkturprogramme wirkungslos verpufften: während die Staatsverschuldung wuchs, stagnierte die Konjunktur, oft noch in Verbindung mit hoher Inflation (Stagflation).
KRISEN, PROFIT UND POLITIK 185 Die keynesianische Idee der makroökonomischen Globalsteuerung wurde seit den 1980er Jahren überwiegend verworfen, da mehr Ungleichgewichte entstehen, als beseitigt werden können – nicht zuletzt auch angesichts damit einhergehender wachsender Staatsverschuldung (financial overstretch). Nach der Ernüchterung über die Wirksamkeit keynesianischer Vorstellungen einer Globalsteuerung hielten stattdessen Ideen des Monetarismus und des Neoliberalismus Einzug, wonach Inflation über eine Steuerung der Geldmenge zu bekämpfen sei und der Staat allenfalls über Strukturpolitik und Investitionssteuerung Einfluss nehmen solle. Dennoch: die Politik war als Krisenmanager auf den Plan gerufen – und ist dabei geblieben. Allerdings gewann unter dem Dogma des Neoliberalismus die Idee eines bi-direktionalen polit-ökonomischen Krisenmanagements mittels funktionaler Differenzierung an Bedeutung, in dem das politische System Mittel zur Krisenbekämpfung an spezifische Akteure in das ökonomische System lenkt und umgekehrt das ökonomische System zur Refinanzierung beansprucht. Konkret nutzt das ökonomische System das politische System in Form von drei verschiedenen Grundtypen des staatlichen Krisenmanagements: 1) soweit hoheitliche Aufgaben (Sicherheit, Katastrophenschutz etc.) betroffen sind, greift der Staat mit eigenen Ressourcen direkt ein, 2) soweit die Funktionsfähigkeit des Finanzsystems gefährdet ist, greift der Staat institutionell oder strukturell regulierend ein, zusätzlich oder darüber hinaus greift der Staat 3) unmittelbar (lender of last resort) oder mittelbar finanziell unterstützend ein. Umgekehrt nutzt das politische System das ökonomische System zur Refinanzierung all dieser Leistungen der Krisenbekämpfung, indem es dieses fiskalisch beansprucht (Besteuerung), monetär flutet (quantitative easing) oder sich verschuldet (deficit spending). Endogene Krisen zeichnen sich regelmäßig dadurch aus, dass eine Gefährdung des Finanzsystems droht und dann der Staat oder die Zentralbanken unmittelbar im Finanzmarkt finanziell einspringen oder sich finanziell beteiligen (Typ 2 und 3). So veranlasste die Finanzkrise 2008/09 viele Regierungen dazu, die Existenz großer Finanzdienstleister (“too big to fail”) durch Kapitalerhöhungen und Rekapitalisierungen von enormer Größenordnung zu sichern. Nach dieser Lesart exogene Krisen, wie z.B. die Corona-Krise 2020-23, die Ukrainekrise oder auch die Klimakrise betreffen nicht die Funktionsfähigkeit des Finanzsystems. Relevante staatliche Krisenmaßnahmen sind dann
186 ROBERT OBERMAIER in der Regel Typ 1 und 3. Übergreifend von Bedeutung ist damit Typ 3; hier sind insbesondere Fälle mittelbarer finanzieller Unterstützung gemeint, bei denen der Staat einspringt, um privatwirtschaftliche Leistungen zur Krisenbekämpfung ganz oder teilweise zu finanzieren. Damit wird der Staat zentraler Akteur für privatwirtschaftliche Anbieter zur Krisenbekämpfung, privatisiert mittels funktionaler Differenzierung die Krisenlösung und fragt die zur politisch gewünschten Lösung passenden Produkte und Dienstleistungen auf dem Unternehmenssektor nach. Mit der Beteiligung des Staates an der Lösung von Krisen tritt damit eine selbstreferenzielle Phase der politischen Ökonomie des Krisenmanagements ein, in der über die endogenen Krisen hinaus auch exogene Krisen endogenisiert werden, indem der Staat sich zur Krisenbekämpfung entschließt, Budgets bereitstellt und Maßnahmen priorisiert, die dann vom privaten Sektor als Produkte oder Dienstleistungen zur Krisenbekämpfung angeboten, aber vom Staat nachgefragt werden. Während das Krisenmanagement endogener Krisen das kapitalistische Finanzsystem stabilisieren, mithin dessen Funktionsfähigkeit garantieren soll, führt das Krisenmanagement exogener Krisen einerseits zur Sozialisierung negativer externer Effekte des kapitalistischen Systems, d.h. zu deren Endogensierung, und andererseits durch Inanspruchnahme des kapitalistischen Systems bei der Krisenlösung zu einem Geschäftsmodell, das allerdings in der Regel nicht wettbewerblich auf einem Markt um Kunden, sondern über staatliche Budgets unter Heranziehung von Akteuren meist aus oligopolistisch strukturierten Branchen organisiert wird.
VI. Theorie der Politischen Ökonomie Die Analyse von Wirtschaftskrisen und dem sie begleitenden Krisenmanagement durch die Politik zeigt auf, dass dieses Regierungshandeln in ein Gesellschaftssystem eingebettet ist, das keineswegs durch eine Dichotomie des Politischen auf der einen und des Ökonomischen auf der anderen Seite gekennzeichnet ist, sondern durch Markt und Staat bedingt ist. Dieses elementare Scharnier zwischen Markt und Staat heißt Politische Ökonomie und ist mit der Entstehung moderner Staatlichkeit insbesondere des 18. Jahrhunderts untrennbar verbunden. Während deren Ursprünge bis zum Merkantilismus zurückreichen, zählen sowohl der klassische ökonomische Liberalismus nach
KRISEN, PROFIT UND POLITIK 187 Adam Smith als auch die Kritik der Politischen Ökonomie von Karl Marx zu ihren Grundpfeilern. Neuere Arbeiten zur Politischen Ökonomie befassen sich intensiv mit dem Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie, um mittels ökonomischer Analyse der Politik sowie der sie tragenden Institutionen die „gegenseitige Abhängigkeit von Wirtschaft und Politik [zu] erklären“41. Zwei wesentliche Forschungsrichtungen lassen sich dabei ausmachen: der Comparative Institutional Approach und die Public Choice Theory.
Comparative Institutional Approach Im Comparative Institutional Approach, der gegenwärtig wohl vorherrschenden Forschungsrichtung, wird das Korrespondenzverhältnis von Markt und Staat und die Herausbildung konkreter Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen untersucht; insbesondere, wie spezifische Institutionen, Gesetze, Regelungen und politische Rahmenbedingungen die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, die Verteilung von Ressourcen und andere sozioökonomische Ergebnisse beeinflussen. Als bahnbrechend gelten die Arbeiten von Douglass C. North, der sehr früh auf die Wechselwirkungen von Institutionen, gesellschaftlichem Wandel und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit hingewiesen hatte und die elementare Funktion institutioneller Arrangements für die wirtschaftliche Entwicklung betont.42 Eine zentrale These ist, dass in offenen Gesellschaften ökonomische und politische Liberalisierung solange Hand in Hand gehen, bis sich eine double balance, d.h. eine Balance aus politischer und wirtschaftlicher Macht gebildet und in Institutionen niedergeschlagen hat, und so eine konkrete Wirtschaftsordnung entsteht.43 Umgekehrt kann daraus gefolgert werden, dass offene Gesellschaften zwei ineinandergreifende Gleichgewichte gleichzeitig aufrechterhalten müssen, nämlich zum einen die Verteilung von Macht und politischer Einflussnahme auf verschiedene politische, wirtschaftliche und soziale Akteure und zum anderen ein Gleichgewicht zwischen den Rechten und Freiheiten der Individuen, wodurch ein stabiles Umfeld für wirtschaftliche Aktivitäten und soziale Interaktionen geschaffen wird. Eine solche doppelte Balance verhindert damit die Konzentration von Macht in den Händen weniger, d.h. dass einzelne Akteure die Kontrolle über die Institutionen übernehmen und die Rechte und Interessen anderer unterdrücken, was die Wahrscheinlichkeit von Missbrauch und Tyrannei verringert und stellt
188 ROBERT OBERMAIER sicher, dass individuelle Rechte, Eigentumsrechte und Vertragsfreiheit geschützt sind. Auch Daron Acemoğlu und James A. Robinson führen die Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung von Ländern auf Institutionen und politische Rahmenbedingungen zurück. Sie argumentieren, dass inklusive Institutionen, die eine breite Beteiligung und Schutz von Rechten ermöglichen, zu mehr wirtschaftlichem Erfolg führen, während exkludierende (extractive) Institutionen, die die breite Masse ausschließen und die Macht konzentrieren, eher das Wachstum hemmen.44 Die Schlussfolgerung lautet, dass für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Übergang von Gesellschaftsordnungen mit beschränktem Zugang hin zu offenen Gesellschaftsordnungen unerlässlich sei. Denn seien in Gesellschaften Institutionen und Regeln etabliert, um einen fairen Wettbewerb zu fördern und sicherzustellen, dass individuelle und kollektive Interaktionen auf geordnete Weise stattfänden, lägen auch bessere Voraussetzungen vor, um wirtschaftliches Wachstum zu fördern und individuelle Rechte zu schützen. Diese eher optimistische Sichtweise sieht ökonomische Institutionen durch die Politik determiniert, was tendenziell zu der Schlussfolgerung führt, dass sich in demokratischen Gesellschaften „bessere“ ökonomische Institutionen herausbildeten, als in nicht oder weniger demokratischen. Eine solche Theorie eines politischen Determinismus ist freilich nur eingeschränkt durch historische Belege untermauert. So gilt sie für die Entwicklung beispielsweise des Kapitalismus in Deutschland kaum, da das nur beschränkt demokratisch verfasste Kaiserreich über weite Strecken ökonomisch außerordentlich erfolgreich war, was die führende Rolle Deutschlands in der industriellen Entwicklung bis heute maßgeblich mitbestimmt.45 Nicht zuletzt der Aufstieg Chinas aber auch anderer Länder könnte die Theorie ins Wanken bringen. Gerade autoritäre Regime können über exkludierende Institutionen ihre Machtposition stärken und ausbauen. Denn Unternehmen, die mit der Staatsführung kollaborieren, erhalten Vorteile; wer sich ihr in den Weg stellt, wird eliminiert. Diesem kritischen Einwand halten Acemoğlu und Robinson zwar die Erwartung entgegen, dass Wachstum unter extraktiven politischen Institutionen, wie in China, nicht nachhaltig sein werde, weshalb früher oder später mit einem Rückgang zu rechnen sei. Nicht zu erwarten sei hingegen, dass autoritäres Wachstum zu demokratischen Institutionen führen würde, wie es die
KRISEN, PROFIT UND POLITIK 189 sog. Modernisierungstheorie, eine noch optimistischere Sichtweise, propagiert („Wandel durch Handel“). Insgesamt bleibt dabei unterbelichtet, dass die double balance von politischer und wirtschaftlicher Macht zwar eine bedeutende, aber eben auch sehr anspruchsvolle Voraussetzung für ausgeglichene und stabile Institutionen ist, in denen Macht nicht missbraucht wird und individuelle Rechte respektiert werden; kurzum, dass liberale Gesellschaftsordnungen funktionieren und ihre Institutionen effektiv zur Lösung von Konflikten, zur Förderung von Wohlstand und zur Verhinderung von gewaltsamen Konfrontationen beitragen, die aufrechtzuerhalten eine keineswegs triviale Aufgabe darstellt, sondern eben auch ein Grund dafür sein kann, „warum Nationen scheitern“46. Denn ebenso müssen sich konkrete Institutionen, deren verfolgte Zwecke und deren Handeln stets der prüfenden Frage stellen, ob sie nicht vielmehr zum Ausdruck bringen, aus welcher imbalance von Macht und Interessen sie heraus entstanden sind; welche Interessen also bei der Aushandlung obsiegten. Diese Frage geht freilich auch über den nationalen Zusammenhang hinaus und gewinnt gerade im internationalen bzw. supranationalen Kontext eine ganz herausragende Bedeutung, wie nämlich eine double balance bei der Etablierung internationaler Institutionen (Vereinte Nationen, Europäische Zentralbank, World Health Organization, World Trade Organization oder das Intergovernmental Panel on Climate Change und viele andere mehr) erreicht, festund sichergestellt werden kann.47 Gerade supranationale Institutionen sind fragil und stabil zugleich: Fragil, als sie – insbesondere bei deren Herausbildung – Interessen und Einflüssen ausgesetzt sind, für die im supranationalen Raum vergleichsweise weniger prozedurale oder gar gesetzliche Regeln Schutz gewähren, aber eben auch stabil, als eine einmal gefundene, konkrete Ausprägung solcher Institutionen aus denselben Gründen nurmehr schwer zu verändern sein werden. Schließlich ist kritisch anzumerken, dass die double balance eine auf nur zwei Machtdimensionen abstellende Betrachtung ist. Unter Rückgriff auf Michael Manns Machtkonzeption können hingegen politische, ökonomische, ideologische und militärische Machtdimensionen unterschieden werden.48 Diese – zumal im supranationalen Kontext – alle im Gleichgewicht zu halten ist eine noch komplexere Aufgabe, die die Erwartung an die realiter möglichen bzw. zu erwartenden Ergebnisse doch erheblich eintrübt.
190 ROBERT OBERMAIER Public Choice Theory In der Public Choice Theory, einer der Politik und der von ihr mitbestimmten Institutionen gegenüber deutlich skeptischeren Forschungsrichtung, wird vor allem die problematische ökonomische Eigenlogik der Politik und der daraus resultierende potentielle Konflikt zwischen Ökonomie und Politik untersucht; insbesondere was Arbeitsweise und zu erwartende Ergebnisse politisch determinierter Institutionen betrifft. Wie im Folgenden zu zeigen ist, wird aufgrund der vorliegenden Ergebnisse der verschiedenen Forschungsstränge der Public Choice Theory die gegenüber dem Comparative Institutional Approach vorgebrachte Kritik, nämlich die erheblichen Herausforderungen einer double balance nicht hinreichend zu würdigen, noch weiter untermauert. Dadurch wird nicht notwendigerweise eine Distanz zu bestehenden demokratischen Ordnungen ausgedrückt, als vielmehr an die Fragilität demokratischer Ordnungen erinnert und daran, wie demokratische Ordnungen durch Interessenkollusion am Scharnier von Wirtschaft und Politik Schaden nehmen können. Die dadurch ausgedrückte Skepsis zielt daher nicht auf eine Überwindung demokratischer Ordnungen, sondern vielmehr auf eine Analyse ihrer prozeduralen und institutionellen Schwachstellen, um einerseits suboptimale Entscheidungen erklären und zum anderen demokratische Institutionen und ihre prozeduralen Abläufe verbessern zu können. Womöglich wird hierdurch aber nicht nur ein Erklärungsbeitrag dafür geliefert, weshalb derzeit etliche vermeintlich stabile Demokratien bei ihren Bürgern an Überzeugungskraft (nicht nur) hinsichtlich ihrer Krisenpolitik eingebüßt haben, sondern womöglich auch, wie diesen Legitimationsproblemen begegnet werden kann. Wissenschaft dient dabei – daran sei schon hier erinnert – jedoch nicht der Legitimation der bestehenden Ordnung, sondern ihrer kritischen Analyse. Der ökonomischen Demokratietheorie von Anthony Downs zufolge ist Politik nichts anders als eine Ware, die auf einem Markt für Stimmen gehandelt wird, auf dem sich eine Vielzahl von Wählern einem Parteienoligopol gegenübersieht.49 Und Politiker verhalten sich auf diesem Markt wie Stimmenmaximierer, die angesichts unvollkommener Information und rationaler Informationsbeschränkung (rational ignorance) der Wähler versuchen werden, mittels Ideologie und Verführung Wählerstimmen zu gewinnen. Damit setzen sich die Wähler
KRISEN, PROFIT UND POLITIK 191 der Gefahr einer Übervorteilung und Ausbeutung durch die Politik aus.50 In der ökonomischen Bürokratietheorie nach William Niskanen wird ebenfalls angenommen, dass alle Akteure eigennützig handeln und Bürokraten ein Interesse an hohen Budgets haben, um ihre Aktionsmöglichkeiten zu vergrößern.51 Die von einer Bürokratie monopolartig angebotenen Leistungen richten sich dabei allerdings nicht nach der öffentlichen Nachfrage – die Bürger könnten sogar zur Abnahme der Leistung gezwungen werden – sondern nach den Präferenzen der Regierung bzw. des Parlaments. Ist die Nachfrage dort groß, wird Leistung im Übermaß der von der Regierung gewünschten Menge hergestellt; ist sie klein, wird sie bis zur Ausschöpfung des Budgets hergestellt. In beiden Fällen ist zu erwarten, dass das Angebot für die tatsächliche öffentliche Nachfrage zu groß sein wird, während andere Leistungen in zu geringem Ausmaß oder gar nicht angeboten werden.52 Ein Schelm, wer hierbei während der Corona-Krise an die Beschaffung von Impfstoffen im Übermaß gerade in Ländern mit entsprechend großen Budgets, wie z.B. in der Europäischen Union, denkt und sich dabei noch die Diskussion um eine Impfpflicht in Erinnerung ruft. In seiner Theorie des kollektiven Handelns untersucht Mancur Olson den Einfluss von Interessengruppen. Entgegen der traditionellen Gruppentheorie, wonach insbesondere große Gruppen einen größeren Einfluss auf die Politik erwarten lassen, kommt Olson zu dem Schluss, dass vor allem kleine organisierte Gruppen einen vergleichsweise starken Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen können, da es sich für die Mitglieder kleiner Pressure Groups viel mehr lohnt, als es sich für die anonyme Masse der Wähler auszahlen würde, sich aktiv für eine bestimmte Angelegenheit einzusetzen.53 Der Kern des Arguments ist, dass bei der Herstellung eines Kollektivgutes mit steigender Gruppengröße sowohl der Nutzen für das einzelne Gruppenmitglied als auch die Auswirkungen und die Sichtbarkeit der individuellen Mitwirkungsverweigerung abnimmt („Trittbrettfahrerproblem“); außerdem steigen die Organisationskosten, was den zu verteilenden Gesamtnutzen schmälert. Je größer also eine Gruppe ist, umso weniger wird sie in der Lage sein, das angestrebte Kollektivgut in ausreichendem Umfang herzustellen. Daraus folgt eine zu erwartende höhere Durchschlagskraft kleiner Interessengruppen, mithin also ein vergleichsweise stärkerer politischer Einfluss von Sonderinteressen, wo-
192 ROBERT OBERMAIER mit sich die Bürger einer Gesellschaft latent der Ausbeutung durch kleine, aber aktive Interessengruppen, Pressure Groups oder Lobbys aussetzen. Galbraiths Konzept der Countervailing Power geht davon aus, dass in modernen Industriegesellschaften Unternehmen oft über erhebliche wirtschaftliche Macht verfügen, die es ihnen ermöglicht, den Markt zu dominieren und Einfluss auf politische Entscheidungen auszuüben.54 Um nun zu verhindern, dass Unternehmen allein die Regeln diktieren können, müssten Gewerkschaften, Verbraucherverbände und andere Interessengruppen nach Galbraiths präskriptivem Konzept eine entgegenwirkende Macht entwickeln. Olsons Theorie steht dem jedoch skeptisch entgegen: Größere unorganisierte (sog. latente) Gruppen von Verbrauchern werden aufgrund der von Olson dargelegten Logik kollektiven Handelns gerade keine wirksame Gegenkraft etablieren können, die es mit den Sonderinteressen der Produzenten aufnehmen kann, weswegen es bei der Übermacht der branchenspezifischen Unternehmensinteressen bleiben wird. Denn Olson führt den „hohe[n] Organisationsgrad der Unternehmerinteressen und die Macht dieser Unternehmerinteressen […] auf die Tatsache [zurück] […], daß die Unternehmer sich auf eine Vielzahl von (im allgemeinen oligopolistischen) ‚Gewerbezweigen‘ verteilen, von denen jeder nur eine kleine Zahl von Firmen umfaßt“,55 dass es also weniger die großen Unternehmen an sich und auch nicht deren Hauptverbände sind, die großen Einfluss ausüben können, sondern vielmehr die vielen kleinen aktiven Branchenverbände, die sich im politischen Prozess nicht nur mehr Gehör, sondern eben auch Einfluss verschaffen können. Im Zeitablauf geht Olson davon aus, dass sich durch eine Vielzahl kleiner, aber mächtiger Spezialinteressengruppen und die langsame Anhäufung ihnen gewährter Zugeständnisse eine Art „institutioneller Sklerose“ des politischen Systems bildet, die eine Gesellschaft durch Verteilungskoalitionen ausbeutet und zu ihrem ökonomischen Niedergang beiträgt.56 Auch Hayek weist auf das Problem demokratischer Ordnungen hin, zum Spielball von Sonderinteressen zu werden. Vor allem unbeschränkte Demokratien ohne ausreichenden Schutz für individuelle Freiheiten und Eigentumsrechte, in denen die Mehrheit uneingeschränkte Macht über die Minderheit hat, stehen latent in der Gefahr, sich dem Einfluss einer Vielzahl von Partikularinteressen in stärkstem Maße auszusetzen, da Regierungen verschiedensten Interes-
KRISEN, PROFIT UND POLITIK 193 sengruppen Zugeständnisse machen werden, um eine Mehrheit zu etablieren. Es scheint daher unausweichlich, dass „Gruppen, die die Macht dazu haben, einen bürokratischen Apparat aufbauen werden“, der ihnen Vorteile verschafft, die nicht allen Bürgern gleichermaßen angeboten werden können und „sich mehr und mehr der demokratischen Kontrolle entzieht“57. Das von George J. Stigler geprägte Konzept des Regulatory Capture beschreibt die Gefahr, dass staatliche Regulierungsbehörden, die eigentlich dazu bestimmt sind, das öffentliche Interesse zu schützen, von den zu regulierenden Unternehmen beeinflusst bzw. vereinnahmt werden, wodurch politische Prozesse und Institutionen von mächtigen wirtschaftlichen Akteuren korrumpiert werden und Unternehmen folglich unangemessene Vorteile erhalten oder monopolistische Strukturen aufrechterhalten können.58 Kern der Überlegung Stiglers ist, dass die Unternehmen einer von Regulierung bedrohten oder betroffenen Branche eine konzentrierte Interessengruppe bilden, mit der sie ihre Anliegen weitaus schlagkräftiger durchsetzen können, als die Allgemeinheit sich angesichts ihrer eigenen rational ignorance vor den Nachteilen schützen kann. Zudem führt eine Informationsasymmetrie zugunsten der Branchenmitglieder zu einer gewissen Einseitigkeit in der Informationsversorgung der Regulierer. Außerdem besteht die Möglichkeit, dass Politiker oder Bürokraten von Branchenvertretern politische Unterstützung für ein Verhalten im Interesse der Branche erfahren oder eine lukrative spätere Beschäftigung in Aussicht gestellt bekommen (revolving doors), was sich später noch für die Nutzung von Lobbying auszahlen kann.59 Demgegenüber wäre eine entgegengesetzten Verhaltensweise, auch wenn sie im öffentlichen Interesse läge, unwahrscheinlich, da sie Politikern oder Bürokraten keinen unmittelbaren Vorteil bringen würde. Wenn Unternehmen sich durch regulatory capture dem Wettbewerbsdruck z.B. durch Konzentration entziehen oder durch Einfluss auf Regierungshandeln Marktzutrittsbarrieren errichten, kann dies zu einer sog. Vermachtung von Märkten kommen, die die Funktionsfähigkeit von Wettbewerbsmärkten erheblich einschränkt.60 Die engen Verflechtungen, die auf verschiedenen hierarchischen Ebenen zwischen staatlichen Institutionen und privatwirtschaftlichen Unternehmen entstehen können, hat John Kenneth Galbraith mit dem Konzept der Technostructure beschrieben.61 Ursprünglich wird darun-
194 ROBERT OBERMAIER ter eine Gruppe von Managern und Experten („Technokraten“) innerhalb moderner Großunternehmen verstanden, die maßgeblich an der Planung, Organisation und Umsetzung von Unternehmensaktivitäten beteiligt sind. Diese Technostructure spielt als verlängerter und tiefgreifender Arm der Bürokratie eine entscheidende Rolle bei der Steuerung wirtschaftlicher Aktivitäten. Die Technostructure wirkt aber auch über die Grenzen des Unternehmens hinaus: Sowohl bei der Kooperation mit anderen Unternehmen (z.B. Lieferanten und Abnehmer) als auch mit staatlichen Institutionen wird dadurch eine Vielzahl informeller Kontaktpunkte geschaffen, wodurch die Technostruktur nicht nur in wirtschaftlichen Angelegenheiten, sondern auch in politischen und regulatorischen Fragen Einfluss nehmen kann, wie auch staatliche Institutionen ihre Ziele adressieren können. Die Technostructure fungiert so als ein komplexes, zweiseitig wirksames System gegenseitiger Einflussnahme und damit als (unsichtbares) Scharnier zwischen Staat und Unternehmen. Dabei baut die Funktionsweise dieses Scharniers implizit auf der Voraussetzung einer oligopolitischen Marktstruktur auf, da nur spezialisierte Unternehmen, die zudem eng mit staatlichen Stellen kooperieren, in eine Technostruktur integriert werden können. Besondere Prominenz haben spezifische Technostrukturen unter Begriffen wie des Military-Industrial Complex, des Pharmaceutical-Industrial Complex (Big Pharma) oder des Internet-Industrial Complex (Big Tech) erlangt. Kritisch kann gegen solche Pars-pro-toto-Bezeichnungen zwar eingewendet werden, dass dadurch eine Fokussierung auf wenige Sektoren entsteht, die außer Acht lässt, dass Technostrukturen sektorenübergreifend existieren können.62 Doch ist die Quellenlage zu einigen Sektoren so umfangreich, dass diese eben besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Am bekanntesten dürfte sein, als sich US-Präsident Eisenhower in seiner Abschiedsrede 1961 unter Bezug auf den von ihm so genannten Military-Industrial Complex wie folgt geäußert hatte: A vital element in keeping the peace is our military establishment. Our arms must be mighty, ready for instant action, so that no potential aggressor may be tempted to risk his own destruction. [...] This conjunction of an immense military establishment and a large arms industry is new in the American experience. The total influence – economic, political, even spiritual – is felt in every city, every statehouse, every office of the federal government. We recognize the imperative need for this development. Yet we must not fail to comprehend its grave implications. Our toil, resources and livelihood are all
KRISEN, PROFIT UND POLITIK 195 involved; so is the very structure of our society. In the councils of government, we must guard against the acquisition of unwarranted influence, whether sought or unsought, by the military – industrial complex. The potential for the disastrous rise of misplaced power exists, and will persist. We must never let the weight of this combination endanger our liberties or democratic processes. We should take nothing for granted. Only an alert and knowledgeable citizenry can compel the proper meshing of the huge industrial and military machinery of defense with our peaceful methods and goals, so that security and liberty may prosper together.63
Die mit dem militärisch-industriellen Komplex verbundene permanente Rüstung hatte in der Zeit des Kalten Krieges zu einem Anstieg der Rüstungsausgaben und einem daraus sich entwickelnden Rüstungsboom in den Nachkriegsjahren geführt. Die daraus entstehende Rüstungsindustrie ist auf den Staat als Abnehmer angewiesen und weist stark oligopolistische Züge auf. Unklar ist, inwieweit sich hierdurch ein Friedensgleichgewicht („Gleichgewicht des Schreckens“) oder immer wieder aufflammende militärische Konflikte ergeben haben. Rein ökonomisch (oder zynisch) betrachtet spielt dies aber keine bedeutende Rolle, da der Einsatz von Rüstungsgütern zwar zu Zerstörung führt, deren Ersatzbeschaffung sowie der Wiederaufbau von Zerstörtem hingegen Wirtschaftswachstum nach sich ziehen. Auch der pharmazeutisch-industrielle Komplex bezieht sich auf enge Verflechtungen und die gegenseitigen Interessen von Regierungen, Gesundheitsbehörden und der pharmazeutischen Industrie, die zudem stark oligopolistisch geprägt ist. Diese Gemengelage hat zu verschiedenen in der Literatur diskutierten Auswirkungen geführt. Einer der prominentesten Kritikpunkte sind die mitunter exorbitanten Preise von Medikamenten, insbesondere wenn es sich um Quasi-Monopole handelt, was zu begrenztem Wettbewerb führt, den Zugang für Patienten erschwert und die Kosten des Gesundheitssystems in die Höhe treibt. Im stark regulierten Gesundheitssektor übt die pharmazeutische Industrie zudem Einfluss auf die Gesetzgebung aus, finanziert politische Kampagnen und betreibt Lobbyarbeit. Dies kann zu Gesetzen und Vorschriften führen, die die Interessen der Branche über das öffentliche Wohl stellen. Es gibt Vorwürfe, dass einige Unternehmen Forschungsergebnisse zurückhalten oder selektiv berichten, insbesondere wenn diese Ergebnisse die Sicherheit oder Wirksamkeit ihrer Produkte in Frage stellen. Ebenso sind Fälle dokumentiert, in denen Medikamente auf den Markt gebracht wurden, obwohl sie schwerwiegende Neben-
196 ROBERT OBERMAIER wirkungen oder Sicherheitsprobleme aufwiesen. Dies wird mitunter auf unzureichende Aufsicht und politischen Druck auf Behörden zurückgeführt.64 In der Corona-Krise hat sich insbesondere gezeigt, wie einige große Unternehmen der Pharmabranche diese Krise zu ihrem Vorteil ausnutzen konnten, nicht zuletzt da die von ihr entwickelten Produkte durch öffentliche Subventionen gefördert waren und ihnen auch darüber hinaus vielfältige politische und administrative Unterstützung von der Entwicklung über Zulassung bis zum „Vertrieb“65 zuteilwurde.66 Der schlicht mit dem Begriff Big Tech adressierte internet-industrielle Komplex, der meist mit den führenden Internetkonzernen Google, Apple, Facebook, Amazon und Microsoft (akronym auch als GAFAM) umschrieben wird, ist durch die massenhafte digitale Überwachung von Nutzern zum Zweck der Sammlung und Monetarisierung von Nutzerdaten gekennzeichnet. Zuboff spricht auch von einem „Überwachungskapitalismus“67, dessen Aktivitäten der „Datenakkumulation“ sich zuletzt seit der Corona-Krise auch im Gesundheitswesen und der Gesundheitsforschung ausweiten und Staaten im Rahmen wissenschaftlicher und kommerzieller Kooperationen im Bereich Public Health bei der Durchführung von Kontroll- und Steuerungsmaßnahmen unterstützen. Die enge Verflechtung staatlicher und industrieller Zusammenarbeit auf dem Gebiet der IT-Infrastruktur und darauf aufbauender repressiver Maßnahmen von neuzeitlichen Formen einer Foucaultschen „Biopolitik“ weisen ebenfalls auf problematische Technostrukturen hin. Zugleich bieten die Big Tech-Konzerne verschiedenste Mediendienste, derer sich ebenfalls Staaten bedienen. Die durch Netzwerkeffekte bedingte oligopolistische Marktbeherrschung wird dabei häufig kritisiert und ist Gegenstand entsprechender Regulierungsbemühungen.68 Der jüngst in Kraft getretene Digital Servies Act (DSA) verleiht staatlichen und überstaatlichen Organen offiziellen Zugriff auf die Diskurshoheit im Internet Europas. Denn der DSA verpflichtet die Internetplattformen nicht nur zu Maßnahmen gegen rechtswidrige Presseartikel, er ermächtigt sie mit der „Moderation von Inhalten“ auch zur Zensur. Der EU-Gesetzgeber legt damit die Pressefreiheit im Internet in die Hände des Managements der Plattformmonopole.69 Das von Gordon Tullock und James Buchanan vorgelegte Konzept des Rent Seeking versucht zu erklären, weshalb ineffiziente wirt-
KRISEN, PROFIT UND POLITIK 197 schaftspolitische Entscheidungen getroffen und aufrechterhalten werden, selbst wenn offenbar wird, dass sie Wohlfahrtsverluste mit sich bringen. Ein Beispiel ist die staatliche Gewährung eines Monopols, um die Preise für Produkte oder Dienstleistungen über dem wettbewerbsfähigen Niveau zu halten und so höhere Gewinne zu erzielen; u.a. auch als Public Private Partnerships bekannt. Andere Beispiele sind steuerliche Vergünstigungen, Subventionen, Schutzmaßnahmen, staatliche Lizenzen, Quoten oder Konzessionen sowie die Beeinflussung oder Umgehung bürokratischer Barrieren oder Regulierungen.70 Rent Seeking beschreibt dabei Aktivitäten von Unternehmen, die auf der Suche nach staatlichen Privilegien ihre Ressourcen ganz oder teilweise aus produktiven Aktivitäten abziehen und in „unproduktive“ Bemühungen umlenken, um politische Entscheidungsträger zu beeinflussen und daraus wirtschaftliche Vorteile zu erlangen.71 Der Teil des von bevorzugten Unternehmen oder Interessengruppen dadurch erzielten höheren Gewinns, der über das hinausgeht, was ohne diese Aktivitäten erreicht worden wäre, wird entsprechend als Rent bezeichnet. Rent Seeking verschafft wenigen privilegierten Unternehmen auf Kosten von anderen Wettbewerbern und Verbrauchern einen Wettbewerbsvorteil. Es ist ein Nullsummenspiel, da die Rente von anderen bezahlt wird; vermutlich ist es sogar ein Negativsummenspiel, da Rent Seeking auch Kosten für das privilegierte Unternehmen verursacht – denn es werden Ressourcen für unproduktive Rent Seeking-Aktivitäten verwendet, anstatt sich auf die gewinnorientierte Produktion von Gütern und Dienstleistungen zu fokussieren (Profit Seeking). Während Gewinnstreben meistens produktiv ist, da es Werte wie neue Produkte und die Zuweisung von Ressourcen für höherwertige Verwendungen schafft, ist Rent Seeking unproduktiv; es vernichtet Wert durch die Verschwendung alternativ verwendbarer wertvoller Ressourcen. Je mehr staatlicher Einfluss besteht und je höher die staatlichen Budgets sind, die es zu verteilen gilt, umso attraktiver wird es allerdings für Unternehmen, ihre Ressourcen in Rent Seeking-Aktivitäten zu lenken, anstatt im Wettbewerb um Kunden zu reüssieren. Eine kapitalistische Wirtschaftsordnung verschiebt sich durch die Attraktivität großer staatliche Budgets so zu einer RentSeeking Society.72 Und je mehr Ressourcen Unternehmen in Richtung Lobbying lenken, umso problematischer wird es. Denn zum einen fehlen dann Ressourcen für produktive Aktivitäten und zum anderen steigt die Abhängigkeit im Streben nach staatlichen Renten.
198 ROBERT OBERMAIER Die aus der Analyse der Public Choice Theory zutage getretenen Problemfelder lassen in ihrer Gesamtheit an der Schnittstelle von Staat und Wirtschaft ein polymorphes System zwischen Korruption und Lobbying entstehen, das für demokratisch verfasste kapitalistische Systeme eine große Herausforderung darstellt. Zum einen, weil auf die Regulierung von kleinen, aber mächtigen Interessengruppen mittels Regulatory Capture Einfluss genommen wird und zum anderen die in Aussicht gestellten staatlichen Budgets Rent Seeking-Aktivitäten auslösen. Zingales warnt dabei vor der Gefahr eines “‘Medici vicious circle’, in which economic and political power reinforce each other […] in which money is used to gain political power and political power is then used to make more money.”73 Das in der Folge sich etablierende System wird in der Literatur auch als Crony Capitalism (Klüngelwirtschaft) bezeichnet.74 Je stärker die staatliche Regulierung in einer Volkswirtschaft ausgeprägt ist und je höher die Budgets sind, desto größer ist folglich die Gefahr für Crony Capitalism; denn umso wichtiger ist es für die Profitabilität von Unternehmen, sich im politischen Prozess zu engagieren und zu versuchen, den Nutzen der Regulierung positiv zu beeinflussen und die staatlichen Budgets anzuzapfen.
VII. Wissenschaft in der Krise Wissenschaftliche Expertise spielt eine besondere Rolle in dem komplexen Beziehungsgeflecht aus Politik, Wirtschaft, Medien und Öffentlichkeit, weil alle Seiten ihre Positionen durch scheinbar neutralen Sachverstand untermauern wollen. “Follow the Science” lautet daher ein gerade in Krisenzeiten häufig zu hörender Schlachtruf, was jedoch zu der Rückfrage führen müsste, welcher Wissenschaft denn zu folgen sei und wohin man käme, würde man das tun. Wissenschaft ist als konstruktiv-kritischer Diskurs angelegt, der aus unterschiedlichen Perspektiven versucht, wissenschaftlich relevante Phänomene zu erfassen und zu beschreiben sowie daraus resultierende Probleme zu lösen. Dies geschieht in der Regel innerhalb vorherrschender Paradigmen. Der klassische Fall des Galileo Galilei zeigt dabei, dass die Wissenschaften oder andere Autoritäten eher an gewohnten Paradigmen festhalten, als widersprechende Beobachtungen zuzulassen. Allerdings ist die Wissenschaftsgeschichte durchzogen von Fällen, in denen wissenschaftliche Kritik, die, obwohl sie im Gegensatz zu einem vorherrschenden Paradigma stand, sich nach einer
KRISEN, PROFIT UND POLITIK 199 Weile dennoch durchsetzte.75 Der Weg dorthin ist jedoch steinig. Vor allem ist solche Kritik in einem politisch oder medial aufgeheizten Debattenklima nicht ohne weiteres möglich, sondern kann massiv bekämpft, unterdrückt, lächerlich gemacht oder verschwiegen werden. Hierdurch wird die Funktionsfähigkeit von Wissenschaft fundamental beeinträchtigt und es droht die Gefahr der Dogmatisierung in Form der Diffamierung von Alternativen als Immunisierung gegen Kritik. Dogmatisierung kann wiederum nur durch kritische Prüfung überwunden werden, weshalb es steter Skepsis und Ideologiekritik bedarf, damit das Ideal einer kritischen Rationalität an Boden gewinnt.76 Wissenschaft hat über die eigenen Systemgrenzen hinaus gerade auch in demokratischen Systemen eine kritische Funktion. Hierzu gehört, „vermeintlich eindeutige Phänomene und Ergebnisse und daraus resultierende ‚Alternativlosigkeiten‘ zu hinterfragen.“77 Dabei ist die wissenschaftliche Methodik oder die wissenschaftliche Erkenntnis selbst nicht demokratisch angelegt; insofern, als über wissenschaftliche Methoden oder Erkenntnisse kein Mehrheitsentscheid, kein Parlament und auch keine Regierung, sondern allein kritische Prüfung befinden kann. “Follow the Science” müsste daher im eigentlichen Sinne als kritische Gegenposition verstanden werden. Doch wem diese kritische Gegenposition nicht ins ideologische Weltbild passt, kann sie wiederum als Wissenschaftsleugnung diffamieren. Gefahr dieser Diffamierung von Wissenschaft, dass es in der Wissenschaft also zu jeder Meinung eine Gegenmeinung gibt, die Wissenschaft mithin also unbestimmt oder unbestimmbar sei, ist damit allerdings die Diffamierung des kritischen Prinzips. Damit besteht in der Tat ein ernsthaftes Problem darin, dass von interessierter Seite durch gezielte Falschinformation die Unterscheidbarkeit von Wissenschaft und als Desinformation gestreuter fake science erschwert wird, mithin also eine Skepsis gegenüber der Skepsis entsteht.78 Denn Skepsis – so die Kritiker der Kritiker – führe in die Fänge der “merchants of doubt”79, der Klima-Leugner, Corona-Skeptiker und sonstiger Verschwörungstheoretiker, welche die Autorität der Wissenschaft in Frage stellen, den wissenschaftlichen Konsens nicht kennen oder vom Stand der Wissenschaft schlicht keine Ahnung haben. Im Gegensatz dazu führt der Schlachtruf “Follow the Science” aber zu einem Festhalten an herrschenden Paradigmen, um bestimmte
200 ROBERT OBERMAIER Positionen zu rechtfertigen und andere als abweichende Ansichten zu diskreditieren und den wissenschaftlichen Diskurs darüber zu unterbinden. Damit einher geht allerdings eine Reduktion und Instrumentalisierung von Wissenschaft „auf das Bereitstellen von Expertise, die dazu dienen soll, politische Maßnahmen daraus abzuleiten und zu rechtfertigen.“80 Wissenschaftler, die als Experten auftreten, sind in dieser Rolle aber nicht mehr uneingeschränkt Wissenschaftler; vor allem, wenn die politische Erwartung an Experten ist, eindeutige Aussagen zur Krisenlösung zu machen, die unmittelbar als Handlungsanweisungen übernommen werden können. Demgegenüber propagiert Schularick dennoch die „dynamische Einbindung“ von Wissenschaftlern in Entscheidungsprozesse.81 Dies ist aus mehreren Gründen problematisch: Erstens „sind politische Maßnahmen aus wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht direkt ableitbar. Zwar sollten politische Entscheidungen Bezug auf solche Erkenntnisse nehmen, sie gründen aber auf Werturteilen und sind letztlich Willensentscheidungen. […] Diese kann „die Wissenschaft“ aber weder selbst setzen, noch bei Zielkonflikten demokratisch legitimiert gegeneinander abwägen.“82 Somit bleibt offen, wie vermieden werden kann, dass das theoretisch und historisch gut belegte Phänomen der „Expertokratie“, d.h. die Herrschaft vermeintlich wohlwollender aber womöglich doch ideologiegetriebener Experten, eine Vielzahl negativer Auswirkungen zeitigt, weil wissenschaftliche Skepsis abhandenkommt, der wissenschaftliche Streit ausgeblendet wird und die kritische Distanz zur Politik verlorengeht.83 Zweitens sind wissenschaftliche Erkenntnisse selten eindeutig und in der Anwendung immer deutungsbedürftig und daher auch in der Wissenschaft selbst meist kontrovers. Diese Kontroversen bilden sich aber in einzelnen, von der Politik abgefragten Expertenäußerungen nicht ohne weiteres ab. Dieser Umstand spitzt sich dann zu, wenn nur noch einzelne Experten gehört werden, nicht aber die notwendige Vielfalt der Zugänge zum und Sichtweisen auf das Problem.84 Während die alte Leibnizsche Idee der Universität die Einheit in der Vielheit beschwört, steht demgegenüber heute eine Realität der Universität, die eine mit dem Fortschritt der Wissenschaften einhergehende und zunehmende Spezialisierung mit sich bringt. Die von spezialisierten Wissenschaftlern vorgetragenen Erkenntnisse können daher stets nur „partikuläre Perspektiven und Aspekte der Wirklichkeit“ abbil-
KRISEN, PROFIT UND POLITIK 201 den. Darüber hinaus sind Forschungsergebnisse aber eben nicht nur partikulär, sondern in der Regel auch widersprüchlich, „und es fällt schwer, sie zu einem einheitlichen Welt- und Menschenbild zu verschmelzen“85. Die damit einhergehende Gefahr liegt jedoch nicht in der (notwendigen) Spezialisierung, sondern „im Anschein der Totalität des Wissens, den sich manche Wissenschaftler geben“86; denn dann – so Viktor Frankl – schlägt Wissenschaft um in Ideologie. Schließlich findet Wissenschaft auch nicht in einem von Interessen freien Raum statt. Enge Verflechtungen zwischen politischen Institutionen, die z.B. als Drittmittelgeber fungieren, thematische Förderlinien vorgeben und mit Budget ausstatten sowie mit Industrieunternehmen, die selbst als Drittmittelgeber fungieren oder in Forschungskonsortien eingebunden sind oder sogar eingebunden werden müssen, weil es die Förderrichtlinien verlangen, gibt es zuhauf. Damit soll gar nicht gesagt werden, dass direkt wissenschaftliche Ergebnisse beeinflusst werden; vielmehr reicht schon die thematische Schwerpunktsetzung der Drittmittelgeber, um zu steuern, was erforscht werden soll und was nicht: „Wer Forschung finanzieren kann, kann auch die Themenwahl steuern.“87 Im Wissenschaftssystem gibt es zwar grundsätzlich recht wirksame Leitplanken gegen den direkten Kauf von Wahrheiten, was aber nicht heißt, dass es entsprechende Versuche, von staatlicher oder industrieller Seite Einfluss auf die Erzeugung und Rezeption von wissenschaftlicher Erkenntnis zu nehmen – bildlich gesprochen unterhalb der Leitplanken – nicht auch gäbe. Gerade forschungsintensive Branchen wie die pharmazeutische Industrie sind auf staatlich finanzierte Grundlagenforschung angewiesen, auf der sie dann in erheblichem Maße mit selbst- oder kofinanzierter Anwendungsforschung aufsetzt, um wirksame, d.h. marktfähige und sichere, ergo zulassungsfähige Produkte entwickeln zu können. Damit stehen privatwirtschaftliche Forschungs- und Entwicklungsbemühungen unter hohem Ergebnisdruck, was das Risiko birgt, dass gerade in einem Science-for-Profit-Modell wirtschaftliche Interessen zu schädlichen Auswirkungen auf wissenschaftliche Praktiken führen.88 Gleiches kann für politische Einflussnahmen gesagt werden. Hier spielen diverse als Think Tanks bezeichnete Organisationen eine bedeutsame Rolle. Diese teils öffentlich, teils privat finanzierten Institutionen fächern sich entsprechend auf in staatliche, akademische und
202 ROBERT OBERMAIER aktivistische Organisationen, wobei klare Zuordnungen sowie eine Abgrenzung zu Interessengruppen oder Lobbyorganisationen nicht ohne weiteres möglich sind. Deren Wirkungsweise hat Niklas Luhmann wie folgt skizziert: „Man finanziert nicht Wahrheiten, sondern Organisationen, die sich um die Feststellung und Erforschung von Wahrheiten bzw. Unwahrheiten mehr oder minder erfolgreich bemühen. Mutatis mutandis ergibt sich eine ähnliche Situation bei der Konversion von Eigentum und Geld in Macht.“89 Insofern wirken auch in der und in die Wissenschaft hinein viele der aus der Theorie der Politischen Ökonomie bekannten Phänomene wie Lobbying, Regulatory Capture oder Rent Seeking.
VIII. Medien in der Krise Die Beteiligung der Medien im Rahmen der Krisenperzeption ist ein weites Feld und kann hier nur angerissen werden. Aber das Auf und Ab der Krisen gehört zum Geschäft der Medien mit den Krisen. Und es ist daher im Grunde eine eigentümliche Sichtweise, „objektive“ Berichterstattung von Medienunternehmen zu erwarten, die als privatwirtschaftliche Unternehmen primär Gewinne erwirtschaften müssen, um überhaupt existieren zu können.90 Auf die Krisenkonjunktur als Medienprodukt durch mediale (Dauer-)Beschreibung von Krisen hat schon früh Anthony Downs hingewiesen: “Public perception of most ‘crises’ does not reflect changes in real conditions as much as it reflects the operation of a systemic cycle of heightened public interest and then increasing boredom with major issues”. Dennoch, so Downs weiter, “after problems have gone through the cycle, they almost always receive a higher average level of attention, public effort and general concern”91. Neben die Permanenz der Krisenberichterstattung tritt auch deren Inszenierung und Dramatisierung als wesentliches Mittel im Ringen um Aufmerksamkeit.92 So wurde beispielsweise die mediale Begleitung der Corona-Pandemie im Rahmen einer medienwissenschaftlichen Studie recht bald analysiert und kam unter dem Titel „Die Verengung der Welt“ zu dem Schluss, dass die mediale Inszenierung der Corona-Pandemie eine Tendenz zur thematischen Verengung und Krisenerhaltung hatte.93 Einen Rahmen zur Analyse der Politischen Ökonomie der Massenmedien stellt das Propagandamodell von Herman/Chomsky dar, wonach Medienunternehmen als “effective and powerful ideological
KRISEN, PROFIT UND POLITIK 203 institutions that carry out a system-supportive propaganda function” charakterisiert werden.94 Zentrale These des Modells ist, dass große Medienkonzerne ein Propagandasystem etablieren, das nach einer Eigenlogik ungesteuerter und unbewusster Filterung von Informationen einen Konsens der öffentlichen Meinung im Interesse einer Elite herzustellen in der Lage sei (manufacturing consent), während der Anschein objektiver Berichterstattung gewahrt bleibe. Zurückgeführt wird diese Filterung auf Medienunternehmen, die (1) in konzentrierten Besitzverhältnissen befindlich sind, (2) ihre Produkte in Konkurrenz zueinander stehend verkaufen müssen und auf Werbeeinnahmen oder staatliche Finanzierung angewiesen sind, (3) im wesentlichen dieselben Nachrichtenquellen nutzen, (4) abweichende oder kritische Ansichten ablehnen oder diskreditieren und schließlich (5) einer einheitlichen Ideologie oder schlicht dem Zeitgeist unterworfen sind. Die Filter (1) und (2) machen schnell deutlich, wie und welche Interessen Eingang in die Medienunternehmen finden. Ein offensichtlicher Interessenkonflikt besteht darin, dass Medienunternehmen ihre Produkte verkaufen müssen, wodurch eine „objektive“ Berichterstattung nicht zu erwarten sei. Allerdings ist der Hinweis auf problematischen Wettbewerb selbst problematisch; denn solange Wettbewerb herrscht, müssen Medienunternehmen sich zumindest nach den Präferenzen der Leser richten – und weniger nach denen ihrer Eigentümer. Diffiziler wird die Lage bei common ownership, was dazu führen kann, dass wettbewerbliche Bedingungen zumindest teilweise außer Kraft gesetzt werden. Hinzu treten Krisenphasen, in denen – wie beispielsweise während der Corona-Krise – massiv Werbeanzeigen zurückgehen. Hier war zu beobachten, dass Regierungsinstitutionen (z.B. für die staatliche Impfkampagne) oder bestimmte Branchen (v.a. Internettechnologie und Pharma) auffällig mehr und größere Anzeigen platzierten. Inwieweit dies möglicherweise die Berichterstattung beeinflusst hat, harrt einer eingehenden Untersuchung.95 Die Filter (3), (4) und (5) basieren auf der Wiedergabe von Meldungen staatlicher Presseämter, großer Agenturen und Unternehmenskommunikation, wo von Journalisten Pressemitteilungen für Journalisten erzeugt werden. Hier entsteht bei zunehmender Ausdünnung von Zeitungsredaktionen bei gleichzeitigem Aufbau staatlicher und privatwirtschaftlicher Presseabteilungen eine problematische Schieflage. Zudem werden in den Medien zunehmend „Faktenche-
204 ROBERT OBERMAIER cker“ eingesetzt. Hierbei handelt es sich meist um spendenfinanzierte Non-Profit-Organisationen oder junge Journalisten, deren Hauptaufgabe – wie Kritiker betonen – „die Konformitätsprüfung öffentlicher Redebeiträge im Sinne ihrer Financiers ist.“ Faktenchecker sind demnach selbsternannte Wahrheitswächter, die den Diskurs auf den von organisierten Gruppen gewünschten Meinungs- und Faktenkorridor einengen.96 Darüber hinaus bewirken sog. soziale Medien eine globale Ausbreitung ähnlicher Inhalte und Konzepte. Grundlage dieser plattformbasierten Medienökonomie ist die Etablierung einer digital vernetzten Infrastruktur des Sozialen zur Sammlung, Analyse und Bewertung individueller Präferenzen, Meinungen und Affekte, um Werbung, Nachrichten und sonstige Informationen möglichst passend zuzustellen und daraus Profit schlagen zu können. Die Logik dieser Bewirtschaftung kann kurz so gefasst werden: Je größer die Abweichung vom Erwartbaren innerhalb einer bestimmten Zielgruppe, umso größer der Aufmerksamkeitswert, was jedoch Effekte der Gruppenpolarisierung befeuert. Denn die „ballistische Schnellkommunikation“97 über Online-Plattformen feuert Meinungen und Ressentiments blitzschnell und zielgenau ab, wodurch gesellschaftliche Solidarität zerstört, Menschen und Märkte beunruhigt und das politisch Autoritäre befördert würden; mithin das Politische im Ökonomischen verschärft wird. Interessanterweise hat die EU mit dem Digital Services Act jüngst reguliert, Online-Plattformen zu Maßnahmen zu verpflichten, offline Illegales auch online als illegal zu bewerten. Allerdings wurde in den Maßnahmenkatalog aufgenommen, dass vieles was offline legal ist, von den Online-Providern nach ihren eigenen Maßstäben (d.h. ihren AGBs) verboten werden darf. Die Politik bedient sich der Internetindustrie als Zensoren, bzw. privatisiert die Zensur, die legale Presseberichte unterdrücken darf. Das Paradox hier ist, dass die zu regulierende Internetindustrie damit Souveränitätsrechte erhält, sich zum Meinungssouverän aufzuschwingen. Mittlerweile wurde aufgedeckt, wie während der Corona-Krise nicht nur Twitter seine Plattform dazu nutzte, Kritiker von Corona-Maßnahmen sowie diverse Ärzte und Wissenschaftler, die die offiziellen Regierungsnarrative anzweifelten, zu zensieren und in Misskredit zu bringen. Auch in Deutschland haben Regierung und Pharmakonzerne versucht, kritische Stimmen zur Corona-Politik stummzuschalten.98
KRISEN, PROFIT UND POLITIK 205
IX.
Souveränitätsprobleme in der Krise
Wirtschaftskrisen und das sie begleitende politische Krisenmanagement machen deutlich, dass Regierungshandeln in ein Gesellschaftssystem eingebettet ist, das gerade nicht durch eine Dichotomie des Politischen auf der einen und des Ökonomischen auf der anderen Seite gekennzeichnet, sondern durch Markt und Staat, also die Politische Ökonomie, bedingt ist. Die Politische Ökonomie läßt sich historisch als ein Regierungshandeln beschreiben, das den Wohlstand der Nation sichern sollte, damit aber – beginnend in der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg – den Wettstreit der Staaten auch auf das Feld der Ökonomie trägt. Für die Politische Ökonomie steht dabei nicht die Rechtmäßigkeit sondern die Zweckmäßigkeit ihres Handelns im Zentrum; sie ist Mittel zum Zweck, ihre Legitimierung ergibt sich über ihre Wirksamkeit, wird damit Selbstlegitimierung der Regierenden: Prosperität legitimiert den (absolutistischen) Staat. „L’État c’est moi!“, der berühmte Ausspruch Ludwigs XIV. läutet das Zeitalter des Absolutismus und den ihn begleitenden Merkantilismus ein. Der Leviathan war geboren.99 Mit ihm kam aber auch der Liberalismus als Prinzip und Praxis einer Begrenzung von Regierungshandeln in der Phase des Merkantilismus zur Welt. „Laissez faire“ lautete der Ratschlag Boisguilberts, eines Vorläufers der Physiokraten, an Colbert, den Erfinder des Merkantilismus; womit er sagen wollte, was zuvor schon französische Kaufleute Colbert geraten hatten: „Laissez nous faire“, lassen Sie uns nur machen; bei freier Konkurrenz gedeiht der Handel ohne staatliche Eingriffe am besten. Der Konflikt zwischen Markt und Staat tritt hier erstmals offen zutage. Der Liberalismus bricht mit der Staatsräson, die in einer Stärkung des Staates ihren Zweck gesehen hatte. Die Politische Ökonomie setzt dagegen selbst das Ziel, den Staat reicher zu machen und macht sich damit zum Werkzeug des Regierungshandelns, was nach Foucault heißt, „Macht in Form der Ökonomie auszuüben“100. Foucault hat klar gesehen, dass der Liberalismus als Prinzip der Selbstbegrenzung absolutistischer Herrschaft entstanden ist, wobei der Wirtschaft die Rolle zugekommen ist, die Nützlichkeit des Regierungshandelns zu belegen, d.h. ihr Legitimität durch Prosperität zu verleihen, womit das Regierungshandeln aber in eine Abhängigkeit von ihrer Umwelt kommt. Später wird sich auch der Kapitalismus über den durch ihn möglich gewordenen „Reichtum der Massen“ legitimieren. Eine doppelte Legi-
206 ROBERT OBERMAIER timierung im Sinne eines double bind: Prosperität legitimiert den Kapitalismus und die Aufrechterhaltung der Prosperität legitimiert das Regierungshandeln – vor allem in Krisenzeiten. Damit aber wird klar, dass Regierungshandeln darauf zielen muss, den Kapitalismus am Laufen zu halten, ihn zu reparieren, um Prosperität zu garantieren.101 Die Ausgangssituation war an jedem Fürstenhof Europas nach dem Dreißigjährigen Krieg im Grunde dieselbe: marode Staatsfinanzen, d.h. Staatsausgaben, vor allem waren das Militärausgaben und solche der Hofführung, die über die Staatseinnahmen hinausgingen, bedurften Financiers, die hinreichendes Vertrauen in den Schuldner setzten, um Kredit zu geben. Nicht von ungefähr sprechen wir bis heute beim Kreditnehmer von demjenigen, der Schuld auf sich lädt und sich zur Rückzahlung verpflichtet (debére) und beim Kreditgeber, dem Gläubiger, als demjenigen, der glaubt und hofft (crédere), dass er samt Zinsen zurückbekommt, was er verliehen hat. Als Urszene kann die Gründung der Bank of England angesehen werden, basierend auf einem privaten Gläubigerkonsortium, was eine erste Verschränkung privater und öffentlicher Interessen und auf dieser Basis die Schaffung eines lender of last resort mit sich brachte.102 Diese Urszene kann zwar auch anders gelesen werden, da die Gründung dieser Bank als Instrument zur Begrenzung der staatlichen Ausgaben gesehen werden könnte – immerhin gab es einen Parlamentsvorbehalt. Allerdings ist recht gut belegt, dass die Bank of England es gut verstand, ihren Einflussbereich und ihre Privilegien stetig auszuweiten und sich damit eine Institution bildete und verfestigte, die zu einem Souveränitätsgewinn einer der ersten Zentralbanken überhaupt führte, dem potentiellen Staat als Schuldner hohe Bonität und den Gläubigern gewisse Sicherheit versprach, den Staat mithin für den Finanzmarkt aufpäppelte und umgekehrt einen Markt für Staatsanleihen erst entstehen ließ. Dies bot den Staaten neue Möglichkeiten zur Ausgabenexpansion durch Verschuldung (d.h. ohne unmittelbare Steuererhöhung); freilich um den Preis, nun private Gläubiger in das Kalkül der Regierung zu integrieren; Zinsen heißen im Englischen nicht von ungefähr interest. Es ist allerdings fraglich, ob tatsächlich die Zentralbanken jene Akteure sind, die die Staaten zunehmend in die Sphäre der Finanzmärkte ziehen; denn ebenso können Zentralbanken als Institutionen gesehen werden, die eine Emanzipation von staatlicher Willkür erlau-
KRISEN, PROFIT UND POLITIK 207 ben. Das Paradox scheint: Je unabhängiger eine Zentralbank konstruiert ist, umso eher spaltet sich staatliche Souveränität ab, was aber mit einer potentiellen Begrenzung der Verschuldungskapazität einhergeht, weil Staaten an die Kandare des Kapitalmarkts genommen werden. Je abhängiger eine Zentralbank von der Regierung ist, umso weniger Souveränität wird abgetreten, was dem Regierungshandeln die Möglichkeit hemmungsloser – und seit der Erfindung des Papiergeldes notenbankfinanzierter – Ausgabenpolitik gibt; letzterer Fall ist wirtschaftshistorisch zumindest gut belegt.103 Ungeachtet der Bedeutung von Zentralbanken tritt neben die drei demokratischen Gewalten – Parlament, Regierung und Justiz – damit eine weitere: der Kapitalmarkt. So schwingt sich jener Souverän, der auch schon (börsennotierte) Unternehmen beherrscht, über das Volk hinweg zum Souverän von Staaten auf.104 Vor allem aber entsteht mit dem Verwischen von ökonomischer und politischer Sphäre ein gravierendes Souveränitätsproblem, das den Raum weitet für eine hybride bzw. diffuse Form des Regierungshandelns, bei der nicht ohne weiteres klar ist, welche Akteure wie und mit welcher Legitimität Einfluss auf das Regierungshandeln nehmen. Denn zum einen ist der Kapitalmarkt ein totum pro parte, in gewissem Sinne zwar ein kollektiver Akteur, aber vielmehr ein Aggregat einer Vielzahl von Akteuren, von denen jedoch einige bedeutender und mächtiger sind als andere und auch als die übliche ökonomische Vorstellung von atomistischen Marktteilnehmern suggeriert. Gerade im Kontext der Finanzialisierung wird diskutiert, ob hinter dem Metonym des Kapitalmarkts nicht ein wirkmächtiges Oligopol von Kapitalverwaltungsgesellschaften steht. Und zum anderen herrscht der Kapitalmarkt als ein Souverän, der sich in der Rolle als Gläubiger vermittels der Abhängigkeit der Staatsschuldner Souveränitätsrechte wie Tortenstücke herausnehmen kann, ohne demokratisch dazu legitimiert zu sein. In der blutigeren Diktion Shakespeares könnte man auch an den Geldverleiher Shylock denken, der im Fall der Zahlungsunfähigkeit verlangt, ein Pfund Fleisch aus Antonios Körper zu schneiden. Dadurch aber hat sich die Politik dem Kapitalmarkt ausgeliefert und muss eine zunehmend von Krise zu Krise getriebene Politik des Whatever it takes (Mario Draghi) betreiben, die eine immer stärkere Verstrickung mit dem Kapitalmarkt
208 ROBERT OBERMAIER nach sich zieht. Es scheint das der faustische Pakt zu sein, den schon Goethe hatte kommen sehen. In Anlehnung an Carl Schmitt lässt sich das Problem auch als allgemeine Ausnahmezustandsmentalität beschreiben. Demnach werden, einem „kontinuierlichen Staatsstreich“105 nicht unähnlich, Krisen als Chancen zur Realisierung des politisch Unbequemen begriffen. Oder anders formuliert, als Opportunität zur Realisierung des ökonomisch Opportunen. Wie Milton Friedman einst sagte: „Nur eine Krise – eine tatsächliche oder empfundene – führt zu echtem Wandel. Wenn es zu einer solchen Krise kommt, hängt das weitere Vorgehen von den Ideen ab, die im Umlauf sind. Das ist nach meiner Ansicht nach unsere Hauptfunktion: Alternativen zur bestehenden Politik zu entwickeln, sie am Leben und verfügbar zu halten, bis das politisch Unmögliche politisch unvermeidlich wird.“106 Ein derartiger, polit-ökonomischer Staatsstreich zielt dabei nicht auf einen Umsturz, sondern auf die Ingangsetzung eines Krisenmodus durch Außerkraftsetzung formaler Entscheidungsprozeduren und der funktionalen Entdifferenzierung der politischen von der ökonomischen Interessensphäre.107 Als charakteristisch für diesen Regierungsstil, der zugleich eine Krise des Regierens ist, kann die Bildung informeller Gremien zum Zwecke der Krisenlösung in Netzwerken abseits formaler Verfahrenswege gelten. Die Begründung hierfür ist stets der Ausnahmezustand, also die aktuelle Krise, die zu beseitigen, Ausnahmen vom üblichen Verfahren verlange. Dadurch aber wird ein diffuser Entscheidungsraum geöffnet, der Opportunitäten bietet, durch die Hintertür von informellen Netzwerken betreten zu werden, die in die Krisenlösung einbezogen werden sollen, dadurch aber ihre Partikularinteressen verfolgen können. Schlüsselmoment bleibt aber der Ausnahmezustand. Denn dies ist der Beginn jener Phase, in der sich Macht neu konfiguriert und über die Verteilung von Ressourcen befindet. Dies aber weniger als Verschwörung dunkler Mächte, sondern eher als sich bietende Gelegenheit zur Ausübung von Macht und dem Zugriff auf Ressourcen. Dem Diktum Carl Schmitts folgend „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“108, wäre demnach zu formulieren: Souverän ist, wer den Staat in einen Ausnahmezustand versetzt und ihn so zum Handeln bringt. Welches Ergebnis dieses Handeln erzeugt, bleibt dabei zunächst ungewiss. Der Ausnahmezustand ist dadurch aber ein performativer Moment, der Opportunitäten schafft.
KRISEN, PROFIT UND POLITIK 209
X.
Whatever it takes-Mentalität in der Krise
Ihren Niederschlag findet die Ausnahmezustandsmentalität in einer politischen Whatever it takes-Mentalität, die sich seit einiger Zeit im politischen Raum Bahn gebrochen hat und zum Ausdruck bringen will, alles zu tun, was auch immer als nötig erachtet wird, eine bestimmte Krise zu meistern: Koste es, was es wolle! Der Ursprung dieser Formulierung dürfte die vom damaligen Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, im Zuge der Staatsschuldenkrise 2012 gemachte Äußerung sein: “Within our mandate, the ECB is ready to do whatever it takes to preserve the Euro. And believe me, it will be enough.”109 Schon 2008/09 traten im Zuge der beginnenden Finanzkrise Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesfinanzminister Peer Steinbrück vor die Presse und versicherten, die Bundesregierung stehe für sämtliche (!) Spareinlagen ein. Diese Äußerungen sollten in Draghis wie Merkels Fall die beunruhigten Finanzmarktakteure vom Abzug ihrer Bankeinlagen abhalten; mithin einen Bankrun vermeiden. Dieses Signal hat nämlich eine spieltheoretische Grundlage: Bei strategischen Spielzügen gegenüber rational handelnden Gegenspielern soll deren künftiges Verhalten beeinflusst werden; in Draghis wie Merkels Fall die beunruhigten Finanzmarktakteure, die vom Abzug ihrer Bankeinlagen abgehalten werden sollten. Offenbar soll also mittels Whatever it takes-Rhetorik Entschlossenheit signalisiert werden. Anders stellt sich die Situation aber bei krisenhaften, ungewissen Bedrohungen außerhalb der Spieltheorie, also ohne konkrete Gegenspieler, dar. Damit aber bedeutet deren Verwendung bei Entscheidungen unter Ungewissheit eine kategoriale Fehleinschätzung; denn Ungewissheitssituationen sind Spiele gegen den Zufall, der sich durch eine Whatever it takes-Drohung nicht wird beeindrucken lassen.110 Dadurch lässt der Zufall die Whatever it takes-Rhetorik ins Leere laufen, denn in einer Nichtspielsituation handelt kein rationaler Gegner, sondern es regiert der Zufall – unabhängig von der gewählten Alternative, womit die Situation der Spieltheorie kategorial von der Entscheidungstheorie unter Ungewissheit zu unterscheiden ist. Überdies offenbart die damit verbundene Aussage, jegliche Maßnahmen zu ergreifen, koste es was es wolle, eine verantwortungsethisch problematische Haltung, was die Konsequenzen, aber auch was die Mittel des eigenen Handelns angeht.
210 ROBERT OBERMAIER Allerdings erfreut sich gerade in von Ungewissheit geprägten Situationen das sogenannte Vorsorgeprinzip (precautionary principle) großer Beliebtheit. „Vorsorge ist besser als Nachsorge“ sagt der Volksmund und drückt damit aus, dass es Schadensereignisse gibt, die man besser vermeiden sollte. Die Schwäche des Vorsorgeprinzips ist jedoch seine Unschärfe, bezüglich welchen Schadensereignisses und -ausmaßes und ab welcher Risikoschwelle Vorsorge getroffen werden sollte. Das Prinzip liefert dazu weder Auskunft noch Orientierung, führt Entscheider aber fatalerweise nicht selten zu einem ganz bestimmten Entscheidungsprinzip: dem sogenannten Maximin-Prinzip, als extremer Ausprägung des Vorsorgeprinzips.111 Das Maximin-Prinzip („Wähle jene Alternative, die bei Eintritt des Worst Case am besten abschneidet!“) stellt darauf ab, in einer Ungewissheitssituation den schlimmsten Fall zu verhindern und repräsentiert damit eine extreme Form der Vorsicht. Dem Maximin-Prinzip folgend, wird sich die Generierung und Auswahl möglicher Alternativen unweigerlich auf solche fokussieren, die dazu beitragen, das Worst Case-Szenario zu eliminieren.112 Allerdings ist die Anwendung des Maximin-Prinzips nicht ohne weiteres ein angemessenes Entscheidungsprinzip. Entsprechend hat schon der Wirtschaftswissenschaftler John Harsányi das Prinzip als zutiefst irrational kritisiert: “If you took the maximin principle seriously then you could not ever cross a street (after all, you might be hit by a car); you could never drive over a bridge (after all, it might collapse); you could never get married (after all, it might end in a disaster), etc. If anybody really acted this way he would soon end up in a mental institution.”113 Denn das Maximin-Prinzip ist eine Extremwertregel, die auf den Worst Case fokussiert und alle anderen Zustände außer Acht lässt.114 Dadurch führt dessen Anwendung zu mitunter ganz erheblichen Verlusten; nicht nur durch direkte Handlungsfolgen, sondern auch in Form verdrängter Alternativen (sog. Opportunitätskosten). Damit wird die Notwendigkeit einer materiellen Aussage über die Zahlungsbereitschaft zur Vermeidung des Worst Case offenbar. Die Kernfrage hierfür lautet, welche Kosten man bereit ist, für die Beseitigung einer ungewissen Worst Case-Bedrohung aufzubringen. Die als politische Antwort verwendete Whatever it takes-Rhetorik unterläuft dabei nicht nur eine notwendige Anwendungsschranke des Maximin-Prinzips, sondern wirkt sich auch fatal auf das Handeln der
KRISEN, PROFIT UND POLITIK 211 Akteure aus. Die zunehmende Schrankenlosigkeit der eingesetzten Mittel und ergriffenen Maßnahmen geht mit einer schleichenden Überforderung und Aushöhlung von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft einher, die gravierende ökonomische, rechtliche und soziale Verwerfungen nach sich ziehen kann. Zudem wird über kurz oder lang offensichtlich, dass eine Whatever it takes-Haltung angesichts einer Vielzahl von krisenhaften Bedrohungen weder ökonomisch noch ethisch aufrechtzuerhalten ist. Angenommen, es gibt nicht nur eine, sondern zehn oder auch hundert oder tausend ungewisse katastrophale Worst Case-Bedrohungen. Wie soll verfahren werden, wenn die einsetzbaren Ressourcen knapp sind? Welche Bedrohungen werden berücksichtigt, welche nicht? Das polit-ökonomische (wie ethische) Problem daran ist, dass die Verfolgung des Maximin-Prinzips für einen bestimmten Worst Case dazu führen kann, dass die Vermeidung anderer Worst Case-Bedrohungen nicht mehr möglich ist. Es führt daher kein Weg an einer Priorisierung ungewisser Worst Case-Bedrohungen und einer Budgetierung der dafür bestehenden Zahlungsbereitschaften vorbei. Diese Entscheidung wird in einer Mentalität des dauernden Ausnahmezustands jedoch immer schwieriger. Denn Entscheidungsträger, die sich zur einer fortwährenden Worst Case-Fixierung entschließen, begeben sich damit auf eine abschüssige Rampe. Die Politik verfängt sich dadurch in einer Worst Case-Schleife, die zu einer Mentalität der Dauerkrise führt und den Brand weiter anfacht, anstatt ihn zu bekämpfen. Politisches Krisenmanagement findet dann aber – wie bereits dargestellt – in einem Raum statt, der durch einen hybriden und damit diffusen Politikstil gekennzeichnet ist, der mitunter selbst für die politisch Handelnden alternativlos wirkt; da er bereits durch informelle Netzwerke betreten ist, die Partikularinteressen verfolgen, die Regulierung in ihrem Sinne kapern (regulatory capture) und nicht nur die Büchse der Politischen Ökonomie, sondern angesichts einer What ever it takes-Rhetorik auch die Budgets weit geöffnet haben. Dann agiert die Politik wie ein Produzent von Waren, die von Bürokraten zusammen mit Unternehmen erzeugt werden, welche auf der Suche nach politisch lenkbaren Zahlungsströmen (rent seeking), die aus den tiefen Taschen des Staates quellen, fündig geworden sind. Und erneut liefert die Corona-Krise hierfür mit der Impfkampagne einen schlagenden Beleg. Sehr früh wurde die Impfung als der einzig gangbare Weg aus der
212 ROBERT OBERMAIER Pandemie politisch bestimmt und dann mit entsprechenden Budgets ausgestattet. Obgleich bis dato nicht genau bekannt ist, wieviel Geld die EU allein an BioNTech/Pfizer für die 2,4 Milliarden Impfdosen – mehr als die Hälfte aller EU-Bestellungen – bezahlt hat, gehen Schätzungen derzeit von 36 Milliarden Euro aus. Insgesamt wurden etwa 71 Milliarden Euro für Impfdosen ausgegeben.115 Darüber hinaus wurde sogar noch über eine allgemeine Impfpflicht debattiert, die im Deutschen Bundestag allerdings keine Mehrheit fand. Damit hätte der Staat seine überbordenden Bestände dann auch noch zwangsweise an den Mann (und an die Frau) gebracht.
XI.
Krisen als performative Apokalypse
Seit Karl Marx den Untergang des Kapitalismus aufgrund seiner systemimmanenten Krisenhaftigkeit kommen sah, hat sich wenig an dessen Krisenhaftigkeit geändert. Die zunehmende Beteiligung des Staates am Krisenmanagement hat zwar nicht, wie noch Schumpeter befürchtete, zum Ende des Kapitalismus und zum Aufstieg des Sozialismus geführt. Allerdings hat sich durch die staatlichen Maßnahmen des Krisenmanagements sowie die Bereitstellung staatlicher Budgets eine eigene Politische Ökonomie der Krise entwickelt. Diese nimmt an den endogenen Krisen des Kapitalismus zwar ihren historischen Ausgangspunkt, findet aber auch an exogenen Krisen ihre Fortsetzung; denn: Krisen sind dazu da, gelöst zu werden. Neben den endogenen Krisen des Kapitalismus, die durch Spekulation ausgelöst das krisenanfällige Finanzsystem betreffen und zur Stabilisierung staatlicher Institutionen und Sicherungssysteme bedürfen (dadurch aber das moralische Risiko für weitere Krisen vergrößern), stehen exogene Krisen; und zwar insbesondere solche, die ganz allgemein durch technischen Fortschritt entstehen, der seinerseits Triebfeder des Kapitalismus ist. Der Philosoph Günther Anders hat das Grunddilemma des technischen Zeitalters einmal mit einem „prometheischen Gefälle“ beschrieben; einer gravierenden Diskrepanz zwischen der menschlichen Herstellungs- und der Vorstellungsleistung, da die Menschheit unfähig sei, sich eine Vorstellung von dem selbst Gemachten zu machen, um dessen Folgen überblicken zu können.116 Und dieses „prometheische Gefälle“ ist zugleich der faustische Pakt der kapitalistischen Dynamik: Neue Technologien lösen Wachstumsimpulse aus, haben jedoch auch unintendierte Nebenfolgen, die
KRISEN, PROFIT UND POLITIK 213 zu exogenen Krisen führen können, die aber wieder durch Fortschritt zu lösen sind. Und zwar durch technischen Fortschritt, der seinerseits wieder Krisen auslösen kann, da unabsehbar ist, welche Folgen aus dem Neuen erwachsen werden. Zu denken wäre hier etwa beispielhaft an folgende Technologie und Technologiefolgen-Paarungen: fossile Energieerzeugung und Klimawandel, Kernspaltung und Atomkrieg, Kernenergie und Reaktorunfall, Gentechnik und biologische Waffen oder Gentechnik und Pandemien. Damit aber stellt Forschung mitunter selbst eine Gefahr für die Menschheit dar. Ein keineswegs ganz neuer Befund, der wissenschaftshistorisch mit der Entdeckung der Kernspaltung und dem nachfolgenden Abwurf der ersten Atombombe hinreichend belegt ist. Demgegenüber wurde die sog. Laborthese über den Ursprung des Corona-Virus und dem daraus folgenden Zusammenhang zwischen gentechnischer Forschung und der Corona-Pandemie von Anfang an medial stark bekämpft und als Verschwörungstheorie verunglimpft, obgleich sie mittlerweile als wahrscheinlich angesehen wird.117 Und selbst wenn es ungewiss ist, so besteht doch die plausible Möglichkeit, dass die Corona-Pandemie eine unmittelbare Folge gentechnischer Forschung war.118 Beim Umgang mit apokalyptischen Technologiefolgen kommt Hans Jonas‘ Prinzip Verantwortung (1979) besondere Bedeutung zu.119 Es liefert nämlich eine philosophische Basis für das bereits kritisierte Vorsorgeprinzip, wonach alles nur Erdenkliche zu tun sei, das Überleben der Menschheit zu sichern. Die Nebenfolge dieses Imperativs ist jedoch, dass damit der Staat mit einer Whatever it takes-Reaktion auf den Plan gerufen und durch die Ausrufung des Ausnahmezustands die hier entwickelte Politische Ökonomie des Krisenmanagements in Gang gesetzt wird.120 Auch Günther Anders hat der Apokalypse eine elementare – aber ebenfalls höchst problematische – Funktion als Antrieb für gegenwärtiges Handeln zugeschrieben.121 Die apokalyptische Untergangserzählung zielt demnach darauf ab, die Vorstellungskapazität des Menschen seiner Herstellungskapazität anzupassen (d.h. das „prometheische Gefälle“ abzuflachen) und dadurch Einsicht in die Notwendigkeit zu erzeugen, etwas gegen den drohenden Weltuntergang zu unternehmen. Die Apokalypse fungiert damit als heilbringender Veränderungsimpuls, auf den Staat, Wirtschaft, Medien und Wissenschaften zu reagieren haben. Aus dem Blickwinkel der Politischen Ökonomie ist dem
214 ROBERT OBERMAIER kritisch entgegenzuhalten, dass mit dieser performativen Apokalypse verschiedensten aktivistischen Interessen und Lobbygruppen Tür und Tor geöffnet wird, den Untergang zu prophezeien und den Staat zum Handeln zu zwingen; nicht selten begleitet von dem medial orchestrierten Schlachtruf: “Follow the Science”. Beklemmend ist die Aktualität im Lichte einer sich als „Letzte Generation“ wähnenden Protestbewegung, die sich dem Klimaschutz verschrieben hat. Aber auch die zahlreichen Untergangsprognosen und Simulationen im Zuge der Corona-Krise sind noch in lebhafter Erinnerung.122 Der Vermittlung von extrem pessimistischen Szenarios wurde mit dem Begriff des Präventionsparadox eine positive Rückkopplungswirkung beigemessen, da die Warnung vor der Apokalypse zu einer Verhaltensänderung führe, wodurch andere als die erwarteten Konsequenzen einträten. Vertreter dieses Präventionsparadox argumentierten, man sehe nicht, wie schlimm die Infektionszahlen hätten ausfallen können, weil ja Maßnahmen ergriffen wurden, um diese Infektionen zu stoppen. Das Paradox am Präventionsparadox ist jedoch allenfalls, dass unbewiesen bleibt, ob die Maßnahmen wirksam waren, d.h. ob die Apokalypse nicht auch ohne Warnung oder Vorsorgemaßnahmen ausgeblieben wäre oder ob das Ausbleiben von Wirkungen nicht durch noch stärkere Maßnahmen beantwortet werden sollte. Das Präventionsparadox macht sich dadurch immun gegen Kritik und offenbart sich als rhetorisches Instrument des apokalyptischen Denkens und einer Politik der Dauerkrise.123
XII. Das Geschäft mit der Krise: Endogenisierung exogener Krisen Der funktionale Charakter der apokalyptischen Krisenerzählung ist damit klar: sie dient dazu, den Staat in einen Ausnahmezustand zu versetzen und ihn so zum Handeln zu bringen. Damit fungieren Krisen als performativer Ausgangspunkt zur Krisenlösung im Ausnahmezustand und erzeugen die beschriebenen Opportunitäten in dem diffusen Entscheidungsraum zwischen Politik und Ökonomie. Dabei kommt eine krisentypische Ungewissheitsasymmetrie zum Tragen. Relevante Krisen, d.h. hier solche, die genügend apokalyptisches Potential aufweisen, stellen per definitionem für eine hinreichend große Menge an Individuen oder Unternehmen eine signifikante Bedrohung dar und
KRISEN, PROFIT UND POLITIK 215 können als eine notwendige Bedingung dafür gelten, den Staat zum Handeln zu bringen, also seiner (vermeintlichen) Schutzpflicht nachzukommen („Vorsorgeprinzip“), in informellen Kreisen nach Lösungsstrategien zu suchen, zu regulieren, Maßnahmen zu ergreifen, vor allem aber Budgets bereitzuhalten. Für welche Krisen dieser Modus in Gang kommt und welche Unternehmen an der Krisenlösung beteiligt werden, unterliegt ex ante einer Ungewissheit. Im Vorfeld einer Krise kann auf diese Opportunitäten gewettet werden, sie können womöglich auch beeinflusst werden. Dieses Spiel kann man als ein gambling for rents bezeichnen, als Lotterie um den Zugang zu staatlichen Ressourcen und Budgets, die für einen jeweils relativ kleinen Kreis von Unternehmen die Opportunität bietet, durch Beteiligung an der Krisenlösung oder auch nur der Krisenprävention, aus der Krise erheblich Kapital zu schlagen.124 Demgegenüber ist der große Kreis der von der Krise Bedrohten, die Zugang zu dem im Rahmen des Krisenmanagements hergestellten öffentlichen Gut erhalten, daraus womöglich sogar Annehmlichkeiten beziehen, aber dafür freilich auch werden bezahlen müssen; denn: “there is no free lunch”. Eben dieses Ungewissheitsmoment der Krise, die sich daraus ergebenden Opportunitäten auszunutzen, beschreibt damit die Quelle potentieller Gewinnchancen für einige wenige Unternehmen. Durch dieses polit-ökonomische Reaktionsmuster des Krisenmanagements werden potentiell jegliche exogenen Krisen endogenisiert. Und die Gewinner und Verlierer einer Krise sind unmittelbar von der Ungewissheitsasymmetrie betroffen, denn die Gewinne für die Krisenbewältiger sind die Kosten der Krisenbewältigung; die Träger dieser Kosten sind die Krisenverlierer, denen aber dafür die Krise vom Hals geschafft wird. Nur selten werden die ergriffenen politischen Maßnahmen zur Krisenlösung zielgenau (effektiv) und kostengünstig (effizient) sein, was dazu führt, dass es zu nicht-intendierten Nebenfolgen der Krisenlösung kommen kann, die wiederum das Potential haben können, weitere Krisen auszulösen, für die dann der Krisenlösungs-Krisenauslösungs-Zirkel, kurz: das Geschäft mit der Krise, erneut beginnt. Die Politik als Reparaturbetrieb bzw. als Krisenmanager begibt sich in eine Interventionsspirale, die Krisen durch Krisenprävention versucht zu verhindern oder durch Krisenintervention zu bekämpfen, aber unweigerlich (durchaus unintendierte) neue Krisen auslöst.
216 ROBERT OBERMAIER Schließlich wird damit auch die Omnipräsenz wie auch die Permanenz der Krise als konstitutives Element kapitalistischen Wachstums erklärbar: Es entsteht so ein Perpetuum Mobile des Fortschritts durch Krise und der Krise durch Fortschritt. Doch auch in diesem System wird es Reibung geben, die das Perpetuum Mobile ohne zusätzliche exogene Krisenimpulse nicht wird weiterlaufen lassen. Das Paradoxe an dieser fortschreitenden Dauerkrise ist allerdings, dass sie von einem schier unerschütterlichen Fortschrittsglauben begleitet ist, der den zentralen Antrieb der kapitalistischen Wachstumsdynamik ausmacht und die zwangsläufig entstehenden Verwerfungen wohl vielfach übertüncht.
XIII. Fazit Mögen sich Arten und Ursachen von Krisen unterscheiden: Der Zweck einer Krise ist ihre Bewältigung. Nach dem Diktum, Souverän ist, wer den Staat in einen Ausnahmezustand versetzt und ihn so zum Handeln bringt, taugt potentiell jedwede Krise mit genügend apokalyptischem Potential als performativer Ausgangspunkt. Denn in der Krisenbewältigung offenbart sich der funktionale Aspekt der Krise. Der performative Charakter entsteht durch den Ausnahmezustand, der durch einen hybriden und damit diffusen Politikstil einen Handlungsraum eröffnet, welcher durch Krisenlösung in informellen Netzwerken jenseits formaler Prozeduren gekennzeichnet ist und Opportunitäten schafft. Mit dem Einstieg des Staates in die Prävention und Bekämpfung von Krisen entwickelt sich Krisenmanagement zu einer Art öffentlichem Gut. Dazu werden Maßnahmen beschlossen, Regulierungen vorgenommen und Budgets bereitgestellt, die dann von Privatunternehmen im Wege der Auftragsnahme abgeschöpft werden können. Damit aber wird eine Spirale in Gang gesetzt, die den Krisenaffekt als sich verstärkenden Dauerstimulus benutzt und den damit verwobenen politischen und ökonomischen Reaktionsmustern zur Realisierung des politisch Unbequemen oder des ökonomisch Opportunen verhilft, um ein Geschäft mit der Krise betreiben zu können. Die Politische Ökonomie dieser Form des Krisenmanagements legt nahe, dass verschiedenste Probleme u.a. durch spezifische Interessengruppen (pressure groups), Einflussnahme auf Regulierung und Lobbying (regulatory capture) sowie die Ausrichtung unternehmerischer Aktivitäten auf die Abschöpfung staatlicher Budgets (rent seeking) zu erwarten sind. In ihrer Gesamtheit
KRISEN, PROFIT UND POLITIK 217 bilden sich dadurch institutionelle Arrangements, die an der Schnittstelle von Staat und Wirtschaft ein polymorphes System zwischen Einflussnahme und Korruption erzeugen, das den Staat zum Handeln drängt. Dieser Crony Capitalism ist für demokratisch verfasste kapitalistische Systeme eine enorme Herausforderung. Zum einen, weil auf staatliche Maßnahmen und Regulierung in Form von Lobbying und Regulatory Capture Einfluss genommen wird und zum anderen die in Aussicht gestellten Budgets Rent Seeking-Aktivitäten auslösen; dies jeweils umso stärker, je mehr reguliert wird und je größer die bereitgestellten Budgets sind. Crony Capitalism kann daher als eine logische Folge ausufernden staatlichen Handelns – zumal in Krisenzeiten – gesehen werden, solange diesem keine institutionellen und regulatorischen Schranken gesetzt sind. Denn je stärker die staatliche Regulierung in einer Volkswirtschaft ausgeprägt ist und je höher die Budgets sind, desto größer ist folglich die Gefahr für Crony Capitalism, weil es für die Profitabilität von Unternehmen bedeutsamer wird, sich im politischen Prozess zu engagieren und zu versuchen, Regulierung positiv zu beeinflussen und die Budgets auszuschöpfen. Dass dabei die Koordination wirtschaftlicher Interaktion nicht unter hinreichenden wettbewerblichen Bedingungen stattfindet und die Interessensphäre zwischen Staat und Wirtschaft zunehmend verwischt, macht die Lage umso schwieriger. Während die Finanzialisierung Staat und Unternehmen in die Sphäre des Kapitalmarkts zieht, bleibt auch die Fragilität von Wettbewerbsmärkten ein weithin unterbelichtetes Phänomen. Denn das scheinbare Idyll des Marktes wird leicht dadurch brüchig, dass Unternehmen sich dem Wettbewerbsdruck durch Konzentration entziehen oder durch Einfluss auf Regierungshandeln Marktzutrittsbarrieren errichten. In diesem Kontext spielen international agierende Großkonzerne und Lobbyorganisationen seit jeher eine bedeutende Rolle, da sie der Regulierung durch Nationalstaaten eher entgleiten können und umgekehrt auch überzeugender in der Lage sind, Regulierung selbst mitzubeeinflussen. Diese Vermachtung von Märkten hat problematische Rückwirkungen auf die Politik. Umgekehrt würden funktionierende Wettbewerbsmärkte Machtballungen reduzieren. Allerdings sind sowohl Wettbewerbsmärkte als auch demokratische Gesellschaften weitaus fragilere Institutionen, als gemeinhin angenommen. So kann aus einer kapitalistischen Marktwirtschaft schleichend eine kapitalistische Machtwirtschaft werden, die sich – zumal in Kri-
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Hayek hatte demgegenüber eingewendet, Kernproblem jedweder zentralen Planung ist die mangelnde Verfügbarkeit von Informationen, weshalb sie unausweichlich scheitern müsse. Vgl. Friedrich A. Hayek, „The Pretence of Knowledge. Prize Lecture to the Memory of Alfred Nobel“, December 11, 1974, in: The American Economic Review, Vol. 79, No. 6, Nobel Lectures and 1989 Survey of Members (Dec., 1989), S. 3-7. 2 Vgl. Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006), S. 203-207. 3 Legendär zur Wahrnehmung von Krisen ist die auf die Frage von Pressevertretern nach den chaotischen Zuständen in seinem Land vom britischen Premierminister James Callaghan 1979 im “Winter of Discontent” gegebene Antwort: “Crisis? What Crisis?” 4 Vgl. Karl Erich Born, „Wirtschaftskrisen“ in Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft (HdWW), Bd. 9, 1982, S. 130. 5 Joseph Schumpeter, History of Economic Analysis (New York: Oxford University Press, 1954), S. 1134. 6 Vgl. Robert Obermaier und Edgar Saliger, Betriebswirtschaftliche Entscheidungstheorie (Berlin: de Gruyter, 20207), S. 13. 7 Frank H. Knight, Risk, Uncertainty, and Profit (Boston: Houghton Mifflin, 1921), S. 233. 8 In der Modellwelt der Ökonomie kommt dies technisch durch den Vorgang des „Abzinsens“ (Diskontierung) künftiger Geldbeträge zum Ausdruck: Eine erst in einem Jahr zu erwartende Zahlung von 100 hätte demnach bei risikoäquivalenter Alternativanlage von z.B. 10% p.a. einen Gegenwartswert von 100 / (1+10%) = 90,91. 9 Erich Gutenberg (1897-1984) gilt als Begründer der modernen deutschen Betriebswirtschaftslehre (BWL) nach dem Zweiten Weltkrieg. 10 Vgl. Erich Gutenberg, Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre. Band 1: Die Produktion (Berlin/Heidelberg: Springer, 1951, 198324), Erich Gutenberg, Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre. Band 2: Der Absatz (Berlin/Heidelberg: Springer, 1955, 198417), Erich Gutenberg, Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre. Band 3: Die Finanzen (Berlin/Heidelberg: Springer, 1969, 19808).
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11 Die ökonomische Theorie spricht von Arbitragegeschäften, die etwaige Wert-Preis-Differenzen zum Verschwinden und den Markt in ein Gleichgewicht bringen sollten. Allerdings handelt es sich bei der Vorstellung vollkommener Märkte lediglich um eine Fiktion. 12 Adolf A. Berle / Gardiner C. Means, The Modern Corporation and Private Property (New York: The Macmillan Company, 1932). 13 Thorstein Veblen, Absentee Ownership and Business Enterprise in Recent Times, The Case of America (New York: Viking Press, 1923). 14 So auch der Titel einer Arbeit von Joseph Vogl, Das Gespenst des Kapitals (Zürich: diaphanes, 2010). 15 ETFs bilden grundsätzlich Branchenindizes nach, wobei diese nach der Art dieser Replikation unterschieden werden können. Bei direkter (physischer) Replikation kauft der Investmentfonds die entsprechenden Wertpapiere des zugrunde liegenden Index und gewichtet diese identisch zum entsprechenden Branchenindex. Bei indirekter (synthetischer) Replikation werden bei der Indexnachbildung Derivate, wie z.B. Tauschgeschäfte mit Banken (Swaps), eingesetzt. 16 Allein die beiden weltgrößten Vermögensverwalter, Blackrock und Vanguard, verwalteten zu Beginn des Jahres 2023 zusammengenommen mehr als 17 Billionen US-Dollar – mit weiter steigender Tendenz. In Deutschland ist Blackrock, der weltgrößte Vermögensverwalter, an 33 der 40 DAX-Unternehmen beteiligt, an etwas mehr als der Hälfte mit über 5 Prozent. Stand: 21. Juni 2022. Quelle: https://de.statista.com/statistik/daten/studi e/518085/umfrage/groesste-blackrock-beteiligungen-am-aktienkapital-v on-dax-unternehmen/ 17 Vgl. Martin Schmalz, Common-Ownership Concentration and Corporate Conduct, CESifo Working Paper No. 6908, 2018. 18 Joseph Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (Stuttgart: UTB, 19937/1942). 19 Josef Falkinger, „Gibt es die Marktwirtschaft noch? Ein Versuch über politische Ökonomie im einundzwanzigsten Jahrhundert“, in Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 2023, 24 (1), S. 114. 20 Marx, Das Kapital, Bd. 2, 3. Abschnitt, Bd. 3, 3. Abschnitt. 21 Tendenziell bedeutet hier, dass der Fall der Profitrate zeitweise durch die Entwertung des vorhandenen Kapitals unterbrochen wird. 22 Die grundlegende Freisetzungstheorie, wonach technischer Fortschritt Arbeitslosigkeit erzeugt, geht schon auf David Ricardo zurück. Marx versuchte nachzuweisen, dass der Kapitalismus einen gewissen Bestand an Arbeitslosigkeit erzeuge: „Es ist daher ebenso sehr Tendenz des Kapitals die arbeitende Bevölkerung zu vermehren, wie einen Teil derselben beständig als Überschußbevölkerung – Bevölkerung, die zunächst nutzlos ist, bis das Kapital sie verwerten kann“, Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 302f. 23 Auf die extreme Verteilungsungleichheit wies in jüngerer Zeit Piketty hin, der eindrucksvoll dokumentiert, wie eklatant die Ungleichheit der
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Einkommens- und Vermögensverteilung im Kapitalismus seit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zugenommen hat. Vgl. Thomas Piketty, Capital in the Twenty-First Century (Cambridge: Harvard University Press, 2014). Kritisch diskutiert Borchardt Forschungsbemühungen, typische bzw. reguläre Krisenzyklen zu entdecken. Vgl. Knut Borchardt, „Wandlungen des Konjunkturphänomens in den letzten hundert Jahren“, in Ders., Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume der Wirtschaftspolitik (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1982), S. 73-99. Arthur Spiethoff, „Krisen“, in Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Aufl., 6. Bd., Jena 1925, S. 8-91. Joseph Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, S. 134. Joseph Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung (Berlin: Duncker & Humblot, 19344), S. 318-369. Auf das damit zusammenhängende Fixkostenproblem hat später insbesondere der Betriebswirt Eugen Schmalenbach hingewiesen. Vgl. Eugen Schmalenbach, Die Betriebswirtschaftslehre an der Schwelle der neuen Wirtschaftsverfassung, in Zeitschrift für handelswissenschaftliche Forschung, 22. Jg., 1928, S. 241-251. John Kenneth Galbraith, A Short History of Financial Euphoria (New York: Penguin, 1990). John Maynard Keynes, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes (Berlin: Duncker & Humblot, 1936), S. 134. Jon Moen, Ellis W. Tallman, “Lessons from the Panic of 1907”, in Federal Reserve Bank of Atlanta Economic Review, Band 75, 1990, S. 2 – 13, Karl Erich Born, Die deutsche Bankenkrise 1931. Finanzen und Politik (München: Piper, 1967). Adam Smith, The Wealth of Nations, Book 5, Chapter 1, 1776. Vgl. Michael C. Jensen, “The Modern Industrial Revolution, Exit, and the Failure of Internal Control Systems”, in The Journal of Finance, Vol. 48, 1993, Nr. 3, S. 831-880; Robert Obermaier, „Expansion und Implosion der Bayerischen Raiffeisen-Zentralbank AG – Eine Bank spielt va banque, vertuscht und verliert“, in Margarete Wagner-Braun (Hrsg.): Die Bayerische RaiffeisenZentralbank – Gesamtanalyse einer bayerischen Ikone seit 1893 (Stuttgart: Franz Steiner, 2019), S. 17-52. Zu einer Untersuchung, dass z.B. auch eine Einlagensicherung Moral Hazard von Bankmanagern begünstigen und damit negative Auswirkungen auf das Risikoverhalten haben kann vgl. Yuk-She Chan, Greenbaum, Stuart I., Thakor, Anjan V. “Is fairly priced deposit insurance possible?”, in Journal of Finance, Vol. 47, 1992, S. 227-245. Benannt nach Charles Ponzi, dem Urheber einer berühmt-berüchtigten, einem Schneeballsystem nicht unähnlichen Betrugsmasche in den 1920er Jahren. Im Gegensatz zum Schneeballsystem, bei dem den Anlegern der Urheber des Systems unbekannt, die Quellen der Ausschüttungen aber
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bekannt sind, ist beim Ponzi-Schema der Urheber des Systems bekannt, nicht aber die Quelle der Ausschüttungen. Hyman Minsky, The Financial Instability Hypothesis: Capitalist Process and the Behaviour of the Economy, 1982. Hyman P. Minsky Archive. Paper 282. http: //digitalcommons.bard.edu/hm_archive/282 Mit Blick auf Deutschland argumentiert Borchardt, dass Brünings Deflationspolitik in einer Zwangslage die einzig mögliche Antwort auf das Schuldenproblem der öffentlichen Haushalte gewesen sei. Vgl. Knut Borchardt, „Zwangslagen und Handlungsspielräume in der großen Weltwirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre: Zur Revision des überlieferten Geschichtsbildes“, in Ders., Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume der Wirtschaftspolitik (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1982), S. 165-182. Demgegenüber wird eingewendet, dass sich die Regierung Brüning zwischen einer Politik zur Besserung der wirtschaftlichen Lage und damit auch der Zahlungsfähigkeit Deutschlands gegenüber dem Ausland oder der möglichen Revision der Reparationsforderungen zu entscheiden hatte und sich bewusst für letzteres entschied; mitsamt den bekannten Folgen. Vgl. Robert Obermaier, Weichenstellungen (Weiden: Eurotrans, 2003), S. 28-35 m.w.N. Auslöser in Deutschland war der Konkurs einer norddeutschen Textilfirma, der die Darmstädter- und Nationalbank (Danat-Bank) in den Abgrund riss, was zu einem Run insbesondere der Auslandsgläubiger auf deutsche Banken führte. Vgl. Rudolf Stucken, Deutsche Geld- und Kreditpolitik, (Tübingen: Mohr Siebeck, 1964) S. 84; Karl Erich Born, Die deutsche Bankenkrise 1931. Finanzen und Politik (München: Piper, 1967), S. 106; Obermaier, Weichenstellungen, S. 101-116. Keynes schreibt dazu in (der deutschen Übersetzung) seiner General Theory: „Wenn es aber unserer zentralen Steuerung gelingt, eine Gesamtmenge der Erzeugung durchzusetzen, die mit Vollbeschäftigung so nah als durchführbar übereinstimmt, wird die klassische Theorie von diesem Punkt an wieder zu ihrem Recht kommen.“, Keynes, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, S. 319. Kromphardt spricht von einer „Weiterentwicklung der Keynesschen zur keynesianischen Theorie“. Vgl. Jürgen Kromphardt, Konzeptionen und Analysen des Kapitalismus (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 19913), S. 175. Bruno S. Frey, Moderne Politische Ökonomie (München: Piper, 1977), S. 7. Vgl. Douglass C. North, Institutions, Institutional Change and Economic Performance (Cambridge: Cambridge University Press, 1990). Vgl. Douglass C. North, John Joseph Wallis und Barry R. Weingast, Gewalt und Gesellschaftsordnungen. Eine Neudeutung der Wirtschaftsgeschichte (Tübingen: Mohr Siebeck, 2009), S. 2. Vgl. Daron Acemoğlu, James A. Robinson, Why Nations Fail (New York: Crown Business, 2012). Vgl. Gerhard Wegner, „Kapitalistische Transformation und Strukturwandel politischer Herrschaft im Deutschland des ‚langen neunzehnten Jahrhunderts‘“, in Leviathan, 50. Jg., 1/2022, S. 118-156.
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46 So auch der deutsche Titel des Buches Why Nations Fail von Acemoğlu / Robinson. 47 Am Beispiel der Europäischen Zentralbank (EZB), deren primäres Ziel in der Gewährleistung von Preisniveaustabilität besteht, lässt sich mindestens seit der Finanzkrise 2008/09 zeigen, dass sie sich mit der Politik des „quantitative easing“, d.h. einer „unkonventionellen“ Form expansiver Geldpolitik durchsetzte, bei der von der Zentralbank Staatsanleihen zur Finanzierung von Staatsschulden aufgekauft werden, was der Absicherung des Kapitalmarkts dient, aber dem Ziel der Preisniveaustabilität entgegensteht – und so das faktische Ziel der Zentralbankpolitik offenbart, obgleich noch angesichts drohender Inflation die EZB in ihren Verlautbarungen dieser das Narrativ einer Deflationsgefahr entgegensetzte – zumindest bis nach dem Ausbruch der Inflation 2022 dieses Faktum nicht mehr wegzudiskutieren war. 48 Vgl. Michael Mann, The Sources of Social Power, Vol. 4 (Cambridge: Cambridge University Press, 2013). 49 So bereits früher Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (Bern: Francke, 1950) sowie James M. Buchanan / Gordon Tullock, The Calculus of Consent (Ann Arbor: University of Michigan Press, 1962). 50 Anthony Downs, Ökonomische Theorie der Demokratie (Tübingen: Mohr Siebeck, 1968). 51 William Niskanen, Bureaucracy and Representative Government (London und New York: Routledge, 1971). 52 Hayek hatte dabei als zentrales Problem der Politik die mangelnde Verfügbarkeit von Informationen erkannt, denn zur optimalen Bereitstellung eines öffentlichen Gutes müsste eine Regierung im Grunde allwissend sein, was sie jedoch niemals sein kann; sie kann sich nur anmaßen, genug zu wissen. Vgl. Friedrich A. Hayek, “The Pretence of Knowledge. Prize Lecture to the Memory of Alfred Nobel”, December 11, 1974, in The American Economic Review Vol. 79, No. 6, Nobel Lectures and 1989 Survey of Members (Dec., 1989), S. 3-7. 53 Vgl. Mancur Olson, Die Logik des kollektiven Handelns (Tübingen: Mohr Siebeck, 1968). 54 Vgl. John Kenneth Galbraith, American Capitalism – The Concept of Countervailing Power (Cambridge, Mass.: Houghton Mifflin, 1952). 55 Vgl. Mancur Olson, Logik, S. 141. Im Original kursiv. 56 Mancur Olson, Aufstieg und Niedergang von Nationen (Tübingen: Mohr Siebeck, 1985). 57 Friedrich A. Hayek, „Liberalismus“, in Ders., Die Anmaßung von Wissen (Tübingen: Mohr Siebeck, 1996), S. 240. 58 George J. Stigler, “The Theory of Economic Regulation”, in The Bell Journal of Economics and Management Science, Vol. 2, No. 1 (Spring, 1971), S. 3-21. 59 Vgl. Jordi Blanes i Vidal / Mirko Draca / Christian Fons-Rosen, „Revolving Door Lobbyists“, in American Economic Review, Vol. 102, No. 7 (December 2012), S. 3731-3748.
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60 Vgl. Thomas Philippon, The Great Reversal. How America Gave Up on Free Markets (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 2019), der auch auf die Schwierigkeiten entsprechender empirischer Untersuchungen hinweist. 61 Vgl. John Kenneth Galbraith, The New Industrial State (Boston: Houghton Mifflin, 1967). 62 Durchaus treffend wendet Noam Chomsky ein: “There is no military-industrial complex: it’s just the industrial system operating under one or another pretext (defense was a pretext for a long time).” Vgl. On Power, Dissent, and Racism: a Series of Discussions with Noam Chomsky (New York: Baraka Productions, 2003). 63 President Dwight D. Eisenhower, Farewell Address, 17. Januar 1961. URL: h ttps://www.archives.gov/milestone-documents/president-dwight-d-eis enhowers-farewell-address. 64 Vgl. Ben Goldacre, Bad Pharma: How drug companies mislead doctors and harm patients (London: Fourth Estate, 2012). 65 Angesichts der im Zuge der Corona-Krise durch repressive Maßnahmen gekennzeichneten staatlichen Impfkampagne von administrativer Vertriebsunterstützung zu spechen ist freilich ein Euphemismus. 66 Vgl. Fabien Deruelle, “The pharmaceutical industry is dangerous to health. Further proof with COVID-19”, in Surgical Neurology International, 2022, 13 (475), S. 1-18. URL: https://surgicalneurologyint.com/surgicalint-articles /the-pharmaceutical-industry-is-dangerous-to-health-further-proof-withcovid-19/. Public Eye, Big Pharma takes it all: How pharmaceutical corporations profiteer from their privileges – even in a global health crisis like COVID-19. A Public Eye Report, March 2021. URL: https://www.publicey e.ch/fileadmin/doc/Medikamente/2021_PublicEye_BigPharmaTakesItA ll_Report.pdf. 67 Shoshana Zuboff, Das Zeitalter des Überwachunsgkapitalismus (Frankfurt am Main: Campus, 2018). 68 Eine in den USA als Communications Decency Act bekannte Regulierung führt dazu, dass jene Akteure, die den größten Teil der Öffentlichkeit mit Informationen beliefern, ohne selbst Produzent zu sein, aber in der Lage sind, spezifische Öffentlichkeiten, d.h. Marktsegmente zu schaffen und diesen spezifische Informationen zukommen lassen, daraus ihren Profit schlagen. In dessen Section 230 ist geregelt, dass ”No provider or user of an interactive computer service shall be treated as the publisher or speaker of any information provided by another information content provider.” 69 Vgl. Christoph Fiedler, „Das Digitalgesetz der EU vernichtet die Pressefreiheit im Internet“, in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.07.2022, Nr. 171, S. 13. 70 Ein scheinbar unscheinbares Beispiel sind die in den USA aber auch in Europa für Mais- und Rapsproduzenten gewährten Subventionen zur Herstellung von Bioethanol, das herkömmlichen Kraftstoffen beigemengt wird. Durch die höhere Flüchtigkeit sowie die energieintensive Herstellung von Bioethanol ist allerdings fraglich, ob so tatsächlich ein
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ökonomischer und ökologischer Nutzen für die Allgemeinheit entsteht; der Vorteil für die von den Subventionen profitierenden Maisbauern und Bioethanolproduzenten bleibt; die große Gruppe der Verbraucher bezahlt dafür – im übrigen auch die Verbraucher von Mais als Nahrungsmittel, die einen höheren Preis deshalb bezahlen, weil ein Großteil der Produktion von Mais und Raps nicht für den Lebensmittelsektor, sondern als Treibstoff verwendet wird. Vgl. Sebastian Balzter, „Der Biosprit soll aus dem Tank“, in Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 03.07.2022, Nr. 26, S. 22. Gordon Tullock, “ The Welfare Costs of Tariffs, Monopolies, and Theft”, in Western Economic Journal, 5/1967, 224-32; J.M. Buchanan, R. D. Tollison, und G. Tullock (Hrsg.), Toward a Theory of the Rent-Seeking Society (College Station, TX: Texas A&M University Press, 1980). Zuerst findet sich dieser Begriff bei Anne Krueger, “The Political Economy of the Rent-Seeking Society”, in American Economic Review, 1974 64(3), S. 291 – 303. Luigi Zingales, “Towards a Political Theory of the Firm”, in Journal of Economic Perspectives, Vol. 31, Nr. 3, 2017, S. 114, S. 119f. Paul Dragos Aligica / Vlad Tarko, “Crony Capitalism: Rent Seeking, Institutions and Ideology”, in Kyklos, Vol. 67, Nr. 2, 2014, S. 156-176, Luigi Zingales, A Capitalism for the People (New York: Basic Books, 2012), S. 28-69. Ein ähnlich gelagerter Begriff ist der des Capture Capitalism. Vgl. Brink Lindsey, The Age of Abundance: How Prosperity Transformed America’s Politics and Culture (New York: Harper Business, 2007). Vgl. Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1976). Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft (Tübingen: Mohr Siebeck, 1968). Baule et al., Kritischer Geist in der Krise – Zur Aufgabe von Wissenschaft, in: Forschung & Lehre, Heft 8, 2021, S. 648-649. Zur Detektion von Wissenschaftsleugnung wird vorgeschlagen, die folgenden fünf Kennzeichen abzuprüfen: (1) Das Nutzen falscher Experten, die eine quer zum Stand der Forschung liegende Meinung vertreten, (2) der Rückgriff auf Falschdarstellungen und logische Fehlschlüsse, (3) das Stellen unerfüllbarer Anforderungen an wissenschaftliche Forschung, (4) Selektivität bzw. Rosinenpicken bei der Datenauswahl und (5) das Vertreten von Verschwörungstheorien. Pascal Diethelm, Martin McKee, “Denialism: what is it and how should scientists respond?”, in European Journal of Public Health, Volume 19, Issue 1, January 2009, S. 2 – 4, https://doi.org/10. 1093/eurpub/ckn139. Hierfür findet auch das Akronym PLURV Verwendung: Pseudo-Experten, logische Trugschlüsse, unerfüllbare Erwartungen, Rosinenpickerei und Verschwörungstheorien. Allerdings stellt sich die Frage, wer die Entscheidung darüber trifft, wer richtiger Experte ist, wie Fehlinterpretationen und logische Trugschlüsse mit Alternativerklärungen der Empirie in Einklang zu bringen sind, was das Kriterium für unerfüllbare Erwartungen ist, wie selektive Datenauswahl vor dem
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Hintergrund der Skepsis an der Skepsis zu verhindern ist und wie potentielle Interessenkonflikte von Verschwörungsmythen abzugrenzen sind. Naomi Oreskes / Erik M. Conway, Merchants of Doubt: How a Handful of Scientists Obscured the Truth on Issues from Tobacco Smoke to Global Warming. (London: Bloomsbury Press, 2010). Baule et al., „Kritischer Geist in der Krise – Zur Aufgabe von Wissenschaft“, in Forschung & Lehre, Heft 8, 2021, S. 648-649. Vgl. Moritz Schularick, Der entzauberte Staat: Was Deutschland aus der Pandemie lernen muss (München: C.H. Beck, 2021). Baule et al., „Kritischer Geist in der Krise – Zur Aufgabe von Wissenschaft“, in Forschung & Lehre, Heft 8, 2021, S. 648-649. Hirschi liefert lehrreiche historische Rückblenden zum Problem der zu großen Nähe von Experten und Politik. Vgl. Caspar Hirschi, Skandalexperten, Expertenskandale – Zur Geschichte eines Gegenwartsproblems (Berlin: Matthes & Seitz, 2018). Baule et al., „Kritischer Geist in der Krise – Zur Aufgabe von Wissenschaft“, in Forschung & Lehre, Heft 8, 2021, S. 648-649. Viktor Frankl, „Der Pluralismus der Wissenschaften und die Einheit des Menschen“ in Ders., Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn (München: Piper, 1979), S. 20. Frankl, „Pluralismus“, S. 21. Niklas Luhmann, Macht (Konstanz: UVK, 20124), S. 113. Vgl. Tess Legg, Jenny Hatchard, Anna B. Gilmore, „The Science for Profit Model-How and why corporations influence science and the use of science in policy and practice“, in PLoS One, Vol. 16 (6) 2021, S. 1-24. Luhmann, Macht, S. 114. Gleiches gilt freilich auch für die Übertragung derselben Erwartung an öffentlich-rechtliche Institutionen, die vom Staat finanziert werden. Anthony Downs, Up and Down with Ecology – the “Issue-Attention Cycle”, in Public Interest, 28. (1972: Summer) S. 38-50. Zu denken ist im Zuge der Corona-Krise an die Schaffung der Photo-Legende der „Bilder aus Bergamo“. Vgl. Dennis Gräf und Martin Hennig, Die Verengung der Welt – Zur medialen Konstruktion Deutschlands unter Covid-19 anhand der Formate „ARD Extra – Die Coronalage“ und „ZDF Spezial“ (2020): https://www.digital.uni-passau .de/beitraege/2020/Corona-Krise-und-medien/. Edward S. Herman, Noam Chomsky, Manufacturing consent. The political economy of the mass media (New York: Pantheon Books, 1988). Für den Einfluss von Banken auf Medienunternehmen hat Zingales eine erste indikative Studie vorgelegt. Vgl. Luigi Zingales, Are Newspapers Captured by Banks? Evidence From Italy (Chicago: University of Chicago, Stigler Center: May 12, 2016), URL: https://www.promarket.org/2016/05/12/ar e-newspapers-captured-by-banks/ Vgl. Michael Andrick, „Was tun ‚Faktenchecker‘?“ An den Möglichkeiten von Wahrheit sind sie nicht interessiert, in Berliner Zeitung, 10.08.2022.
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URL: https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/was-tun-fakt enchecker-an-den-moeglichkeiten-von-wahrheit-sind-sie-nicht-interessier t-li.255165 97 Joseph Vogl, Kapital und Ressentiment (München: C.H. Beck, 2021), S. 181. 98 André Jasch, „Twitter-Files: Wie die Social-Media-Plattform die CoronaDebatte manipuliert hat”, in Deutsche Wirtschaftsnachrichten, 28.12.2022, URL: https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/701605/twitter-files-wie -die-social-media-plattform-die-corona-debatte-manipuliert-hat; Lee Fang, “Covid-19 Drugmakers Pressured Twitter to Censor Activists Pushing for Generic Vaccine”, in The Intercept, 16.01.2023, URL: https://theintercept.c om/2023/01/16/twitter-covid-vaccine-pharma/ 99 Vgl. Thomas Hobbes, Leviathan. Erster und zweiter Teil (Stuttgart: Reclam, 1970). 100 Michel Foucault, Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2004/1979), S. 468. 101 Diese Bedingtheit des politischen Krisenmanagements ist auch Kern der Foucaultschen Analyse von Regierungshandeln. 102 Bemerkenswert ist, dass die Institution der Zentralbank in England ohne staatliche Mitwirkung für den Zweck der Staatsfinanzierung gegründet wurde. Ein ähnlicher Versuch des Schotten John Law mit der Banque Royale in Paris scheiterte krachend und ging in einer Flut von Banknoten unter. In anderen Ländern wurden Zentralbanken zwar durch den Staat gegründet, mussten sich aber erst gegenüber privaten „Zettelbanken“ durchsetzen. Es handelt sich daher eher um spontane Ordnungen, die scheitern oder sich unter gegebenen Bedingungen durchsetzen. Hier kam die Rolle des Geldbeschaffers den Hofjuden oder Hoffaktoren zu, die allerdings zunehmend als negatives Element vormoderner merkantilistischer Fürstenwirtschaften galten und viel antisemitisches Ressentiment erzeugten. In den zersplitterten deutschen Landen kursierten überdies zig Währungen und Münzsysteme, Privatbanken konnten „Zettel“ ausgeben, was den Geldhändlern eine Menge Profit bescherte, aber es existierte keine Zentralbank. Diese gab es erst 1876 nach der Reichsgründung. Vgl. Knut Borchardt, „Währung und Wirtschaft“, in Deutsche Bundesbank (Hrsg.), Währung und Wirtschaft in Deutschland 1876-1975 (Frankfurt am Main: Fritz Knapp, 1976), S. 3-55. 103 Allein Deutschland hat zweimal auf diese Art die eigene Währung zerrüttet; einmal in der Weimarer Republik als Ausfluss der Kriegsfinanzierung und der Reparationsforderungen aus dem Versailler Vertrag und dann nach dem Zweiten Weltkrieg. 104 Ganz unmittelbar findet diese These Bestätigung durch die Rücktritte zweier Premierminister: zum einen der von Silvio Berlusconi 2011 im Zuge der europäischen Staatsschuldenkrise und zum anderen der von Lizz Truss 2022 im Zuge eines von den Kapitalmärkten nicht goutierten schuldenfinanzierten Wachstumsprogramms. In beiden Fällen werteten aufgrund der Lage in den jeweiligen Ländern die Staatsanleihen an den
KRISEN, PROFIT UND POLITIK 227
Kapitalmärkten ab, so dass deutliche Zinssatzsteigerungen aufgrund der impliziten Risikoprämien die Folge waren. 105 Joseph Vogl, „Funktionale Entdifferenzierung“, in POP. Kultur und Kritik, Jg. 2 (2013), Nr. 2, S. 13. 106 Deutsche Übersetzung nach Milton Friedman, Capitalism and Freedom (Chicago: University of Chicago Press, 1962), S. IX. 107 Vgl. Joseph Vogl, „Funktionale Entdifferenzierung“, S. 10-16. 108 Carl Schmitt, Politische Theologie (Berlin: Duncker & Humblot, 202111), S. 13. 109 Rede von Mario Draghi, Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) in London am 26. Juli 2012. URL: https://www.ecb.europa.eu/press/key/date/ 2012/html/sp120726.en.html, siehe auch: https://www.youtube.com/watch ?v=Pq1V0aPEO3c. 110 Vgl. Robert Obermaier, „Entscheidungen unter Ungewissheit: WorstCase-Denken und die Folgen“ in Sandra Kostner / Tanya Lieske (Hrsg.): Pandemiepolitik. Freiheit unterm Rad? Eine interdisziplinäre Essaysammlung (Stuttgart: ibidem-Verlag, 2022), S. 63-78. 111 Zu einer umfassenden Kritik des Vorsorgeprinzips siehe Cass R. Sunstein, Laws of Fear. Beyond the Precautionary Principle (Cambridge: Cambridge University Press, 2005). Zu einer kritischen Analyse des Maximin-Prinzips und der Entwicklung rationaler Anforderungen für dessen Anwendung im Lichte der Entscheidungstheorie und am Beispiel der Corona-Krise vgl. Robert Obermaier, „Entscheidungen“, S. 63-78. 112 Der Ausdruck „Maximin“ bedeutet maximum minimorum, d.h. Maximum der Minima. Vgl. Robert Obermaier und Edgar Saliger, Betriebswirtschaftliche Entscheidungstheorie (Berlin: de Gruyter, 20207), S. 114 – 123. 113 John C. Harsányi, “Can the Maximin Principle Serve as a Basis for Morality? A Critique of John Rawls’s Theory”, in The American Political Science Review, Vol. 69, No. 2 (1975), S. 595. 114 Das Maximin-Prinzip kann überdies dazu führen, dass effiziente Alternativen verdrängt werden. Vgl. Obermaier und Saliger, S. 114 – 130. Der pathologische Pessimismus (negative Asymmetrie) des Maximin-Prinzips hat hingegen – wie dargestellt – in der Spieltheorie seine Bedeutung, wo mit rational handelnden Gegenspielern gerechnet wird, die stets nur ihren eigenen Vorteil verfolgen. Wer also beispielsweise strategische Spielzüge gegen einen Autokraten plant, der militärisch damit droht, ein Land zu überfallen, ist gut beraten, diesen Worst Case zum Ausgangspunkt des nächsten eigenen Spielzugs zu machen. Vgl. John von Neumann und Oskar Morgenstern, Theory of Games and Economics Behavior (Princeton: Princeton University Press, 1944); R. Duncan Luce und Howard Raiffa, Games and Decisions (Hoboken: Wiley, 1957), Abraham Wald, “Statistical decision functions which minimize the maximum risk”, in The Annals of Mathematics, Vol. 46, No. 2 (1945), S. 265 – 280. 115 Sowohl was die Menge als auch was den Preis angeht, kann der Europäische Rechnungshof allerdings nur grobe Schätzungen abgeben, weil die Europäische Kommission bislang keinen Einblick in die Lieferverträge
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gewährt. Vgl. Werner Mussler, „Was hat die EU-Impfkampagne gekostet?“ in FAZ, 15.07.2023, S. 22. 116 Günther Anders, Die atomare Drohung – Radikale Überlegungen zum atomaren Zeitalter (München: C.H. Beck, 19834), S. 96. Menschen seien demnach invertierte Utopisten; denn „während Utopisten dasjenige, was sie sich vorstellen, nicht herstellen können, können wir uns dasjenige, was wir herstellen, nicht vorstellen.“ 117 So stellt eine Untersuchungskommission des US-Senats fest: “Based on the analysis of the publicly available information, it appears reasonable to conclude that the COVID-19 pandemic was, more likely than not, the result of a research-related incident.” US Senate HELP Committee, An Analysis of the Origins of the COVID-19 Pandemic, Interim Report, Senate HELP Committee Minority Oversight Staff Releases Interim Report Analyzing Origins of COVID‐19 Pandemic | The U.S. Senate Committee on Health, Education, Labor & Pensions. Published 2022. [07.01.2023]. https://www.help.se nate.gov/ranking/newsroom/press/senate-help-committee-minority-ov ersight-staff-releases-interim-report-analyzing-origins-of-covid-19-pandemic 118 Hier spielt die sogenannte Gain-of-function-Forschung eine besondere Rolle. Dabei handelt es sich um gentechnische Forschung, die darauf abzielt, die Übertragbarkeit oder Virulenz (insbesondere Aggressivität und Toxizität) von Krankheitserregern zu erhöhen, um deren Funktionsweise besser zu verstehen. 119 Vgl. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984). 120 Eine in Hans Jonas‘ Prinzip Verantwortung schlummernde Zirkularität besteht überdies darin, dass zwar alles Erdenkliche zu tun sei, eine Gefahr zu vermeiden, aber demnach auch nichts erlaubt werden dürfte, wenn nicht die geringste Gefahr ausgeräumt worden sei. 121 Günther Anders, „Die beweinte Zukunft“, in Ders., Die atomare Drohung – Radikale Überlegungen (München: C.H. Beck, 19834), S. 1-10. 122 So hatten z.B. Simulationsmodelle eines Forscherteams um Neil Ferguson vom Imperial College London in der frühen Phase der Corona-Pandemie besonders schockierende Prognosewerte vermeldet. Vgl. David Adam, “Special report: The simulations driving the world’s response to COVID19”, in Nature 580, 316-318 (2020). Eine deutsche Fassung ist zu finden unter: https://www.spektrum.de/news/simulationen-die-regierungen-lenken/1720164. 123 Vgl. Obermaier, „Entscheidungen unter Ungewissheit“, S. 71. Bei Vorliegen einer Kontrollgruppe ließe sich hingegen sehr wohl ermitteln, welche Wirkung Maßnahmen zuzuschreiben ist. 124 Wem fallen im Zuge der Corona-Krise nicht sofort Corona-Testcenter und PCR-Labore ein. Auf der anderen Seite dieser Asymmetrie stehen aber auch Verlierer, etwa Einzelhändler oder Restaurants, die schließen mussten und allenfalls Ausgleichszahlungen beantragen konnten.
Persönlichkeit, Auktorialität und Wissenschaftsfreiheit. Über die Neugründung eines Persönlichkeitsideals als Voraussetzung für eine Kultur der Wissenschaftsfreiheit Jan Dochhorn Wissenschaftsfreiheit ist gefährdet, und die Gefahr kommt auf die Wissenschaft nicht nur von außerhalb zu (beispielsweise aus Politik und Wirtschaft), sondern erwächst ihr aus einem ihr Zugehörigen, aus der Art nämlich, wie Wissenschaft gegenwärtig konkret betrieben wird und sich institutionell manifestiert. In diesem Beitrag soll es – vornehmlich aus der Erfahrungsperspektive eines bibelwissenschaftlich arbeitenden Theologen – um Gegebenheiten des Wissenschaftsbetriebs gehen, die eine repressive Tendenz aufweisen, dabei aber vielfach nicht weiter auffallen. Man arrangiert sich mit ihnen; sie bleiben einem nahezu unbewusst. Und gerade darum können sie destruktiv werden. Ich werde diese Gegebenheiten anfangs kurz präsentieren (§ I) und dann als eine gemeinsame Ursache den Verlust einer Wertschätzung von Auktorialität und Persönlichkeit ausmachen (§ II). Für deren Rückgewinnung werde ich anschließend kulturelle Grundlagen andeuten und theologische Anknüpfungspunkte benennen (vornehmlich aus paulinischen Beständen). (§ III). Ein Plädoyer für den starken Einzelnen und seinen prinzipiellen Vorrang vor dem Kollektiv als Grundbedingung gelingender Wissenschaft wird dann am Ende stehen (§ IV). Zwei Vorklärungen sind erforderlich: 1. Dieser Beitrag ist essayistisch gehalten, was damit zu tun hat, dass er aus einem Vortrag erwachsen ist, mir aber auch abgesehen davon sachgemäß erscheint: Essayistik ist eine Methode der Wirklichkeitswahrnehmung und damit wissenschaftsaffin oder auch im engeren Sinne wissenschaftlich. Sie bietet sich als Gestalt von Gedanken speziell da an, wo in der Betrachtung einer Sache persönliche Ergriffenheit mehr als sonst zum Ausdruck kommen muss. Dies ist bei dem gegebe-
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PERSÖNLICHKEIT, AUKTORIALITÄT, WISSENSCHAFTSFREIHEIT 231 nen Thema der Fall: Gegen einen Mangel an Atemluft muss der Geist sich wehren, und das drängt ihn zur engagierten Rede. 2. Der persönlichen Ergriffenheit geschuldet ist auch die hier mit Bedacht eingenommene Ich-Perspektive. Sie scheint mir auch generell weit mehr wissenschaftsangemessen, als vielfach gedacht wird: Das objektivierende „man sieht“ läuft sehr leicht auf eine rhetorische Insinuation hinaus, indem der Eindruck erweckt wird, es könne niemand nicht sehen, was „man“ sieht. Wer aber sieht denn, wenn in einem Wissenschaftstext ein Sehen beschrieben wird? Der Verfasser des Textes, der sich als beobachtende Persönlichkeit zu erkennen gibt, ein Ich. Dem Leser ist, wenn ich „ich“ sage als das beobachtende Ich, die Ratifizierung dessen überlassen, was da jemand sehen will – weit eher als bei der objektivierenden, den Beobachter ausblendenden Redeweise.
I.
Ganz normale Restriktionen
Ich werde nachfolgend nicht vorrangig über Cancel Culture oder die Restriktionen der Political Correctness reden; in der Hauptsache wird es um weniger Spektakuläres gehen, das indes zum Vorfeld des offensichtlich Freiheitsgefährdenden gehört: 1. Anglisierung Der Druck, nicht in der Muttersprache zu publizieren, steigt. Ich meine damit nicht die Situation des Gastarbeiters Jan Dochhorn in Durham; meine Kollegen akzeptieren, dass ich überwiegend auf Deutsch schreibe (anders als viele Kollegen, speziell jüngere, auch in Deutschland). Nein, auf Tagungen, die von Deutschen in deutschen Kleinstädten organisiert werden und deren Produkte dann oftmals in einem ebenfalls kleinstädtischen Verlag veröffentlicht werden, legt man mir zunehmend das Publizieren auf Englisch nahe. Sachlich ist das überhaupt nicht notwendig: Meine deutschsprachige Forschung wird international in etwa genauso wahrgenommen wie die englischsprachige (wenn es denn auf internationale Wahrnehmung überhaupt ankommt); ich kann das anhand der Internetpräsentation zu meiner Forschung auf Academia.edu umstandslos beobachten. Auch scheint die Wahrnehmung meiner Person auf diesem Portal nicht mit der Sprache zu korrelieren, sondern mit der Anzahl der dort untergebrachten
232 JAN DOCHHORN Publikationen, wie mir ein allerdings eher oberflächlicher Vergleich mit Kollegen zeigt, die dort ebenfalls ausstellen. Die Folgewirkungen des Anglisierungsdrucks sind nachteilig: Nicht nur, dass viele der englischsprachigen Texte meiner Kollegen, sehr wahrscheinlich auch meiner selbst, in ihrer Zähigkeit nur mit Mühe zu ertragen sind, es muss Auswirkungen haben, wenn Wissenschaft mehr und mehr und dann überwiegend stattfindet in einer Sprache, die nicht die eigene Muttersprache ist: Ist sie dann wirklich passioniert, existentiell durchlebt, Anliegen meiner Persönlichkeit? Es schmerzte mich, als ich kürzlich – wieder einmal zu Besuch an meiner ehemaligen Wirkungsstätte in Aarhus – mit einem dänischen Doktoranden redete, der für eine auf Dänisch geführte Konversation über seine Forschungsarbeit das dänische Vokabular nicht mehr zur Verfügung hatte. Ich gebe zu bedenken, dass der kreative Schub, den wir in der deutschen Forschung nach Immanuel Kant beobachten können1, geistreiche Irrtümer eingeschlossen, mit dem Aufstieg der Muttersprachlichkeit parallel geht. Und eher das Gegenteil scheint mir mit Fremdsprachlichkeit verbunden: In Dänemark, wo man früher viel auf Deutsch publizierte und jetzt fast ausschließlich auf Englisch, fiel mir von Anfang an eine koloniale Selbstwahrnehmung auf: An welcher Forschung orientieren wir uns, fragte man dort immer, und speziell die jüngere Generation optiert für die englischsprachige. Ich wandte dann immer ein: Stehen wir denn nicht auf eigenen Beinen? Könnte es nicht vorkommen, dass man sich eher an uns orientiert als wir an anderen? Verstanden wurde ich eher selten. In einer kolonisierten Wissenschaftskultur sieht man sich als Peripherie, nicht als Ausgangspunkt von Impulsen. Auch in Deutschland beobachte ich Momente einer solchen Kolonisierung: Nicht nur großbritannische und dänische, auch deutsche Neutestamentler pilgern im November alljährlich zum Kongress der amerikanischen Society of Biblical Literature, auf dem zunehmend Themen wie Gender und Postcolonial Studies die Szenerie bestimmen. Kosten spielen keine Rolle, auch die ökologischen nicht; Dekarbonisierung ist nichts als ein Sprachereignis, sobald Internationalisierung sich geltend macht, übrigens auch Digitalisierung; das eine unfragliche Gute wird vom anderen unfraglich Guten verdrängt, anscheinend ohne dass dabei eine Denkregung die stillen Gewässer der universitären Gemüter kräuselte. Man könnte bessere Wissenschaftserfahrungen auf dem Colloquium Biblicum Lovaniense machen, wo Mehr-
PERSÖNLICHKEIT, AUKTORIALITÄT, WISSENSCHAFTSFREIHEIT 233 sprachigkeit nach wie vor zum Konzept gehört (man hat dort eine englische, eine französische, eine deutsche und eine niederländische Sektion). Zur Anglisierung und zugleich Kolonisierung gehört auch eine weltweite Uniformisierung von Diskursen: Über das ihr sachlich zukommende Gewicht hinaus bestimmen angelsächsische, speziell amerikanische Forschungsdiskurse das Wissenschaftsgespräch, wozu sicher ein sprachlicher Vorteil beiträgt. Eine wichtige Folge: Während früher für den einzelnen Forscher mit internationaler Forschung die Chance verbunden war, Diskursverengungen des nationalen Kontextes zu entgehen (etwa indem man wie Martin Hengel Kontakte zu englischen und amerikanischen Kollegen aufbaute, um einmal etwas anderes zu haben als die deutschen Kollegen, die sich ihm allzusehr in den immer selben Kreisen der Bultmannschule drehten), erweisen sich heute die Diskursverengungen als international, stößt man heute weltweit mehr und mehr auf das immer Gleiche, auch daheim. Ich muss die offenbar allgegenwärtigen Ideologeme der Diversity-, Equality- und Inclusion-Agenda gar nicht erst zur Sprache bringen. Es genügt schon der Hinweis auf spezifisch Fachwissenschaftliches, etwa sogenannte neue Paulusperspektiven, die nach meiner Wahrnehmung das Forschungsgespräch zu Paulus stärker international gleichrichten, als es zuvor der Fall gewesen ist. Bedenklich scheint mir nicht zuletzt, dass mit solchen Gleichrichtungsprozessen sehr viel Wichtiges der Aufmerksamkeit entgeht: Das Thema Paulus und Judentum, konstitutiv für die „neuen“ Perspektiven und ganz gewiss nicht irrelevant2, lässt Fragen etwa zur Anthropologie, Hamartiologie, Eschatologie, Engellehre des Apostels tendenziell in den Hintergrund treten. Man müsste hier wieder anknüpfen an Diskurse, die es in nationalen Forschungstraditionen schon gegeben hat. Eine Renationalisierung von Wissenschaftskulturen, verbunden mit einer Rückbesinnung auf eigene Traditionen, könnte gegenwärtig international zu mehr Vielfalt führen und das Niveau heben. Zur Sprachenfrage seien hier noch modifizierende Nebenbemerkungen erlaubt. 1. Es war immer auch reizvoll für Wissenschaftler, sich in anderen Sprachen zum Ausdruck zu bringen als in der eigenen. Reizvoll ist es auch für mich, wenn ich damit in freier Entscheidung Beziehungen pflegen kann zu einer Forschungskultur, die nicht meine eigene ist, die ich bewusst als eine andere wahrnehme. Völlig reizlos ist aber für mich ein Publizieren in einer international uniformierten lingua franca, das ich nur um einer
234 JAN DOCHHORN angeblichen Marktwirkung willen unternehmen müsste, als eine Anpassungsleistung. Wenn ich freiwillig auf Englisch publiziere, dann aus einer in meinem Falle sehr starken Verbundenheit mit der angelsächsischen Forschungskultur, die mir als einem Deutschen eignet und nicht als einem, der in ihr – unerkennbar in seiner Eigenheit – subsumiert würde. 2. Das altehrwürdige Publizieren auf Latein ist ambivalent zu beurteilen: Zum einen steht es für einen vornationalen Zustand der Wissenschaft, in dem die kreativen (auch die dekonstruktiven) Kräfte noch gehemmt sind. Zum anderen ist es (war es) dem Publizieren auf Englisch in einer ganz entscheidenden Hinsicht überlegen: Mit einem lateinischen Text setzte man sich in Kontakt mit einer altererbten Bildungswelt, in der sich Jahrhunderte vor einem auftun. Womit aber setze ich mich in Kontakt, wenn ich auf Englisch publiziere? Wann ist es denn jemals die kulturelle Welt, der auch Shakespeare, Hobbes und Burke entstammten? Ist es nicht gewöhnlich nur ein Gegenwartsgespräch, verortet nirgends und überall, beschränkt auf eine Fachwelt, in dem Erinnerung an weitere Hintergründe schon längst verhallt ist?
2. Qualitätskontrolle Brauchten die Gründergestalten unser Disziplinen – für die neutestamentliche Exegese und die Patristik sei auf Adolf von Harnack oder Theodor Ritter von Zahn verwiesen – so etwas wie Peer Review? . . . Warum brauchen wir es dann? Weil wir allesamt nur Knirpse sind, auf die man aufpassen muss? Und warum braucht dergleichen ein Herausgeber? Weil er ebenfalls ein Knirps ist und nicht die Statur hat, mir von Person zu Person ins Gesicht zu sagen, dass meine Forschung seines Erachtens nicht gut ist? Ich belasse es beim Fragen und füge nur die Beobachtung hinzu, dass Herausgeber tendenziell übergriffiger werden. Ich frage mich: Woher nehmen diese meine Kollegen sich eigentlich die Zeit, Texte anderer Forscher zu verunstalten? Ich beobachte im Übrigen eine Negativkorrelation zwischen Forschungsauftritt und Übergriffigkeit bei Herausgebern: Es sind nicht die kreativeren und geistig bedeutsamen Forscher, die Texte ihrer Kollegen verbessern zu müssen meinen. Die vorgebliche Verbesserung besteht dabei fast durchweg in der Anpassung an Konvention: Statt des ungewöhnlichen Ausdrucks etwa setzen die Kollegen einen gewöhnlichen ein – und merken dabei nicht, dass er nicht passt (wohl weil es ihnen an Empathie mit der Subjektivität des Autors fehlt). Wie viel nutzlose Zeit man doch beim Korrekturlesen verbringen muss, solche Dummheiten zu eliminieren! Und wie viel mehr davon, wenn die Herausgeber dann auch noch den Vorgesetzten spielen und auf ihrem Besserwissen beharren!
PERSÖNLICHKEIT, AUKTORIALITÄT, WISSENSCHAFTSFREIHEIT 235 3. Standardisierung In älteren Zeitschriften-Jahrgängen findet man Aufsätze, die sich über 100 Seiten erstreckten. Andere erschienen tranchenweise; aus manchen solcher Aufsätze wurden dann Bücher gemacht. Gibt es dergleichen heute noch? Ein Zeitschriftenaufsatz hat heute fast durchweg Normformat – in aller Regel sind nicht mehr als 25-30 Seiten erlaubt. Wie soll ich mich so einmal gehen lassen können, meinem Forschungsobjekt nachgehen können, bis ich bei ihm angelangt bin? Zur Standardisierung gehören auch immer rigidere Vorgaben für die Manuskriptgestaltung: Lassen wir einmal die Formalia beiseite; bleiben wir dabei, dass man zum Beispiel beim Rezensionsportal SozKult keine Besprechung veröffentlichen kann, die nicht strikt einem festgelegten Gliederungsschema folgt. Können Autor*innen heute keine Rezensionen mehr schreiben, geraten Leser*innen aus dem Takt, wenn anderes als Erwartbares auf sie zukommt? Standardisiert ist auch die Sprache: Hölzern pedantischer Autoren- und Autorinnen-Sprech ist an die Stelle einer flexibel auf das Thema fokussierenden und dabei formschönen Rede getreten, oftmals auch Gendersprache, die ich allenfalls – wie soeben – zu satirischen Zwecken verwenden werde. Geradezu schreckenserregend ist für mich das Menschenbild, das diesen Sprachgesten zugrundeliegt. Man argumentiert mit Wissenschaft, die ja bekanntlich so alles mögliche unhinterfragbar feststellt, und beruft sich auf Reaktionsversuche, denen zufolge Probanden, wenn sie das Wort Förster hörten, unwillkürlich eher an einen Mann dächten. Ob es sich so verhält oder nicht, sei hier dahingestellt.3 Warum aber ist das überhaupt ein Problem – und gar ein großes? Kommt es nicht auf die willkürliche und das heißt freie wie auch personale Entscheidung des Geistes an, die auf den unwillkürlich entstandenen Vorstellungsgehalt erst folgt? Ich weiß, dass rechtlich Försterinnen zulässig sind, bejahe diesen rechtlichen Zustand auch, möchte aber keineswegs dazu genötigt sein, ihn mit jeder Aussage forstwissenschaftlichen Inhalts dauerzubejahen. Ich kann mich nicht verstehen als ein Mensch, der betrachtet wird als konditioniert (durch angeblich geschlechterdiskriminierende Sprache) und den umzukonditionieren durch eine Totalerfassung von Sprache im Sinne feministischer oder genderistischer Ideologie anzustreben wäre. Unter Geistesleben und überhaupt Humanität stelle ich mir ungefähr das Gegenteil vor: Ich bin nicht konditioniert und ich will nicht konditioniert werden;
236 JAN DOCHHORN sowohl ontologisch wie ethisch bin ich in den Blick zu nehmen als jemand, der mit Freiheit und Bewusstheit verwandt ist. Standardisiert ist auch der Mensch: In einer Ausschreibung zu einem W3-Lehrstuhl für das Neue Testament las ich etwas über die notwendige „Passfähigkeit“ des Bewerbers / der Bewerberin „in das kulturtheoretische Profil der Fakultät“.4 Inwieweit wird hier eigentlich schon ideologische Konformität verlangt? Und hätten die Großen unserer Fächer, etwa die Neutestamentler Rudolf Bultmann oder Martin Hengel, eine solche Passfähigkeit aufweisen können? Sie wären der modernen Universität wohl nicht gewachsen gewesen. Nun, der heutige wissenschaftliche Nachwuchs sollte von derlei Anpassungsdefiziten unbelastet sein: In Dänemark etwa steht fest, wie eine Doktorarbeit auszusehen hat: Sie ist – außer bei Sondergenehmigung – auf Englisch geschrieben, ist auf eine bestimmte Zeichenzahl strikt begrenzt und folgt Mustern, die man in Doktorandenschulen nahelegt, wo man übrigens auch Kurse besucht über den richtigen Umgang mit universitären Hierarchien. 4. Handbücher Gerade in der letzten Dekade sind meiner Einschätzung nach – jedenfalls in der Theologie – mehr als zuvor Lehrbücher, Handbücher, auch Lexika projektiert oder herausgebracht worden. Wie originär ist eine solche Forschungstätigkeit eigentlich? Zweifellos: In der Synthese bzw. Gesamtschau kann durchaus Originarität zutage treten, aber nun kommt ein bestimmtes Moment zum Tragen: Die genannten Publikationen sind gewöhnlich nicht (Alters-) Werke von Einzelnen, die Lexika ja sowieso nicht, sondern redigierte Sammelbände; wo Gesamtschau zu erwarten wäre, findet sich anstelle dessen die standardisierende Redaktion – die im Übrigen gewöhnlich durch ein Kollektiv ausgeübt wird. Zudem arbeitet auch diese Redaktion vielfach sehr stark mit Vorgaben. Auch hier gibt es also vieles, das uns vor kreativen Irrwegen sichert. 5. Adressatenorientierung Wir hatten als geschlechterinklusiv angesehene oder gegenderte Sprache schon erwähnt. Derlei Sprachgesten gehören in einen größeren Zusammenhang, mit dem auch die zu Recht vielfach beklagte Cancel Culture verbunden ist: Als maßgeblich für einen Kommunikationsakt gilt tendentiell nicht mehr das sich mitteilende, als Inhaber der Mitteilung herkömmlich auch geistig überlegene Individuum, sondern das Audi-
PERSÖNLICHKEIT, AUKTORIALITÄT, WISSENSCHAFTSFREIHEIT 237 torium, das über die Mitteilung richtet, und zwar speziell hinsichtlich der Frage, ob etwa Gefühle und Befindlichkeiten von Mitgliedern des Auditoriums verletzt würden. Zugrunde liegt ein Verständnis von Kommunikation, das weniger auf das vom Sender zu Sendende abhebt als auf Harmonie zwischen Sender und Empfänger und – verbunden damit – eher auf Respekt als auf Provokation. Es müsste unschwer einzusehen sein, dass mit einer solchen Konstruktion von Gespräch Neues prinzipiell nicht mehr gesagt werden kann, es sei denn, es geschieht irgendein Wunder, denn im Prinzip kann ich nichts Neues sagen, wenn Richtschnur für das von mir zu Sagende nicht meine eigene Erkenntnis, sondern der Wille des Publikums ist, das prinzipiell doch das, was ich sagen will, gar nicht wollen kann, da es dies noch nicht kennt. Entsprechend steril werden dann die Debatten; es wäre einmal zu fragen, wo im politisch korrekten Milieu eigentlich Aussagen getätigt werden, die mehr als analytisch wären, also in mehr bestünden als in der Entfaltung, Perfektionierung, Radikalisierung eines bereits erlaubten Gedankens. Und man wird konstatieren dürfen: Was als Harmonie beginnt, endet als die Tyrannei des Nichtmehrsagendürfens. Auf eine stickige Atmosphäre reagiert man mit Fernweh, und der weiteste Raum, auf den Fernweh sich beziehen kann, ist die Vergangenheit. Und so frage ich: Wo ist uns heute der aus der Vergangenheit gut bekannte selbstherrliche Autor verblieben, der im Sprachgestus oder auch explizit bedenkenlos zu erkennen geben kann, dass es ihm einigermaßen gleichgültig sei, ob das Publikum ihn versteht oder gar beglückt ist über seine Botschaft, der die sichere Überzeugung hegt, dass seine Botschaft notwendig genug sei, um unter Mühen und gegen emotionale Widerstände erkundet zu werden? Als eine Richtschnur dafür, was ein Autor eigentlich darf, zitiere ich ein Gedicht von Günter Eich aus dem Jahre 19645:
Huhu Wo die Beleuchtung beginnt, bleibe ich unsichtbar. Aus Briefen kannst du mich nicht lesen und in Gedichten verstecke ich mich. Den letzten Schlag gab ich euch allen. Mich triffst du nicht mehr, solang ich auch rufe.
238 JAN DOCHHORN Nun, hier hat Günter Eich sich einmal verständlich gemacht; das war ausnahmsweise nötig, um dem Publikum zu erklären, wie unbedeutend, wenn nicht unerwünscht, dem Autor das Verstandenwerden durch das Publikum ist. Gewiss: Sprechen scheitert hier, soll auch scheitern, als scheiternd erlebt werden. Aber: Lohnt Günter Eich sich nicht? Und Martin Heidegger? Und Rudolf Bultmann mit seinem vielfach esoterischen Vokabular? Und der Alttestamentler Hans-Peter Müller, dessen Vorlesungen mir immer etwas einbrachten, auch wenn ich selbst bei ausgeruhtem Leibe, also eher selten, nicht mehr als 30% verstand und er den Umgang mit Studenten etwas stärker erlitt als genoss? Wie lohnend ist dagegen eine auf Harmonie bedachte Publikumsanrede, die vom Adressaten her denkt, indem sie sich etwa mit maximaler Bravheit an der geschlechtlichen Zusammensetzung des Auditoriums orientiert oder an den bei ihm vermuteten Befindlichkeiten? Es soll hier nicht der Eindruck erweckt werden, dass heute keine unverständlichen Texte verfasst würden, in der Dichtung wie in der Wissenschaft. So sehr darunter natürlich viel Gutes zu finden ist, wird man doch zu prüfen haben, ob diese Texte hinreichend selbstherrlich sind oder eher nach Marktgesetzen unverständlich. Ebenfalls zu prüfen bleibt, ob das Unverständliche zu entschlüsseln sich lohnt. Beschränken wir uns hier auf die Wissenschaft: Marktgängig und der Entschlüsselung nicht wert waren jedenfalls Falsifikate, die James A. Lindsay, Helen Pluckrose und Peter Boghossian in mehreren Fachzeitschriften unterbrachten. Mit aufwendigem und zugleich angesagtem Jargon haben sie Pseudo-Forschungsergebnisse lanciert, etwa ein Plädoyer für eine postkoloniale und feministische Astronomie (als Alternative zu einer weißen und imperialistischen).6
II.
Persönlichkeitsverlust
Was liegt den aufgezeigten Phänomenen zugrunde? Es ist, so scheint mir, uns der Sinn für den starken Einzelnen und die ihm zugehörige Freiheit verloren gegangen. Persönlichkeit zählt nicht, ist nicht erwünscht. Hierzu eine Anekdote: Auf einer Tagung im Max-Weber-Kolleg entglitt meinen Lippen das bewusste Wort; ich sagte – eher aus Versehen – „Persönlichkeit“. Sofort schoss eine – im Übrigen mit einigem Recht international renommierte – Kollegin empor und warf ein, dieser Begriff sei obsolet, passe auch gar nicht zu uns, die wir doch alle nur eine Rolle zu spielen bemüht seien, die des Professors nämlich. Die Zustimmung war allgemein; eine andere Kollegin warf das kaum sehr
PERSÖNLICHKEIT, AUKTORIALITÄT, WISSENSCHAFTSFREIHEIT 239 präzise Wort „romantisch“ in die Runde, um den mir unterstellten Standpunkt einer Kennzeichnung zu unterziehen. Ich dachte mir: Ich und die Rolle eines Professors spielen – bzw. die eines Associate Professors? So etwas wie eine gesellschaftliche Rolle sollte ich mir doch in die Tasche stecken können! Trägt man einen Lehrstuhl auf den Schultern oder sitzt man drauf? Ist nicht der Mensch, wenn als ein Eigenes vorhanden, größer als sein Amt? Es waren doch auch diejenigen, zu denen wir aufblicken, eher nebenbei Professor, in der Hauptsache aber Sprachschöpfer, Gedankenschöpfer! Warum ist uns die Liebe zum Konzept Persönlichkeit abhandengekommen? Kurt Pinthus berichtete im zweiten Vorwort zu seiner Menschheitsdämmerung im Jahre 1959 – angelehnt an die Expressionismusdebatte – von einer holländischen Studie, derzufolge der deutsche Expressionismus den Nazismus vorbereitet habe. Und er beklagte im Zusammenhang damit, in Ost und West sei ein Konformismus aufgekommen, aufgrund dessen jeder, der eigenständig denke, als Nihilist verdächtigt werde.7 Zeigt sich hier der resignative Mensch, der nicht damit fertig wird, dass mitten in der Zivilisation und in der Generation, die neben vielen anderen aufregenden Innovationen auch den Expressionismus hervorbrachte, der Holocaust stattfand? Hat der Verlust des Persönlichkeitsideals etwas mit einer schon älteren Ermüdung zu tun, die aufgekommen ist, weil uns Illusionen über den gesellschaftlichen Fortschritt abhanden gekommen sind? Oder liegt etwas anderes vor, etwa ein Antielitarismus, der den Kern des Elitären und damit das Hauptziel seiner Abneigung weniger in unverschämtem Reichtum oder in der sozialen Überlegenheit des gesellschaftlich Höhergestellten sieht als vielmehr im Bildungsbürgerlichen, in der schwer erreichbaren Souveränität dessen, der mit unbekannten Traditionsbeständen Umgang hat und von daher Eigenheit bezieht? Ich erinnere mich an eine Äußerung des SPD-Politikers Sigmar Gabriel, Hausaufgaben sollten abgeschafft werden, da mit ihnen Vorteile für Kinder aus gebildeten Elternhäusern verbunden seien.8 Mehreres erscheint mir an dieser Aussage destruktiv, unter anderem, dass sie darauf hinauszulaufen scheint, eher Vorteile zu beseitigen als Nachteile zu beheben und eher vielen das Fordern und Fördern zu ersparen, als es allen zu ermöglichen. Selbst wenn eine Ganztagsbetreuung die Alternative sein sollte: Diese wäre wohl etwas anderes als das eigenständige Arbeiten, bei dem ein Schüler auf sich selbst gestellt ist
240 JAN DOCHHORN und zu sich selber kommt. Warum plädierte Gabriel nicht dafür, Schülern Arbeitsräume an Schulen oder in öffentlichen Bibliotheken einzurichten, speziell für Bildungsferne und verbunden mit staatlich geförderter Hausaufgabenhilfe, die Eigenarbeit fördert und nicht supplementiert? Man muss bei alledem wissen, dass die SPD seit 1997, als die Vermögenssteuer ausgesetzt wurde, 20 Jahre Zeit hatte, eine neue zu installieren. Nicht dass ich auf eine solche sonderlich Wert legte, aber es sieht fast so aus, als störe die Sozialdemokraten die Vererbung von Reichtum weniger als die Vererbung von Bildung. Ich meine: Unser Land braucht dringend eine geistige Elite, und kulturell ambitionierte Eltern werden – nicht ohne dass Gerechtigkeit mit im Spiel wäre – mit größerer Wahrscheinlichkeit zu dieser beisteuern also solche, die nicht in dieser Weise ambitioniert sind. Aber gerade geistig Elitäres scheint Unbehagen auszulösen. Ist es einer egalitaristischen, vielleicht auch einer demokratischen Mentalität mehr zuwider als der materielle Reichtum – etwa von Fußballspielern, von Leuten wie du und ich? Ich verzichte auf abschließende Diagnosen9 und suche nach Remeduren.
III. Persönlichkeitsfindungen, speziell in theologischer Perspektive Das Freiwerden von Persönlichkeit ist immer wieder propagiert und ausprobiert worden; wir können viele Ansätze beobachten: Die Überwindung kosmischer Tragik durch sterbende Sopranstimmen bei Wagner gehört dazu, die Zarathustra-Pose bei Nietzsche ebenfalls, dazu die konsequente Emanzipation des Künstlers bei Stefan George10, und auch Gottfried Benn kann genannt werden, der das Ich des Dichters einer auf Konvention insistierenden Mitte entgegenhalten konnte11; die Verszeilen „bleiben und stille bewahren / das sich umgrenzende Ich“12 sind sicher noch einigen im Ohr. Besonders anregend scheint mir in diesem Zusammenhang der Tiefenspychologe Carl Gustav Jung mit seinem Gedanken der Individuation, aus dem ich mir ableite: den individuierten Einzelnen, dem Kollektiv weit überlegen, gegründet in der Erfahrung, den Umgang mit Kollektivmächten in der Seele und in der Gesellschaft einmal durchgemacht zu haben und dabei zu sich selber gekommen zu sein. Das ist ein Leitbild, dem wohl auch nahe kommt, was man bei Carl
PERSÖNLICHKEIT, AUKTORIALITÄT, WISSENSCHAFTSFREIHEIT 241 Gustav Jung über den modernen Menschen liest; er meint damit nicht das Straßenpublikum von Großstädten und das Kollektiv der Kinobesucher, sondern den seltenen Einzelnen, der auf einsamer Höhe steht und alle Gewissheit hinter sich gelassen hat, dies bei einem zuweilen überraschend konservativen Habitus.13 Derselbe Carl Gustav Jung bewunderte, wie hier wenigstens anekdotisch angemerkt werden soll, auch Amerika – für ein dort ihm ungewöhnlich stark erscheinendes Zutrauen in menschliche Intelligenz (es ist ein wohl inzwischen vergangenes Amerika): Bahnübergänge seien dort, berichtet er, nicht gesichert; auf seine Frage, was das denn solle, erhielt er die Antwort, es sei doch keiner so unbedarft, auf Bahngleisen herumzulaufen.14 Ich sehe bei dem, der hier solche Geschichten erzählt, eine Vorliebe für die Einzelpersönlichkeit, an der zu orientieren sich lohnt. Wie kann eine Reaktivierung des Persönlichkeitsgedankens in theologischer Perspektive vonstatten gehen? Ich erwähne nun einen Ansatzpunkt, wohl einen von vielen, der mir bei meiner Arbeit zu Paulus wichtig geworden ist und den ich nun von Paulus ausgehend entfalte: Die Sündhaftigkeit des Menschen besteht bei Paulus meines Erachtens nicht, wie in reformatorischer Tradition oft behauptet (bei Paul Althaus etwa oder auch bei Rudolf Bultmann sowie Günther Bornkamm und mit eigener Wendung bei Karl Barth), in einem Gott entgegenstehenden Selberseinwollen, einem Wunsch des Menschen, gegen Gott Ich zu sein, sogar in moralischem Tun, das man Gott selbstbewusst und dann nicht mehr gottesbewusst entgegenhielte.15 Eher ein Gegenteiliges ist der Fall: Wenn Paulus von Sünde redet, dann meint er vornehmlich eine Macht, die mit Kirchenschriftstellern wie etwa Methodius von Olympus, Didymus von Alexandrien und Ambrosiaster als der Teufel selbst zu identifizieren ist. Die Sünde geht – vor allem Rm 7,7 – 25 zufolge – als ein personales Agens strategisch gegen den Menschen vor, okkupiert ihn und bestimmt ihn in seinem Handeln, so dass der Mensch gegen besseres Wissen und gegen einen besseren Willen das Böse tut und nicht das Gute (Rm 7,15.19). Der Mensch ist damit gewissermaßen gefangen in einem Tun, das er nicht will; Paulus bezeichnet ihn denn auch tatsächlich als einen Gefangenen, der durch Christus zu befreien ist (Rm 7,23.24; 8,2). Doch hat dieses Gefangensein auch einen positiven Aspekt: Es gibt überhaupt einen, der gefangen ist: Es ist ein Innerer Mensch im böse handelnden Menschen, der anders will, als der Mensch tut (Rm
242 JAN DOCHHORN 7,22). Dieser Innere Mensch kann in seinem Sünden-Gefängnis nicht gehen, wohin er will, so mag man es plastisch mit dem voraugustinischen Pauluskommentator Ambrosiaster sagen16, aber er will eben auch. Der Innere Mensch steht für einen dem Ich eignenden Personkern, für etwas, das in ihm seit je her, schon außerhalb des Christusgeschehens, mit dem Guten, mit dem heiligen Gesetz Gottes im Denken übereinstimmt (Rm 7,12.16)17 und im Wollen kongruiert (Rm 7,22).18 Traditionsgeschichtlich ist der Innere Mensch von Rm 7,22 verwandt mit dem Wesenhaften Menschen im hermetischen Traktat Poimandres, dem im Körper befindlichen Geist-Menschen göttlicher Herkunft, durch den der Mensch unsterblich ist und über alles Vollmacht hat, während er gleichzeitig den Körper als das Sterbliche erleidet, das dem Schicksal unterworfen ist.19 Und sachlich ist wohl auch der Abstand zu gnostischen Systemen, die etwas Göttliches im Menschen verorten, gar nicht so groß.20 Jedenfalls bleibt mit Adolf Schlatter und diesmal auch mit Paul Althaus, interessanterweise nicht liberalen, sondern eher konservativen evangelischen Theologen, zu konstatieren: Dem natürlichen Menschen, dem noch nicht erlösten Menschen traut Paulus mehr zu, als Luther es tat21, und das kann theologisch fruchtbar gemacht werden. Entscheidend ist aber in christlicher Sicht dann doch das Erlösungsgeschehen. Und dieses hebt eben nicht das Selberseinwollen des Menschen auf, sondern richtet sich vielmehr gegen eine Macht, die Sünde nämlich, die den Menschen am Selbersein hindert (vgl. Rm 8,3 – 4). Es lässt sich dieses Erlösungsgeschehen – wieder mit Paulus, aber in eigener Denkbewegung – folgendermaßen umreißen: Erlöst durch den Kreuzestod Christi kann der Mensch, können wir, wie ich hier nun als Christ sage, frei werden von einer uns kollektivierenden Macht, die uns zu einem uns fremden Handeln gedrängt hat und uns nicht Persönlichkeit hat werden lassen wollen. Mit Christus werden wir Menschen befreit zu einer Existenz als Persönlichkeit, die im personalen Gewissen dem personalen Gott gegenübergestellt ist – mit der Folge, dass wir nicht bloß wie zuvor gewillt, sondern auch handlungsfähig sind zum Guten. Und so sind wir denn befähigt, in Freiheit zu erfüllen, was uns das von Gott her stammende Gesetz an Gutem gebietet, sind wir befähigt, in freier Abwägung von Für und Wider das Gute zu tun angesichts einer Handlungssituation, die unsere Liebe zum Mitmenschen und zum Leben erfordert.22 Es ist nicht wenig, das da Christen
PERSÖNLICHKEIT, AUKTORIALITÄT, WISSENSCHAFTSFREIHEIT 243 gegeben ist; wir müssen nur wieder lernen, dessen gewahr zu werden und es im Glauben zu nehmen. Eine Kollegin schrieb mir kürzlich, sie hoffe, die Kinder der WokeGeneration würden Hedonisten, die es ihren moralisch verklemmten Eltern dann einmal zeigten. Ich möchte, bei aller Liebe zum Vergnügen, diese Aussage etwas verschärfen: Ich hoffe, diese Kinder werden Christen. Sie entdecken, dass in dem mittlerweile zweitausend Jahre alten Erbe dieser Religion die Chance zur Emanzipation steckt, anders als in dem wesentlich jüngeren und zugleich schon augenblicklich veralteten ideologischen Irrsinn, der, wie einmal Orwell sagte, vor allem an Universitäten gedeiht.
IV. Wiederentdeckung des starken Einzelnen für die Wissenschaft Aus dem vorhergehend Gesagten mag der Eindruck aufkommen, es bestehe, was ich zu bieten habe, in der Hoffnung auf eine Massenkonversion zum Christentum im Nachwuchs linksgerichteter Mittelschichtfamilien, gerne auch pubertätsinduziert, vielleicht auch von Kindern, die noch gar nicht geboren sind. Das kann dauern. Nichts gegen dergleichen, aber mir geht es jetzt um anderes: Informiert um einen theologischen Anhaltspunkt für eine Neuentdeckung von Individuation, Emanzipation, Persönlichkeit, möchte ich diese – meines Erachtens für die abendländische Kultur auch in Absehung vom Christentum nicht sehr untypischen – Werte23 reaktivieren für die Wissenschaft, in Zusammenarbeit mit Kollegen aus befreundeten und damit auch nichtchristlichen Bildungswelten. Mit polemischer Verdeutlichung sage ich: Gefordert ist der starke Einzelne und weniger der flexible Mitarbeiter, der sich einem Team einfügt, das aristokratische und stolze Individuum eher als der von der Universität produzierte Musterpostgraduierte, der weiß, wie man mit Hierarchien umgeht oder wie man herausfindet, was in der Forschung gerade dran ist, angesagt ist, für impactfähig und gesellschaftlich relevant gehalten wird. Ich bin überzeugt: Wenn dieses Bild von Persönlichkeit wenigstens einigermaßen auf dem Plan wäre, idealerweise auch mehr als die vielen lächelnden Gesichter in Hochglanzbroschüren aus universitären Pressestellen, dann gewönne bald unser aller Geschriebenes deutlich an Geltung, hätte vielleicht eine Chance, wieder
244 JAN DOCHHORN Teil einer nationalen Geisteskultur zu sein, statt in der Hauptsache einer Welt der Kongresse anzugehören, die ohne Fluglärm kaum zu denken ist und auf denen die meisten sich mit einem Englisch durchschlagen und mit einem Wissenschaftsjargon, dem Züge der Austauschbarkeit und eines kulturellen Nirgendwo eignen. Ich räume ein: Was ich hier zum Gespräch anbiete, stammt von der Perspektive eines geisteswissenschaftlich arbeitenden Theologen; es hätten meine Kollegen aus anderen Disziplinen zu ergründen, was damit in der Welt der großen Labore anzufangen ist. Und ich bedaure, dass ich in diesem Rahmen nicht konkrete Forderungen für die Gestaltung der Wissenschaftswelt formuliere, schon aus Zeitgründen. Mit der Skizzierung eines Ethos muss ich mich hier begnügen, in der Hoffnung, damit wenigstens Anstöße gegeben zu haben. 1
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Kant publizierte überwiegend auf Deutsch und nicht auf Latein. Dies war auch Linie der Königsberger Universität, die lateinische Vorlesungen, Kollegs und Disputationen als pädagogisch unangemessen ansah und dies auch in Stellungnahmen gegen die Regierung vertrat, vgl. Karl Vorländer, „Immanuel Kants Leben“, in Immanuel Kant, Sämtliche Werke, Supplement Philosophische Bibliothek 126; (Leipzig: Meiner, 1921), S. 95–96. Die entsprechenden Schriftstücke finden sich laut Vorländer bei Emil Arnoldt, Kleinere philosophische und kritische Abhandlungen, Abteilung 1. Gesammelte Schriften, hg. von Otto Schöndörffer 2 (Berlin: B. Cassirer, 1907), S. 259–262 (non vidi). Zur „New Perspective on Paul“ vgl. Christian Strecker, „Paulus aus einer ,neuen Perspektive‘. Der Paradigmenwechsel in der jüngeren Paulusforschung“, in Kirche und Israel 11 (1996), S. 3–18; zur Radical New Perspective on Paul vgl. den Überblick bei Jacob P. B. Mortensen, Paul among the Gentiles. A „Radical“ Reading of Romans Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie 28 (Tübingen: Franke, 2018), S. 21–43. Zur Aussagefähigkeit der Assoziationsexperimente vgl. Kritisches bei Oleg Dik / Jan Dochhorn / Therese Feiler / Michael F. Feldkamp / Meik Gerhards / Christian Herrmann / Detlef Hiller / Hans-Gerd Krabbe / Axel Bernd Kunze / Detlef Metz / Marius Reiser / Reinhard Weber / Ulrich Willers, „Einspruch gegen die Nötigung zur Verwendung sog. ,geschlechtergerechter Sprache‘ in theologischen Ausbildungsstätten“, in Auftrag und Wahrheit. Ökumenische Quartalsschrift für Predigt, Liturgie und Theologie 2 (2022/2023), S. 28–39, speziell S. 34–35. Die Ausschreibung liegt mir vor, aber ich referiere sie nicht, weil damit verbunden sein kann, dass der gegenwärtigen Stelleninhaberin Passfähigkeit attestiert würde, was eine Zumutung wäre. Vgl. Günter Eich, Ein Lesebuch. Ausgewählt von Günter Eich; Nachwort von Susanne Müller-Hanpft (Frankfurt: Suhrkamp, 1972), S. 93.
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Vgl. Yascha Mounk, “What an Audacious Hoax Reveals About Academia”, in The Atlantic, 18.10. 2018, unter https://www.theatlantic.com/id eas/archive/2018/10/new-sokal-hoax/572212/. Aus dem Plädoyer für eine feministische Astronomie wird dort folgende Passage zitiert: “Other means superior to the natural sciences exist to extract alternative knowledges about stars and enriching astronomy, including ethnography and other social science methodologies, careful examination of the intersection of extant astrologies from around the globe, incorporation of mythological narratives and modern feminist analysis of them, feminist interpretative dance (especially with regard to the movements of the stars and their astrological significance), and direct application of feminist and postcolonial discourses concerning alternative knowledges and cultural narratives.” 7 Vgl. Kurt Pinthus, „Nach 40 Jahren“, in idem (Hrsg.), Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus. Rowohlts Klassiker der Literatur und der Wissenschaft, Deutsche Literatur 4 (Hamburg: Rowohlt, 1955/1920), S. 7–32, speziell S. 14–15. 8 Vgl. hierzu „Bildungspolitik im Wahlkampf. Gabriel will Hausaufgaben abschaffen“, in Spiegel 02.09.2013 unter https://www.spiegel.de/lebenun dlernen/schule/bildung-im-wahlkampf-sigmar-gabriel-spd-will-hausauf gaben-abschaffen-a-919842.html. 9 Weiterhelfen mag immerhin ein Schopenhauer-Zitat: „Was Einer in sich ist und an sich selber hat, kurz die Persönlichkeit und deren Werth, ist das alleinige Unmittelbare zu seinem Glück und Wohlseyn. Alles andere [scil. äußere Umstände und Widerfahrnisse; JD] ist mittelbar; daher auch dessen Wirkung vereitelt werden kann, aber die der Persönlichkeit nie [scil. indem jemand persönlichkeitsbedingt reich und unglücklich bzw. arm und glücklich sein kann; JD]. Darum eben ist der auf persönliche Vorzüge gerichtete Neid der unversöhnlichste, wie er auch der am sorgfältigsten verhehlte ist.“, vgl. Arthur Schopenhauer: „Aphorismen zur Lebensweisheit“, in idem, Parerga und Paralipomena. Arthur Schopenhauer’s sämmtliche Werke, hg. von Julius Frauenstädt 5 (Leipzig: Brockhaus, 1891), S. 329–530, speziell S. 341. Im Übrigen ist die oben vorgenommene Gegenüberstellung von Reichtum und Bildung nicht im Sinne der Ausschließung gemeint, dahingehend also, dass nur eine Elite des Geistes anzuerkennen wäre, eine Elite des Geldes jedoch nicht. Auch letztere verdient Respekt, insonderheit wenn sie würdig vertreten wird, im Bewusstsein eines Rechts wie einer Pflicht des Elitären (also nicht unbedingt von Sigmar Gabriel, der wohl reich ist, aber mit egalitaristischer Rhetorik darüber hinwegtäuscht). Eine Aristokratie der Geburt kann in diesen Zusammenhang einbezogen sein, vgl. hierzu Schopenhauer, a.a.O. 459. 10 Als das Gründungsdokument der Georgeschen Emanzipation darf man wohl den Algabal ansehen, in dem der Künstler als absoluter Herrscher eines von allem Naturhaften unabhängigen Unterweltreiches figuriert: „Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme ‧/ Der garten den ich mir
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selber erbaut / Und seiner vögel leblose schwärme / Haben noch nie einen frühling geschaut“. Zur Unabhängigkeit gehört auch die Inszenierung von Asozialität, vgl. im Teppich des Lebens das Gedicht „Der Täter“, m.E. eines der besten Gedichte Georges, dessen zweite Strophe in vielen Lebenslagen Verwendung finden kann, auch für moralische Menschen: „Denn morgen beim schrägen der strahlen ist es geschehn / Was unentrinnbar in hemmenden stunden mich peinigt / Dann werden verfolger als schatten hinter mir stehn / und suchen wird mich die wahllose menge die steinigt“. Vgl. Stefan George, Werke. Ausgabe in zwei Bänden (Stuttgart: Klett-Cotta, 19844), S. 47; 196. Vgl. Gottfried Benn, „Probleme der Lyrik“, in idem: Essays, Reden, Vorträge. Gesammelte Werke in vier Bänden, herausgegeben von Dieter Wellershoff 1 (Stuttgart: Klett-Cotta, 1986), S. 494–532, speziell S. 518–522. Was die Mitte dem lyrischen Ich entgegenhält, scheint vorwiegend aus bequemer Metaphysik und gesundem Landleben zu bestehen; das dem Suchen des Geistes Entgegenzuhaltende ist heute Anderes. Vgl. das Gedicht „Reisen“ bei Gottfried Benn, in Gedichte. Gesammelte Werke in vier Bänden, herausgegeben von Dieter Wellershoff (Stuttgart: Klett-Cotta, 1978), S. 327. Vgl. Carl Gustav Jung, „Das Seelenproblem des modernen Menschen“, in idem, Zivilisation im Übergang, in Lilly Jung-Merker / Elisabeth Rüf (Hrsg.), C.G. Jung. Gesammelte Werke 10 (Olten / Freiburg im Breisgau: Walter, 1974), S. 91–113, speziell S. 92–94. Carl Gustav Jung, „Der Begabte“, in idem, Über die Entwicklung der Persönlichkeit, in Lilly Jung-Merker / Elisabeth Rüf (Hrsg.), C.G. Jung. Gesammelte Werke 17 (Olten / Freiburg im Breisgau: Walter, 1972), S. 155–168, speziell S. 157. Einige Zitate mögen die oben angeführte exegetische Tradition zur Sünde als Selberseinwollen, gerade auch im tätigen Vollzug des Gesetzes, vor Augen führen: Paul Althaus, Der Brief an die Römer, übersetzt und erklärt. Das Neue Testament deutsch 6 (Göttingen: Vandenhoeck, 1946), S. 90 schreibt zu der „eigenen Gerechtigkeit“, die Israel in Verkennung der Gerechtigkeit Gottes sich aufrichten will: „[Israel] erwartet die Gerechtigkeit nicht von Gott, geschenkweise, sondern von sich selbst, auf dem Wege der Leistung. Das ist nicht verzeihlicher Irrtum, sondern Schuld, weil Selbstbehauptung gegenüber Gottes Offenbarung in Christus, Widerstreben gegen seine Gerechtigkeit.“. Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments (Tübingen: Mohr Siebeck, 19614/319583), S. 268 erläutert das Verhältnis von Sünde und Gesetz in Rm 7,7 – 25 folgendermaßen: „Das ist also der heilsgeschichtliche Sinn des Gesetzes, den Menschen in die Sünde hineinzuführen, nicht nur indem es seine Begierde zu Übertretungen reizt, sondern auch indem es ihm die äußerste Möglichkeit bietet, als Sünder zu leben durch die Umdrehung seines Widerspruches gegen das Gebot zu einem Streben nach der ἰδία δικαιοσύνη mittels der Erfüllung des Gebotes; – eine sehr verständliche Pervertierung!“; Günther Bornkamm, Paulus. Urban
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Bücher 119 D (Stuttgart: Kohlhammer, 1969), S. 134 schreibt zur paulinischen Anthropologie / Hamartiologie unter anderem: „Immer bleibt der Mensch gottverschlossen und auf sich selbst bezogen. Ja, gerade der dem Gesetz nacheifernde Jude ist für Paulus beispielhaft der in der Sünde gefangene. In der Illusion seiner Frömmigkeit, auf der Jagd nach der Gerechtigkeit wähnt er den hoffnungslos verschlossenen Zugang zu Gott offen oder vermeint ihn durch seine Werke öffnen zu können.“. Bei Karl Barth, Der Römerbrief. Dritter Abdruck der neuen Bearbeitung (München: Chr. Kaiser, 1924; 1922), S. 357 wird das Bemühen um eine eigene Gerechtigkeit auf die Kirche bezogen und mit einem falschen Selbsterhaltungstrieb assoziiert: „Wann wäre die Kirche nicht in Versuchung gewesen, der Gerechtigkeit Gottes eine ... menschliche eigene Gerechtigkeit zu substituieren? [...] Wann wäre sie etwas Anderes gewesen als das, was die römische Kirche nur vollkommener ist als alle anderen: die Organisation zur Wahrung der berechtigten Interessen des Menschen gegenüber Gott ...?“. Man sieht bei Barth, aber auch bei den anderen Theologen, dass nicht antijüdische Voreingenommenheit das treibende Moment dieser exegetischen Tradition ist, sondern das Anliegen, Gott Gott sein zu lassen in der Frömmigkeit, und Frömmigkeit nicht als verkappten Egoismus des sündigen Menschen zu realisieren. Zugrunde liegt altreformatorisches Erbe, was hier durch zwei Thesen aus Luthers Disputatio Contra Scholasticam Theologiam dokumentiert werden soll: „17. Non „potest homo naturaliter velle deum esse deum“, immo vellet se esse deum et deum non esse deum“; „96. Diligere deum est seipsum odisse et praeter deum nihil novisse.“ nach Erich Vogelsang (Hrsg.), Der junge Luther. Luthers Werke in Auswahl 5 (Berlin: De Gruyter, 1933), S. 321; 326. Zur Vorgeschichte gehört wohl die von Luther sehr geschätzte Theologia Deutsch, vgl. Hermann Mandel (Hrsg.), Theologia Deutsch. Quellenschriften zur Geschichte des Protestantismus 7 (Leipzig: Deichert’sche Verlagsbuchhandlung, 1908), S. 11 (§ 3 des Traktates): Mann spricht: darumb, das Adam den Apffel aß, wer er verloren ader gefallen. Ich sprich: es was umb seyn annemnen und umb seyn ich, meyn, myr, mich, und umb des gleich. Hett er sieben apffel gessen und wer das annemen nit gewesen, er were nit gefallen. 16 Vgl. Ambrosiaster zu Rm 7,22: Im Fleisch wohnt die Sünde (= der Teufel) „gewissermaßen vor den Toren der Seele, erlaubt ihr nicht, dahin zu gehen, wo sie will“ (quasi ad ianuas animae, ut non illam permittat ire quo vult) nach Heinrich Joseph Vogels (Hrsg.), Ambrosiastri qui Dicitur Commentarius in Epistulas Paulinas. Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 81 (Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1966– 1969), I, 24123 – 24. 17 Unter dem Gesetz ist bei Paulus das für die jüdische Identität entscheidend relevante Mosegesetz zu verstehen, die Thora. In ihm manifestiert sich die Forderung Gottes an die Seinen, und daher heißt es auch in Rm 7,22; 8,7 „Gesetz Gottes“. In Gal 3,19 – 20 hebt Paulus indes hervor, dass es durch Engel verordnet ist mit Hilfe eines Mittlers (des Mose?), und dies tut er
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deutlich in der Absicht, es dem Christusgeschehen nachzuordnen. Dem Gesetz kommt Ambivalenz zu (es eignet ihm nicht, es kommt ihm zu): Es stammt von Gott, darf aber dem Christusereignis nicht übergeordnet sein. Theologisch ist „Gesetz“ in Kürze folgendermaßen zu verstehen: Es ist wie für Paulus auch für die Christen die Thora – und von dieser ausgehend ihre Interpretation sowie mit ihr alles, was von Gott her geboten ist, etwa auch die Bergpredigt, etwa auch das, was die Kirche aufgrund eines Wissens um das Naturrecht (die lex naturae) als moralische Forderung ergehen lässt (Verbot der Abtreibung etc.). Dieses Gesetzesverständnis ist durch Paulus nicht unvorbereitet, was hier nicht weiter ausgeführt werden kann. 18 Die vorhergehende Exegese von Rm 7,7 – 25 beruht auf Ergebnissen meiner Paulusmonographie, vgl. Jan Dochhorn, Der Adammythos bei Paulus und im hellenistischen Judentum Jerusalems. Eine theologische und religionsgeschichtliche Studie zu Rm 7,7 – 25. Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 469 (Tübingen: Mohr-Siebeck, 2021). 19 Vgl. Poimandres (Corpus Hermeticum I) 15 bei Gustav Friedrich Konstantin (Gustavus) Parthey (Hrsg.), Hermetis Trismegisti Poemander. Ad Fidem Codicum Manu Scriptorum Recognovit (Berlin: Fr. Nicolai, 1854), S. 7–8. Über den Traditionszusammenhang mit Rm 7,22 finden sich Andeutungen bei Dochhorn, Adammythos, 2021; wie Anm. 18, S. 220–224. 20 Als Beleg vgl. etwa Evangelium Philippi 13 nach Walter C. Till (Hrsg.), Das Evangelium nach Philippus. Patristische Texte und Studien 2 (Berlin: De Gruyter 1963): „Die Archonten wollten den Menschen täuschen, denn sie sahen, wie er eine Verwandtschaft (συγγένεια) mit den wahrhaft guten Dingen hatte: Sie nahmen den Begriff der guten Dinge und gaben ihn den unguten Dingen, auf dass sie ihn durch die Begriffe täuschten und diese bänden an die unguten Dinge. Und danach wird man, wenn man ihnen Gnade erweist, sie (scil. diese Begriffe) von den unguten Dingen abziehen und den guten Dingen beilegen.“ Interessant ist hier die Herkunftsgemeinschaft der Menschen mit den guten Dingen, aber dann auch die dazu entwickelte Theorie der Begriffsverwirrung. Auf Gegenwärtiges übertragen besagt dieses Lehrstück etwa Folgendes: Ich bin meinem transempirischen und der Zukunft mit Gott affinen Wesen entsprechend zu Gutem geneigt, etwa Toleranz, Zivilcourage, Offenheit. Politische Korrektheit und Mentalitäten bürokratischer wie auch journalistischer Einflussträger, soziale Agentien also, die personanalog sind, indem ihnen Momente strategischen Handelns eignen, aber auch nicht personanalog sind, insofern ihnen ein Gesicht mangelt, insofern sie ungeeignet sind zu Anrede und Gegenrede, geeignet aber zur Unterdrückung von Widerstand – solche Agentien (Archonten) kodieren die Begriffe des Guten um: Toleranz ist ein Leitwort, wenn es um die Unterdrückung nicht toleranzverträglicher Meinungen geht („nicht toleranzverträglich“ beinhaltet mit Absicht eine Contradictio in Adjecto), Zivilcourage ist die Bereitschaft, abweichendes Verhalten anonym zu melden, und Offenheit ist Verschlossenheit gegenüber Ansichten, die als nicht offen klassifiziert werden. Der
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Begriffsverwirrung kann man Sprachanalyse entgegenhalten, die gewöhnlich die Spannungen zwischen Begriff und Extension offenlegen, aber das schadet den Archonten nicht (den Agentien ohne Gesicht). Es muss Weitergehendes geschehen. Ich hoffe auf Erlösung durch Gnade, die von dem kommt, was meinem Inneren Menschen verwandt ist: Schon eine geschichtliche Wende oder gar eine Neuevangelisierung wäre Geschenk und noch mehr die endzeitliche Erlösung. 21 Vgl. Paul Althaus, „Adolf Schlatters Verhältnis zur Theologie Martin Luthers“, in idem, Um die Wahrheit des Evangeliums. Aufsätze und Vorträge (Stuttgart: Calwer Verlag, 1962), S. 145–157, speziell S. 147–150. 22 Christen realisieren Paulus zufolge nicht das Mosegesetz Buchstabe für Buchstabe, sonst könnte Paulus gar nicht die Heidenchristen von der Beschneidung ausnehmen und gegen die Propagandisten einer Pflichtbeschneidung für alle Christen derart polemisch verfahren, wie er es vielfach tut. Wie es sich mit dem Gesetz bei den Christen verhält, ist nicht zuletzt Rm 2,12 – 16 zu entnehmen: Christen müssen das Gesetz gar nicht „haben“ (brauchen das Mose-Gesetz nicht als Instanz in ihrem Leben), denn es ist ihnen das Werk des Gesetzes in Herz geschrieben, und so tun sie von Natur aus, was des Gesetzes ist. Das bedeutet: Die tätige Umsetzung von des Gesetzes Wesensgehalt (seines Werkes, nicht: »seiner Werke« = seiner Einzelbestimmungen!) ist ihnen als Geistbegabten ihre Natur; dem entspricht ein Erwägen für und wider im Gewissen, das mit dem künftigen Gottesgericht gleichgerichtet ist. Passend dazu kann Paulus sagen: „Liebe ist des Gesetzes Erfüllung“, vgl. Rm 13,10. Zu Rm 2,12 – 16 vgl. Dochhorn, Adammythos (2021; wie Anm. 18), S. 321–334; zur Gewissensexistenz der Christen nach Paulus und generell vgl. idem, „Coronakrise und Gottvertrauen. Überlegungen eines Neutestamentlers“, Theologische Rundschau 86 (2021), S. 297–310, speziell S. 306–308; zur Souveränität der Christen im Umgang mit dem Gesetz (weniger zur Gesetzesfreiheit) vgl. idem: „Von Jesus zu Paulus. Zur Entwicklungsgeschichte der Theologie des Gesetzes im Urchristentum“, in Udo Rüterswörden (Hrsg.), Ist die Tora Gesetz? Zum Gesetzesverständnis im Alten Testament, Frühjudentum und Neuen Testament Biblisch-Theologische Studien 167 (Göttingen: Vandenhoeck, 2017), S. 1–54 (passim). 23 Vieles, was nach Paulus der christliche Glaube als durch Erlösung realisiert ansieht, war schon vorher Ideal – und nicht nur bei Juden. Was Paulus etwa in Rm 2,12 – 16 über Christen schreibt, ist auch als Realisierung des stoischen Ideals vom Weisen zu verstehen, was Paulus damit andeutet, dass er den Begriff „Natur“ auf die Christen bezieht, vgl. Anm. 22 und dort den Hinweis auf meine Monographie. Generell sieht Paulus dabei die Ideale als vorhanden und zugleich nicht realisiert an; das Erbe, das er aufnimmt, ob jüdisch oder griechisch, ist in seinen Augen Theorie und nicht Tat. Es war aber auch zuweilen Tat; man kann den Hinweis auf praktizierten Heroismus um des Guten willen in Rm 5,7 wohl dahingehend auffassen, dass Paulus dies auch nicht ganz entgangen ist.
Wo blieb der Geist des Widerspruchs in den Geisteswissenschaften? Eine wissenssoziologische Spurensuche Klaus Buchenau Wie konnte es passieren, dass die Geistes- und Kulturwissenschaften, seit Jahrzehnten mit Michel Foucault auf die Vermachtung der Sprache fixiert1, die enormen semantischen Verschiebungen der Coronazeit einfach so geschehen ließen, ohne sich öffentlich mahnend einzumischen? Weshalb erhob kaum jemand aus diesen Fächern die Stimme, als Verweise auf Interessen hinter der Coronapolitik pauschal als „Verschwörungsglaube“ abgetan wurden?2 Als diejenigen, die mit rationalen Argumenten vor Panikmache rund um das Virus warnten, mit dem Etikett des „Coronaleugners“ markiert wurden? Als die gesamte öffentliche Sprache rund um das Thema Gesundheit nur noch auf ein einziges Narrativ ausgerichtet wurde3 und sich Andersdenkende mit Invektiven wie „Covidioten“ oder „Aluhüte“ lächerlich gemacht sahen? Diese Frage lässt sich auf verschiedenen Ebenen beantworten, wobei ich mich hier bewusst auf das geisteswissenschaftliche Theoriearsenal beschränken will, welches sich schon lange vor der Pandemie als transdisziplinäres Allgemeinwissen, wenn nicht sogar als Axiom etabliert hatte. Gemeint sind Sozialkonstruktivismus und Linguistic Turn, der Kern des postmodernen Theoriebestands, der davon ausgeht, dass Menschen keinen unmittelbaren Zugriff auf „Fakten“ und „Essenzen“ haben, sondern die Verständigung über die Wirklichkeit immer in Zeichen, Symbolen, performativen Handlungen und so weiter besteht, durch welche wir Realität „konstruieren“ – eine Lehre also, nach der es eigentlich überhaupt keine echten Alternativlosigkeiten geben könnte, weil die Rede von der Alternativlosigkeit selbst eine Konstruktion ist, die bei Bedarf auch umkonstruiert werden kann. Die konstruktivistischen Vorstellungen wurden im Laufe der 1990er Jahre Allgemeingut, wenn auch in unterschiedlichem Maße – in der Geschichtswissenschaft beispielsweise weniger als in der Literaturwissenschaft.4 Dennoch ging der Impuls überall in die Richtung, dass
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WIDERSPRUCH IN DEN GEISTESWISSENSCHAFTEN 251 Wahrheit „im Auge des Betrachters“ liege, d.h. von der jeweiligen Perspektive und den jeweiligen (Erkenntnis)Interessen abhänge und somit legitimerweise strittig sei. Die postmodernen Grundannahmen prägten nicht nur Studierende und den wissenschaftlichen Nachwuchs der westlichen Welt, sie wurden auch sehr effektiv in Stellung gebracht, um die Autorität älterer wissenschaftlicher Schulen zu schleifen – in der Geschichtswissenschaft fielen der postmodernen Attacke Teile der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte zum Opfer, deren Vorstellungen von Fortschritt und Rückständigkeit als eurozentrisch „entlarvt“ wurden.5 Postmoderne Theorie, das zeigte sich hier deutlich, war eben nicht nur „verspielt“, sondern besaß auch Zähne, die gegen Gegner eingesetzt werden konnten. Warum aber geschah genau das bei Corona nicht, obwohl das dominante Narrativ der Pandemie alle Züge des sonst so kritisierten Essenzialismus trug, d.h. keinen Raum für Perspektivität ließ, alternative Positionen in unschöner Regelmäßigkeit als „unwissenschaftlich“ abwertete und mit brutalistisch-simplen Oppositionen wie Information vs. Desinformation operierte? Wäre hier nicht zu erwarten gewesen, dass die postmodern geschulten Geisteswissenschaften einschreiten und die erdrutschartigen semantischen Verschiebungen aufdecken, mit denen die Gesellschaft in „solidarische“ und „unsolidarische“ Teile aufgespalten und Repressalien gegen Andersdenkende gerechtfertigt wurden? Ich werde im folgenden versuchen, dieses Schweigen durch das Zusammenspiel von Theorie und inneruniversitären sozialen Prozessen zu erklären; vor dem Einstieg in dieses Kernargument sei aber gesagt, dass es für die Passivität der Geisteswissenschaften natürlich auch andere, viel banalere Gründe gab: Der Corona-Diskurs wurde von suprastaatlichen Organisationen, Regierungen und MainstreamMedien von Beginn an so aufgebaut, dass angeblich nur die medizinische Subdisziplin der Virologie (höchstens noch erweitert um die Epidemiologie, die Intensivmedizin und die modellierende Mathematik) „wissenschaftlich“ über das Virus Auskunft geben konnten; alle anderen wurden nur selten gefragt, galten als nicht zuständig.6 Das bezog sich insbesondere auf die Geisteswissenschaften, die seit jeher mit dem (Vor)Urteil der mangelnden Wissenschaftlichkeit zu leben haben, weil sie vornehmlich deutend vorgehen und sich dem Goldstandard der Wissenschaftlichkeit – dem wiederholbaren Versuchsaufbau, der klaren Falsifizierbarkeit ihrer Aussagen – nicht selten
252 KLAUS BUCHENAU entziehen. In der Postmoderne hat sich der Graben zum naturwissenschaftlichen Verständnis von Wissenschaftlichkeit noch vergrößert. War das Problem zuvor „lediglich“, dass Geisteswissenschaftler von maßgeblichen „Fakten“ der Naturwissenschaft angeblich nichts verstanden, so kam jetzt zusätzlich der Glaube an das Vorhandensein von Fakten an sich abhanden, weil alles in Perspektivitäten aufgelöst wurde. Auch ohne einen tieferen Blick in das Innenleben der Geisteswissenschaften finden sich also genug Gründe, die unsere Bedeutungslosigkeit in der Corona-Diskussion erklären können.
I.
Foucaults Diskursbegriff auf dem Weg in den Mainstream
Der von Michel Foucault in L’ordre du discours 1971 begründete Diskursbegriff ist, obwohl im Deutschen häufig so verwendet, keineswegs gleichbedeutend mit „Diskussion“. Letzterer Begriff impliziert, dass es eine Trennung zwischen dem Gegenstand und dem Sprechen darüber gibt, wogegen im Diskurs sich der Gegenstand und das Sprechen über ihn wechselseitig bedingen – was auch bedeutet, dass wir durch das Sprechen den Gegenstand in seiner finalen Form überhaupt erst erzeugen.7 Es dauerte eine Weile, bis sich diese Denkrichtung in den deutschsprachigen Geisteswissenschaften fest etabliert hatte, denn ihr standen andere Ansätze entgegen, deren Anhänger keineswegs freiwillig das Feld räumten (und dies auch nie vollständig getan haben). Bei Foucaults Diskursbegriff fehlte, ganz anders als im öffentlichen Sprechen über Corona, das Korrelat „Wahrheit“ – für den französischen Philosophen war alles Sprechen immer schon vermachtet, er rief uns dazu auf, das zu erkennen und freizulegen, und machte dabei keinen Unterschied zwischen der „guten“, legitimen Vermachtung und der „schlechten“, illegitimen. Seine Theorie eignet sich daher hervorragend zur Erzeugung von Distanz und Misstrauen, sowohl staatlichen als auch nichtstaatlichen Akteuren gegenüber, weil ja alle ihre Sprache vermachten und dadurch ihren Gegenstand in einer bestimmten, interessengetriebenen Perspektivität beleuchten. Wie alle (zu) radikalen Ansätze, so schrie auch der Foucaultsche nach Verwässerung, und wie häufig in solchen Fällen, waren sich die Epigonen dieser Verwässerung nicht immer bewusst – viele schmückten sich mit dem Philosophen, während sie sich unmerklich von seiner
WIDERSPRUCH IN DEN GEISTESWISSENSCHAFTEN 253 Lehre entfernten.8 Anderen Aufbrüchen der Menschheitsgeschichte ist es zuvor ähnlich ergangen: Aus der bedingungslosen, zur Hingabe bereiten Gruppierung des Jesus von Nazareth wurden beispielsweise machtbewusste und ressourcenhungrige Staatskirchen9; aus dem radikalen Zweifel des Calvinismus an der Möglichkeit, Gottes Gnade durch menschliche Handlungen zu beeinflussen, entstand mit der Zeit eine systematische Suche nach göttlichen Gnadenzeichen im Diesseits, etwa durch geschäftlichen Erfolg (Max Weber hat dieses Phänomen die „protestantische Ethik“ genannt)10; die marxistische Theorie schließlich verkam in der westlichen Welt häufig zum rhetorischen Schmuck intellektueller Salonlöwen.11 Hinter solchen Verwässerungen stehen viele mögliche Motive – ein wichtiges ist die Unmöglichkeit, Denken und Leben in Einklang zu bringen. Die Theorie drängt zur Disruption, zur Aufsprengung des Alltags, aber die alltäglichen sozialen Netze, ihre Normen und Erwartungen haben eine eigene Beharrungskraft, so dass oft klammheimlich Kompromisse zwischen Theorie und Wirklichkeit gesucht werden, welche die soziale Integration der Anhänger nicht gefährden. Wer sich damit nicht zufriedengeben will, wird Aussteiger oder gründet Sekten, wählt also Desintegration oder eine alternative Integration. Der große Konfliktpunkt zwischen Foucault und dem Alltag war die abgrundtiefe Skepsis, die sich aus seiner Lehre ergab – ein positiver Bezugspunkt, ein gesellschaftliches Ideal, ein Weg zur Übersetzung der Theorie in eine positive Gesellschaftslehre fehlte, obwohl viele glaubten, der Meister habe sein Instrumentarium irgendwie zur Selbstbefreiung des Menschen erfunden. Wer sich im Studium für Foucaults Diskursbegriff begeistert hatte und dann inner- oder außerhalb der Universität Karriere machen wollte, war schnell damit konfrontiert, dass Foucaults Blick, wenn man ihn denn ernst nahm, die eigene Loyalität zum Arbeitgeber, zum sozialen Herkunfts- oder Zielmilieu untergrub. Denn jede gesellschaftliche Institution hat ihre eigenen Hierarchien, ihre eigenen Repressivität, die durch Sprache und andere Zeichen subkutan wirkt. Die Theorie rief uns zur Entdeckung all dieser Mechanismen auf: Wir sollten nichts für selbstverständlich halten und alles verfremdet wahrnehmen. Wir sollten auch dort Unterdrückung wittern, wo es auf den ersten Blick nichts zu finden gab, wo keine Guillotine stand und kein Blut spritzte.
254 KLAUS BUCHENAU Das war radikal, aber waren wir es auch? Der Widerspruch – eine Theorie mit dem impliziten Zielpunkt des radikalen Außenseitertums mit unserem Wunsch nach Integration und Karriere zu vereinen – verlangte nach Lösungen, vor allem nach Verflachungen. Diese ergaben sich einerseits praktisch „von selbst“ aus der gesellschaftlichen Entwicklung, insbesondere aus der Massenakademisierung, welche die Universitäten in Ausbildungsbetriebe verwandelte und vielen Menschen aus bildungsfernen Milieus den Weg an die Hochschule ermöglichte. Wo soziale Aufwärtsmobilität den Weg durch die Universitäten geht, ist es unvermeidlich, dass Menschen den Glanz ihrer Hallen bewundern, weil sie es „endlich geschafft“ haben, dazuzugehören. Ob der Glanz echt ist, wird dabei schnell übersehen, und äußerliche Merkmale des Betriebs, vor allem auch ein bestimmter Jargon, werden gerade von den Aufsteigern stolz als Zeichen der Zugehörigkeit getragen. Gute Voraussetzungen für einen adäquaten Umgang mit modischen Theorien sind das nicht – denn gerade sie, oder auch nur Versatzstücke ihrer Terminologie, sind der Schmuck, der Orden an der Brust der „endlich“ Dazugehörenden.12 Gerade wer aufsteigen will, kann unmöglich einer Lehre folgen, aus der sich bei konsequenter Anwendung generelle Skepsis ergibt – sonst erschiene kein Zielmilieu mehr erstrebenswert, der soziale Aufstieg wäre, von rein materiellen Aspekten abgesehen, sinnlos. Foucaults Lehre musste also an die Ziele der Aufsteigenden angepasst werden – sie musste, ähnlich wie die christliche Mission unter Heiden, die Vorstellungen der Missionierten aufnehmen und in die Lehre integrieren. Ein wichtiges Moment des sozialen Aufsteigertums in der Moderne ist, das Zielmilieu als aufgeklärter, vorurteilsfreier, gebildeter, weltoffener, usw. als das Ausgangsmilieu darzustellen – denn nur in diesem Fall ist der eigene Aufstieg ja wirklich ein Fortschritt.13 Daher kam es für die Massenanwendung des Foucaultschen Diskursbegriffs überhaupt nicht in Frage, das volle kritische Potential der Theorie aus dem Sack zu lassen – das Zielmilieu der Aufsteiger, der angestrebte neue Habitus, durfte nicht durch Dekonstruktion beschädigt werden.14 Das Säurebad der Foucaultschen Diskursanalyse durfte sich daher nur gegen etablierte Feindbilder des akademischen Betriebs richten. Hier war es gewünscht und erlaubt, den Zeichengebrauch zu analysieren, seine hierarchischen, patriarchalen, nationalistischen, irrationalen Züge herauszustellen. Mit anderen Worten: das entstehende
WIDERSPRUCH IN DEN GEISTESWISSENSCHAFTEN 255 linksliberale Milieu, zu dessen maßgeblichen formativen Impulsen Foucault zählte15, richtete das kritische Potential nur gegen Feinde, nicht gegen Freunde oder gar sich selbst – das an sich großartige Verfremdungspotential des Foucaultschen Diskursbegriffs, der alle Selbstverständlichkeiten in Frage stellt, wurde nur selektiv genutzt und schuf damit neue Selbstverständlichkeiten. Das entwertet die vielen Studien, in denen die Diskursanalyse „gegen rechts“ angewendet wurden16, keineswegs – hier wurden wichtige Erkenntnisse über die Symboliken, Semiotiken, Stereotype, performativen Muster der „anderen“ zusammengetragen, die zum Teil auch zu den dauerhaften Errungenschaften der Geisteswissenschaften zählen. Aber in der thematischen Clusterung manifestierte sich durchaus politische Instrumentalisierung.17 Lange Zeit fiel die Schlagseite der Theorieanwendung kaum auf – eher stöhnten manche hinter vorgehaltener Hand über die generelle Dominanz postmoderner Theorien, welche sich seit den späten 1990er Jahren kaum noch mit prinzipiellen Gegenpositionen auseinandersetzen mussten, was einen bewussten, wachen Umgang mit diesen Theorien weiter erschwerte. Während der verflachte Foucault posthum zum Volksschullehrer verkam und man selbst in Talkshows jetzt von „Diskurs“ statt von „Diskussion“ sprach, wurden viele Aufstiegsträume wahr – die linksliberal geprägten, mit Foucault akademisch sozialisierten Aufsteigermilieus vollendeten in der Merkel-Ära ihren Marsch durch die Institutionen. Deren letzte Jahre fielen bekanntlich in die Coronazeit, welche das Dilemma offensichtlich machte: Das machtkritische Potential hatte sich vollkommen verflüchtigt – gerade in dem Moment, als es darum gegangen wäre, den manipulativen Wortgebrauch der „neuen Normalität“ durch kritische Fragen einzuhegen. Auch andere Theorien, die vorher in den Geisteswissenschaften hoch im Kurs gestanden hatten, erwiesen sich jetzt als stumpfe Schwerter. Zu nennen wäre das ebenfalls von Foucault stammende, eng mit dem Diskursbegriff zusammenhängende Konzept der Biopolitik, mit der die tiefe Durchherrschung der menschlichen Gesellschaft durch die Disziplinierung der Körper (über das Gesundheitswesen, das Militär usw.) seit der Frühen Neuzeit gemeint ist.18 Es liegt auf der Hand, dass dieses Konzept leicht zum Verständnis der Coronapolitik fruchtbar gemacht werden kann – vor allem wenn man berücksichtigt, wie die Corona-Disziplinierung seither für immer neue Disziplinierungswel-
256 KLAUS BUCHENAU len genutzt worden ist.19 Doch die Realität ernüchtert; das Konzept blieb gerade dann in der Schublade, als es hätte politisch relevant werden können. Illustrativ ist in dieser Hinsicht der Schweizer Historiker und Foucault-Spezialist Philipp Sarasin, der lange vor Corona postuliert hatte: „Der liberale Staat muß die Freiheit der Individuen respektieren, auch um den Preis eines gewissen Infektionsrisikos“.20 Nun aber machte er klar, dass er nicht bereit war, sich mit seinem Wissensfundus der Corona-Opposition zur Verfügung zu stellen. Vielleicht, so Sarasin in einem Internetbeitrag, würde Foucault heute eher zum „Widerstand gegen das Virus“ aufrufen.21 Der italienische Philosoph Giorgio Agamben schöpfte dagegen in seiner Maßnahmenkritik das kritische Potential der Foucaultschen Biopolitik voll aus – und wurde deswegen prompt zum Verschwörungstheoretiker gestempelt.22 Traurig ist auch die Geschichte des Konzepts „Zivilgesellschaft“, welches die in sich kommunikations- und bündnisfähige, dem Staat gegenüber kritisch eingestellte Gesellschaft als Kern der Demokratieentwicklung begreift. Diese Theorie war auf (post-)kommunistische Gesellschaften vielfach und unter allgemeiner Zustimmung angewendet worden. Aber jetzt offenbarte sich die Tendenz, Zivilgesellschaft als Bedrohung zu sehen, sie mit „Populismus“ gleichzusetzen oder aber die Zivilgesellschaft „von oben“ nachbilden zu wollen, um auf diese Weise die angeblich gefährliche Offenheit freier gesellschaftlicher Dynamiken einhegen zu können.23 Im Hintergrund dieses Wandels scheint der umfassende linksliberale Marsch durch die Institutionen zu stehen und ein Verrat am Liberalismus selbst – demnach wird Zivilgesellschaft im klassischen Sinne nur so lange gebraucht, wie „Feinde“ an der Macht sind. Wenn aber die eigenen Leute es endlich geschafft haben, die Politik zu bestimmen, ist organisierter Widerstand dagegen amoralisch und schädlich, und muss durch Interventionen von oben geschwächt werden.24 Liberalismus ist dann weniger das System der Checks and Balances, was auch den Andersdenkenden Raum lässt, sondern das System, das die moralisch-wissenschaftlich Erleuchteten so nennen und gegen alle Feinde verteidigen. Denn wenn erst einmal die „Rechtgläubigen“ gesiegt haben, so scheint es, sind liberale Freiheiten nichts als ein Gebüsch in der Ebene, hinter dem sich „Feinde“ verschanzen können.
WIDERSPRUCH IN DEN GEISTESWISSENSCHAFTEN 257
II.
Wenn Methoden in die „falschen“ Hände gelangen – Diskursanalyse als Waffe im Kulturkampf
Doch zurück zur Foucaultschen Diskurstheorie. Zu ihrer Verflachung trugen nicht nur, wie bereits dargestellt, endemische Entwicklungen der westlichen Gesellschaften bei – auch globale Tendenzen spielten eine Rolle. Viele Großtheorien (darunter der Marxismus, die Systemtheorie oder eben auch die Diskurstheorie) können im analytischen und im pragmatischen Modus verwendet werden. Die Erfinder von Theorien haben zunächst mehr die analytische Funktion im Auge, d.h. sie wollen Beobachtern Instrumente an die Hand geben, eine Situation besser zu verstehen. Allerdings lassen sich viele Theorien zu politischen Instrumenten weiterentwickeln, mit denen nicht nur Beobachtung, sondern darüber hinaus Umbau betrieben wird. So führt ein Weg von Marx zu Lenin – von einer Analyse des Verhältnisses zwischen Arbeit und Kapital zu einer revolutionären Strategie, Arbeiter im Kampf gegen Kapitalisten anzuleiten.25 Von psychologischen Verhaltenstheorien führen Wege in die Steuerung von Arbeitsprozessen, von der Rational-Choice-Theorie ist es nicht weit bis zu ihrer Anwendung in der Betriebswirtschaft. Je „intellektueller“ eine Theorie wirkt, desto weniger wird dieser Anwendungsbezug vermutet, aber dennoch kann es ihn geben. So verhält es sich auch mit Foucaults Diskurstheorie, die sich nicht nur als Analyseinstrument zur „Entlarvung“ von Machtstrukturen via Sprache lesen lässt, sondern auch als Bauanleitung für eine Vermachtung von Sprache – als umgekehrter Versuchsaufbau. Wer gelernt hat, wie vermachtete Sprache funktioniert, kann Sprache auch selbst gut vermachten.26 Ähnlich wie die Kernspaltung oder andere an sich „wertneutrale“ menschliche Erfindungen geriet die pragmatisch gewendete Diskursanalyse schon in den 1990er Jahren in unterschiedliche Lager. Westliche Linksliberale, die eine unverbrüchliche Vorstellung vom Fortschritt besaßen und nach dem Zusammenbruch des Kommunismus an ein „Ende der Geschichte“ und damit an den vollständigen eigenen Sieg glaubten27, versuchten diesem durch politisch korrekte Sprache nachzuhelfen, d.h. durch gezieltes Sichtbarmachen gewünschter Richtungen und das ebenso gezielte Unsichtbarmachen uner-
258 KLAUS BUCHENAU wünschter Richtungen. Dies geschah jetzt nicht mehr nur auf der Ebene von Debatteninhalten, sondern schon in der Sprache selbst. Hierher gehören N- und Z-Wörter, deren Verwendung angeblich vollkommen unabhängig von der Situation und der Intention des Sprechers so verletzend ist, dass sie komplett getilgt werden müssen; hierher gehört die Gendersprache, deren Befürworter beharrlich und auf wackligem wissenschaftlichen Grund28 behaupten, das generische Maskulinum sei diskriminierend und behindere gesellschaftlichen Fortschritt. Weil viele Universitäten sich strikt den damit verbundenen Sprachregelungen unterworfen haben, können sie keine Debatten über den Wandel führen, denn diese würden gegen die entsprechenden Verordnungen, gegen die eigene „Hausordnung“ verstoßen. Zwar ist die Frustration groß angesichts des Dilemmas, nun ohne ein etabliertes Generikum sprechen und schreiben und sich deshalb in oft absurde sprachliche Verrenkungen begeben zu müssen.29 Aber als Disziplinierungsübung, als Filter, der Unangepasste von der Universität oder wenigstens aus deren Leitungsgremien fernhält, funktioniert die Gendersprache allemal. Wenn angeblich überall die Macht des Patriarchats lauert (und in diskurstheoretischer Hinsicht wird das generische Maskulinum teilweise so gedeutet), dann verlangt die Ent-Patriarchalisierung eine neue Sprache ohne diese Form. Weil das generische Maskulinum aber außerhalb der Universitäten von den Sprechern (Verzeihung: den Sprechenden) ganz überwiegend als Teil der natürlichen Sprache und nicht als ideologische Aussage verstanden wird, wird der Kampf gegen die angebliche Vermachtung selbst zu einer Vermachtung der Sprache in extremer Form: zu einer Umerziehungskampagne, die ausgehend vom Bildungswesen schließlich das letzte Dorf erreichen soll. Pragmatisierung lässt sich auch auf der anderen Seite des „großen Grabens“ beobachten, also dort, wo man nie an ein Ende der Geschichte geglaubt hat, keinen westlichen Universalismus will, und wo man die linksliberalen Fortschrittsvorstellungen nicht teilt. Insbesondere dort, wo sich diese „antiwestliche“ Opposition mit starken Institutionen oder Kapitalgebern umgibt, sind Bestrebungen zu beobachten, die Diskurstheorie auf den Kopf zu stellen und einen alternativen Benennungskosmos aufzustellen, über den ebenfalls das Denken gelenkt, Gruppen gebildet und Andersdenkende ausgeschlossen werden.30 So entdeckte die russische Rechte schon in den 1990er Jahren die
WIDERSPRUCH IN DEN GEISTESWISSENSCHAFTEN 259 Diskurstheorie für sich, um mit ihrer Hilfe das westliche Weltbild gründlich zu „entlügen“. Der intellektuelle Kopf des russischen NeoEurasismus, Aleksandr Dugin, nutzte seit den 1990er Jahren die in der Postmoderne übliche „Verfremdung des Selbstverständlichen“, um die Demokratie als nicht selbstverständlich und schließlich als noch nicht einmal wünschenswert erscheinen zu lassen.31 Europaweit setzen „Rechte“ dem westlichen Universalismus inzwischen eine eigene Begriffswelt entgegen, die überwiegend aus Begriffen mit ähnlicher Grundsemantik, aber gegensätzlicher Wertung besteht. Sie stellen „unserer“ neutral bis positiv gewerteten „Globalisierung“ den Begriff „Globalismus“ gegenüber, der den Prozess nicht als anonym ablaufend, sondern als von bösen Ideologien getrieben darstellt; sie nennen die Corona-Impfung „Genspritze“, um den angeblichen Gamechanger gegen das Virus als Kernstück eines pharmazeutischen Putschs zu markieren; sie sprechen nicht von „Geflüchteten“, sondern von „illegaler Migration“; zuguterletzt lehnen sie sich gegen die öffentliche Beschämung als „Rechte“ auf und nennen sich stattdessen „Konservative“. Der politpragmatisch gewendete Foucault, der Kulturkampf durch die bewusste Vermachtung von Zeichen, ist damit Alltag geworden. Die Gegenseite, der linksliberale Mainstream, reagiert auf diese Entwicklungen mit Unverständnis, Panik und Verhärtung, ruft zum „Kampf für die Demokratie“ auf, vertritt ihre eigenen Sprachverbote umso rigoroser und wird so allmählich zu dem, was Sarah Wagenknecht nicht unpassend „Linksilliberalismus“ genannt hat.32 Was in diesem Kulturkampf bislang fehlt, sind Stimmen, die aus einer übergeordneten Warte zu Mäßigung und Dialog aufrufen. Die Universitäten jedenfalls können diesen Part nicht übernehmen, weil sie selbst zur Partei gemacht wurden, wenn auch gegen den Willen vieler, die hier arbeiten. Wenn heute in den Medien von den Universitäten als Orten der Auseinandersetzung die Rede ist, dann meistens im Zusammenhang mit Cancel Culture. Berichtet wird von verunmöglichten Auftritten, weil bestimmten Positionen „keine Plattform“ geboten werden soll. Viele Universitätsleitungen zeigen hier wenig Bereitschaft, Konflikte auszuhalten, fürchten um ihren Ruf und sagen lieber Veranstaltungen ab, als Kontroversen auszuhalten. Die Universitäten werden daher in der Gesellschaft gerade nicht als Orte der Debatte wahrgenommen, sondern – je nach Perspektive – als Inseln des Guten oder als
260 KLAUS BUCHENAU sterile Zellen politischer Korrektheit. Diese Entwicklungen hängen mit dem Siegeszug der postmodernen konstruktivistischen Theorien zusammen, allerdings nicht in dem Sinne, dass dieser Theoriebestand ursächlich Schuld an ihnen wäre – vielmehr ist es die Art, wie das universitäre Milieu mit diesen Theorien umgeht, wie es Theorien in „selbstverständliche“ Vorannahmen verwandelt, der Kritik enthebt und auf diese Weise den Dialog zwischen konträren Auffassungen aushebelt.
III. Die Universität als Betrieb Natürlich lässt sich die Debattenscheue der Universitäten nicht allein aus dem oben geschilderten Wechselspiel von Theorie und Milieu erklären. Hinzu kommen weitere Faktoren, die anders als das bisher Gesagte wohl nicht nur für die Geisteswissenschaften gelten33, aber im Folgenden vor allem an geisteswissenschaftlichen Beispielen verdeutlicht werden sollen. Zu erwähnen wäre hier die zunehmende (Pseudo)Ökonomisierung der Universitäten, d.h. die ständige Aufforderung zu möglichst hoher Produktivität, die Förderung derselben durch Drittmittel, Zielvorgaben, Exzellenzwettbewerbe. Um Missverständnisse zu vermeiden – der Autor dieses Beitrags hält wissenschaftliche Produktivität für erstrebenswert und erwartet sie von sich selbst; er hat auf seinem Lebensweg auch traurige Erfahrungen mit unproduktiven wissenschaftlichen Einrichtungen sammeln können und ist sich daher vollkommen bewusst, dass man sich unter dem Deckmantel der Wissenschaftsfreiheit auch einfach ein bequemes Leben einrichten kann. Auch ist er kein Freund der Behinderung von Wettbewerb, die sich etwa hinter der Errichtung immer engerer Spezialgebiete34, dem Ausschluss von Wissensbeständen in bestimmten Sprachen, dem teils absichtlichen Vergessen älterer Forschung verbergen kann. Dennoch hat die jetzige Steuerung (die in anderen Wissenschaftskulturen noch deutlich weiter vorangeschritten ist als in den deutschsprachigen Geisteswissenschaften) beklagenswerte Nebenwirkungen, die im Zusammenhang mit dem Corona-Konformismus besprochen werden müssen. Die erwähnten Instrumente der Forschungsförderung begünstigen Menschen, die kooperationsfähig sind, im Team gegen andere Teams auftreten und in der Aufmerksamkeitsökonomie der (sozialen) Medien bestehen können. All diese Eigenschaften helfen, größere
WIDERSPRUCH IN DEN GEISTESWISSENSCHAFTEN 261 Drittmittelanträge „an Land zu ziehen“, diese gemeinsam zu administrieren und öffentlichkeitswirksam zu präsentieren, woraus sich dann gute Chancen auf weitere Drittmittel ergeben. An sich geht es um Charakteristika, die auch in der Wirtschaft gefragt sind, womit sich Universität und Wirtschaft hinsichtlich ihrer Governance, der dominierenden Charaktere und auch ihrer Ideale annähern.35 „Wettbewerbsfähigkeit“ ist die Klammer, die beide Bereiche eng zusammenhält. Auf der Konvergenz von Wissenschaft und Wirtschaft liegt auch die Hoffnung der Politik, die sich seit der Ära Merkel auf Deutschlands internationale Stellung als „wissensbasierte Gesellschaft“36 fokussiert. Demnach kann das Land als solches nur erfolgreich sein, wenn die Produktion von Wissen und seine wirtschaftliche Verwertung effizient Hand in Hand gehen.37 Wenn uns eine solche Politik dazu aufruft, „der Wissenschaft“ zu folgen, dann ist die Wirtschaft, vor allem die große, nichtmittelständische, stark politisch vernetzte immer gleich mit gemeint; dasselbe gilt auch umgekehrt, d.h. wenn von Deutschland als Wirtschaftsstandort die Rede ist, dann sind es die Universitäten, von denen erwartet wird, dass sie das dafür nötige „Humankapital“, also gut ausgebildete Menschen bereitstellen. Dabei ist politisch gewollt, dass sich die Universitäten immer tiefer in ein Geflecht wirtschaftlicher und politischer Interessen begeben, welches – sichtbar im „Kampf“ gegen Corona wie gegen den Klimawandel – als unabdingbare Konzentration der Kräfte zur Rettung der Menschheit hingestellt wird. Viele Geisteswissenschaftler sehen sich von diesen Entwicklungen bedroht, weil das von ihnen produzierte Wissen wirtschaftlich nicht so leicht verwertbar ist wie etwa medizinische oder chemische Forschung. Heutige Universitätsleitungen können im Prinzip jede vakante Professur dazu nutzen, einen bestimmten Forschungsbereich zu schließen und die Mittel anders zu verwenden. Deshalb fühlen wir uns alle dazu aufgefordert, das Spiel mitzuspielen und durch große Forschungsverbünde jene Sichtbarkeit zu erreichen, die uns vor dem Stellenabbau bewahrt. Weil die Wirtschaft als Abnehmer des Wissens dennoch oft prinzipiell ausfällt, versuchen wir staatliche und suprastaatliche Institutionen, staatsnahe NGOs, Medien, Kulturinstitute als Abnehmer der eigenen „Produktion“ zu gewinnen. Darunter sind vor allem die eigenen Graduierten und Promovierten zu verstehen, die in Lohn und Brot gebracht werden sollen. Um dabei erfolgreicher zu sein, richten wir Masterstudiengänge ein, die ganz auf die Bedürfnisse
262 KLAUS BUCHENAU dieser Bereiche zugeschnitten sind; wir schaffen immer neue Governance-Strukturen und Bürokratien, die unsere produktivitätsorientierten Prozesse steuern und überwachen; und wir sind besonders strebsam, wenn es um politisch vorgegebene Querschnittsaufgaben (Gender, Klima usw.) geht, deren Erfüllung die Universitätsleitungen von uns erwarten. Die eigene wissenschaftliche Produktion, die Aufsätze und Bücher, hat dagegen oft gar keine wirklichen Adressaten mehr, sondern sind „zählbares Material“ auf dem Lebenslauf, durch welches sich angeblich Leistung messen lässt.38 Wir rechnen nicht mehr damit, durch diese Bücher authentische Kommunikation in Fachkreisen oder darüber hinaus anschieben zu können: Der Inhalt des neuen Buches ist weniger wichtig als seine materielle Existenz. So weit sind wir (auf den Hund) gekommen, weil die Output-bezogene Wissenschaftsförderung zu einer Publikationsflut geführt hat, in der wir kaum noch ein Werk wirklich wahrnehmen, auch engere wissenschaftliche Teilgebiete nicht mehr überblicken. Dabei schreiben wir munter weiter, aber vor allem für die eigene Publikationsliste, deren Länge sich dann (hoffentlich) in Karriere ummünzen läßt. Und natürlich für die Gutachter, die als (zunehmend ermüdete) Torwächter entscheiden sollen, welche Publikation erscheinen darf. Für die Fähigkeit zur Debatte, die ja in der Coronazeit so schmerzlich vermisst wurde, bedeutet das alles nichts Gutes. Die manageriale Wende in den Geisteswissenschaften ist (hierin ganz ähnlich wie die Gendersprache) ein Filter, durch den sperrige Persönlichkeiten nicht leicht hindurchkommen. Begünstigt werden eher pragmatische, nahe am Mainstream liegende (wissenschaftlich übersetzt: anschlussfähige) Teamworker, während Außenseiter leicht als Störfaktoren oder sogar als Risiko für den Ruf der ständig im Wettbewerb stehenden „Mannschaft“ wahrgenommen werden. Die Notwendigkeit zu interdisziplinären Zusammenschlüssen wiederum kann, zumindest unter ungünstigen Umständen, die theoretische Verödung befördern, wenn verstärkt nach Axiomen gesucht wird, welche die Disziplinen zusammenführen; das mag die oben beschriebene Verflachung des postmodernen Konstruktivismus befördert haben, dem sich auch deshalb alle anschließen, weil hier ausnahmsweise alle sofort zu verstehen glauben, was gemeint ist.
WIDERSPRUCH IN DEN GEISTESWISSENSCHAFTEN 263 Sind die großen Drittmittel einmal eingeworben, so erhalten die Sieger die Möglichkeit, im Verein mit den Rektoraten Begriffe wie „Spitzenforschung“ oder „Exzellenz“ für sich zu monopolisieren, wodurch alle Übrigen, die an der Einwerbung nicht beteiligt waren, aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt werden. Sind schon die Vorbereitungen großer Drittmittelanträge eher kein Anlass für intellektuell interessante Debatten – um diese geht es ja auch gar nicht, es geht um messbaren Erfolg in einem Wettbewerb und um Ressourcen – so setzt sich dies nach dem eigenen „Sieg“ oft fort. Denn jetzt ist die Aufgabe, ein bestimmtes, dem Drittmittelgeber versprochenes Arbeitsprogramm abzuspulen. Üppige Drittmittelausstattung kann zwar dazu führen, dass Nachwuchswissenschaftler die Gelegenheit erhalten, eine Koriphäe aus den USA zu hören. Wegen der starken Präsenz von „PIs“, den als Principal Investigators bezeichneten Professoren bei den Veranstaltungen der Verbünde, herrscht aber oft ein hierarchisches Debattenklima, das es dem wissenschaftlichen Nachwuchs eher erschwert, sich selbst im wissenschaftlichen Streit zu erproben. Dass dieser Streit auch auf der Ebene der „Lesegemeinschaft“ fehlt, weil sie wegen der andauernden Überforderung durch zu viel potenziellen Lesestoff eben keine mehr ist, verschärft das Problem zusätzlich. Unübersichtliche Literaturlandschaften fördern die Orientierung an Torwächtern, den Peer-Reviewed Journals. Hier publiziert man, vor allem solange man noch zum Nachwuchs zählt, eher entlang der vermeintlichen Erwartungen von Gutachtern. In all diesem Grau bleiben als zweifelhafte Farbtupfer jene selbstbewussten Persönlichkeiten, die prophetenhaft von sich glauben, die Forschungslandschaft zu überblicken, die Argumente bewerten und Hierarchien einziehen zu können, in denen sie selbst meist ganz oben stehen. Auf den wissenschaftlichen Nachwuchs mag das alles einschüchternd wirken – zumindest wirkt dieser auf den Autor schüchterner als das Milieu, das er selbst um die Jahrtausendwende erlebte. Nicht nur die Strukturen der großen Verbünde, sondern auch die Beschaffenheit des „Humankapitals“ selbst, um einmal diesen technizistischen Ausdruck zu verwenden, mögen einen Unterschied machen. Als wir Babyboomer unsere wissenschaftliche Ausbildung durchliefen, ich spreche hier von den osteuropabezogenen Area Studies, gab es genügend von uns, niemand warb um uns als Studierende oder als Doktoranden, eher ging es darum, sich unter den Vielen die Besten auszusuchen. Trotz
264 KLAUS BUCHENAU der auch damals unsicheren Berufsaussichten interessierten sich beträchtliche Teile unserer „breiten Jahrgänge“ für die Geisteswissenschaften, so dass es nicht schwer war, aus uns eine kritische Masse zu bilden. Viele hatten einen bürgerlichen Hintergrund, oft westdeutsch, d.h. wir hatten häufig eine materielle Absicherung in der Hinterhand, die uns eine gewisse Sorglosigkeit gab und uns ermöglichte, unserer Neugier auf das „unbekannte Osteuropa“ freien Lauf zu lassen. Wir scharten uns um Lehrstühle, und ob wir dort gute Diskussionen hatten, hing maßgeblich von den Qualitäten des Inhabers (oder damals noch seltener als heute: der Inhaberin) ab. Manche promovierten komplett isoliert, konsultierten nur gelegentlich den Doktorvater; andere hatten das Glück, an lebendige Lehrstühle angebunden zu sein und sich dort mit Menschen, die man kannte, nach Herzenslust zu streiten. Seit diesen Tagen hat sich die Situation grundlegend gewandelt. Die „Ressource Mensch“ tröpfelt nur noch schwach, weil der Geburtenrückgang sich schon längst auf die Studierendenzahlen in den Area Studies ausgewirkt hat. Die Jüngeren sind oft realistischer, planen vorausschauender und scheuen das biographische Risiko der Arbeitslosigkeit. Sie machen, gerade wenn sie in der Schule gute Noten hatten, eher einen Bogen um die Geisteswissenschaften, mit Ausnahme des Lehramts oder bestimmter "hipper“, oft zusätzlich auf Medien, Digitalisierung, Wirtschaft ausgerichteter Studiengänge. Sie haben, zumindest wenn man den steigenden Bedarf nach Psychotherapien, die Handysucht (oft als Digital Nativism beschönigt) oder die zunehmenden Konzentrationsstörungen betrachtet, ihr Päckchen mit sich zu tragen. Sie haben als Kinder weniger mit anderen Kindern auf der Straße gespielt, sind weniger mit Menschen aus anderen sozialen Schichten in Kontakt gekommen, weil ihre Eltern einen stärker behütenden Erziehungsstil pflegten („Helikoptereltern“) als unsere. Sie haben oft zuhause nicht gelernt zu streiten, weil ihre Eltern viel „fortschrittlicher“ dachten als unsere und keine Reibungsfläche boten; außerdem liegt seit den 2000er Jahren das Handy als Ablenkung stets griffbereit. Sie mögen besser im Präsentieren und im öffentlichen Sprechen sein, weil sie das in der Schule früh eingeübt haben; aber die Selbstverständlichkeit menschlichen Kontakts, menschlicher Beziehungen und Kommunikation hat insgesamt ab- und die Bindungslosigkeit zugenommen. Wenn kontrovers-produktive Diskussionen ein gewisses zwischen-
WIDERSPRUCH IN DEN GEISTESWISSENSCHAFTEN 265 menschliches Vertrauen voraussetzen, so scheinen die Voraussetzungen dafür heute schlechter als früher. Ein weiterer Faktor, zumindest in den Area Studies, ist das Migrationsgeschehen – das menschliche Potential, das uns innerhalb Deutschlands weggebrochen ist, ersetzen wir zum beträchtlichen Teil durch Menschen mit Wurzeln in dem Areal, zu dem wir forschen. In der Tendenz studiert man heute folglich eher seine „eigene Geschichte“ aus der räumlichen Distanz, wogegen wir uns damals mit „den Anderen“ beschäftigten. Der gestiegene migrantische Anteil hat klare Vorzüge, was Sprach- und Kulturkenntnisse betrifft; auch steigt dadurch das Potential für multiperspektivische Betrachtungen erheblich. Allerdings stellt sich die Frage, ob die heutige Struktur von Studium und Nachwuchsausbildung hilfreich ist, um dieses Potential auch zur Geltung kommen zu lassen. Denn die großen Verbünde bevorteilen, wie bereits erwähnt, eher die Lauten als die Stillen, und wer einen Migrationshintergrund hat, muss oft jahrelang noch mit eigener Schüchternheit, dem Gefühl des Ausgeschlossenseins, des Fremdelns mit den sozialen Regeln und dem Habitus im deutschen Wissenschaftssystem kämpfen. Weil es Migranten mehr als den schon lange hier Verwurzelten um die eigene Etablierung, soziale und berufliche Absicherung gehen muss, sind sie, trotz ihres von „zuhause“ mitgebrachten, oft erfrischenden Institutionenmisstrauens, nicht leicht für risikoreiche kritische Debatten zu gewinnen – sie sind in dieser Hinsicht das Gegenteil der westdeutschen Babyboomer-Erbengesellschaft, deren Leichtigkeit und zuhause erlernte Streitlust in unsere Debatten der Jahrtausendwende einfloss.
IV. Resümee und Ausblick Zusammenfassend lässt sich sagen: Das Schweigen der Geisteswissenschaften ist nicht überraschend. Dabei waren gewisse Voraussetzungen für Kritik durchaus vorhanden, sie wurden aber nur sporadisch genutzt. Zu diesen Voraussetzungen zählt die im Vergleich zu anderen europäischen Ländern relativ hohe Dichte geisteswissenschaftlicher Institutionen ebenso wie die Absicherung der Professorenschaft, so dass sich die wenigsten Lehrstuhlinhaber ernstlich Gedanken um ihre Stellung hätten machen müssen. Wissenschaftler wegen politischer Äußerungen loswerden zu wollen, kommt zwar langsam in Mode39, scheitert aber (zum Glück) meist am Arbeitsrecht.
266 KLAUS BUCHENAU Ferner gab es ein theoretisches Rüstzeug zur Machtkritik, das ich hier anhand des Foucaultschen Diskursbegriffs und ein wenig auch am Begriff der Zivilgesellschaft demonstriert habe; es wurde jedoch nicht genutzt, weil diese Theorien schon vor Corona durch Massengebrauch verflacht und im Sinne des Mainstreams umgedeutet worden waren. Das Thema könnte an weiteren Fällen durchdekliniert werden, etwa an der Kritischen Theorie, welche gerade in Deutschland der Postmoderne vorausging und welche die Selbstbestimmung des Menschen mittels Gesellschaftsanalyse voranbringen wollte.40 Bei Ausbruch der Coronakrise waren ihre wichtigsten Verfechter, die seit den 1960er Jahren einen beeindruckenden Marsch durch die Bildungsinstitutionen hingelegt hatten, oft schon verstorben oder zu alt, um noch eine gewichtige Rolle spielen zu können. Diejenigen, die dennoch als Vertreter der Kritischen Theorie in den Ring stiegen, brachten ihr intellektuelles Rüstzeug aber gegen Andersdenkende in Stellung, so etwa Jürgen Habermas41 oder das Baseler Autorenduo Caroline Amlinger und Oliver Nachtwey, die (auch) an die Adresse der Corona-Maßnahmenkritiker den unguten Satz formulierten: „Die Kritische Theorie der Gegenwart muss das Individuum nicht länger über die Gefahren einer repressiven Gesellschaft aufklären, sie ist vielmehr aufgefordert, das gegen die Gesellschaft rebellierende Individuum vor sich selbst zu warnen.“42 Auch hier ist die „Mainstreamisierung“ mit Händen zu greifen, d.h. die schon an Foucault verdeutlichte Tendenz, Theorien mit herrschaftlichen Inhalten aufzuladen und sie damit zu entkernen. Weiter habe ich versucht zu zeigen, dass der relative Bedeutungsverlust des Westens, wie er sich in dem selbstbewussten bis aggressiven Auftreten Russlands oder Chinas, den ungebrochen starken antiwestlichen Strömungen weltweit wie auch den Spaltungen innerhalb der westlichen Gesellschaften selbst zeigt, unsere geisteswissenschaftliche Deutungskunst in Richtung Militanz treibt. Theorien werden, wie ich an dem Weg der Diskursanalyse von der kritischen Dekonstruktion zur aktivistisch-autoritären Konstruktion gezeigt habe, jetzt so ausgedeutet, dass sie beim Sieg über den „Systemgegner“ helfen und damit ganz selbstverständlich an der Seite der Macht stehen sollen. Und schließlich habe ich darauf aufmerksam gemacht, dass von managerialisierten, auf äußere Produktivität getrimmten Universitäten kaum erwartet werden kann, dass sie sich für Dinge einsetzen, die den
WIDERSPRUCH IN DEN GEISTESWISSENSCHAFTEN 267 erklärten Zielen ihrer Geldgeber in Politik und Wirtschaft widersprechen, mit denen sie sich ja nicht streiten, sondern noch enger als bisher verflechten sollen. Die Etablierung der „Hochschule im Wettbewerb“43 mit ihrem Fokus auf Marktanteilen, Effizienz und technokratischer Steuerung hat der Debattenkultur schon vor Corona geschadet – was vielen allerdings erst dann auffiel, als die Politik mit ihrem „Krieg gegen das Virus“ plötzlich tief und ohne ernsthafte Diskussion in die Grundrechte eingriff und die Hochschulen in den breiten Chor der Einverstandenen einstimmten.44 Die Aufarbeitung, die in diesem Band und auch in diesem Beitrag versucht wird, mag sich unmittelbar auf das Thema Corona beziehen. Die aufgezeigten Defizite aber haben universelle Bedeutung und werden sich, sofern keine Besserung eintritt, auch bei allen anderen Themen zeigen, in denen die Autorität „der Wissenschaft“ angerufen wird: Beim universitären Umgang mit dem Klimawandel deutet sich zur Zeit ähnliches an.45 Damit sich das Drama nicht wiederholt und das System Wissenschaft über die gesellschaftlichen Gräben hinweg sein Ansehen erhalten kann, werden besondere Anstrengungen notwendig sein. Was den Nachwuchs betrifft (dessen Heranbildung bereits im Proseminar beginnt), so müssen das selbständige Denken und die argumentative Verteidigung der eigenen Position in den Mittelpunkt gestellt werden. Parallel muss auch der Dialog eingeübt werden, der es versteht, widerstreitende Positionen zur Findung neuer, origineller Lösungen zusammenzuführen. Institutionell ist es wichtig, nicht nur diejenigen für die Größten und Besten zu halten, welche die höchsten Drittmittel einwerben, sondern diejenigen, die sich fruchtbar in Diskussionen ihres Fachs und darüber hinaus einbringen. Nicht zuletzt sollten wir aus dem Corona-Schweigen lernen, dass die starke Vorherrschaft einzelner Denkansätze zu Verflachung, theoretischer Verarmung und verkümmerter Debattenkultur führt. Wir sollten daher in den Geisteswissenschaften ausufernden Axiomen gegenüber kritisch bleiben, und uns stattdessen auf ein dauerhaftes Gespräch mit (im Theoretischen wie im Politischen) Andersdenkenden einlassen. 1
Clemens Kammler: „Foucaults Werk. Konzeptualisierungen und Rekonstruktionen“, in ders., Rudolf Parr (Hrsg.), Foucault in den Kulturwissenschaften. Eine Bestandsaufnahme (Heidelberg: Synchron, 2007), S. 11-25, hier S. 18. Der Foucault’sche „Werkzeugkasten“ hat noch wesentlich mehr zu
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bieten als den Diskursbegriff (z.B. seine Konzepte von Macht, Biopolitik, Gouvernementalität). Vieles davon kann bei der Analyse des Corona-Geschehens nützlich sein. Ich beschränke mich hier auf den Diskursbegriff wegen seiner ungewöhnlich breiten Rezeption in den Geisteswissenschaften. 2 Gemeint sind damit vor allem Pharma- und Finanzinteressen. Ein Beispiel für die Überdosierung des Begriffs ist die Diskussion um einen möglichen Ursprung des SARS-CoV-2-Virus aus einem Wuhaner Forschungslabor, die Christian Drosten schon früh als Verschwörungstheorie abtat – die „Leitmedien“ folgten ihm darin. Vgl. Philipp Mattheis, „Die geheimen Mails zur Herkunft des Coronavirus“, in Welt, 6.12.2022, https://www.we lt.de/politik/ausland/plus242453049/Corona-Herkunft-Die-geheimenMails-zum-Ursprung-des-Coronavirus.html [10.7.2023]. 3 Nämlich jenes, dass das Virus eine tödliche Gefahr sei und dass zu ihrer Bannung tiefe Eingriffe in die Grundrechte sowie die körperliche Unversehrtheit unabdingbar seien. 4 Achim Landwehr, „Diskurs und Wandel. Wege der historischen Diskursforschung“, in ders. (Hrsg.), Diskursiver Wandel (Wiesbaden: VS Verlag, 2010), S. 11-28, hier S. 12-17. 5 Désirée Schauz, „Diskursiver Wandel am Beispiel der Disziplinarmacht. Geschichtstheoretische Implikationen der Dispositivanalyse“, in Landwehr (Hrsg.), Diskursiver Wandel, S. 89-111, hier S. 94. 6 Vgl. die DFG-Broschüre Wissenschaften in der Coronavirus-Pandemie vom September 2022, in der die Geisteswissenschaften so gut wie gar keine Rolle spielen, sehr wohl aber die Bereiche Wissenschaftskommunikation oder Verhaltensforschung – mit dem offensichtlichen Zweck, das Verhalten der Bevölkerung im Sinne der „alternativlosen“ Pandemiepolitik durchzuformen (https://www.dfg.de/download/pdf/foerderung/coro na_infos/stellungnahme_pandemic_preparedness.pdf) [10.7.2023]. 7 Michael Maset, „Foucault in der deutschen Geschichtswissenschaft“, in Kammler/Parr (Hrsg.), Foucault, S. 45-68, hier S. 60-62. 8 Damit meine ich natürlich nicht die ernsthaften Versuche, Foucaults Theorie weiterzuentwickeln, sondern die oberflächliche Habitualisierung, die Aneignung des postmodernen Jargons, um dazuzugehören. Vgl. dazu Eva Erdmann, „Der Foucaultianer. Eine literarische Figur“, in Kammler/Parr, Foucault, S. 201-218, hier S. 205, 210f. 9 Siehe dazu die typologisierende Gegenüberstellung von „Kirche“ und „Sekte“ bei Ernst Troeltschs Klassiker Die Soziallehren der christlichen Gruppen und Kirchen (1912), hier v.a. das Schlusskapitel (abgedruckt in: Friedemann Voigt, Ernst Troeltsch Lesebuch. Ausgewählte Texte (Tübingen: Mohr Siebeck, 2003), S. 93-115. 10 Max Weber, „Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus“, in Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik 20 (1904), S. 1-54 sowie 21 (1905), S. 1-110.
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11 Ulrike Goldschweer, „Salonbolschewismus“, in Wieser-Enzyklopädie des europäischen Ostens online (https://eeo.aau.at/eeo.aau.at/indexddc7.html?tit le=Salonbolschewismus) [10.7.2023]. 12 Das beschriebene Phänomen lässt sich am besten mit Pierre Bourdieus Konzept des Habitus fassen. Zur praktischen Anwendung siehe Doris Märtin, Habitus. Sind Sie bereit für den Sprung nach ganz oben? (Frankfurt a.M./New York: Campus, 2019), S. 20-23, 228-230. 13 Nina Verheyen, Die Erfindung der Leistung (Berlin: Hanser, 2018), S. 64; Thomas Spiegler, Erfolgreiche Bildungsaufstiege. Ressourcen und Bedingungen (Weinheim, Basel: Beltz Juventa, 2015), S. 246-247. 14 Siehe dazu auch die komplexe Debatte um akademisches Aufsteigertum, die vor allem von französischen Autoren wie Pierre Bourdieu oder Didier Eribon angeregt wurde. 15 Vgl. Sarah Wagenknecht, Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt (Frankfurt a.M.: Campus, 2022), S. 149-150 (Paginierung nach Kindle-Ausgabe). 16 Z.B. Hildegard Kochanek, Die russisch-nationale Rechte von 1968 bis zum Ende der Sowjetunion. Eine Diskursanalyse (Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 1999); dieses Werk demonstriert durch seine geringe theoretische Durchgestaltung, dass „Diskursanalyse“, im Mainstream angekommen, sich oft nur wenig von traditioneller Ideengeschichte unterscheidet. 17 Zum auf Foucault aufbauenden, linke Identitätspolitik unterstützenden Aktivismus in den angloamerikanischen Cultural Studies vgl. Markus Stauff, „Die Cultural Studies und Foucault. Macht, Diskurs, Gouvernementalität“, in Kammler/Parr (Hrsg.), Foucault, S. 113-134, hier S. 122. 18 Zu Foucaults Konzept der Biopolitik vgl. Thomas Lemke, „Die Macht und das Leben. Foucaults Begriff der „Biopolitik“ in den Sozialwissenschaften“, in Kammler/Parr, Foucault, S. 135-156. 19 Dies gilt für die „Klimakrise“ ebenso wie für den Ukrainekrieg – es ist kaum vorstellbar, dass die Bevölkerung die Lasten, welche das Management beider Krisen mit sich gebracht hat, ohne die eingeübte „Solidarität“ der Coronazeit leicht akzeptiert hätte. 20 Philipp Sarasin: „Smallpox Liberalism. Michel Foucault und die Infektion“, in Claus Pias (Hrsg.), Abwehr. Modelle – Strategien – Medien (Bielefeld: Transcript, 2009), S. 27-37, hier S. 35. 21 Philipp Sarasin, „Mit Foucault die Pandemie verstehen?“, in Geschichte der Gegenwart, 25.3.2020, https://geschichtedergegenwart.ch/mit-foucault-di e-pandemie-verstehen/ [10.7.2020]. 22 Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, „Wenn das nackte Leben plötzlich zum höchsten Wert wird. Giorgio Agambens Reflexionen zur Corona-Zeit“, in Neue Zürcher Zeitung v. 4.2.2021, https://www.nzz.ch/feuilleton/giorgioagamben-ueber-corona-und-das-leben-im-ausnahmezustand-ld.1599539 [10.7.2023]. 23 Dieser Wandel im Denken manifestiert sich am Werk führender amerikanischer Theoretiker der Zivilgesellschaft, des Soziologen Andrew Arato
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und der Politikwissenschaftlerin Jean L. Cohen. In ihrer gemeinsamen Monographie Civil Society and Political Theory (Cambridge/Mass., London: MIT Press, 1992) betonten sie das Potential der Zivilgesellschaft, den autoritären Staat einzuhegen. In ihrem neuesten Werk Populism and Civil Society. The Challenge to Constitutional Democracy (New York: Oxford University Press, 2022) heben sie die Gefahr hervor, dass die Zivilgesellschaft zum Opfer des „Populismus“ werden könnte, der für sie per se autoritäre Tendenzen hat. Die Furcht vor einer derartigen Entwicklung wurde schon in den 1990er Jahren artikuliert, wahrscheinlich nicht zufällig von einem ausgebürgerten DDR-Dissidenten, der den Autoritarismus von innen kennengelernt hatte und daher besonders sensibel auf die Relativierung kommunistischer Verbrechen reagierte. Vgl. Reginald Rudorf, Die vierte Gewalt. Das linke Medienkartell (Frankfurt a.M., Berlin: Ullstein, 1994). Gerd Koenen, Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus (München: C.H. Beck, 2017), S. 580. Aus der Binnenperspektive würde man anders formulieren und von sich behaupten, dass ein Sprachgebrauch ohne traditionelle Muster der Vermachtung angestrebt wird. Ein Beispiel für die aktivistisch gewendete Diskurstheorie ist der Sammelband von Hannah Fitsch et al. (Hrsg.), Der Welt eine neue Wirklichkeit geben. Feministische und queertheoretische Interventionen (Bielefeld: Transcript, 2022). Thomas Bagger, „The World according to Germany: Reassessing 1989”, in Atlantik-Brücke, 22.2.2019 (https://www.atlantik-bruecke.org/the-worldaccording-to-germany-reassessing-1989/) [10.7.2023]. Ewa Trutkowski, „Vom Gendern zu politischen Rändern“, Neue Zürcher Zeitung v. 22.7.2020 (https://www.nzz.ch/feuilleton/gendergerechte-spr ache-die-diskussion-ist-politisch-vergiftet-ld.1567211) [10.7.2023]. Man denke an die parallele Verwendung von Gender-Sternchen, BinnenI, Doppelnennung der männlichen und weiblichen Form oder an das Alternieren von generischem Maskulinum und Femininum; oder an die Absurditäten, die sich aus der Kombination von gegenderten Formen mit Kasusformen im Genitiv und Dativ ergeben. Carolin Amlinger, „Rechts dekonstruieren. Die Neue Rechte und ihr widersprüchliches Verhältnis zur Postmoderne“, in Leviathan 48, 2 (2020), S. 318-337. Alex Gruber, „Alexander Dugin und der russische Aufstand gegen die Vernunft“, in Sans phrase 5 (2014), S. 41-55, hier S. 45, 49-51. Wagenknecht, Die Selbstgerechten, S. 147 (Paginierung nach Kindle-Ausgabe). Siehe dazu die aus sozial- bzw. naturwissenschaftlicher Perspektive verfassten Beiträge von Boris Kotchoubey und Klaus Morawetz in diesem Band. Vgl. dazu den ketzerischen Ansatz des US-Soziologen Stephen Turner, „What are disciplines? And how is interdisciplinarity different?“, in Peter
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Weingart, Nico Stehr, Practising Interdisciplinarity (Toronto: University of Toronto Press, 2000), S. 46 – 65. Vgl. dazu das Positionspapier des Netzwerks Wissenschaftsmanagement vom November 2017, https://netzwerk-wissenschaftsmanagement.de/fil es/positionspapier_exzellenzstrategie_final.pdf [10.7.2023]. Zur Kritik an diesem Begriff vgl. Markus Riedenauer, „Vom Mythos der wissensbasierten Gesellschaft“, in Sandra Kostner, Tanya Lieske (Hrsg.), Pandemiepolitik. Freiheit unterm Rad? (Berlin: Ibidem, 2022), S. 45-52. Ausdruck dieser Orientierung ist etwa das neue Bayerische Hochschulinnovationsgesetz, das scheinbar die Autonomie der Hochschulen steigert, tatsächlich von ihnen aber Wissenstransfer, Unternehmens-Ausgründungen und die Realisierung politisch vorgegebener „Querschnittsaufgaben“ verlangt. Vgl. https://www.stmwk.bayern.de/wissenschaftler/hochschu len/hochschulrechtsreform.html [10.7.2023]. Die Unterschiede zwischen den Disziplinen sind hier nach wie vor groß, die Geschichtswissenschaft ist in dieser Hinsicht noch lange nicht so weit „fortgeschritten“ wie die Sozialwissenschaften. Gemeint sind hier gerade auch solche Fälle mit Bezug zum Corona-Thema wie Michael Meyen oder Andreas Sönnichsen; weitaus häufiger waren in den Jahren 2020-22 aber formelle und informelle Druckmittel unterhalb der Entlassung, die in der Regel schnell ihr Ziel erreichten, Andersdenkende zu disziplinieren. Vgl. Gerhard Schweppenhäuser, Kritische Theorie (Stuttgart: Reclam, 2010), S. 7-11. Jürgen Habermas, „Corona und der Schutz des Lebens. Zur Grundrechtsdebatte in der pandemischen Ausnahmesituation“, in Blätter für deutsche und internationale Politik 9 (2021), S. 65-78, hier v.a. S. 68. Carolin Amlinger, Oliver Nachtwey, Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus (Berlin: Suhrkamp, 2022), S. 22. Diese Bezeichnung findet sich in der Studie von Peer Pasternack und Carsten von Wissel, Programmatische Konzepte der Hochschulentwicklung in Deutschland seit 1945 (Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung, 2010), S. 40-44. Der Deutsche Hochschulverband verlieh dieser Position sichtbaren Ausdruck, als er im März 2021 Christian Drosten und Sandra Ciesek, beide bekannt als Corona-Hardliner, zu „Hochschullehrern des Jahres“ für ihre Verdienste in der Wissenschaftskommunikation rund um das Virus kürte (https://www.hochschulverband.de/aktuelles-termine/hochschullehrer-des-jahres) [10.7.2023]. Siehe etwa das Nachhaltigkeitskonzept der Universität Regensburg, welches im Bezug auf das Thema nicht etwa die kritisch-reflektierende Begleitung der „grünen Transformation“ in den Mittelpunkt stellt, sondern die aktivistische Umsetzung (https://www.uni-regensburg.de/assets/universitaet/nachhalt igkeit/Grafiken_Startseite/Nachhaltigkeitsstrategie_2023-2027.pdf) [20.2.2024].
Sprachliche Monokultur und Diskursverarmung Markus Riedenauer
I.
Vorbemerkungen zum wissenschaftlichen Selbstverständnis
Die englische Sprache ist in sich plural in mehreren großen und kleineren Sprachgemeinschaften auf verschiedenen Kontinenten sowie lexikalisch außergewöhnlich reich an Ausdrucksmöglichkeiten. Damit ist sie ein Kulturgut ersten Ranges. Der Autor hat sie (bis zu einem von Muttersprachlern anerkannt hohen Niveau) erlernt, schätzen gelernt und einige Jahre lang in der Lehre an einer englischsprachigen Hochschule ebenso verwendet wie in eigenen Publikationen. Eine Abneigung gegen diese großartige Sprache an sich kann ihm ebensowenig nachgesagt werden wie anderen Kritikern der Hegemonialstellung des Englischen und der Anglophonisierung in den Wissenschaften1. Allerdings gehört der kritische Blick auf die Verhältnisse und Entwicklungen zu seinem philosophischen und wissenschaftstheoretischen Selbstverständnis. Insoweit krisis heißt, zu unterscheiden, sind immer Vorteile und Nachteile in den Blick zu nehmen und das besonders im Sinn einer Selbstkritik der Wissenschaft. Sie muss ihre Verflechtungen mit wissenschaftsfremden Entwicklungen und ihre Abhängigkeiten sehen, um ihren eigenen Beitrag zu deren Verstärkung zu unterscheiden, den selbstgewählten Anteil ihrer ancilla-Funktionen, ihren Freiheitsverzicht zugunsten des Mitmachens bei (auch ursprünglich extern verursachten) Dynamiken durchaus im Sinn der Maxime, Ausgänge aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit zu finden. Nachteile aus Abhängigkeiten oder Verstrickungen haben indessen nicht alle Personen, Gruppen oder auch Positionen und Interpretationen in der Wissenschaft. Sich in den Dienst wirtschaftlicher oder politischer Interessen zu stellen, kann auch Geld und Macht einbringen. Weil es das Geld der Menschen ist, die kaufen, verkaufen, arbeiten und Steuern zahlen, der Bürger und Bürgerinnen, und weil es Macht letztlich über alle diese ist, darum mindern Freiheitsdefizite in einem
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SPRACHLICHE MONOKULTUR UND DISKURSVERARMUNG 273 Teilbereich der Gesellschaft die Freiheit aller. Wissenschaft kann, im Gegensatz zu ihrem originären Impuls, durch Wahrheitserkenntnis frei zu machen, zur Unmündigkeit der Menschen beitragen. Ein Aspekt in dieser Problemlage, die natürlich mehrere Ursachen und Dimensionen aufweist2, ist die Sprache der Wissenschaft, ihre kommunikative Gestalt. Dieser Beitrag beleuchtet diesen einen, zu wenig problematisierten Aspekt: die drohende Diskursverarmung sowohl innerhalb der Wissenschaften als auch im öffentlichen Raum aufgrund einer Entwicklung, die sich auf eine sprachliche Monokultur zubewegt. Gleichzeitig macht er auf einen relativ unbemerkten, aber demokratiepolitisch gefährlichen Paradigmenwechsel im Sprachverständnis aufmerksam.
II.
Entwicklung und Motive der Anglophonisierung
Die globale Verkehrssprache ist Englisch, auch wenn es sehr große andere Sprachgemeinschaften gibt. Das entwickelte sich im 20. Jahrhundert, weil seit etwa 1900 schon eine bessere makroökonomische Ausgangssituation für das (amerikanische) Englisch herrschte und setzte sich aus vielfältigen Gründen fort im Zuge der weiteren historischen Entwicklungen, angefangen mit der Vertreibung vor allem jüdischer Intellektueller aus Deutschland, der Immigration in Amerika, über den Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg mit amerikanischer Hilfe, die politische und kulturelle Polarität von USA und UdSSR im Kalten Krieg, bis hin zu technologischen, industriellen und massenkulturellen Entwicklungen (wie Film und Popmusik), die überwiegend von den USA vorangetrieben wurden. Nicht zu vergessen ist, dass sich die Dynamik der Dominanz der (sprachdidaktisch eher niederschwelligen) englischen Sprache nach Überschreiten eines Kipp-Punktes selbst beschleunigt, nachdem bereits geschätzte 1,5 Milliarden Erdbewohner irgendeine Form von Englisch sprechen.3 Da die Nachfrage nach Englisch als Fremdsprache immer weiter expandiert und diese Expansion durch die gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Macht der englischen Sprachgemeinschaft und durch eine aktive Sprachenpolitik, hier vor allem seitens Großbritanniens und der USA, dauerhaft unterstützt und beschleunigt wird, sinkt die Anziehungskraft der traditionellen internationalen Sprachen wie Deutsch oder Französisch ständig,
274 MARKUS RIEDENAUER während sich die asymmetrische Beziehung zu Englisch entsprechend vergrößert. Das Wissenschaftsfeld ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme, sondern allenfalls der am weitesten fortgeschrittene Ausdruck dieser Entwicklung.4
Die Monolingualität wird konkret als „Anglophonisierung der Wissenschaften“5, ja sogar „Anglomanie“6 benannt. Die Situation für die deutsche Sprache in der akademischen Welt wurde nach älteren Forschungen zu Fachsprachen, vor allem unter dem Titel „Deutsch als Wissenschaftssprache“ oder „German for academic purposes“ thematisiert.7 Im Ergebnis zeigt sich: „Academic German has been losing its importance as an international language of academic communication since the end of the First World War.“8 Im Gegenzug haben in den letzten Jahren wichtige akademische Institutionen Mehrsprachigkeit bzw. Maßnahmen zur Sicherung von Deutsch als Wissenschaftssprache gefordert, wie die Hochschulrektorenkonferenz9, der Hochschullehrerbund10, der DAAD11 und andere12. Mein Fokus ist, das zugrunde liegende und mit der sich etablierenden Monolingualität dominierende sprachphilosophische Paradigma in Frage zu stellen. Zunächst systematisiere ich die Gründe für die Verbreitung von Englisch als dominanter Wissenschaftssprache13: 1. Offensichtlich sind externe Gründe wie starke Kapital- und Machtgefälle zwischen verschiedenen Ländern und ihren Wissenschaftskulturen, woraus sehr ungleiche Forschungsinfrastrukturen resultieren. Das führt zu der Frage, warum die von externen Faktoren bewirkte Dominanz des Englischen in den Wissenschaften so leicht akzeptiert oder aktiv gefördert wird? Hierfür sind zuerst strukturelle und wissenschaftspolitische Gründe zu nennen, zusammengefasst als „Ökonomisierung der Wissenschaft“14. Auch Siegfried Gehrmann fragt, warum kein größerer Widerstand gegen die Anglophonisierung in Deutschland mobilisiert wird. Seine These ist, „dass das gesamte akademische Feld derzeit unter Zweck-Mittel-Relationen und ökonomischen Effizienzkriterien neu justiert wird und dass im Rahmen einer global handelnden unternehmerischen Universität die Umstellung auf Englisch als globale Wissenschaftssprache vielen Universitätsmanagern und Forschenden als alternativlos erscheint.“15 In dieser Perspektive erscheint die Implementierung ökonomischer Steuerprinzipien als Antriebsfeder der Anglophonisierung der Wissenschaft. Dann müssen
SPRACHLICHE MONOKULTUR UND DISKURSVERARMUNG 275 Forschende unter dem Druck, ihre Forschung zu vermarkten, mehr erfolgsorientiert und affirmativ und weniger wahrheitsorientiert und kritisch denken, wie Ralph Mocikat hervorhebt16. Das deutet auf Wechselwirkungen zwischen Rahmenbedingungen und inneren Einstellungen hin. 2. Von daher gibt es auch Gründe im Sinne von Vorteilen für sehr viele Teilnehmer an wissenschaftlichen Diskursen, deren wichtigste mir zu sein scheinen: - Forschende wechseln von ihrer Muttersprache ins Englische, um ihren Veröffentlichungen größere Reichweite zu geben, sie hoffen auf schnelleren Austausch und Umlauf ihrer Forschungsergebnisse und auf Zugang zum Wissenschaftsmarkt der englischsprachigen Länder.17 - Die mündliche Kommunikation wie auf Tagungen etc. ist leichter und schneller. - Mit der Etablierung einer akademischen lingua franca wird es weniger notwendig, weitere Fremdsprachen als Wissenschaftssprachen zu erlernen. Als wesentliches Moment für die Dominanz des Englischen wurde ja auch die Reform an US-amerikanischen Hochschulen gesehen, wodurch seit etwa sechzig Jahren Fremdsprachen-Erfordernisse reduziert wurden18. - Die Mobilität von Studierenden und Lehrenden wird aus guten Gründen besonders in der EU gefördert und dieser Austausch wird durch eine internationale Wissenschaftssprache erleichtert. - Monolingualität erspart Kosten für Übersetzungen, für Institutionen der Forschungsförderung, des internationalen akademischen Austausches sowie Verlage u.ä. Auch die Abläufe in den akademischen Bürokratien jeder Art sollten (in dieser einen Hinsicht) einfacher und billiger werden. 3. Neben diesen weit verbreiteten Motiven lassen sich weitere Gründe im Sinne von Vorteilen nennen, welche nur bestimmten Gruppen zugute kommen: Muttersprachler (aus den USA, UK, Kanada, Australien, Südafrika) haben komparative Vorteile bzw. profitieren am meisten von dem, was andere erst erhoffen und sich erarbeiten müssen. Sie haben Vorteile im Konkurrenzkampf um Platz in Zeitschriften und um finanzielle Mittel – Anträge von Nicht-Muttersprachlern können leicht we-
276 MARKUS RIEDENAUER gen (wirklicher oder angeblicher) sprachlicher Mängel zurückgewiesen werden. Das kann zu einer Dominanz englischer Muttersprachler in der Forschungsförderung und bei der Dissemination führen.19
III. Was ist der Preis? Unser kritischer Blick richtet sich nun, ebenfalls zusammenfassend, auf die Nachteile der Makroentwicklung der Anglophonisierung, in ökonomischer Sprache auf den bereits bezahlten und ständig steigenden Preis für die eingekauften Vorteile. 1. Nachteile für Kolleginnen und Kollegen ohne englische Muttersprache ergeben sich direkt aus II.3 im Sinn von erschwerten Zutrittsbedingungen oder erhöhten Opportunitätskosten zu englischsprachigen Lehrangeboten, Studiengängen, Literatur, Veröffentlichungs- und Karrieremöglichkeiten20. Zur generellen Problematik der „Verkennzahlung“ von Publikationsleistungen kommt „das Problem der sprachlichen Diskriminierung durch die bibliometrischen Indices“21. Was z.B. in Berufungsverfahren auf deutsche Professuren als „internationale Sichtbarkeit“ von Forschungsleistungen hoch gehandelt wird, sind de facto nichts weiter als hoch bepunktete englische Publikationen in sogenannten „high-ranking journals“. Der für diese Tendenz anfallende systemische Preis wird meist ahnungslos oder achselzuckend bezahlt. 2. Die Existenz eines faktischen Monopols impliziert eine kulturelle Abwertung anderer Sprachen; überall wird erwartet, dass alle (gut) Englisch sprechen. Das mag für die DACH-Länder mit gut ausgebauten Möglichkeiten, spätestens ab der Grundschule Englisch zu lernen, weniger ins Gewicht fallen als für Studierende, Lehrende und Forschende mit anderen oder ganz anderen Herkunftssprachen (beispielsweise für eine Afrikanerin, die zuerst Wolof spricht, dann Französisch lernt, nur um festzustellen, dass sie damit in der weiteren Welt kaum weiterkommt), doch partizipiert Mitteleuropa durch die Migration auch an der verschärften kulturellen Problematik22. Englischsprachige Studiengänge in anderssprachigen europäischen Ländern werden als „Integrationshemmnis“ bezeichnet23. Zu fragen ist, inwieweit hier nicht eine Fortsetzung kolonialer Wertungsund Handlungsmuster geschieht24.
SPRACHLICHE MONOKULTUR UND DISKURSVERARMUNG 277 In der Lehre führt die Tendenz, auch grundständige Studiengänge ausschließlich auf Englisch anzubieten25 dazu, dass manche Migranten doppelt benachteiligt werden und zusätzliche Hürden erfahren, um am Bildungssystem einschließlich der Fachhochschulen zu partizipieren sowie, was selten gesehen wird, auch danach am einheimischen Arbeitsmarkt26. In sprachlich gemischten Gruppen von Studierenden zeigt sich in der Praxis oft ein Sinken des inhaltlichen Niveaus wegen heterogener Ausgangsbedingungen.27 Untersuchungen erweisen, dass in englischsprachigen Studiengängen in Deutschland in der Regel ein „funktionables Englisch“ vorherrscht, weit unterhalb des Niveaus eines muttersprachlichen Englisch28. Demnach sind Niveauverluste gegenüber landessprachlichen Studiengängen zu erwarten sowie ein wissenschaftssprachliches „Zweiklassensystem“.29 3. Der umgekehrte Transfer von auf Deutsch formulierten Forschungsleistungen in den englischen Sprachraum wird erschwert. „So taucht immer wieder das Phänomen auf, dass das, was auf Englisch erscheint und als Neuheit ausgegeben wird, bereits in anderen Sprachen gesagt worden ist, aber durch den Rekurs auf ausschließlich englischsprachige Literatur nicht mehr zur Kenntnis genommen wird.“30 Sprachliche Verarmung und Diskurshegemonie führen zu einem Verlust an Erkenntnisressourcen. Nicht-englische Wissenschafts-Sprachen werden rückgebaut und entwickeln sich allenfalls in Form sprachlicher Hybridisierung weiter (Wissenschafts-Denglisch). Gleichzeitig stagniert die Fortentwicklung deutscher Fachterminologie (Domänenverlust31). Überdies wird das Studium kleinerer Sprachen und Kulturen entmutigt, mehrere Philologien werden zu „kleinen“ oder „Orchideenfächern“. 4. Was bei begrenzter Sprachkompetenz (in nur angelernter englischer Fachsprache, die ihrerseits oft reduziert und formalisiert ist32) als erstes ausfällt, ist der Reichtum an Konnotationen, die Verortung eines Wortgehaltes in Bedeutungsfeldern. Nicht wahrgenommen wird, was alles mit anklingt, aber zusätzliche Bedeutungen transportiert (ein Prinzip, das in manchen nicht-indo-europäischen Sprachen wie z.B. semitischen besonders wichtig ist). Man stelle sich zum Vergleich eine Hörerin einer Symphonie vor, die statt der Instrumente mit ihren verschiedenen Obertonreihen nur Sinustöne zu hören vermag. Semantischer
278 MARKUS RIEDENAUER Verlust lässt hintergründige sachliche Bezüge, Implikationen und mehrdimensionale Bedeutungsgeflechte nicht mehr zur Sprache kommen und der Reflexion aufschließen. Außerdem verändert sich die mehrfach gestufte Hierarchie von den kleineren Sprachen zu den größeren (z.B. Sorbisch – Deutsch – Denglisch – English), womit auch Varianten des Englischen selbst wie z.B. Scots English auf nicht wissenschaftsfähiges Niveau herabgestuft werden. Die Hierarchie orientiert sich am Gebrauch der Sprachen. Wer würde einen wissenschaftlichen Vortrag auf Scots English oder Alemannisch halten? Bereits den Vorschlag würden viele als absurd empfinden. Obwohl auch Weltliteratur auf Scots English verfasst wurde, erscheint es als unmöglich, einen wissenschaftlichen Vortrag darüber in der gleichen Sprache zu halten. 5. Auf technisch-pragmatischer Ebene werden schon durch die automatische Fehlerkorrektur von Textverarbeitungsprogrammen verschiedene legitime Schreib- und Ausdrucksweisen nicht gleichberechtigt abgebildet. Der Zwang zum Publizieren, Referieren und Studieren auf Englisch befördert natürlich den Einsatz technischer Hilfsmittel, bis dahin, dass durch den Einsatz von Informationstechnologie bei Übersetzungen (von Textgeneratoren einmal zu schweigen) Sprachkompetenz nur vorgetäuscht wird33. Insoweit Autorinnen und Autoren weniger Kontrolle über das unter dem eigenen Namen Publizierte haben, entsteht die Frage nach dem verantwortlichen Subjekt. Die aktuellen Debatten um den Umgang mit ChatGPT in der Lehre und Forschung zeigen, welches Problempotenzial hier schlummert – das gilt grundsätzlich für alle Sprachen, aber für Englisch als angelernte Fachsprache umso mehr. 6. Des Weiteren werden der Dialog von Wissenschaft und Gesellschaft, die „diskursive Durchlässigkeit“34 und der Transfer (bezeichnenderweise Third Mission genannt) erschwert.35 Insoweit dadurch weniger Verständnis und Wertschätzung für Wissenschaft in der Gesellschaft herrscht (was bekanntlich seit der gesellschaftlichen Polarisierung durch die Pandemiepolitik vermehrt festgestellt und beklagt wird), werden beide gefährdet und die Expertokratie gefördert. Hier drängt sich die Frage auf: Ist die derzeit im deutschen Sprachraum beobachtbare Dynamik zur programmatischen Aufwertung der genannten dritten Aufgabe der Wissenschaft neben Forschung und Lehre, nämlich
SPRACHLICHE MONOKULTUR UND DISKURSVERARMUNG 279 ihre Ergebnisse der Gesellschaft zugänglich zu machen und sich direkt in den Dienst gesellschaftlicher oder politischer Zwecke zu stellen36, nicht nur eine Anpassung an Wünsche der staatlichen Mittelgeber, sondern teilweise von einem schlechten Gewissen motiviert, aufgrund einer Wahrnehmung wachsender Entfremdung von englischsprachiger Forschung und deutscher Gesellschaft? Die Diskursverarmung hat nun und vor allem einen sehr wichtigen demokratiepolitischen Aspekt, insofern „die Frage, was in einer Community, die eine wissenschaftliche Einzelsprache unterhält, als wissenschaftliches Wissen gelten kann, an argumentative Verfahren und sprachliche Mittel gebunden ist, wie sie in dieser Einzelsprache vorgehalten werden.“37 Wo diese Verbindung schwach wird, entstehen die Zwillinge Wissenschaftsskepsis und Expertokratie. Die in den Jahren 2020-23 vielfach beobachtete Folge ist: Strategisch betriebene „Wissenschaftskommunikation“ ersetzt die pluralen und mobilen Verbindungen von Wissenschaft mit gesellschaftlichen Gruppen und Einzelpersonen aufgrund von deren individuellen Interessen an Partizipation und Dialog. Inwieweit ist das als Folge von auch sprachbedingter epistemischer Entfremdung einzuordnen und gleichzeitig als dessen weitere Verschärfung?
IV. Instrumentelles Sprachverständnis als demokratiepolitische Gefahr Das Kernproblem aus sprachphilosophischer Sicht kommt deutlicher in den Blick, wenn wir die mangelnde Unterscheidung empirischer Wissenschaften von Geistes- und Kulturwissenschaften beachten: Unbestritten ist auf der einen Seite die Notwendigkeit klarer und eindeutig definierter, exakter Termini technici für Material- und Formalobjekte, Einheiten, Prozesse, Methoden, Theorien etc. Die Konzentration auf die möglichst „objektive“ Bedeutung von Begriffen und die Abblendung von Konnotationen und „subjektivem“ Sinn ist hier notwendig. Aber in allen hermeneutisch arbeitenden Wissenschaften sind die Zusammenhänge der Themen mit der jeweiligen Lebenswelt, durch deren sprachliche Horizonte vermittelt, noch viel wichtiger. Damit ist auch gesagt, dass selbst in empirischen Wissenschaften die Vielsprachigkeit wichtig ist, besonders für das Beschreiben von Beobachtungen, Formulieren von Hypothesen und Diskutieren von Theorien38.
280 MARKUS RIEDENAUER Die Abstraktion aus der sprachlich konstituierten Lebenswelt bewirkt eine Verarmung der Möglichkeiten für Verständnis und Diskurs und führt zu absurden Situationen wie etwa Kongressen in Deutschland über Kant oder Hegel auf Englisch39. Weil jede Fachsprache bis hin zu Formelsprachen zu ihrer Vermittlung, kritischen Aneignung und Weiterentwicklung in einem lebensweltlichen Sprachhorizont eingebettet sein muss, beschädigt die Anglophonisierung auch die wissenschaftliche Streitkultur selbst: „Eristik ist nicht unabhängig von einer Sprachgemeinschaft zu haben, die auf gemeinsprachlicher Ebene die Differenzierungsmöglichkeiten bereit stellt und am Leben hält. Sie ist gesellschaftsspezifisch und erhält ihre Präzision von der Gesellschaft, die sie ausbildet und trägt.“40 Vergessen wird tendenziell, dass Fachsprachen immer auf der Basis der lebensweltlichen Sprachgemeinschaft funktionieren. Wie sehr Sprachen in ihren lexikalischen und grammatikalischen Dimensionen mit dem Weltbild zusammenhängen, dafür ist das Bewusstsein seit Wilhelm von Humboldt gewachsen (selbst wenn man die Radikalität der Sapir-Whorf-Hypothese des linguistischen Relativismus kritisch sieht). Demgegenüber erscheint die implizite Vorannahme des linguistischen Reduktionismus, alles und jedes sei auf Englisch (mindestens) genauso gut sagbar wie in einer anderen Sprache, als erkenntnis- und sprachphilosophisch naiv. Keine Sprache ist kulturneutral (womöglich mit Ausnahme rein künstlicher Verkehrs- oder Formelsprachen). Die Funktionsweise einer Sprache prägt auch die wissenschaffenden (gnoseologischen) Möglichkeiten und Grenzen, wie von fachwissenschaftlicher Seite untersucht wurde41. Eine drastische Reduktion der Pluralität möglicher weltbildlicher Perspektiven und Zugänge durch Monolingualität führt zu einer Monokultur des Denkens. Selbst in sogenannten exakten Wissenschaften befördert die angestrebte Präzisierung der sprachlichen Mittel ein fundamentales erkenntnis- und wissenschaftstheoretisches Missverständnis: Wird nicht zunehmend ausgeblendet, dass die immer feinere Isolierung der Untersuchungsobjekte (material und formal) eine methodische Abstraktion ist, dass die Wirklichkeit grundsätzlich noch viel komplexer sein mag als in Modellen rekonstruierbar ist? Daraus folgt ein fragmentierendes Denken und ein reduktionistisches Weltbild. Das Hauptproblem ist: Sprache ist nicht mehr als geistiger Lebensraum verstanden und kultiviert. Das technomorphe Sprachver-
SPRACHLICHE MONOKULTUR UND DISKURSVERARMUNG 281 ständnis (das Phänomene fest-stellt, wie ein Fallensteller Tiere fängt, als Her-stellung von Bezügen und Zur-Verfügung-Stellen von Herrschaftswissen) reduziert Menschen auf zielgerichtete Akteure, die teils miteinander arbeiten und sich koordinieren, teils konkurrieren und sich manipulieren. Sprache überhaupt als ein neutrales Instrument zu betrachten, ohne sprachliche Machtstrukturen und -dynamiken zu bedenken, ist naiv und irreführend – spätestens seit J. Butler. Die Reduktion von Sprache auf ein möglichst eindeutiges und uniformes Zeichensystem, dessen Formalisierung und Globalisierung verstärken die Tendenz, dass Sprache zu einem bloßen Instrument degeneriert, und zwar schon weit diesseits von ihrem gezielten Einsatz als Herrschaftsinstrument. Die Motive für manipulative Sprachnutzung in totalitären Systemen (wie im Nationalsozialismus oder in der Sowjetunion) sind freilich verschieden von den Motiven in Werbung und politischer Zweckkommunikation (Framing u.ä.) doch das zugrunde liegende Paradigma ist gleichermaßen problematisch. Entscheidend ist: Bereits die Reduktion von Sprache auf ein Instrument (sei es kommerziell oder politisch oder individual-expressiv) zerstört Deutungsmöglichkeiten, was ein sprachethisches Problem ist noch vor den im engeren Sinn moralischen Pflichtverletzungen durch Lüge, Herabwürdigung, Manipulation und Zensur. Die Mitverantwortung für unsere Sprache beginnt nicht erst beim expliziten Sprachmissbrauch. Das kritische Potenzial gegen sozio-linguistische Steuerungstechniken wird von wissenschaftlicher Monolingualität untergraben, insoweit die kommunikative Vernunft ihren lebendigen, lebensweltlichen Sprachraum verliert. Wissenschaft selbst wird dann tendenziell zu einer Wissensproduktion mit standardisierten Produktionsmitteln. Die Mehrdimensionalität von Sprache mit ihren konstativen, regulativen, repräsentativen und kommunikativen Dimensionen verschwindet aus dem Bewusstsein. Selbst wenn keine pragmatische Absicht im Sinne einer Manipulation durch das Instrument Sprache beabsichtigt ist, sondern (vermeintlich) rein konstativ gearbeitet wird, ist das Ergebnis eine systematische Abblendung anderer Dimensionen und damit letztlich eine Verarmung des Diskurses. Je stärker das reduktionistische Sprachverständnis der bloßen Informationsübermittlung sich breit macht, umso näher liegt kommunikative und evaluative Sprach- und Orientierungslosigkeit.
282 MARKUS RIEDENAUER Steigert das nicht die Gefahr, dass dann Wertungen auf andere Weise, wie durch Auslassungen, Framing u.v.m. transportiert werden? Durch sprachliche Uniformierung induzierte wissenschaftliche Diskursverarmung kann auf diese Weise für die deliberative Demokratie politisch gefährlich werden. In der pandemischen, politischen und gesellschaftlichen Krise der letzten Jahre zeigten sich indirekte und systemische Zusammenhänge mit der sprachlichen Monokultur, vermittelt über bestimmte unbefragt bleibende Verständnisse von Sprache und Wissenschaft. Sprache wird zunehmend (miss-)verstanden als möglichst uniformiertes Instrument. Das hat Wurzeln in der Philosophiegeschichte seit dem platonischen Sokrates, dem aristotelischen Organon und vor allem in empiristischen und analytisch-idealsprachlichen Theorien. Daneben gibt es aber seit der Antike die fundamentalere und integrative anthropologische Tradition des Sprachverständnisses. An eine entscheidende Stelle seiner Politik stellt Aristoteles die berühmte Definition des Menschen als das Wesen des Logos (als Kurzformel: anthropos zoon logon echon, vgl. 1153a 10f.), aber im (oft übersehenen) Zusammenhang mit zwei weiteren Bestimmungen des Menschenwesens als zoon politikon und als dasjenige Lebewesen, welches die Unterschiede von nützlich und schädlich sowie von gerecht und ungerecht wahrnehmen kann. Diese drei Bestimmungen gehören zusammen und keine ist ohne die anderen beiden voll verständlich. Menschliches Existieren vollzieht sich in den drei interdependenten Dimensionen von Sprache und Vernunft (kommunikativer Vernunft), einer politischen Diskursgemeinschaft und einer praktisch-ethischen Orientierung. Sprache trägt Bedeutungen wegen der Vernünftigkeit und der ethisch-politischen Gemeinschaftlichkeit des Menschen. Personsein beruht auf dieser dreidimensionalen Lebensform. Sprache als Instrument vorverstanden nimmt hingegen nicht die Sprecher zuerst und zugleich als Hörer in Anspruch, deren Sagen dann ein Antworten ist im mehrsinnigen Bezug von ansprechender Wirklichkeit (den Phänomenen), der konnotationshaltigen und obertonreichen Fülle muttersprachlicher Sagbarkeit und der ethisch-politischen, kulturellen Sprachgemeinschaft, sondern sie transportiert möglichst eindeutige und einsinnige, uniform kodierte Informationseinheiten von Sendern zu Empfängern. In Teilbereichen der empirischen Wissenschaften hat das zwar seinen Sinn, aber als Paradigma von Sprache
SPRACHLICHE MONOKULTUR UND DISKURSVERARMUNG 283 überhaupt minimiert es bereits die Möglichkeiten zum Diskurs und damit der kommunikativen Vernunft. Reflexions- und Orientierungswissen kommt so nicht mehr zu Wort. Die jeweilige Sprache ist nicht mehr mehrdimensionaler geistiger Lebensraum für freie Subjekte, die um die besten Deutungen und Wertungen der Wirklichkeit ringen und damit alle selbst mitverantwortlich sind, sondern sie verflacht: Zuerst geht die Tiefe verloren, wo Sagbares aus der Unerschöpflichkeit des Wirklichen hervorkommt, dann spricht A zu B über C auf derselben Ebene, schließlich reduziert sich Sprache als Instrument auf die Linie, der entlang die Nachricht von A zu B gesendet wird, um allenfalls kybernetisch zu interpretierende Rückkoppelungen auszulösen. Der schleichende Paradigmenwechsel im Sprachverständnis, durch die technoiden Redeweisen in Kommunikationswissenschaft und Kybernetik evidenziert, wird von der anglophonen Dominanz mindestens befördert. Diese verändert auch das Verständnis von Wissenschaft hin zu einem instrumentellen. In der Monokultur spricht sich eine global vernetzte Community aus (deren Existenz an sich ein Vorteil ist, solange die oben genannten Gefahren interner Verarmung durch Exklusionsmechanismen gesehen und minimiert werden). Aber das entfremdet sie mindestens von anderssprachigen Gesellschaften. Sie kann sich freilich auf deren Lebenswelten beziehen, aber wiederum in einer kommunikativen Gestalt, die diesen fremd bleibt. Dann ist nachvollziehbar, dass die Berufung auf „die Wissenschaft“ und die Aufforderung, ihr zu folgen (bezeichnenderweise wiederum als Imperativ auf Englisch: „Follow the science!”) leicht wahrgenommen werden als Fremdbestimmung, als Ausdruck einer Expertokratie mit technokratischen Mitteln; und dass Gegenreaktionen provoziert werden, welche die Wissenschaft beunruhigen müssen. Ihr Verhältnis zu den Wirklichkeitsdeutungen, Bewertungen und Einstellungen der Menschen, ihr Bezug auf den Common Sense gewinnt autoritären Charakter und verschärft die epistemische Entfremdung zu einer machtförmigen, repressiven Entfremdung. Wenn die Wurzeln dieser Dynamik, die zu einem Circulus vitiosus werden kann, und deren eine die sprachliche Monokultur ist, nicht erkannt werden, kann nicht gegengesteuert werden. Dann ändert die Wissenschaft ihren Charakter, sie wird unfrei und sie macht unfrei. Als de facto esoterisches Herrschaftswissen verstellt sie den Ausgang aus der Unmündigkeit.
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“Many of the academic voices within the critical camp are not necessarily concerned with English as such but with the academic monolingualism which the overwhelming presence of English in academic discourse would predictably lead to.” (Sylvia Jaworska, „A Language in Focus. Review of recent research (1998 – 2012) in German for Academic Purposes (GAP) in comparison with English for Academic Purposes (EAP): cross-influences, synergies and implications for further research”, in Lang. Teach. 2015, 48.2, S. 163-197. Hier: S. 170) Zum Verhältnis von Wissenschaft, Macht und Gesellschaft siehe auch meinen Essay: „Vom Mythos der wissensbasierten Gesellschaft“, in Sandra Kostner / Tanya Lieske (Hg.): Pandemiepolitik. Freiheit unterm Rad? (Stuttgart: ibidem, 2022), S. 45-52. Zum „politischen Szientismus“ als Zerstörung von Wissenschaftlichkeit und liberaler Politik zugleich siehe Michael Esfeld, Land ohne Mut. Eine Anleitung für die Rückkehr zu Wissenschaft und Rechtsordnung (Berlin: Achgut, 2023), besonders S. 41-49. „Im Ergebnis ist hierdurch eine wachsende Asymmetrie und Hierarchisierung zwischen Englisch und allen anderen Sprachen entstanden, die wiederum systemisch dazu geführt hat und vorläufig weiter führen wird, dass immer mehr Sprecher in die weltweit dominante Sprache wechseln und damit die Sprachgemeinschaft der Sprecher von Englisch als Fremdsprache ständig vergrößern. Ab einem bestimmten Punkt dieser asymmetrischen Beziehung verstärkt sich dieser Prozess von selbst und ist, sofern er den Marktkräften überlassen wird, kaum noch aufzuhalten.“ Siegfried Gehrmann, „Die Ökonomisierung des Sprachlichen. Eine Bestandsaufnahme über die Zukunft der Nationalsprachen als Wissenschaftssprachen“, in Ursula Münch / Ralph Mocikat / Siegfried Gehrmann / Jörg Siegmund (Hrsg.): Die Sprache von Forschung und Lehre. Lenkung durch Konzepte der Ökonomie? (Baden-Baden: Nomos 2020), S. 58. Gehrmann, „Ökonomisierung“, in Münch et al., (Hrsg.), Sprache, S. 59. Ralph Mocikat, „Die Anglophonisierung der Wissenschaften als Folge ihrer Ökonomisierung?“ in Münch et al. (Hrsg.), Sprache, S. 91-96. Thomas Corsten, „Internationalität, Internationalisierung und Anglomanie. Die Folgen für die Geisteswissenschaften in Österreich“, in Münch et al. (Hrsg.), Sprache, S. 167-179. „Die Monolingualisierung der Wissenschaftskommunikation in Forschung und Lehre geht mittlerweile erheblich über die weithin anerkannte Verwendung von Englisch als kleinstem gemeinsamen Nenner für die globale wissenschaftliche Kommunikation per Konferenz und Publikation hinaus.“ (Olga Rösch / Günter-Ulrich Tolkiehn, „Zum Diskurs über die Sprache in der Wissenschaftskommunikation“, in DNH 04/2018, S. 27). Siehe den reichhaltigen begriffs- und forschungsgeschichtlichen Überblick bei Jaworska, A Language in Focus. Jaworska, A Language in Focus, S. 168.
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Arbeitsgruppe der HRK: Empfehlungspapier: https://adawis.de/fileadm in/user_upload/Seiten/Archiv/Andere_Ereignisse/HRK_Empfehlung_ Sprachenpolitik_2011.pdf [25.6.2023]. Diskussionspapier des HLB: https://www.hlb.de/fileadmin/hlb-global/ downloads/uber_uns/hlb-Diskussionspapier_Landessprache_in_der_Le hre-interaktiv_final.pdf [26.6.2023]. Die Mittel für DAAD, Goethe-Institut etc. wurden aber 2022 gekürzt, was auch Deutsch als Fremdsprache betrifft: https://www.forschung-und-leh re.de/politik/dem-internationalen-austausch-drohen-weitere-kuerzunge n-4857 [25.7.2023]. Skandinavische Länder haben politische Gegenmaßnahmen ergriffen, siehe Gibson Ferguson, „The Global spread of English, scientific communication and ESP: questions of equity, access and domain loss”, in Ibérica 13(1), 2007; S. 7-38, hier S. 16 f. Siehe die kommentierte Link-Sammlung bei ADAWIS (Arbeitskreis Deutsch als Wissenschaftssprache): https://adawis.de/verweise/stellung nahmen-von-verbaenden/ [25.6.2023]. Hier auch die Tutzinger Forderungen von 2018 für die Sprache der Lehre an deutschen Hochschulen: https://ad awis.de/fileadmin/user_upload/PM_Tutzinger_Erklaerung_2018.pdf [25.6.2023]. Umgekehrt propagiert das BMBF zugunsten der „Internationalisierung“ eine massive Verstärkung von Lehre und Forschung auf Englisch. “In the 1990s, over 90 percent of the natural-science publications were in English, and no other language accounted for more than 2 percent.” (Ulrich Ammon, „ German as an International Language of the Sciences – Recent Past and Present”, in Andreas Gardt / Bernd Hüppauf (Hrsg.): Globalization and the Future of German. With a Select Bibliography (Berlin: De Gruyter, 2004), S. 161). Siehe ausführlicher Ulrich Ammon: Ist Deutsch noch internationale Wissenschaftssprache? Englisch auch für die Lehre an den deutschsprachigen Hochschulen (Berlin: De Gruyter, 1998), S. 137-204 und Hinweise auf neuere empirische Erhebungen bei Ferguson, „The global spread“, S. 1011. Vgl. Frank Rabe, Englischsprachiges Schreiben und Publizieren in verschiedenen Fachkulturen: wie deutschsprachige Forscher mit der Anglisierung der Wissenschaftskommunikation umgehen (Tübingen: Narr Francke Attempto, 2016), S. 15-22. „Ökonomisierung“ ist das Leitmotiv des Sammelbandes von Münch et al. auf der Basis der vorangegangenen Fachtagung. Gehrmann, „Ökonomisierung“, in Münch et al., (Hg.), Sprache, S. 63. Mocikat, „Anglophonisierung“, in Münch et al., (Hg.), Sprache, S. 94. Siehe Gehrmann, „Ökonomisierung“, in Münch et al., (Hg.), Sprache, S. 58. Ammon stellt in seiner geschichtlichen Rekonstruktion des Bedeutungsverlustes der deutschen Wissenschaftssprache den Boykott deutschsprachiger Wissenschaft nach dem Ersten sowie nach dem Zweiten Weltkrieg dar, die „scientific self-destruction” durch den Nationalsozialismus und den nachfolgenden „brain-drain”. “A complimentary [sic, gemeint ist aber complementary] blow at German and all other international languages of
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science except English was dealt by an important change of foreign language requirements at American colleges and universities in the 1960’s. Many of them decided to reduce or to abolish language requirements especially for natural science studies” (Ammon, German, S. 164). Vgl. Sarah Benesch, Critical English for academic purpose: Theory, politics and practices (Mahwah, NJ: Lawrence Erlbaum, 2001); Françoise Salager-Meyer, „Scientific publishing in developing countries: Challenges for the future”, in Journal of English for Academic Purposes 2008, 7, S. 121 – 132. Vgl. die empirische Studie von Rabe, Englischsprachiges Schreiben, 35-40 und 155-158 sowie 220 f. Das Motto heute lautet: “Publish in English or perish in German” (untersucht von einem Forschungsprojekt, siehe Rabe, Englischsprachiges Schreiben, S. 88 f.). “Boundaries and stratification in the global academic dystopia” werden analysiert von Theresa M. Lillis / Mary J. Curry, Academic writing in a global context. The politics and practices of publishing in English (London: Routledge, 2010), S. 135-154. Rösch/Tolkiehn, Zum Diskurs, S. 27. Zur Evidenz betreffend linguistische und andere Faktoren von Benachteiligung von Non-Native-Speakers siehe Ferguson, „The Global spread“, S. 23-31. Signalisiert wird „die Zugehörigkeit zu einer globalen, in ihrem eigenen Idiom kommunizierenden Klasse der ‘Anywheres’”, die sich entfremdet von „den lokalen, weniger mobilen ‘Somewheres’” (Cornelia Schu, „Konsequenzen der Anglophonisierung für internationale Studierende und wissenschaftliche Politikberatung. Integration und Dialogfähigkeit sichern”, in Münch et al., (Hrsg.), Sprache, S. 118). Rösch/Tolkiehn, Zum Diskurs, S. 27. Scharf gefasst als „linguistic imperialism” von Robert Phillipson: Linguistic imperialism (Oxford: Oxford University Press, 1992). Vgl. Hans Joachim Meyer, „Global English – A New Lingua Franca or a New Imperial Culture?”, in Andreas Gardt / Bernd Hüppauf (Hrsg.): Globalization and the future of German (Berlin-New York: De Gruyter, 2004), S. 65-84. Den „Vorgang der Errichtung einer Sprachhegemonie Internationalisierung zu nennen, ist manipulativ; man kann ihn als eine Form der kulturellen Kolonialisierung mittels Sprache (Sprachfrage als Machtfrage) sehen und damit als Gegenentwurf zu gleichberechtigter Internationalität und Interkulturalität, die von Kontakt, Austausch und kultureller Bereicherung leben.“ (Rösch / Tolkiehn, Zum Diskurs, S. 27) Vgl. das neue Bayerische Hochschulinnovationsgesetz: „Die Novelle sieht vor, dass die bisherige Regelung, wonach ein rein englischsprachiger Studiengang im grundständigen Bereich nur genehmigt werden kann, wenn er parallel auch in deutscher Sprache angeboten wird, nicht mehr gilt. [...] Neben der Möglichkeit, auf deutschsprachige Lehrangebote gänzlich zu verzichten, schreibt die Novelle vor, dass die von den Bewerbern geforderte Englischkompetenz in rein englischsprachigen Studiengängen das Niveau B1+ nicht überschreiten darf. Es fragt sich, wie ein akademisches Studium ohne eine deutliche Absenkung des inhaltlichen Niveaus unter
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dieser Voraussetzung gelingen soll.“ (ADAWIS: https://adawis.de/aktue lles/?L= [18.5.2023]) Rösch / Tolkiehn, Zum Diskurs, S. 27f. Nachteile am deutschen Arbeitsmarkt nach einer wissenschaftlichen Qualifizierung auf Englisch behandelt Schu, „Anglophonisierung“. Das beobachtet aus geisteswissenschaftlicher Sicht z.B. Corsten, „Internationalität“, S. 174, für die Physik vgl. die empirische Studie für Schweden von Airey und Lindner. Vgl. John Airey / Cedric Lindner, „Language and the Experience of Learning University Physics in Sweden”, in European Journal of Physics 27 (3/2006), S. 553-560. „Ernsthafte wissenschaftliche Lehre ist in einer Lingua Franca (in der Realität oft ‘bad English’) zwangsläufig zweitklassig und das umso stärker, je mehr das Fach auf Sprache angewiesen ist.“ (Rösch / Tolkiehn, Zum Diskurs, S. 27) Christian Fandrych, „Zur Rolle von Sprache(n) in der Hochschullehre am Beispiel internationaler Programme“, in Nicole Colin / Joachim Umlauf (Hrsg.), Mehrsprachigkeit und Elitenbildung im europäischen Hochschulraum, (Heidelberg: Synchron, 2015), S. 215-224; Uwe Koreik, „Die Sprachenfrage in internationalen Studiengängen“, in Stephan Jolie (Hrsg.), Internationale Studiengänge in den Geistes- und Kulturwissenschaften: Chancen, Perspektiven, Herausforderungen (Bielefeld: Webler, 2018), S. 95-107. Vgl. Gehrmann, „Ökonomisierung“, in Münch et al., (Hrsg.), Sprache, S. 62-63. Gehrmann, „Ökonomisierung“, in Münch et al., (Hrsg.), Sprache, S. 60. Rat für Deutschsprachige Terminologie: Domänenverlust im Deutschen; http://radt.org/images/veroeffentlichungen/RaDT-DomaenenpapierAk tuell.pdf [25.7.2023]. Das Wissenschaftsenglisch ist „eingeengt auf eine schmale Funktionssprache mit reduziertem Vokabular und formelhaften Wendungen. Echtes kreatives Denken mit Hilfe eines solchen erstarrten Idioms ist schlechterdings nicht möglich.“ (Ralph Mocikat, „Die Rolle der Sprache in den Naturwissenschaften”, in Scottish Languages Review 17 / 2008, S. 2) Vgl. John Flowerdew, „The non-Anglophone scholar on the periphery of scholarly publication“, in AILA Review 20/1 (2007), S. 14-27. Rabe, Englischsprachiges Schreiben, S. 42 f. Vgl. Konrad Ehlich, „Deutsch als Wissenschaftssprache für das 21. Jahrhundert“, in GFL-Journal 1/2000; S. 47-63, hier S. 54-57. Diese Ancilla-Funktion geht über den Dual Use von Forschung (für den Fortschritt in der Wissenschaft, aber auch für industrielle und militärische Zwecke) hinaus. Im Hintergrund steht das wissenschaftspolitische Konzept des „grand challenge approach [...] propelled inter alia by the Gates Foundation as a way of mobilising the international community of scientists to work towards predefined global goals (Brooks et al. 2009). In European science policy, the Lund Declaration in 2009 was a critical moment, which emphasised that European science and technology must seek sustainable solutions in areas such as global warming, energy, water and food, ageing societies, public health, pandemics and security.” (Philip
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Macnaghten, „Models of Science Policy: From the Linear Model to Responsible Research and Innovation”, in Harald A. Mieg / Hans Lenk / Heinrich Parthey (Hrsg.): Wissenschaftsverantwortung. Wissenschaftsforschung Jahrbuch, 2019 (Berlin: wvb, 2020), S. 99-116, zitiert S. 104. Winfried Thielmann, „Ist die Anglophonisierung der europäischen Wissenschaft ein Problem? Überlegungen zur Sprachenfrage in den Wissenschaften“, in Münch et al. (Hrsg.), Sprache, S. 97-109, zitiert S. 103. „Die demokratische Dimension einer nationalsprachlich eingebetteten aus der Nationalsprache entwickelten und auf sie bezogenen Wissenschaftssprache verbürgt die Möglichkeit des verallgemeinerten Zugangs zum gesellschaftlichen Wissen in seiner Gesamtheit.“ (Ehlich, „Deutsch als Wissenschaftssprache“, S. 56). „Die Argumentationsduktus im diskursiven Erarbeiten neuer Erkenntnisse sind völlig unterschiedlich, je nachdem welche Sprache benutzt wird. Die Wirklichkeit ist viel zu komplex, um mit den Sprachbildern einer einzigen Sprache eingefangen zu werden. Dies trifft nicht nur auf die Geistesund Kulturwissenschaften zu, die ja stets einen kulturell-historischen Hintergrund haben, sondern auch auf die Naturwissenschaften.“ (Mocikat, „Die Rolle der Sprache in den Naturwissenschaften“, S. 2-3) Dieter Schönecker, „Keine Kant-Forschung ohne Deutsch“, in F&L 12/11, S. 942 f. (https://www.uni-siegen.de/phil/philosophie/zetkik/schoenec ker_kasseler_rede.pdf [1.8.2023]). „Wird die Anglisierung unter der Annahme vorangetrieben, dass Wissenschaft nur im internationalen Rahmen funktioniere und weitestgehend sprachunabhängig sei, so liegt dieser Argumentation häufig ein naturwissenschaftliches ‚Weltbild‘ zugrunde. In der Folge könnte dies anderen Wissenschaftskulturen, wie großen Teilen der Geistes- und Sozialwissenschaften, schaden.“ (Rabe, Englischsprachiges Schreiben, S. 277) Thielmann, „Anglophonisierung“, S. 104; vgl. Schu, „Anglophonisierung“, S. 111. Vgl. Thielmann mit dem Ergebnis: „Im Bereich der erkenntnisleitenden sprachlichen Mittel, die für die gnoseologische Funktion von Sprache einschlägig sind, verhalten sich die deutsche und die englische Wissenschaftssprache weitgehend alternativ zueinander.“ (Thielmann, „Anglophonisierung“, S. 102) Vgl. seine Studien zu tatsächlichen funktionalen Differenzen von englischer und deutscher Wissenschaftsprache: Winfried Thielmann, Deutsche und englische Wissenschaftssprache im Vergleich: Hinführen, Verknüpfen, Benennen (Heidelberg: Synchron, 2009); sowie Konrad Ehlich, „Deutsch als Wissenschaftssprache“, hier S. 51-55.
Erklärung oder Boykottaufruf? Zur Rolle von Fachgesellschaften am Beispiel des Streits um die Neue Ordnung Axel Bernd Kunze Die Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik veröffentlicht eine Erklärung zu der bekannten und profilierten Zeitschrift „Die Neue Ordnung“, die das von Dominikanern geleitete Institut für Gesellschaftswissenschaften Walberberg herausgibt. In der Erklärung heißt es, die Zeitschrift sei „in ein populistisches und extrem rechtes Fahrwasser geführt“ worden, übernehme insbesondere in den Editorials kritiklos die Stereotypen und Ressentiments sowie die Ausgrenzungen und Abwertungen des Rechtspopulismus und der extremen Rechten. Zudem: „Auch viele Artikel der ‚Neuen Ordnung‘ nehmen wir mangels wissenschaftlicher Substanz nur noch als zugespitzte Meinungsäußerungen wahr.“ Deshalb handele es sich nicht mehr um eine sozialethische Zeitschrift, vielmehr stelle sie sich „außerhalb der Grenzen eines seriösen Fachdiskurses der katholischen Sozialethik“. Die Verfasser der Erklärung „gehen davon aus, dass in Zukunft keine wissenschaftlichen Sozialethikerinnen und Sozialethiker in der ‚Neuen Ordnung‘ mehr publizieren werden.“ Vertreter anderer Fächer werden eingeladen, sich dieser Entscheidung anzuschließen. Weiterhin gebe es „keinen Grund, die Zeitschrift weiterhin in wissenschaftlichen Bibliotheken zu führen“. Dem Dominikanerorden wird empfohlen, „Wege zu suchen, den Schaden für den Orden wie auch für die Sozialethik zu begrenzen“. Eine von etwa 70 Autoren der Zeitschrift unterzeichnete Gegenerklärung „Substanzieller Dialog statt Stigmatisierung und Ausgrenzung“ führt nicht zu einem solchen (substantiellen Dialog). – In der Folge der Erklärung nimmt die Universitätsbibliothek Tübingen, die im Bereich der Theologie eine zentrale Rolle spielt, die „Neue Ordnung“ aus dem Index theologicus heraus. Damit sind die in der ‚Neuen Ordnung‘ publizierten Positionen öffentlich kaum noch sichtbar. Proteste gegen die Entscheidung der Universitätsbibliothek Tübingen bleiben erfolglos. (2019)1
I.
Ein Fall deutscher Cancel Culture
Mit den vorstehenden Zeilen dokumentiert das im Februar 2021 gegründete Netzwerk Wissenschaftsfreiheit eine „Erklärung“2 der Ar-
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ERKLÄRUNG ODER BOYKOTTAUFRUF? 291 beitsgemeinschaft Christliche Sozialethik3 vom 14. März 2019 als einen Fall deutscher Cancel Culture. Was unter dem euphemistischen Titel „Erklärung“ veröffentlicht wurde, war ein Boykottaufruf gegen die sozialethische Zeitschrift Die Neue Ordnung. Die traditionsreiche, vom rheinischen Katholizismus geprägte Zeitschrift wird vom Institut für Gesellschaftswissenschaften Walberberg e. V. herausgegeben. Die – so der Untertitel – Zeitschrift für Religion, Kultur, Gesellschaft wurde 1946 von Laurentius Siemer, Dominikanerprovinzial und Widerstandskämpfer, sowie dem Sozialethiker Eberhard Welty gegründet.4 Sie steht innerhalb der deutschsprachigen Sozialethik für deren dominikanisch geprägte Tradition und hat die sozialethischen wie sozialpolitischen Debatten der frühen Bundesrepublik maßgeblich geprägt. Basilius Streithofen, einer der früheren Chefredakteure, war bekannt als Berater Helmut Kohls.
AG Christliche Sozialethik vs. Die Neue Ordnung Mit ihrer Stellungnahme sprach die Fachgesellschaft für Christliche Sozialethik im deutschsprachigen Raum der Neuen Ordnung den Charakter einer sozialethischen Fachzeitschrift ab. Begründet wurde dies damit, dass der seinerzeitige verantwortliche Redakteur, Wolfgang Ockenfels, die traditionsreiche Zeitschrift zunehmend „in ein populistisches und extrem rechtes Fahrwasser“ geführt habe. Seine Editorials seien etwa durch rechtspopulistische Ressentiments, Leugnen des „Klimawandels“, Pauschalkritik am öffentlich-rechtlichen Rundfunk oder islamophobe Äußerungen gekennzeichnet. Vielen Beiträgen der Zeitschrift fehle es an „wissenschaftlicher Substanz“, sodass diese „nur noch als zugespitzte Meinungsäußerungen“ zu betrachten seien. Die Zeitschrift reproduziere „Stereotypen und Ressentiments“, übernehme rechtspopulistische bis extrem rechte Muster von „Ausgrenzungen und Abwertungen“, verstärke eine Politik der „Skandalisierung und Empörung“ und stelle sich damit „außerhalb der Grenzen eines seriösen Fachdiskurses der katholischen Sozialethik“.5 Die Entscheidung, sich gegenüber der Neuen Ordnung öffentlich zu positionieren, fiel auf der Mitgliederversammlung der Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik am 18. Februar 2019, die traditionell im Rahmen des Berliner Werkstattgespräches der deutschsprachigen Sozialethiker in der Katholischen Akademie in Berlin stattfindet. Eine Entwurfsfassung, ad hoc erarbeitet im Rahmen der Tagung, wurde
292 AXEL BERND KUNZE bereits einen Tag später gebilligt und im Umlaufverfahren am 8. März 2019 – bei nur einer Gegenstimme aus dem Kreis der Emeriti – verabschiedet.6 Laut Internetseite der Fachgesellschaft gehört Ockenfels dieser selbst an.7 Am Ende formuliert die „Erklärung“ der deutschsprachigen Sozialethiker vier Konsequenzen: Wissenschaftliche Kollegen der eigenen Disziplin sollten nicht mehr für die Neue Ordnung schreiben; Theologen anderer Fächer sowie Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaftler sollten sich diesem Boykott anschließen. Die Zeitschrift sollte nicht mehr in wissenschaftlichen Bibliotheken geführt werden. Schließlich wird der Dominikanerorden dazu aufgerufen, weiteren Schaden für den Orden wie die Sozialethik zu begrenzen. Was mit der letzten Forderung gemeint ist, bleibt im Unklaren; da der Orden nicht selbst Herausgeber der Zeitschrift ist, könnte an Maßregelungen der Ordensmitglieder in der Redaktion gedacht sein.
Reaktionen Ein Presseecho fand die „Erklärung“ u. a. im Deutschlandfunk (Michael Hollenbach), in der Wochenzeitung Die Tagespost (Sebastian Sasse) oder in der Onlineausgabe von Tichys Einblick (Josef Kraus), wie eine vom Frankfurter Oswald von Nell-Breuning-Institut für Wirtschaftsund Gesellschaftsethik der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen besorgte Dokumentation zeigt.8 Die Reaktionen in der Presse scheuten keineswegs deutliche Vergleiche, wenn Bezüge zur Inquisition oder zu den Bücherverbrennungen wie dem Boykott jüdischer Geschäfte durch die Nationalsozialisten hergestellt wurden. Darüber hinaus habe es verschiedene Blogbeiträge, aber auch persönliche – nach Ansicht der Initiatoren zum Teil „höchst unsachliche“ – E-Mails an Mitglieder der Fachgesellschaft gegeben.9 Die deutlichen Reaktionen auf die „Erklärung“ veranlassten die seinerzeitige Sprecherin der Arbeitsgemeinschaft, die Münsteraner Sozialethikerin Marianne Heimbach-Steins, am 7. April 2019 zu einer ersten, recht dünnhäutigen Reaktion, die auf den eigenen Internetseiten der Fachgesellschaft veröffentlicht wurde.10 Den Kritikern wurde eine Polemik vorgehalten, die nichts mit „sachbezogener wissenschaftlicher Auseinandersetzung“ zu tun habe, während die Sprecherin ihrer Arbeitsgemeinschaft eine „Verantwortung“ für das eigene Fach und dessen wissenschaftlich-theologisches Profil attestierte. Vorwürfe, die
ERKLÄRUNG ODER BOYKOTTAUFRUF? 293 Erklärung gefährde die Meinungsfreiheit oder unterdrücke kritische Stimmen, wurden pauschal zurückgewiesen mit dem Verweis, die Initiatoren der „Erklärung“ würden schon seit Jahren die inhaltliche Auseinandersetzung mit den in der Neuen Ordnung vertretenen Positionen führen und dies auch weiterhin tun. Zwei Vorgänge aus der wissenschaftlich-publizistischen Kontroverse um die genannte „Erklärung“ sollen näher in den Blick genommen werden: Zum einen wurde der Vorstand der Gesellschaft Katholischer Publizisten Deutschlands (GKP) aufgefordert, um der Presseund Publikationsfreiheit willen gegen die „Erklärung“ Stellung zu beziehen; dieser lehnte eine solche Positionierung aber ab.11 Begründet wurde dies mit der mutmaßlichen Mehrheitsmeinung im Verband, was eine wenig überzeugende Begründung darstellt, wenn zentrale Grundfreiheiten von Angehörigen der vertretenen Berufsgruppe betroffen sind. Stattdessen wurde in der Maiausgabe 2019 der Mitgliederzeitschrift ein „Pro und Kontra“ zweier Sozialethiker abgedruckt, wobei die Erklärung von einem Mitglied der Fachgesellschaft verteidigt wurde.12 Der Verfasser, selber Bildungsethiker, erklärte, der Boykottaufruf betreffe nicht allein eine einzelne Zeitschrift, sondern die Wissenschafts- und Publikationsfreiheit in unserem liberalen Rechtsund Verfassungsstaat, dann aber auch das Klima der innerkirchlichen Debatte. Ein publizistischer Berufsverband, der zu einem Boykottaufruf schweige oder sogar damit sympathisiere, habe politisch und moralisch versagt. Der Medienethiker Alexander Filipovic verteidigte demgegenüber das Recht seiner Fachgesellschaft, sich von einer Zeitschrift, durchaus auch unter Ausübung von Druck, zu distanzieren, wenn diese nicht mehr den Standards der eigenen Disziplin entspreche – und bediente sich dabei einer Argumentationsstrategie, die für Haltungsjournalismus typisch ist. Ein merkwürdiger Kontrast in seiner Argumentation ergab sich dadurch, dass er den Kritikern einerseits eine „entspannte Gegenargumentation“ empfahl, seine eigene Argumentation aber keineswegs von Ad-hominem-Argumenten frei blieb, insofern der Gegenseite vorgeworfen wurde, polemisch, empört, kommunikativ-aggressiv, hilflos und unsouverän zu reagieren.13 Zum anderen veröffentlichte die Wochenzeitung Die Tagespost in ihrer Ausgabe vom 13. Juni 2019 einen von Lothar Roos, emeritierter Bonner Sozialethiker, und Stephan Raabe, beruflich für die Konrad-
294 AXEL BERND KUNZE Adenauer-Stiftung tätig, initiierten Offenen Brief an die Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik, in dem mehr als sechzig Wissenschaftler und Publizisten gegen die „Stigmatisierung und Ausgrenzung“ – so der Titel – der Neuen Ordnung Position bezogen. Der Offene Brief stellte – mit Verweis auf eine Pressemitteilung des Deutschen Hochschulverbandes vom 10. April 201914 – ausdrücklich einen Bezug zur aktuellen Debatte über Gefährdungen der Wissenschaftsfreiheit und einer freien Debattenkultur an deutschen Universitäten her: „Die Arbeitsgemeinschaft delegitimiert sich in dem Maße nolens volens selbst, in dem sie Vernunft durch Gesinnung, Begründung durch Behauptung, intellektuelle Auseinandersetzung durch Boykott ersetzt. Sie konterkariert damit geradewegs den Anspruch der Christlichen Sozialethik als Brücken- und Dialogdisziplin. Wünschenswert wäre es dagegen, in einen substanziellen Austausch zu treten und dabei durchaus im Sinne einer Diskussionskultur ‚robuster Zivilität‘ (Timothy Garton Ash) über die unterschiedlichen Themen und Ansichten in einer vernunftgeleiteten Wahrnehmung offen zu streiten.“15 In der Ausgabe vom 4. Juli 2019 antworteten Bernhard Emunds, Marianne Heimbach-Steins, Gerhard Kruip und Christof Mandry für die Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik mit einer Replik.16 Darin nahmen sie für sich in Anspruch, mit ihrer Kritik an der Neuen Ordnung Meinungsfreiheit gerade nicht zu unterbinden (etwa durch Boykottmaßnahmen), sondern solche dadurch vielmehr selbst wahrzunehmen. Die Distanzierung von der Neuen Ordnung wird als ein politischer Akt gerechtfertigt; den Kritikern wird vorgeworfen, sie würden die von der Arbeitsgemeinschaft vorgebrachten Gründe hierfür ignorieren. Die Neue Ordnung arbeite mit „polemischen persönlichen Angriffen“ und Diffamierungen – und verkenne, dass die Christliche Sozialethik „erfreulicherweise in sich pluraler“ geworden sei (wobei offenbar allein an Pluralität im Rahmen der eigenen Fachgesellschaft gedacht ist). Bei den herangezogenen Belegen wird nicht zwischen journalitischen Editorials und wissenschaftlichen Fachbeirägen unterschieden, auch wenn zwischen beiden Genres gerade deutlich Unterschiede bestehen. Dass die Vertreter der Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik ihr Vorgehen vorrangig politisch und nicht wissenschaftlich begründen, wird auch am Titel der schon erwähnten, aus den eigenen Reihen erstellten Dokumentation im Rahmen der Frankfurter Arbeits-
ERKLÄRUNG ODER BOYKOTTAUFRUF? 295 papiere deutlich.17 Wenn der inkriminierten Fachzeitschrift eine politische Sprachrohrfunktion unterstellt wird, kommt dies einer Zirkelschlussargumentation nahe, da eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den dort vertretenen Fachpositionen gerade mit der Begründung, diese seien nicht wissenschaftlich, verweigert wird.
Zwischenfazit An der Kontroverse, die um die Neue Ordnung geführt wird, fällt auf, dass die Initiatoren der „Erklärung“ und deren Kritiker ähnliche Werte betonen, aber auf zwei unterschiedlichen Ebenen argumentieren: die Vertreter der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftspolitisch, die Gegenseite grund- und freiheitsrechtlich. Sehr deutlich wird dies an der Auseinandersetzung, die innerhalb der Tagespost geführt wurde, wenn beide Seiten – so die Überschrift sowohl des Offenen Briefes als auch der nachfolgenden Replik – einen substantiellen Dialog einfordern. Beide Seiten mahnen einen plural sowie wissenschaftlich geführten Diskurs an. Die Differenz zwischen beiden Diskurslagern entzündet sich auf der Normebene, wie ein solcher Diskurs gesichert werden soll: Die Vertreter der Arbeitsgemeinschaft betonen, dass sie keineswegs die Meinungsfreiheit beschneiden wollten, sondern sich allein begrenzt zum wissenschaftlichen Charakter einer Zeitschrift äußerten, den sie nicht mehr als gegeben betrachten – und eine Fachgesellschaft habe aus ihrer Sicht das Recht solche Urteile für eine wissenschaftliche Disziplin abzugeben. Dies sei sowohl ein Akt wissenschaftlicher Qualitätswahrung als auch ein Ausdruck politischer wie verfassungsrechtlicher Verantwortung. Die Kritiker wiederum betonen, dass um eines pluralen Diskurses und einer freiheitlichen Debattenkultur willen auch sehr gegensätzliche und kontroverse Meinungen öffentlich zu Wort kommen müssten – begründungspflichtig sei gerade derjenige, der andere Stimmen aus dem Diskurs ausschließen wolle, was nicht aufgrund bloßer Behauptungen oder um erwünschter Haltungen willen geschehen dürfe. Was als wissenschaftlich gelten könne oder nicht, müsse gerade im offenen Diskurs geklärt werden, nicht durch politische Verdikte, andernfalls fielen die Vorwürfe der Ausgrenzung und Skandalisierung auf die Urheber des Boykottaufrufes zurück.18 Was sich hier deutlich zeigt, ist eine Konfliktkonstellation, wie sie in der Debatte um Wissenschaftsfreiheit häufiger zu beobachten ist:
296 AXEL BERND KUNZE Die Verfasser der „Erklärung“ verteidigen ihre Position mit einem Wissenschaftsverständnis, das sich einer bestimmten politischen Agenda verpflichtet sieht und Haltung zeigen will: Der Aufruf „stellt sich mit Haltung gegen eine gefährliche politische Ideologie“19. Was Filipovic hier als Selbstverständnis formuliert (ohne die inkriminierte „Ideologie“ näher zu definieren), wird von den Gegnern der „Erklärung“ als Haltungs- oder Agendawissenschaft kritisiert, welche den wissenschaftlichen Diskurs vermachte, politisiere und moralisiere. Demgegenüber steht ein wissenschaftliches Selbstverständnis, das sich keineswegs als wertneutral begreift, wohl aber die divergenten Positionen im unvoreingenommenen Diskurs zu klären sucht und sich darauf beruft, zunächst einmal die gegensätzlichen Positionen vor dem jeweiligen Selbstverständnis der anderen wahrzunehmen. Die Vertreter der Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik halten in ihrer Replik in der Tagespost einer solchen Position vor, auf diese Weise werde „[u]nter dem Vorzeichen der Verteidigung formaler Freiheiten [...] verschleiert, über welche gravierenden inhaltlichen Punkte eine Auseinandersetzung geführt werden muss“20. Ein wirklicher Austausch über diese unterschiedlichen wissenschaftlichen Selbstverständnisse gelingt selten, auch nicht in diesem Fall. Vielmehr zeigt der Schlagabtausch, der in der Tagespost geführt wurde, wie unterschiedlich innerhalb der sozialethischen Disziplin die Grenzen von Toleranz und Freiheitsrechten gezogen werden, bei den Fachvertretern der Disziplin offenbar enger als bei den Unterstützern des Offenen Briefes. Für die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanums gehören politische ebenso wie wissenschaftliche Fragen zu den irdischen Wirklichkeiten, die unter Beachtung der ihnen „eigenen Gesetze und Werte“ (Gaudium et spes 36) zu klären sind. Urteile in zeitlichen Dingen, die auf eine der Vernunft und ihrem Sollen angemessene Weise gefällt werden, sollten dem Kriterium der Verbindlichkeit genügen, können aber keinen Anspruch auf Endgültigkeit oder Absolutheit erheben. Sie gelten immer nur bis zum Erweis des Gegenteils. „Immer aber sollen sie in einem offenen Dialog sich gegenseitig zur Klärung der Frage zu helfen suchen; dabei sollen sie die gegenseitige Liebe bewahren und vor allem auf das Gemeinwohl bedacht sein“ (Gaudium et spes 43).
ERKLÄRUNG ODER BOYKOTTAUFRUF? 297 Bei der ethischen Beurteilung „vorletzter“ Streitfragen werden Christen, wenn wir die vorstehenden Aussagen des Zweiten Vatikanums zur Autonomie der irdischen Wirklichkeiten ernstnehmen, bei gleicher Gewissenhaftigkeit durchaus zu unterschiedlichen Antworten gelangen können. Und dies gilt, wie die Kontroverse zwischen der Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik und der Neuen Ordnung zeigt, auch in Bezug auf das Wissenschaftsverständnis der eigenen Disziplin und auf den Umgang mit politisch kontrovers geführten Debatten. Einer Fachgesellschaft kann unter dieser Voraussetzung keine alleinige Deutungshoheit zufallen. Dies widerspricht der Pluralität eines freiheitlichen Verfassungs- und Kulturstaates, aber ebenso jenem theologischen Wissenschaftsverständnis, zu dem sich die Kirche mit dem Zweiten Vatikanum bekannt hat.
II.
Wissenschafts- und bibliotheksethische Reflexionen
Die folgenden Ausführungen sollen sich nicht darum drehen, die inhaltlichen Positionen, welche in der Neuen Ordnung vertreten werden, zu diskutieren. In diesem Konflikt geht es nicht allein um eine einzelne Zeitschrift und deren aktuelle publizistische Linie, zu der man stehen mag, wie man will. Es handelt sich um grundsätzliche Fragen der Wissenschafts- und Publikationsfreiheit, die der sozialethischen Reflexion wert sein sollten. Die Publikationsfreiheit ist keinesfalls grenzenlos. Aber diese Grenzen werden im Rechtsstaat durch das Presse- und Strafrecht gezogen und müssen gerichtlich kontrollierbar bleiben. Ansonsten ist in Wissenschaft wie Publizistik der streitbare, mitunter hart geführte Kampf um das bessere Argument das legitime Mittel der Auseinandersetzung. Und dieser argumentative Streit kann auch gegen Positionen geführt werden, die in der Neuen Ordnung vertreten werden. Doch die zur Verhandlung stehende Kontroverse zeigt einmal mehr, wie gespalten die gesellschaftliche Debatte in Deutschland ist. Der geistige Grundkonsens, auch über zentrale Grundfreiheiten der rechts- und verfassungsstaatlichen Ordnung, den Die Neue Ordnung geholfen hat mitzubegründen, wird brüchig. Ein gemeinsames Freiheitsbewusstsein innerhalb der Wissenschaft schwindet, wie auch – als Reaktion auf diese Entwicklung – die Gründung des Netzwerkes Wis-
298 AXEL BERND KUNZE senschaftsfreiheit zeigt. Freiheit ist kein fester Besitz, um sie muss immer wieder neu gerungen werden – daran sollte gerade im Jubiläumsjahr der Frankfurter Paulskirchenversammlung einmal mehr erinnert werden. Innerhalb der aktuellen Debatten um Wissenschaftsfreiheit zeigt die vorliegende Auseinandersetzung, welch problematische Rolle Fachgesellschaften spielen können, wenn sich diese eine Rolle als „Türwächter“ für den wissenschaftlichen Diskurs anmaßen und vorgeben, eine gesamte Disziplin allein zu vertreten. Die Folgen sollen am Beispiel des Verhaltens der Tübinger Universitätsbibliothek und des von ihr verantworteten Fachinformationsdienstes Index Theologicus aufgezeigt werden.
Index Theologicus Die Universitätsbibliothek der Eberhard-Karls-Universität Tübingen betreut im Rahmen des Sondersammelgebietsplans der Deutschen Forschungsgemeinschaft das Sondersammelgebiet Theologie und übernimmt damit für dieses Fachgebiet eine zentrale Funktion bei der Literaturversorgung. Ein wichtiges Instrument für die Auswertung und Dokumentation theologischer Fachliteratur ist der Index Theologicus. Internationale Bibliographie für Theologie und Religionswissenschaft21. Dienstanbieter ist die Universitätsbibliothek Tübingen in Kooperation mit dem Programm „Fachinformationsdienste“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Mitherausgeber sind die beiden theologischen Fakultäten der Universität Tübingen. Die Einbindung der theologischen Wissenschaft erfolgt über einen Fachbeirat, welchem der Vorsitzende der evangelischen Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie sowie die Sprecher der korrespondierenden Arbeitsgruppen auf katholischer Seite, jeweils drei weitere evangelische und katholische Fachvertreter sowie die beiden Tübinger Dekane aus der Theologie angehören. Infolge der „Erklärung“ der Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik wurde die Auswertung der Neuen Ordnung im Rahmen des Index Theologicus durch die Tübinger Universitätsbibliothek eingestellt (bis zur Aussetzung der Auswertung erfasste Beiträge bleiben aber weiterhin abrufbar). Diese Entscheidung blieb auch international nicht unbeachtet, wie die hohen Zugriffszahlen (PaperRank: 4.8) auf eine Stellungnahme unter dem Titel “Against academic censorship”22 im
ERKLÄRUNG ODER BOYKOTTAUFRUF? 299 globalen Wissenschaftsportal Academia.edu zeigten. In dieser heißt es: “The index librorum prohibitorum comes up again [...] Here is an appeal to the AG to take up again and to enjoy the risk of an open academic debate. If points of view proposed in ‘Die Neue Ordnung’ are wrong, misleading, even ethically suspect, then demonstrate that by good research! The better view will be successful in a free debate without censorship!” Die Entscheidung, die Neue Ordnung aus dem Korpus der ausgewerteten Zeitschriften auszulisten, erfolgte ohne unvoreingenommene, unabhängige und ergebnisoffene Bedarfsprüfung innerhalb der sozialethischen Wissenschaftsgemeinschaft. Die Entscheidung der Universitätsbibliothek Tübingen fußte, wie ein Mailwechsel belegt, der dem Verfasser vorliegt, auf Rücksprache mit dem Fachvertreter an der örtlichen Universität, Professor Dr. Matthias Möhring-Hesse, Inhaber des Tübinger Lehrstuhls für Theologische Ethik/Sozialethik. Dessen Urteil muss allerdings als befangen gelten, da er selbst Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik ist und damit für den Boykottaufruf wider die Neue Ordnung mitverantwortlich zeichnet. Die Stellungnahme der mehr als sechzig Wissenschaftler und Publizisten, die mit ihrem Offenen Brief der Auffassung der Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik öffentlich widersprachen und in der Neuen Ordnung weiterhin eine für die Sozialethik relevante Fachzeitschrift sehen, wurde seitens der Universitätsbibliothek Tübingen vollständig ignoriert. Doch eine transparente und ergebnisoffene Bedarfsprüfung sollte gerade unterschiedliche Richtungen innerhalb einer Wissenschaftsgemeinschaft sowie die Pluralität des wissenschaftlichen Diskurses innerhalb einer Fachdisziplin wahrnehmen, hinreichend würdigen und ausgewogen abwägen. Zumal das Recht auf Wissenschaftsfreiheit als individuelles Grundrecht nicht von einem bestimmten Status oder einer bestimmten Disziplinzugehörigkeit des Grundrechtsträgers abhängig gemacht werden kann. Eine staatliche, aus Steuermitteln finanzierte Universitätsbibliothek besitzt einen der Allgemeinheit verpflichteten Auftrag, der zu einer unvoreingenommenen und überparteilichen Sammlungspolitik verpflichten sollte. Folgt diese allerdings allein dem zugespitzten Urteil einer Fachgesellschaft, ohne abweichende Stimmen innerhalb der Fachöffentlichkeit zu würdigen, und nimmt diese einseitig Partei für einen politischen Boykottaufruf, ist das als
300 AXEL BERND KUNZE Ausdruck einer wissenschafts- wie freiheitsfeindlichen „Cancel Culture“ zu werten, wie es das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit zu Recht in seiner Dokumentation tut. Was hier vorliegt, ist eine einseitige Diskurslenkung, mit der wissenschaftlich unerwünschte Positionen aus der öffentlichen Wahrnehmung ausgeschlossen werden. Da der Index Theologicus die wichtigste Bibliographie zur Dokumentation und Recherche theologischer Fachliteratur im deutschsprachigen Raum darstellt, kann die politisch motivierte, nicht vorrangig wissenschaftlich begründete Entscheidung der Tübinger Universitätsbibliothek durchaus sowohl als ein Eingriff in die Wissenschafts- und Publikationsfreiheit der Autoren der Neuen Ordnung als auch in die Freiheit des theologisch-sozialethischen Diskurses betrachtet werden, indem dort erscheinende Beiträge pauschal als nichtwissenschaftlich etikettiert und de facto aus dem disziplinären Diskurs ausgeschieden werden. An staatliche Institutionen sollten höhere Maßstäbe hinsichtlich Unvoreingenommenheit, Ausgewogenheit und Neutralität ihres Handelns angelegt werden. Beiträge und Positionen, die in der Neuen Ordnung publiziert sind, werden bibliotheksund sammelpolitisch diskriminiert und in der Folge im theologischen Fachdiskurs kaum noch wahrgenommen. Die im öffentlichen Auftrag tätige Universitätsbibliothek verletzt auf diese Weise ihren neutralen Dokumentations- und Sammlungsauftrag sowie ihre Verpflichtung, das Schriftgut innerhalb der Theologie möglichst umfassend, plural und diskriminierungsfrei auszuwerten und zu bibliographieren. Auf Dauer wird damit das hohe Ansehen des Index Theologicus, das sich dieses bibliographische Instrument weltweit erarbeitet hat, beschädigt und dessen Brauchbarkeit mindestens für das disziplinäre Fachgebiet der Christlichen Sozialethik beeinträchtigt.
Prüfung durch den Landtag von Baden-Württemberg Einer Petition an den Landtag von Baden-Württemberg23 mit dem Begehren, die Neue Ordnung weiterhin im Index Theologicus zu listen, war kein Erfolg beschieden. Der Siebzehnte Landtag von Baden-Württemberg lehnte diese in seiner neunzehnten Sitzung am 11. November 2021 gemäß der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ab.24 Allerdings bestätigt der Landtag in seiner Stellungnahme ausdrücklich, dass die „Erklärung“ der Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik als Boykottaufruf einzustufen sei (eine solche Einordnung
ERKLÄRUNG ODER BOYKOTTAUFRUF? 301 wurde von den Initiatoren weitgehend vermieden, indem man sich darauf berief, es gehe lediglich um eine Einschätzung aus fachlicher Sicht zum nichtwissenschaftlichen Charakter der Zeitschrift). Ferner bestätigt die Stellungnahme des Landtags, dass die „Erklärung“ tatsächlicher Anlass gewesen sei, die Auswertung der Neuen Ordnung einzustellen: „Das maßgebliche Argument war, dass der Zeitschrift von der Arbeitsgemeinschaft, in der alle aktuell lehrenden und forschenden Theologen der christlichen Sozialethik vertreten sind, die Relevanz für die wissenschaftliche Fachdiskussion in dieser theologischen Disziplin abgespochen wurde.“25 Die Universitätsbibliothek Tübingen habe nach Ansicht des Landtags allerdings „in Abstimmung mit dem fachlich zuständigen wissenschaftlichen Gremium“26 gehandelt, das darüber wache, dass die Universitätsbibliothek ihren Dienstleistungsauftrag orientiert „am Bedarf und am Stand der Wissenschaft“27 wahrnehme. Für den Landtag steht damit fest, dass die fehlende Relevanz der Zeitschrift für das Fach hinreichend abgeklärt worden sei; verwiesen wird ferner auf die Notwendigkeit, bei Auswertung des wissenschaftlichen Schrifttums eine Auswahl vornehmen zu müssen. Aufgrund der Petition habe der wissenschaftliche Beirat des Fachinformationsdienstes Theologie auf einer Sondersitzung am 9. Juli 2021 sowohl das formale Verfahren der Entscheidungsfindung als auch das Ergebnis im Umgang mit der Neuen Ordnung einstimmig bestätigt. Im Ergebnis vermochte der Landtag von Baden-Württemberg nach Prüfung der Petition weder ein Fehlverhalten der Universitätsbibliothek Tübingen noch eine Verletzung der gebotenen bibliothekarischen Neutralität oder der Prinzipien der Wissenschaftsfreiheit zu erkennen: „Die Universitätsbibliothek Tübingen hat im Rahmen ihres Dienstleistungsauftrages als FID [= Fachinformationsdienst; Anm. d. Verf.] Theologie korrekt unter Einbeziehung der wissenschaftlichen Fachcommunity sowie des wissenschaftlichen Beirats des FID gehandelt und entschieden.“28 Ein solches Urteil durch die Legislative ist bemerkenswert, insofern damit Boykottaufrufe als legitimes Mittel wissenschaftlicher Expertise indirekt anerkannt werden. Die Antwort des Landtages auf die Petition beschränkt sich im Wesentlichen auf eine formale Prüfung der Entscheidungswege und den Ausschluss möglicher Formfehler. Dies ist soweit plausibel, als der freiheitliche Rechts- und Verfassungsstaat zu Recht Zurückhaltung in
302 AXEL BERND KUNZE wissenschaftlichen Kontroversen üben sollte. Doch wird dem Urteil der Fachgesellschaft in diesem Fall von Seiten des Landtags eine monopolartige Interpretationshoheit zugebilligt, obwohl Wissenschaftler der eigenen wie weiterer Disziplinen diesem öffentlich wahrnehmbar widersprochen haben. Auffällig an der Stellungnahme des baden-württembergischen Landtags ist ferner, wie der Kreis der wissenschaftlich relevanten Akteure eingegrenzt wird. Die wissenschaftliche Relevanz einer Fachzeitschrift wird allein an der Bewertung und Rezeption innerhalb des engeren Kreises der hochschulisch bestallten und mit einschlägiger Lehrbefugnis ausgestatteten Fachvertreter der Disziplin festgemacht. In seiner Stellungnahme weist der Landtag sogar ausdrücklich darauf hin, dass die Petenten „wissenschaftlich nicht als Vertreter der Christlichen Sozialethik wirken“ (ebd.).29 Dass Fachzeitschriften oder bibliothekarische Dienstleistungen auch über den unmittelbaren Raum einer Fachdisziplin, zumal im Fall einer Brückendisziplin wie der Christlichen Sozialethik, rezipiert werden, kommt bei Prüfung der Petition in keiner Weise zum Tragen. Die Sichtverengung, die aus der ablehnenden Begründung des Landtags spricht, ist umso auffälliger, als unsere verfassungsrechtliche Ordnung den Schutz wissenschaftlicher Freiheit grundsätzlich nicht an einen bestimmten institutionellen Status bindet. Das Grundgesetz schützt wissenschaftliche Betätigung als solche, auch etwa im Fall von Privatgelehrten, und nicht die Wahrnehmung bestimmter Funktionen innerhalb des institutionalisierten Wissenschaftsbetriebes.
Bibliothekarische Grundwerte Politisch wird man wohl annehmen dürfen, dass der Boykottaufruf wider die Neue Ordnung im gegenwärtigen öffentlichen Diskursklima vielen nicht ungelegen kam. Doch stößt das Vorgehen der sozialethischen Fachgesellschaft zugleich in virulente bibliotheksethische Debatten. Bibliotheken waren niemals vollständig neutral, was schon aufgrund begrenzter Ressourcen ein unrealistisches Ideal wäre. Immer wieder müssen bei den notwendigen bibliothekarischen (Auswahl-) Entscheidungen individualethische Wertentscheidungen und berufsethische Verantwortlichkeiten gegenüber der Gemeinschaft abgewogen werden.30 Dies ist keineswegs neu, doch wird über die bibliothekarische Neutralität in der neueren informations- und bibliotheksethi-
ERKLÄRUNG ODER BOYKOTTAUFRUF? 303 schen Debatte zunehmend leidenschaftlicher und kontroverser diskutiert (nicht selten im Blick auf sog. „rechtspopulistische“ oder „rechte“ Literatur). Wie weit reicht die Neutralität, ohne Verrat an eigenen Wertvorstellungen zu üben? Wie kann im Fall einer Konfliktsituation verhältnismäßig, gerecht und klug entschieden werden? Welche Einschränkungen sind verantwortbar, ohne dass die eigene berufsethische Integrität leidet? Welche Zumutungen müssen im Namen der Meinungs- und Informationsfreiheit ausgehalten werden? Notwendige Selektions- und Sekretierungsentscheidungen sollten in Bibliotheken anhand transparenter, öffentlich zugänglicher und überprüfbarer Kriterien getroffen werden, damit nicht der Eindruck bibliothekarischer Zensur entsteht.31 Erschwert wird dieser Anspruch durch eine seit rund zehn Jahren verstärkt zu beobachtende Zusammenführung von Ressourcen in den universitären Prozessen der Literaturauswahl, Literaturbeschaffung, des Erwerbs und des Aufbaus von Sammlungen. Im Zuge dieser Entwicklung haben sich die Lehrstühle vor Ort ein wachsendes Mitspracherecht gesichert. In diese Entwicklung gehört auch der Aufbau von Beiräten, die den Fachinformationsdiensten zugeordnet sind. Sozialethisch alles andere als irrelevant ist ein strukturelles Problem, das mit diesen Entwicklungen verbunden ist: Die Bibliothekspolitik der Lehrstühle und der Fachreferate bilden immer weniger ein Gegenüber, das als ausgleichendes System von Checks and Balances wirken kann. Aktuelle fakultäts- oder disziplinpolitische Strömungen, Richtungen, Trends oder Moden können einen überproportionalen Einfluss erhalten, wenn sie nicht mehr durch eine gewisse, bibliothekswissenschaftlich wie bibliotheksethisch bestimmte Autonomie der Universitätsbibliotheken abgemildert werden. Das System wird marktgängiger, längerfristige Strategien im Bestandsaufbau, in der Erwerbspolitik und im Aufbau von Sammelschwerpunkten werden hingegen erschwert. Virulent werden interessengeleitete Entscheidungen in der Regel nicht, wo ein allgemeiner Konsens über die Relevanz eines Periodikums besteht, sondern erst dort, wo es um profilierte Titel geht – gleich, in welche Richtung. Doch können gerade diese wichtig sein für den Vergleich divergenter Positionen innerhalb einer Disziplin oder eines Themenbereiches. Die Verflechtung von Entscheidungsprozessen und Ressourcen erschwert es, beabsichtigte Einflussnahmen Dritter unter
304 AXEL BERND KUNZE Verweis auf bibliothekarische Grundwerte zurückzuweisen. Einer sozialethischen Fachgesellschaft hätte es gut zu Gesicht gestanden, sich über diese bibliothekarischen Grundwerte eigens Gedanken zu machen und das eigene wissenschafts- und disziplinpolitische Handeln daran zu messen – doch offenbar war dies nicht der Fall. Deutschland ist im Feld der bibliothekarischen Berufsethik eher ein Nachzügler. Mittlerweile finden sich aber Informations-, Meinungs- und Zensurfreiheit an prominenter Stelle sowohl in internationalen als auch nationalen Ethikkodizes, etwa dem IFLA Code of Ethics for Librarians and other Information Workers der International Federation of Library Associations and Institutions oder in den Ethischen Grundsätzen von Bibliothek & Information Deutschland (BID) – Bundesvereinigung Deutscher Bibliotheksverbände e. V. Ersterer ruft Bibliothekare dazu auf, sich für ausgewogene Sammlungen und faire Richtlinien ihrer Dienste einzusetzen. Zwischen persönlichen Neigungen und professionellen Abwägungen muss deutlich getrennt werden: “Librarians and other information workers distinguish between their personal convictions and professional duties. They do not advance private interests or personal beliefs at the expense of neutrality.”32 Die Berufsethik des BID betont: „Wir setzen uns für die freie Meinungsbildung, für Pluralität und für den freien Fluss von Informationen ein, da der ungehinderte Zugang zu Informationen essentiell ist für demokratische Gesellschaften. Eine Zensur von Inhalten lehnen wir ab.“33 Eine solche Zensurfreiheit korrespondiert mit der menschen- und grundrechtlich geschützten Meinungs- und Informationsfreiheit nach Art. 19 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948 oder Art. 5 Abs. 1 Grundgesetz. Ob eine bestimmte Zeitschrift fachwissenschaftlichen Charakter trägt oder nicht, wird nicht von einer einzelnen Fachgesellschaft im Alleingang zu beurteilen sein. Solche Versuche führen, wie der Streit um die Neue Ordnung zeigt, nur zu Diskursvermachtung, verhärteten Fronten und gegenseitiger Sprachlosigkeit. Ausgetragen werden können solche Debatten nur unter den Bedingungen einer informierten Öffentlichkeit und einer fairen, transparenten Gesprächskultur. Hierbei „muss das gesamte Meinungsspektrum vertreten sein“34. Gerade Bibliotheken, die sich dieser Aufgabe stellen, eröffnen den Rezipienten erst die Chance, möglicherweise „fragwürdige Inhalte zu kontextualisieren und ideologische Verzerrungen selbst zu dekonstruieren“35. Dies sollte für wissenschaftliche Bibliotheken, denen Aufträge zur
ERKLÄRUNG ODER BOYKOTTAUFRUF? 305 umfassenden Sammlung, Dokumentation und Langzeitarchivierung eigen sind, umso mehr gelten. Im Konfliktfall, wie dem hier verhandelten, sollten Wissenschaftler auch wissen, wie sie mit bibliothekarischen Mitteln so etwas wie Schadensbegrenzung betreiben können: Zunächst geht es darum, eigenen Einfluss auf bibliothekarische Erwerbungs- und Katalogisierungsentscheidungen, etwa als Bibliotheksbeauftragter, wahrzunehmen. Nur wer sich einbringt, kann etwas bewegen. Bibliothekspolitische Fragen sollten im Rahmen der Freiheitssicherung nicht unterschätzt werden. Dann besteht die Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass Einzelaufsätze in anderen Bibliotheksverbünden katalogisiert werden, abgebrochene Dokumentationen in Konkurrenzdatenbanken fortgesetzt werden oder, dass Druckexemplare, sofern diese noch gehalten werden, im Lesesaal in physischer Form ausgelegt werden.
III. Fazit Wissenschaftliche Freiheit ist heute nicht allein durch staatliche Eingriffe bedroht, sondern nicht minder durch zivilgesellschaftlichen Druck, die Macht gesellschaftlicher Kollektive oder identitätspolitische Diskurskontrolle. „Vorwürfe von Benachteiligung und Unmenschlichkeit stehen allgegenwärtig im Raum, pauschale Anklagen, die sich dem Abgleich mit der Realität nur selten stellen.“36 So beschreibt Bernd Ahrbeck die Situation, der sich Wissenschaftler immer häufiger gegenübersehen. Abweichende wissenschaftliche Positionen werden in einem solchen Diskurs- und Forschungsklima zunehmend moralisch stigmatisiert. Differenzen sollen nicht mehr im argumentativen Ringen und im wissenschaftlichen Streit ausgetragen werden. Nein, sie werden vielfach mit Boykott, Bashing, Mobbing oder Gewalt von vornherein aus der wissenschaftlichen Arena ausgeschlossen. Der Anspruch von Toleranz und Offenheit verkehrt sich auf diese Weise in sein Gegenteil; Feigheit und Anbiederung sind Früchte einer solchen Entwicklung. Administrative oder politische Vorgaben aus Wissenschaftsministerien und Rektoraten greifen immer häufiger in die Wissenschaftsfreiheit des einzelnen Forschers ein. Problematische Inhalte sollen durch Warnhinweise gekennzeichnet, Seminarinhalte oder Literaturlisten quotiert, missliebige Zeitschriften aus Bibliotheken entfernt werden. Mitunter sind es ganze Fachgesellschaften, die Zensurmaßnah-
306 AXEL BERND KUNZE men ergreifen und einen kollegialen Konformitätsdruck erzeugen. Wo Wissenschaftler und Publizisten selbst die Verfolgung des heterodoxen Geistes in ihren eigenen Reihen organisieren, droht eine Ächtung missliebiger Personen – so das im Februar 2021 gegründete Netzwerk Wissenschaftsfreiheit in seinem Gründungsmanifest: „Einzelne beanspruchen vor dem Hintergrund ihrer Weltanschauung und ihrer politischen Ziele, festlegen zu können, welche Fragestellungen, Themen und Argumente verwerflich sind. Damit wird der Versuch unternommen, Forschung und Lehre weltanschaulich zu normieren und politisch zu instrumentalisieren. Wer nicht mitspielt, muss damit rechnen, diskreditiert zu werden.“37 Es gilt beim aktuellen Ringen um Wissenschaftsfreiheit und gegen Cancel Culture nicht allein auf Formen von Zensur der Wissenschaft, sondern zugleich auch auf solche von Zensur durch Wissenschaft zu achten – und kollegiale Repression kann mitunter noch repressiver sein als solche von außen, weil sie unter dem Radar rechtlicher Absicherungen läuft und juristisch schwer greifbar ist. Große berufsständische Vertretungen wie der Deutsche Hochschulverband erweisen sich hier häufig als wenig kampfeswillig, als indifferent und solidaritätsschwach. Allzu breit gespannt sind die Interessen ihrer Mitglieder oder das Freiheitsverständnis in ihren Reihen. Der Einsatz für eine freiheitliche, lebendige Streit- und Debattenkultur im Raum der Wissenschaft bleibt eine beständige Aufgabe. Denn wo die Freiheit der Wissenschaft unter die Räder kommt, steht viel auf dem Spiel: Unter anderem die Leistungsfähigkeit und das Ansehen der Hochschulen unseres Landes, damit am Ende auch volkswirtschaftliche Produktivität, gesellschaftliche Entwicklung, kulturelle Vitalität und technische Innovation, aber auch gesellschaftlicher Friede und politische Stabilität.
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Aus der Dokumentation des Netzwerkes Wissenschaftsfreiheit: Beispiele aus dem deutschsprachigen Raum: https://www.netzwerk-wissenschaftsfrei heit.de/dokumentation/ [Zugriff: 20.03.2023]. Erklärung der Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik zu der Zeitschrift Die Neue Ordnung, Wiederabdruck in: Bernhard Emunds (Hrsg.): Die Neue Ordnung – auch ein Sprachrohr des katholischen Rechtspopulismus. Dokumentation eines Konflikts. Frankfurter Arbeitspapiere zur gesellschaftsethischen und sozialwissenschaftlichen Forschung; 70. (Frankfurt am
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Main: Oswald von Nell-Breuning-Institut für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen, 2019), S. 5. https://www.christliche-sozialethik.de/ [Zugriff: 20.03.2023]. Zu den Anfängen der Zeitschrift vgl. Dieter Breuer, „Die Anfänge der Zeitschrift ‚Die neue Ordnung‘ (1946 bis 1949)“, in Die Neue Ordnung 77, 4 (2023), S. 244–246. Zitate in diesem Absatz entnommen aus: Erklärung der Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik zu der Zeitschrift „Die Neue Ordnung“ v. 14. März 2019. Vgl. Bernhard Emunds, Einleitung, in Ders. (Hrsg.), Die Neue Ordnung, S. 2–4. Vgl. https://www.christliche-sozialethik.de/ueber-uns/mitglieder/ [Zugriff: 07.09.2023]. Michael Hollenbach, „Neue Ordnung, rechte Ordnung? Debatte um christliches Magazin“ – Beitrag im Deutschlandfunk, Wiederabdruck in: Emunds (Hrsg.), Die Neue Ordnung, S. 6–8; Sebastian Sasse, „Neue Ordnung: Auf der schwarzen Liste“ – Artikel in der Tagespost, Wiederabdruck in: ebd., S. 8–10; Josef Kraus, „Renommierter Theologe am Pranger. Katholische Sozialethiker entdecken Inquisition neu“ – Blogeintrag in Tichys Einblick, Wiederabdruck in: Ebd., S. 11–14. Vgl. Emunds: Einleitung, in Ders. (Hrsg.), Die Neue Ordnung, S. 3. Marianne Heimbach-Steins, „Kommentar der Sprecherin der AG Christliche Sozialethik zu einigen Reaktionen auf die Erklärung der Arbeitsgemeinschaft“ – Wiederabdruck in Emunds (Hrsg.), Die Neue Ordnung, S. 10 f. Vgl. Joachim Frank, „Neues aus dem Vorstand“, in Informationen. Mitgliederzeitschrift der Gesellschaft Katholischer Publizisten Deutschlands 36, 4 (2019), S. 2. Axel Bernd Kunze, „Es geht um die Freiheit“ – Beitrag in den GKP-Informationen, Wiederabdruck in Emunds (Hrsg.), Die Neue Ordnung, S. 14 f.; Alexander Filipovic, „Haltung gegen eine gefährliche Ideologie“ – Beitrag in den GKP-Informationen, Wiederabdruck in Ebd., S. 15 f. In seiner Entgegnung verwies Filipovic auf Vorhaltungen, es würden mit der „Erklärung“ Denkverbote ereilt: ein Vorwurf, der in der vorliegenden Kontroverse so allerdings niemals erhoben worden war. Kempen: „Freie Debattenkultur muss verteidigt werden“ (Pressemitteilung des Deutschen Hochschulverbandes vom 10.04.2019), in: https://ww w.hochschulverband.de/aktuelles-termine/kempen-freie-debattenkultur -muss-verteidigt-werden [Zugriff: 26.03.2023]. „Substanzieller Dialog statt Stigmatisierung und Ausgrenzung. Ein offener Brief zur Erklärung“ – Wiederabdruck in: Emunds (Hrsg.), Die Neue Ordnung, S. 16–23, hier S. 20. Bernhard Emunds, Marianne Heimbach-Steins, Gerhard Kruip, Christof Mandry, „Für substanziellen Dialog und wissenschaftlichen Diskurs. Antwort auf den offenen Brief“ – Wiederabdruck in Emunds (Hrsg.), Die Neue Ordnung S. 24–27. Vgl. Emunds (Hrsg.), Die Neue Ordnung.
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18 Auch die zur Verhandlung stehende Neue Ordnung dürfte der zweiten Position zuzurechnen sein. 19 Filipovic, „Haltung“, in: Emunds (Hrsg.), Die Neue Ordnung, S. 16. 20 Emunds u. a., „Dialog“, in: Ders. (Hrsg.), Die Neue Ordnung, S. 25. 21 https://ixtheo.de [Zugriff: 25.03.2023]. 22 Jan Dochhorn, “Against academic censorship” [28. März 2019], in https:// www.academia.edu/38670544/Against_academic_censorship [Zugriff: 26.03.2023]. 23 Petition 17/00154 betr. Wiederaufnahme der Zeitschrift Die Neue Ordnung in die Liste der im Index Theologicus ausgewerteten Zeitschriften. 24 Vgl. Landtag von Baden-Württemberg, Drucksache 17 / 1069, Nr. 11. 25 Ebd. 26 Ebd. 27 Ebd. 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Vgl. R. David Lankes, „Müssen Bibliotheken neutral sein? Ein Kommentar zur Frage der Neutralität von Bibliotheken“, in BuB. Forum Bibliothek und Information 71, 11 (2019), S. 650–652. 31 Vgl. Hermann Rönsch, Informationsethik und Bibliotheksethik. Grundlagen und Praxis (Berlin und Boston: De Gruyter, 2021), S. 360 f. 32 International Federation of Library Associations and Institutions: IFLA Code of Ethics for Librarians and other Information Workers (full version), in Rönsch, Informationsethik, S. 498–502, hier 502. 33 Ethische Grundsätze von Bibliothek & Information Deutschland (BID) – Bundesvereinigung Deutscher Bibliotheksverbände e. V., in Rönsch, Informationsethik, S. 491–494, hier 492. 34 Hermann Rönsch: „‚Freiheit aushalten!‘“. Über die durch Meinungs- und Informationsfreiheit hervorgerufenen Zumutungen, in BuB. Forum Bibliothek und Information 71, 16 (2019), S. 344–347, hier 346. 35 Ebd. 36 Bernd Ahrbeck, Jahrmarkt der Befindlichkeiten. Von der Zivilgesellschaft zur Opfergemeinschaft (Springe am Deister: zu Klampen, 2022), S. 12. 37 Netzwerk Wissenschaftsfreiheit: Manifest [Februar 2021], in https://www. netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de/ueber-uns/manifest/ [Zugriff: 26.03.2023].
Hofberichterstattung statt Recherche. Das Versagen der Leitmedien während der Corona-Jahre Roland Hofwiler Es war einmal ein Pferd, das passte einfach nicht ins Bild. Man schrieb das Jahr 1997 in Israel. Eine der gewaltsamsten Ausschreitungen zwischen verbitterten Palästinensern und schwer bewaffneten israelischen Soldaten war in Gange. Aus sicherer Distanz beobachteten unzählige Reporter die Eskalation. Den Redaktionen wurde telegraphisch übermittelt, man sei von den „bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen“ schockiert, es seien Schüsse gefallen, möglicherweise habe es Tote gegeben. Doch in den Tagen danach fand sich zu den Ausschreitungen in den Zeitungen keine Reportage und in den Fernsehnachrichten kein einziger Bildbericht. Wie war das möglich? Schuld daran war ein Pferd. Denn genau zwischen den Fronten, trotz ohrenbetäubenden Lärms, stand das Tier, unbeeindruckt von Molotow-Cocktails und Tränengassalven. Es war einfach unmöglich, die Szene ohne das gelassen wirkende Pferd einzufangen. Das Tier zerstörte jeden Eindruck von einer eskalierenden Auseinandersetzung, bei der es Tote zu beklagen gab. Dieses kleine Detail veranlasste die Reporter vor Ort, keine Reportage zu schreiben und keinen Filmbeitrag an die Fernsehanstalten zu übermitteln.1 Bildeindrücke, das lernt jeder Journalist, bleiben länger im Gedächtnis haften als geschriebene Texte und sie müssen das Geschriebene dramatisierend umgarnen. Ohne passende Bebilderung verliert selbst die spannendste Reportage ihre Wirkung. Beispiele, wie Bilder wirken, kennt jeder: Hiroshima, der Fall der Mauer oder den 11. September. Wenn Bilder dazu nicht passend sind, werden sie nicht selten passend gemacht. Selbst in Schulbüchern und in Publikationen der Bundeszentrale für politische Bildung findet man anpassend gemachte Beispiele. Etwa das Bild von drei Rotarmisten, die am 2. Mai 1945, wenige Stunden nach Ende der Gefechte um den Berliner Reichstag, die Sowjetflagge hissen, ist nachgestellt. Es wurden Rauchwolken hinein retuschiert, als würde es überall lichterloh brennen, die Flagge nachge-
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HOFBERICHTERSTATTUNG STATT RECHERCHE 311 malt, fortan mächtig im Wind wehend. Die Uhren am Arm eines der drei Helden sind wegretuschiert, da sie auf Plünderung schließen ließen.2 Dieser Sachverhalt musste verschleiert und mit überschäumenden Emotionen übertüncht werden. Dass man Bilder von brennenden Synagogen aus der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 fälschte und in Schulbüchern als Anschauungsmaterial reproduzierte, kann man als eine verzeihbare Sünde hinnehmen.3 Es fehlen in der Tat zu diesem Nazi-Verbrechen die realen Bildaufnahmen.
I.
Die Verflechtung zwischen Politik und Journalismus
Der Autor möchte anhand dieser und weiterer Beispiele aufzeigen, nach welchen Spielregeln im Allgemeinen und in den Corona-Jahren im Besonderen, das journalistische Handwerk betrieben wird. Es wird der Frage nachgegangen, was es bedeutet, wenn Journalisten eigene Recherchen vernachlässigen oder gar unterlassen und offizielle Verlautbarungen von Politikern kritiklos übernehmen. Im Falle des offiziell im Januar 2020 bekanntgegebenen „Sars2/Covid-19“-Ausbruchs in China, umgangssprachlich bald „Corona“ genannt, spielten Bilder ebenfalls eine entscheidende Rolle. Die ersten Bilder aus dem chinesischen Wuhan wirkten für viele auf den ersten Blick befremdend, menschenleere Straßen, Abzäunungen, Militärkonvois. Doch dann kam das Ereignis von Bergamo, einer mittelgroßen Kreisstadt in Norditalien: Kaum jemand, der nicht weiß, was gemeint ist, wenn ‚die Bilder aus Bergamo‘ erwähnt werden – gern im Plural, dabei war es von Anfang an nur ein Bild: Das Handyfoto vom 18. April 2020 […] von einer Kolonne von Militärfahrzeugen. Aufgenommen wurde das Bild von dem damals 28-jährigen Flugbegleiter Emanuele di Terlizzi.4
Die „Bergamo-Bilder“ liefen um die Welt, Politiker instrumentalisierten das Ereignis als Zäsur und forderten drastische Einschränkungen: Selbst in Norditalien, das die Regierung am 8. März zur Sperrzone erklärt hatte, waren Corona und Covid-19 noch keine Begriffe, die man automatisch mit Tod und Verderben assoziierte. Emanuele di Terlizzi drückte es so aus: Bis zu jenem Abend am 18. März habe er geglaubt, dass das Coronavirus eine Stronzata der Medien sei, ein aufgebauschter Blödsinn wie seinerzeit die Schweinegrippe.5
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ROLAND HOFWILER
Der Bayrische Rundfunk wird eineinhalb Jahre später einräumen: Eher zufällig, aber nicht ohne Gespür für Bildausschnitte, hat di Terlizzi ein nahezu perfektes Katastrophenbild geschaffen: Das vorderste und das letzte Fahrzeug sind angeschnitten, automatisch ergänzt man die Reihe im Kopf: aus den abgebildeten neun LKW wird so schnell eine vermeintlich unendliche Reihe – in Wahrheit waren es nur wenig mehr, nämlich dreizehn Fahrzeuge […]. Es war das, was man heute so gern ‚authentisch‘ nennt: nicht inszeniert, bildet es die nächtliche Szenerie ab, wie sie nun mal war – und erzeugt dadurch doch eine ganz neue, eigene Wirklichkeit. Genau genommen sehen wir nichts weiter als Autos bei Nacht […]. In Wahrheit war das Militär nicht etwa eingesetzt worden, weil Berge von Leichen nicht anders hätten transportiert werden können. Die Anzahl der Verstorbenen war damals nicht höher als bei manchen Grippewellen in Italien. Es war die Angst vor dem ‚Killervirus‘ genannten Erreger. Um Fakten zu schaffen, beschloss man die sofortige Einäscherung der an Covid Verstorbenen. Normalerweise werden in Italien aber nur die Hälfte aller Verstorbenen eingeäschert. Deshalb reichten die Kapazitäten des Krematoriums in Bergamo nicht aus und die Leichen mussten in umliegende Orte transportiert werden.6
Diese Bild-Sprache hat Tradition nicht nur in der Boulevardpresse, sondern auch in den Qualitätsmedien, wie sich die Leitmedien gerne selbst benennen.7 Gerne werden bei Berichten aus Israel männliche, orthodoxe Juden mit Schläfenlocken und schwarzen Kaftans gezeigt, aus arabischen Ländern tief verschleierte Frauen. Der Spiegel brachte 1997 eine Titelgeschichte zu neuen Erkenntnissen der Verbrechen der Wehrmacht gegenüber Russen im Zweiten Weltkrieg. Das Titelbild zeigte ein Foto von der Erschießung von Zivilisten. Dieses stammte jedoch aus der serbischen Stadt Pančevo vom April 1941. Interne Begründung damals: Solche „eindrucksvollen Dokumente“ existierten nur aus der Balkanregion und fehlten zu Russland.8 Bis weit in die 1990er Jahre wurde das „Bild“ verbreitet, Raucher seien glückliche Menschen. Wenn Schriftsteller und Künstler im Fernsehen interviewt wurden, fehlte die Zigarette nur selten. Der legendäre Internationale Frühschoppen zeigte rauchende Journalisten beim morgendlichen Glas Wein.9 Gerüchten von Bestechungen der Tabakindustrie nahmen die meisten Journalisten über Jahrzehnte nicht ernst. Als 1998 die vier führenden Tabakkonzerne der USA aufgrund des „Master Settlement Agreement“ überführt wurden, Hollywood-Stars wie Humphrey Bogart, Bette Davis oder Kirk Douglas bezahlt zu haben, damit sie in den Filmen glücklich an der Zigarette zogen, war das für deutschsprachige Medien kein Aufreger.10 Ob es solche Absprachen in Deutschland gab,
HOFBERICHTERSTATTUNG STATT RECHERCHE 313 war für die Leitmedien kein Thema, Rauchen war einfach gesellschaftsfähig. Ein Politiker wie Altkanzler Helmut Schmidt erklärte noch bis zu seinem Tod 2015 in seiner Funktion als Herausgeber der Wochenzeitung Die Zeit, diese „Hysterie“ interessiere ihn nicht.11 Was er wohl beim Ausbruch von Corona geschrieben hätte? Oft besteht zwischen Politikern und Journalisten im deutschsprachigen Raum eine Nähe, die schon Jahrzehnte vor der Corona-Berichterstattung etwa vom langjährigen Leiter der Journalistenschule Henri Nannen, Ex-Stern- und Ex-Welt-Chefredakteur, Wolf Schneider kritisiert wurde. Nach ihm leiden Journalisten nicht selten an Allmachtphantasien: Sie fallen aus der Rolle des neutralen Berichterstatters heraus und wollen die Politik aktiv mitgestalten […]. Besonders in Deutschland […] ist die Neigung der Journalisten groß, sich mit dem verfassungsrechtlich bedenklichen Begriff der ‚Vierten Gewalt‘ zu identifizieren und sich damit als politischmoralische ‚Über-Instanz‘ zu definieren […] 79 Prozent [sehen sich] als ‚Vermittler neuer Ideen‘.12
Wenige Monate vor dem Corona-Ausbruch befand Jürgen Todenhöfer, einst Vorstandmitglied im Burda-Medienkonzern, „statt die Heuchelei der Mächtigen zu demaskieren, spielen viele Medien ihr Spiel mit, sie sind Teil des Systems geworden, das sie kontrollieren sollten.“13 Todenhöfer bescheinigte manchen „westlichen Spitzenjournalisten“, dass sie sich vom Ambiente der Macht berauschen lassen, dass sie dabei ihre Wächterrolle vergessen, ihre innere Distanz aufgeben […]. Ich habe jahrelang nah miterlebt, wie ehrfurchtsvoll führende Medienvertreter den Kanzlern Brandt, Kohl, Schröder oder Merkel hinterhertrotteten.14
Es „menschelt“ eben auf vielen Ebenen zwischen Politikern und Journalisten: Finanzminister Christian Lindner ist mit der Welt-TV-Journalistin Franca Lehfeldt in zweiter Ehe verheiratet, in erster Ehe lebte er mit Dagmar Rosenfeld zusammen, heute Chefredakteurin der Welt am Sonntag.15 Gesundheitsminister Karl Lauterbach hat eine Tochter mit seiner mehrjährigen Freundin Ulrike Winkelmann, nun Chefredakteurin der taz.16 Der kürzlich verstorbene CDU-Spitzenmann Wolfgang Schäuble hat zwei Töchter, die im Journalismus keine unbedeutende Rolle einnehmen. Tochter Christine ist seit Mai 2021 Programmdirektorin bei der ARD und mit dem Innenminister von Baden-Württemberg, Thomas Strobl, verheiratet.17 Tochter Juliane ist derzeit US-Korre-
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spondentin beim Tagesspiegel.18 Die Journalistinnen-Ehen von Altkanzler Schröder und seinem Außenminister Joschka Fischer sind kein Geheimnis.19 Altbundespräsident Joachim Gauck hatte einst die Journalistin Helga Hirsch an seiner Seite und nun die Journalistin Daniele Schadt.20 Der derzeitige Pressesprecher der Bundesregierung, Steffen Hebestreit, einst bei der Frankfurter Rundschau, hat einen Bruder, der augenblicklich beim ZDF unter anderem für die Berichterstattung aus den skandinavischen Ländern verantwortlich zeichnet.21 Seine Stellvertreterin Christiane Hoffmann, einst als Spiegel-Journalistin gern gesehener Gast in Talkshows, ist mit dem ehemaligen Schweizer Botschafter für Deutschland verheiratet.22 Deren beider Vorgänger, Steffen Seibert, einst Moderator der heute-Nachrichten, war ab 2010 Pressesprecher der Regierung Angela Merkel und ist nun Deutscher Botschafter in Israel.23 Als am 19. Januar 2023 Boris Pistorius als neuer Verteidigungsminister vereidigt wurde, war vier Tage später der SWR-Journalist Michael Stempfle schon an seiner Seite als neuer Pressesprecher. Noch am 17. Januar durfte Stempfle auf der Homepage der Tagesschau eine Lobeshymne auf Pistorius platzieren. Diesen blitzschnellen Jobwechsel fanden manche Tageszeitungen allerdings bedenklich: ‚Regierungsfunk‘, ‚Staatsfernsehen‘ – so schmähen manche ARD und ZDF. Natürlich ist das Unsinn […], dennoch erwecken solche berufliche Entscheidungen den Eindruck, die Grenzen zwischen Politik und vierter Gewalt seien fließend.24
Die Liste der Verflechtungen zwischen Politik und Journalismus könnte endlos fortgesetzt werden. Welche Seite in der Corona-Zeit der größere Treiber für die individuelle Bürgerrechtseinschränkungen war, die Leitmedien oder die Regierung, empfindet der Autor vor diesem Hintergrund als zweitrangig. Auch wenn er sich bewusst ist, dass in der Postmoderne die Repressions- und Disziplinierungsmaßnahmen eher gesellschaftlicher als staatlicher Natur sind. Journalisten wie Politiker handeln als gesellschaftliche Größen, die einen in einer Redaktion, die anderen in einer Partei. Wie fließend die Übergänge sind, erfuhr der Autor selbst als Korrespondent der taz und Redakteur des Spiegel. Von seinen Vorgesetzten wurde er in seinem ganzen Berufsleben nie nach dem Namen eines Informanten gefragt, die „Nähe“ zu Politikern oder Diplomaten eher bewundert als kritisiert. Ohne in Angeberei zu verfallen, verhalf ihm manch ein Kontakt zu besonderem Insider-Wissen. Nach § 53 Abs. 1 Nr. 5 StPO (Strafprozessordnung) gilt
HOFBERICHTERSTATTUNG STATT RECHERCHE 315 in Deutschland generell, dass Journalisten ihre Informationsquellen nicht preisgeben müssen.25 Ein geschätzter Kollege musste ebenfalls nie intern darüber Auskunft geben, von wem er manches als geheim eingestufte Dokument erhalten hatte. Sein Glück war es, mit der Tochter eines hohen BND-Beamten verheiratet zu sein. Für Mitstreiter Siegesmund von Ilsemann, einen gewissenhaften und seriösen Rechercheur, war sein Familienname nicht von Nachteil. Manch ein Offizier bei der NATO wollte den Enkel des treuen Adjutanten von Kaiser Wilhelm II, und nach dessen Tod der Verwalter in Doorn, einfach kennenlernen. Spiegel-Redakteur Jürgen Leinemann gestand in seinem Buch Höhenrausch: Eine Weile glaubte ich mich in meiner Beobachterposition auf der sicheren Seite, bis ich merkte, dass ich als Journalist keineswegs nur Zuschauer war […], sondern auch Zeitgenosse und Mitspieler in der politischen Klasse […]. Mit den meisten politischen Karrieristen teilte ich einen unersättlichen Hunger nach Anerkennung und Bestätigung.26
Vor diesem Hintergrund wirkt die legitime Forderung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages vom November 2022 zum „Neutralitätsgebot bzw. Gebots der Sachlichkeit“ realitätsfern, wonach keine Journalisten bei Hintergrundgesprächen oder persönlichen Interviews mit staatlichen Stellen bevorzugt werden sollten: Der Staat muss […] Pressevertreter in Bezug auf Zeitpunkt, Inhalt und Umfang grundsätzlich gleich behandeln. Falls aus bestimmten Gründen eine Auswahl notwendig ist, muss dies auf meinungsneutralen sowie sachgerechten Kriterien beruhen. Eine sachgerechte Auswahl liegt z. B. vor, wenn sich die ausgewählten Journalisten bereits auf dem jeweiligen Sachgebiet fachjournalistisch betätigt haben. 27
Wie diese „sachgerechte Auswahl“ gehandhabt werden soll, wird nicht konkretisiert. Im März 2023 enthüllte eine Anfrage der AfD, beantwortet als Drucksache 20/5822, wie intransparent Regierungsstellen mit einigen Journalisten zusammenarbeiten. Der Deutschlandfunk vermeldete ohne Kommentar oder weiterer Recherche: Die Bundesregierung und nachgeordnete Bundesbehörden haben in den vergangenen fünf Jahren rund 1,5 Millionen Euro an Journalisten für Moderationen, Texte, Lektorate, Fortbildungen, Vorträge und andere Veranstaltungen gezahlt. Dies geht aus einer Antwort der amtierenden Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der AfD-Fraktion hervor […]. [Es geht] um insgesamt 200 Journalisten. Rund 120 davon arbeiteten für öffentlich-
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ROLAND HOFWILER rechtliche Medien, andere waren bei ‚Spiegel‘, ‚Zeit‘, ‚Tagesspiegel‘ und anderen privatwirtschaftlichen Unternehmen beschäftigt. Eine genaue Einordnung, welcher Journalist welchen Auftrag für die Regierung erledigt habe, sei nur bruchstückhaft möglich, da die Journalisten mit Pseudonymen aufgeführt […] worden seien […]. Nicht enthalten in der Aufstellung sind den Angaben zufolge Honorare, die der Bundesnachrichtendienst an die Journalisten gezahlt hat. Zur Begründung wird auf das Staatswohl verwiesen. Die Kooperationen des BND seien ‚besonders schützenswert‘.28
In der Drucksache 20/5822 konnte man detailliert lesen: Mit dabei war Journalist Nr. 119 für die Wirtschaftswoche, Nr. 129 für die taz, Nr. 148 für die Frankfurter Rundschau, Nr. 184 für die Süddeutsche Zeitung (SZ) und Nr. 200 für die FAZ.29 Selbstkritik vermeidend widmete der Tagesspiegel der Enthüllung einen Kommentar, über die wenigen Namen und Details, die bekannt wurden.30 [...] Dass etwa die Ex-‚Tagesschau‘-Sprecherin Linda Zervakis […] für einen […] Moderationseinsatz beim Bundeskanzleramt rund 11.000 Euro erhalten haben dürfte, ist glänzend honoriert. Auch ein ZDF-Beschäftigter, der sich für die ‚Erstellung von Videoinhalten‘ im Nebenjob mehr als 30.000 Euro vom Bundespresseamt zahlen ließ, würde sich, wäre er namentlich bekannt, fragen lassen müssen, wie er seine Unabhängigkeit als Journalist einschätzt.31
Wer aus der eigenen Redaktion namentlich hinter den Nummern 12, 120, 121, 147 und 179 steckte, blieb unter Verschluss.32 In Publizistik-Handbüchern und auf der Presserat-Webseite kann man nachlesen: „Die Sonderrechte für Journalisten leiten sich direkt von Art. 5 GG ab und haben somit quasi Verfassungsrang.“ Demnach gilt: „Im Journalismus stellt der Informant eine wichtige Informationsquelle für den Journalismus dar. Der Informantenschutz wird als Voraussetzung für die Pressefreiheit angesehen.“ Und wie jeder Akteur die Pressefreiheit auslegt, ist seine Sache: Denn der „Pressekodex“, an den sich Journalisten orientieren sollten, hat nur den Charakter einer „freiwilligen Selbstverpflichtung.“33 Es ist bekannt, dass Altkanzler Helmut Kohl den Spiegel schnitt, wo immer es möglich war, aber sich prinzipiell gerne mit Journalisten in informellen Runden traf. Von einer Gleichbehandlung und vom Einhalten des „Neutralitätsgebots bzw. Gebots der Sachlichkeit“ konnte keine Rede sein. Herausgeber Rudolf Augstein nahm das gelassen hin, verärgert war er allerdings über Kubas Staatschef Fidel Castro, der trotz unzähliger Anfragen und manchem „Entgegenkommen“, gewisse innenpolitische Themen aus-
HOFBERICHTERSTATTUNG STATT RECHERCHE 317 zuklammern und sich ausschließlich auf weltpolitische Thematiken zu beschränken, nie für ein Gespräch bereit war. Wie auch keiner der Päpste mit Spiegel-Journalisten sprechen wollte. Ansonsten öffneten sich für die Redakteure viele Türen und man konnte in seiner Position leicht vergessen, dass damals, im Vor-Internet-Zeitalter, das Politmagazin in einem gewissen Maß zur Bildung der öffentlichen Meinung und somit auch zur Wahl der politischen Agenden beitrug. „Europas größtes Nachrichtenmagazin“, so die Eigenwerbung, war eine Institution. Hinweise, Intrigen und Einladungen flatterten einem auf den Schreibtisch: Man behandelte sie diskret. Gleichzeitig versetzten sie manchen Journalisten in einen gewissen „Höhenrausch“. Viele Jahrzehnte genoss das Spiegel-Archiv einen seriösen Ruf als Wissenschaftsquelle. Man stand im engen Austausch mit zahlreichen renommierten Universitäten. Wissenschaftler nutzten das Archiv für eigene Nachforschungen. Aber auch politische Akteure zogen Nutzen aus Archiv und informellen Beziehungen des Medienhauses und dankten dies ihrerseits als „Türöffner“ für Spiegel-Recherchen. Da gab es etwa Valentin Falin, dessen „Drehtür“, wie man es intern nannte, Kontakte in die Sowjetunion „erleichterten.“ Falin, ein einflussreicher Berater sowjetischer Partei- und Staatschefs von Nikita Chruschtschow bis Michail Gorbatschow und 1990 bei der Aushandlung über die deutsche Einheit maßgeblich beteiligt, bekannte in seinen Memoiren, dass er es als „Ehre“ verstand, wenn man im Spiegel über ihn sagte: „‚Auf Falin ist Verlaß‘. Die vier Wörter, mit meinem Namen verbunden, ich verhehle es nicht, waren schmeichelhaft.“34 Vertrauliche Kontakte und Beziehungen gehören bis heute zum Journalistengeschäft. Eine Akkreditierung je nach Fachressort, etwa beim Academy Award in Los Angeles oder beim Weltwirtschaftsforum in Davos empfinden Journalisten wie einen Ritterschlag. „Was für ein tolles Gefühl“, bekannte etwa der Auslandsressort-Chef der Financial Times im Januar 2023, als er in Davos dabei sein durfte, „sich Schulter an Schulter neben Milliardären wiederzufinden, […] das hebt die Selbstzufriedenheit.“35 Wie man mit dieser Schulter-Nähe eine „Wächterrolle“ als Journalist einnehmen kann, darüber schwieg sich der Journalist aus. Die Veranstalter selbst behaupteten auf ihrer Homepage, „wir verpflichten uns den Zustand der Welt zu verbessern“, ohne zu verraten, was sie darunter verstanden. Sie verhehlten allerdings nicht, dass zum Gipfel nur die Medienvertreter eingeladen werden, „mit denen man auch das Jahr über zu-
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sammen arbeitet.“36 Kritische Berichterstatter beklagen, dass ihnen der Zutritt verschlossen bleibt.37
II.
Fehlende Recherche zu Widersprüchen der Corona-Verordnungen
Als das Jahr 2020 anbricht, titelt der Spiegel frohsinnig: „Die neuen 20er – wie golden wird das kommende Jahrzehnt?“ 38 Kein Wort in der Ausgabe zu den ersten Berichten chinesischer Wissenschaftler über eine neue Lungenkrankheit, die sich in Wuhan durch ein neuartiges Corona-Virus auszubreiten beginne. Dabei hat der Spiegel einen eigenen Korrespondenten in Peking. Weder der Spiegel noch die anderen Leitmedien übernehmen vorerst, was chinesische Medien bereits vermelden. Eine dpa-Meldung vom 31.12.2019 unter dem Titel „Mysteriöse Lungenkrankheit in Zentralchina ausgebrochen“ scheint im deutschsprachigen Raum tags darauf nur von der Welt übernommen worden zu sein. Erst neun Tage später erscheint eine ähnliche Kurzmeldung auf die Homepage des öffentlich-rechtlichen Spartensenders tagesschau24, einen Tag später wird sie im TV-Nachrichtenblock ausgestrahlt.39 Die große Zahl der Archivare in den Leitmedien, deren Aufgabe unter anderem darin besteht, auf abseitige Kurzmeldungen zu achten, um daraus eine mögliche Exklusivstory zu erstellen, scheint die ersten Berichte verschlafen zu haben. Artikel der BBC-Summary of World Broadcasts wurden nicht ausgewertet, ebenso wenig Datenbanken wie Lexis Nexis, die mit einer Auswertung von 40.000 Publikationen werben, die 10.000 Mitarbeiter sichten.40 Am 20. Januar 2020 wird das Thema erstmals in den Hauptnachrichten der deutschen Tagesschau kurz behandelt. Hauptthema der Sendung ist das Jahrestreffen des Weltwirtschaftsforums in Davos, wo das Virus, glaubt man den Leitmedien, nur am Rande thematisiert wurde.41 Es dauerte noch eine Woche bis das Virus schließlich zum allbeherrschenden Thema wird. Am 22. Januar 2020 geschieht dann etwas Unheimliches. Alle großen Nachrichtenagenturen übernehmen an diesem Tag die Meldungen und Bilder aus Wuhan, wie chinesische Polizisten die Zehn-MillionenMetropole vollständig unter Quarantäne stellen, es darf niemand mehr in die Stadt hinein und hinaus. Wie einst bei den Terroranschlägen vom 11. September 2021, wird von den Medien ein Weltereignis ausgerufen, dem sich bald niemand mehr entziehen kann. Eine ansonsten
HOFBERICHTERSTATTUNG STATT RECHERCHE 319 hochgradig ausdifferenzierte Weltgemeinschaft wird Schritt für Schritt zu einer „Simplifizierung des Sozialen“42 getrieben. Innerhalb weniger Wochen wird sich ein Narrativ verfestigen: Die ganze Menschheit ist in Gefahr. Wie der Soziologe Günter Roth ausführt, ist in solchen Ausnahmesituationen die Macht der Agenturen äußerst problematisch, weil diese als zentrale ‚Türwächter‘ und Multiplikatoren fungieren, indem sie Zeitungen, Radio- und Fernsehsender oder Internet-Medien mit Meldungen beliefern, die oft weitgehend identisch oder ähnlich übernommen werden und dann global, unisono über alle Kanäle laufen, was wiederum als selbstverstärkender Rückkopplungseffekt wirkt, weil dann darauf Bezug genommen werden kann oder muss.43
Die Selbstverstärkung war bei dieser Abriegelungs-Aktion beispiellos. Wuhan wurde über Nacht das Topthema. Ab sofort wurde mit einer Penetranz über die Virusausbreitung berichtet, die historisch Ihresgleichen sucht. An einem durchschnittlichen Tag hört die Hälfte der Bevölkerung Radionachrichten44 und in den dramatischen Monaten der Pandemie „informierten sich 9 von 10 Menschen ab 14 Jahren täglich über TV, Radio oder Internetseiten der Printmedien über das aktuelle Geschehen.“45 Das heißt, in einer ernsten Krisensituation haben die Leitmedien einen Informationsvorsprung, der einem Informationsmonopol nahe kommt. Alternative Internetauftritte werden erst zeitversetzt angeklickt und oft nur als ergänzende Informationsquelle angenommen, auch von denen, die der offiziellen Berichterstattung misstrauen. Die Ereignisse aus dem fernen China erreichten selbst unpolitische Menschen, die Nachrichtensendungen im Fernsehen gewöhnlich überspringen. Denn die gewünschte Sportshow oder Quizsendung startete verspätet oder verkürzt, Sondersendungen wie ARDextra – die Corona-Lage und ähnliche Formate wurden eingeschoben. Über die kommenden zweieinhalb Jahre sollte die Berichterstattung zu Corona in Fernsehen, Radio und Zeitungen die Menschen in Bann halten. Zu Beginn des Corona-Ausbruchs konnten nur wenige Journalisten mit dem Begriff „SARS-CoV“ etwas Konkretes assoziieren, schon gar nicht eine mögliche weltweite Verbreitung einschätzen. Die Berichterstattung schwankte zwischen Panik und Beschwichtigung. Der Spiegel titelte Ende Januar: „Made in China – wenn die Globalisierung zur tödlichen Gefahr wird.“46 Das österreichische Nachrichtenmagazin
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Profil kam mit der Schlagzeile: „Warum der Mensch seinen schlimmsten Feind nie besiegen wird.“47 Doch in beiden Titelgeschichten wurde beruhigt, es werde für Europa wohl nicht besonders schlimm. Der Spiegel führte zwei Wochen später ein Gespräch mit Gesundheitsminister Jens Spahn, wo es hauptsächlich um dessen mögliche Kanzlerkandidatur ging. Man unterhielt sich des weiteren über die Themen „Grenzschutz“ und „Klimaschutz.“ Über Corona wurde kein einziges Wort gewechselt. Es war für beide Seiten kein Thema, weder für die Interviewer noch für den Minister.48 In einem separaten Artikel ging man im gleichen Heft zwar auf Wuhan ein, doch die zitierten Epidemiologen glaubten daran, „dass sich die weltweite Ausbreitung des neuen Coronavirus aufhalten lässt“ und für Europa keine Gefahr drohe.49 Wenige Tage später erklärte Spahn in einem anderen Interview: Es ist wichtig, dass wir tatsächlich verhindern, dass das Virus andere Regionen, abgesehen von China, erreicht […]. Wir müssen sicherstellen, dass das keine weltweite Pandemie wird. Wenn das passieren sollte, dann müssen wir vorbereitet sein, um neue Therapien und einen Impfstoff zu finden.50
Kaum zwei Wochen später drehte sich plötzlich die Stimmung in den deutschsprachigen Leitmedien. Auf einmal wurden Stimmen übermächtig, die warnten, europäische Städte und Regionen könnte bald das gleiche Schicksal ereilen. Zu diesem Zeitpunkt fragte sich mancher, woher der Umschwung gekommen war? Das Virus hatte Europa zwar erreicht, doch Schwererkrankte oder gar Tote waren zu diesem Zeitpunkt nicht zu beklagen. Alternative Medien51 lieferten für den Stimmungsumschwung bald eine einfache Erklärung: In Davos hatten die fast 3000 Politiker und Manager […] ausreichend Gelegenheit, ihre Reaktionen auf die Krise miteinander abzustimmen […] alles war vorbereitet. Die große Pandemie-Maschine, jahrelang konstruiert, geprobt und für den Ernstfall vorbereitet, lief nun. Die beteiligten Institutionen waren auf einen solchen Ausbruch ganz einfach gedrillt.52
In manchen alternativen Medien wurde Bezug genommen auf das Planspiel Event 201, einem Vorboten auf die Realität der kommenden drei Jahre. Auf dieses „Event“ wurde immer wieder Bezug genommen. Man fühlte sich an die Schweinegrippe-Hysterie im Winter 2009/2010 erinnert: Darin [im Planspiel, R. H.] wurden im Oktober 2019, kurz vor dem Auftauchen von SARS-CoV-2, auf internationaler Ebene das Verhalten sowie die
HOFBERICHTERSTATTUNG STATT RECHERCHE 321 Maßnahmen von Regierungen und weiteren Akteuren während einer Coronavirus-Pandemie geprobt. Neben Vertretern aus der Politik, der Gesundheitsvorsorge sowie der Geheimdienste war auch die größte Werbeagentur der Welt, Edelman, involviert. Als die Krise kurz darauf ausbrach, wurden viele Psychologen tätig, um etwa die Akzeptanz der Maßnahmen oder später die Impfbereitschaft zu fördern. Oft geschah dies weitgehend unbemerkt, was für psychologische Einflusskampagnen üblich ist […]. Was das „Richtige“ ist, wurde während der Coronakrise durch Regierungen oder die WHO vorgegeben. Es ging bei der psychologischen Steuerung somit um keine sachliche Debatte über die Wirksamkeit bestimmter Maßnahmen oder der Impfung (genauso wenig wie es beispielsweise bei der Kriegspropaganda darum geht, Gewalt kritisch zu hinterfragen).53
Die alternativen Internet-Medien wurden mit ihren Erklärungsversuchen allein gelassen, wie es, außer in Schweden und den Balkanstaaten Montenegro und Kosovo, zu diesen massiven Bürgerrechtseinschränkungen überall in Europa kommen konnte. Die deutschen Leitmedien antworteten auf die Mutmaßungen aus der alternativen Medienwelt ihrerseits nur mit Häme. Eine sachliche Diskussion fand sich nirgends. Die Fronten zwischen Leitmedien und Alternativmedien verhärteten sich. Wer in alternativen Internetforen publizierte, galt für die etablierten Journalisten schnell als unseriös und „verschwörungsnah“. Der Autor glaubt allerdings auch nicht an ein kurz vor dem Corona-Ausbruch erprobtes Planspiel, das nun zur Anwendung gekommen sein sollte. Planspiele zu Pandemie-Bekämpfungen finden sich seit Jahrzehnten im Arsenal von Gesundheitsministerien und Militärkreisen. Damit wurde der Autor schon während seiner Schulzeit in der Schweiz konfrontiert und später als akkreditierter Journalist bei der NATO. In der Zeit des Kalten Krieges übten auch das Rote Kreuz und ABC-Abwehrkommandos in Ost und West diesen Ernstfall. Und dass die westlichen Staatschefs auch außerhalb von Davos über zahlreiche Unterhändler und Diplomaten in ständigem Kontakt zueinander sind, ist eine Selbstverständlichkeit. Für die Leitmedien wurden die alternativen Erklärungsversuche allerdings schnell zur Steilvorlage, deren politische Internet-Auftritte wurden pauschal als „Verschwörungsseiten“ verunglimpft. Im gleichen Atemzug forderten sie, die Deutungshoheit über die Krise sollte man besser ihnen überlassen und ihrer Darstellung vertrauen, auch wenn sie sich völlig mit der Politik decke. Manch eine Erzählung, die man bisher informell als „kritische Sozialtheorie“ akzeptierte, bekam ebenfalls das Etikett der „Verschwörung.“ Über die Tatsache, dass hinter der Atomindustrie fast immer finanzkräftige
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Konzerne stehen, galt für die Leitmedien nie als Verschwörung, wer aber den Hinweis äußerte, dass die Pharmaindustrie generell Impfkampagnen großzügig unterstütze und so ein großes Interesse an einer weltweiten Impfstrategie habe, wurde schnell in die Verschwörungsecke gedrängt. Und die Bilder aus Wuhan bekamen bald einen neuen, dramatischen Kontext. Anders als im Einleitungsbeispiel vom unpassenden Pferd im Bild, passten die wenigen düsteren Aufnahmen, die Video-Blogger aus Wuhan in die Welt posteten, perfekt zu den Parolen des chinesischen Staats- und Parteichef Xi Jinping, der die Bevölkerung auf einen „Volkskrieg“ gegen das Virus einschwor. Gleichzeitig ließ er immer mehr Millionenstädte abriegeln. Bilder und Worte suggerierten, die Katastrophe nahm ihren Lauf und ließ sich nicht mehr stoppen. Der Spiegel übernahm ohne Einordnung, ohne eine Reportage des eigenen China-Korrespondenten zu drucken, was Blogger vor Ort verbreiteten – worüber man im Nachhinein nur staunen kann. Normalerweise nutzt das Nachrichtenmagazin keine alternativen Medienquellen, sondern schickt eigene Reporter, um vor Ort zu recherchieren und zu berichten. Nun sahen die vom Spiegel zitierten Blogger angeblich „hoffnungslos überfüllte Krankenhäuser“ und „Leichensäcke.“ Ein Blogger behauptete, er habe eine Pflegerin gesehen „die infiziert wurde und schreiend zusammenbrach“, als würde das Virus blitzschnell zuschlagen und Infizierte niederwerfen.54 In dieser Schockstarre bekam ein älterer Auftritt von MicrosoftGründer und Großaktionär Bill Gates mit seiner Prognose, eine VirusGefahr werde künftig die „gesamte Menschheit“ bedrohen, eine enorme Aufmerksamkeit unter deutschsprachigen Medienvertretern. Seine sieben Jahre alte Warnung wurde nun zum Faktum erklärt. Im Jahre 2015 hatte Gates auf einer Veranstaltung der Innovations-Konferenz TED, einst ins Leben gerufen als eine US-Form des Weltwirtschaftsforums in Davos, die Vorhersage gewagt, dass eine globale Virus-Pandemie wahrscheinlicher sei als ein Atomkrieg55. Dieses Video wurde herumgereicht, auch dem Autor wurde es von mehreren befreundeten Kollegen empfohlen. Bis Dezember 2022 soll dieser Auftritt, nach Gates’ eigenen Angaben, über 45 Millionen Mal weltweit angeklickt worden sein. Vor den Ereignissen in Wuhan hätten es in den fünf Jahren zuvor nur 4 Millionen Menschen gesehen.56 Mit einem Schlag standen Gates und seine Gesundheitsexperten im Zentrum von Anfragen aus den Medienhäusern und der Politik nach dem besten
HOFBERICHTERSTATTUNG STATT RECHERCHE 323 Weg zur Bekämpfung des Virus. Die Vorschläge, die nun aus der Bill und Melinda Gates Foundation verbreitet wurden, stießen unter Politikern und Journalisten auf offene Ohren. Denn es fehlte zu diesem Zeitpunkt die eigenständig entwickelte Expertise. Dies wurde in einem ARD-Presseclub offen angesprochen. Der Moderator fragte Georg Mascolo, den damaligen Leiter des finanzstarken und einflussreichen Recherchenetzwerk NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung: Das Wort Pandemie ist nicht neu im Lexikon. Ist die internationale Gemeinschaft blind gewesen, warum erscheint sie so unvorbereitet, oder ist das, was jetzt passiert, wirklich nicht vorhersehbar gewesen?
Darauf Mascolo: Da ist es interessant, diejenigen zu fragen, die sich viel länger als wir hier alle mit der Frage beschäftigt haben, ob diese Risiken eigentlich ernst genug genommen worden sind […] Die haben dafür eine Erklärung, die sich durchzieht: Ja, natürlich hat man uns zugehört, wenn wir davor gewarnt haben, aber dann war in der Welt immer etwas anderes los und etwas anderes wichtiger. […] Bill Gates ist so jemand, der seit Jahren mit dieser Botschaft durch die Welt zieht, da hält er auf der einen Seite das Bild eines Atompilzes hoch und auf der anderen eines mit Viren und sagt, ich will Euch sagen, dass das Risiko, dass viele Millionen Menschen auf der Welt sterben könnten, viel größer ist in Bezug auf eine Pandemie als auf einen Krieg. Ja, da ist nicht ausreichend genug hingehört worden, das gilt aber nicht nur für Regierungen, sondern, wenn ich ehrlich bin, auch für unseren eigenen Berufsstand.57
Die Gates Foundation, eine der größten Stiftungen der Welt, mit fast 1500 Mitarbeitern und einem Stiftungsvermögen von rund 70 Milliarden Euro,58 nutzte nun die Gelegenheit, ihre Vorstellungen zur Bewältigung des Virus-Ausbruchs zu verbreiten. Dies wurde von den Leitmedien dankend angenommen, als sei dies wissenschaftlicher Konsens, anstatt mit eigenen Recherchen eine multiperspektivische Analyse vorzunehmen, bei der man möglicherweise zu einer ganz anderen Einschätzung gekommen wäre. Diese Aufgabe sollte für ein Redaktionsteam aus investigativen Journalisten, Archivaren und den sogenannten „informellen Kontaktpersonen“ selbstverständlich sein. Glaubt man einer gemeinsamen, monatelangen Recherche der Welt am Sonntag mit Politico, bei der in Lobbyregistern recherchiert, dutzende Politiker interviewt und Finanzunterlagen eingesehen werden konnten, so wird klar:
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ROLAND HOFWILER Welch immensen Einfluss ein Netz um die Bill und Melinda Gates Foundation auf die globale Corona-Politik hatte […] ‚Wir haben uns in der Pandemie enorm auf ihren Rat verlassen‘, werden anonyme Regierungsmitglieder zitiert. Die Stiftung und drei ihrer wichtigsten Partner gehörten während der Pandemie zu den größten Geldgebern, unter anderem der WHO. Zudem haben sie, wie die Pharmaindustrie, darauf hingewirkt, dass Regierungen politische Entscheidungen so treffen, wie sie diese für richtig hielten.59
In den ersten Monaten des Jahres 2020 kamen in den Talkshows und Diskussionsrunden der öffentlich-rechtlichen Sender noch Virologen und Epidemiologen zu Wort, die bald verstummen sollten. Da wurde unter anderem die pensionierte Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie an der Universität Zürich, Karin Mölling, in eine Phoenix-Runde eingeladen, wo sie zu beschwichtigen versuchte: Nur eine sehr kleine Gruppe werde schwer erkranken, es sei „ein Virus, das nicht wahnsinnig schwer krank macht… allerdings raffiniert ist.“ Sie wagte den Vergleich mit der jährlichen Grippe: „Wenn einen die Influenza erwischt, wenn es einen schwer erwischt, dann hat man wirklich das Gefühl, das Ende ist gekommen.“ Mölling äußerte Kritik an der Politik: Wie gerade gehandelt werde ist zu viel, ist zu streng, durchaus von Angst getrieben […]. Es sterben jedes Jahr 650 000 [in Europa] an der Influenza, darüber wird man auch nicht jedes Jahr informiert, es gibt ja auch noch ein paar andere Viren, ich bin der Ansicht, wir überspannen den Bogen.60
Die mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnete Virologin Mölling erklärte in einer anderen TV-Sendung: „Das neue Virus ist eben geheimnisvoll.“ Da wolle niemand mehr über die langweiligen Influenza-Viren sprechen, „das ist nicht mehr spannend, das kennt man, da sterben eben ein paar Alte.“ Selbst wenn es zu einem Influenza-Ausbruch komme, wie vor zwei Jahren, als in wenigen Wochen „25000 Todesfälle in Deutschland alleine“ zu beklagen gewesen seien, sei das keine Meldung mehr wert. Die Zahlen über Infizierte, die seit Bergamo zu Italien verbreitet würden, so die Virologin weiter, seien für sie „zu einseitig, einfach nur Zahlen [von Infizierten], das passt nicht in mein wissenschaftliches Konzept.“ Sie habe gerade eine Analyse über die Luftverschmutzung und die Mikroorganismen in China verfasst „und China hat Smog und den Peking-Husten und Norditalien ist im Grunde das China Europas.“ Dies müsse man im Hinterkopf behalten. Bewegung und frische Luft helfe der Immunstärke:
HOFBERICHTERSTATTUNG STATT RECHERCHE 325 Ich habe immer einen Satz gesagt und den sage ich bis heute: Die Sonne hat ultraviolettes Licht und kann Viren töten, die Luft verdünnt Viren, das ist mein Grund zu sagen, [Menschen, R. H.] einsperren ist nicht gut, das Abschließen von Wohnungen ist keine gute Maßnahme, frische Luft, rausgehen, ist viel gesünder61
Ähnlich argumentierte damals der Züricher Tagesanzeiger: „Auch beim allerschlimmsten Szenario überleben 99,6 Prozent [der Schweizer].“ Das Blatt relativierte außerdem die Totenzahlen für Italien: Der Römer Chefinfektologe hat das so formuliert: ‚Menschen, die in diesen Tagen in Italien verstorben sind, sind mit dem Coronavirus verstorben, nicht wegen des Coronavirus‘.62
In den Redaktionsstuben der Leitmedien wurde Bergamo als „Zäsur in der Corona-Krise“ aufgefasst und damit die Verwendung von „Kriegsmetaphern“ gerechtfertigt, um bei jeder Gelegenheit mit jenen „Bildern“ aus Norditalien „an die Gefährlichkeit des Coronavirus zu erinnern“63 und die immer härteren Einschränkungen im öffentlichen Raum zu legitimieren. Andere Kritiker glaubten zu erkennen, dass sich die Leitmedien fortan in der Rolle der „regierungsamtlichen Berichterstattung“ gefielen. Diese Formulierung gebrauchte etwa Albrecht Müller, einst Planungschef unter den Bundeskanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt auf seinem politischen Internet-Blog NachDenkSeiten.64 Manch einer fühlte sich an kommunistische Zeiten erinnert, als in den Parteiorganen nur versteckte Kritik zwischen den Zeilen zu finden war. Die SZ druckte beispielsweise nur in ihren Lokaltteilen nachdenkliche Stimmen, die man auf den vorderen Meinungsseiten und im Feuilleton vermisste, etwa die der Dirigentin Kerstin Behnke: Konzertorte verkümmern zu stummen Räumen, ihrer klingenden Seele beraubt […]. Momente des tief bewegenden, gemeinsamen Eintauchens von Publikum und Aufführenden in die Welt der Töne und Geräusche, das einander sonst fremde Menschen für eine Weile eng verbindet […] - all das ist aus dem Leben ersatzlos gestrichen […]. In den magischen, flüchtigen Augenblicken eines Konzertes entsteht ein Fluss durch die Zeiten […]. Aber der Fluss ist vertrocknet, es herrscht eine schreckliche Dürre und Ödnis. Wer kann uns sagen, ob diese Wüste wieder erblühen wird? 65
Kein Zufall scheint es gewesen zu sein, dass just in dem Augenblick, als in einigen Regionen Norditaliens das Gesundheitssystem vorübergehend an seine Grenzen stieß, Kanzlerin Angela Merkel am 18. März 2020 die Gunst der Stunde nutzte, um in einer dramatischen Rede an
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die Nation, die später von Rhetorik-Professoren als „Rede des Jahres“ ausgezeichnet wurde66, ihre harten Beschränkungen und Verbote zu rechtfertigten. In einer sehr einfachen Sprache, die selbst Kindern und weltfremden Greisen das Verständnis noch erleichterte, schwor sie die Bevölkerung auf ernste Zeiten ein: Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger, das Corona-Virus verändert zurzeit das Leben in unserem Land dramatisch. Unsere Vorstellung von Normalität, von öffentlichen Leben, von sozialem Miteinander – all das wird auf die Probe gestellt wie nie zuvor. Millionen von Ihnen können nicht zur Arbeit, Ihre Kinder können nicht zur Schule oder in die Kita […] uns allen fehlt die Begegnung, die sonst so selbstverständlich ist […]. Lassen Sie mich sagen: Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst […]. Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt. […] Das gehört zu einer offenen Demokratie, dass wir die politischen Entscheidungen auch transparent machen. Dass wir unser Handeln möglichst gut begründen und kommunizieren, damit es nachvollziehbar wird.67
Die Transparenz wurde hervorgehoben, als sei das keine Selbstverständlichkeit für demokratische Prozesse. Man konnte bei dieser Rede das Gefühl bekommen, der Bürger soll verstehen, was er „nachvollziehen“ soll, aber bitte keine Alternativen anstreben. Glaubt man einer Indiskretion, die die Welt publik machte, so verwendeten Bill und Melinda Gates in einem Brief an Merkel einen fast gleich klingenden, pathetischen Vergleich: „So wie der Zweite Weltkrieg der prägende Moment für die Generation unserer Eltern war, wird die Corona-Pandemie unsere Generation prägen.“68 Merkel gefiel sich anscheinend in der Rolle einer epistemischen Autoritätsperson und konnte sich deshalb die Mahnung nicht verkneifen: „Glauben Sie keinen Gerüchten, sondern nur den offiziellen Mitteilungen.“69 Der Seitenhieb zielte auf alternative Medien mit ihren Blogs, Tweets und Internet-Auftritten, auf denen die Verordnungen und Verbote von Anfang an heftig kritisiert und Fragen gestellt wurden, wie etwa Event 201 einzuordnen wäre. Die Leitmedien übernahmen nach der Merkel-Rede, wie gewünscht, nur die offiziellen Mitteilungen und jede Kritik an der Regierungslinie wurde als „Gerücht“, „Falschmeldung“ oder „Verschwörung“ abgestempelt. Hofberichterstattung war wichtiger als eigene Recherche. Merkels verordnete Deutungshoheit wurde in unzähligen Kommentaren in den Leitmedien begrüßt, etwa die PCR-Tests, die an vielen Orten verpflichtend wurden. Gegenmeinungen fanden sich keine. Die Mas-
HOFBERICHTERSTATTUNG STATT RECHERCHE 327 kenpflicht im Freien und nicht nur in geschlossenen Räumen wurde in den Leitmedien als „alternativlos“ propagiert: Selbst noch zu einem Zeitpunkt, als der Evaluationsbericht des Sachverständigenausschusses des Bundesgesundheitsministeriums vom Juni 2022 feststelle, „randomisierte, klinische Studien zur Wirksamkeit von Masken fehlen“. Es gäbe nur eine psychologische Wirkung, „da durch Masken im Alltag allgegenwärtig auf die potentielle Gefahr des Virus hingewiesen wird.“ 70 Der Aspekt der rein psychologischen Wirkung wurde beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk und den großen Tageszeitungen verschwiegen. Mit der „potentiellen Gefahr“, sollte die Bevölkerung weiterhin auf ein „gemeinsames, solidarisches Handeln“ eingestimmt bleiben. Wer ausscherte, wurde in den Kommentaren der Leitmedien oftmals verunglimpft. Als regierungskritischer Leser konnte man den Eindruck gewinnen, in den Redaktionsstuben dieser Medien gefiel man sich während der drei Corona-Jahre, ein Gut-Böse-Muster zu pflegen und die Gesellschaft in „Vernünftige“ und „Unvernünftige“, in „Einsichtige“ und „Uneinsichtige“, in „Solidarische“ und „Unsolidarische“ einzuteilen. Der Spiegel hatte früh „Unvernünftige“ ausgemacht, die „größere Schäden als Corona-Leugner“ anrichteten: Es waren Wissenschaftler, „die immer wieder gegen wissenschaftlich begründete Maßnahmen argumentiert haben.“ Darunter fielen für den Spiegel alle, die den damals von Regierungsstellen verbreiteten mathematischen Modellen von gigantischen Todeszahlen widersprachen und die daraus abgeleitete Forderung „nach einer Zero-Covid-Strategie als unverhältnismäßig und unsinnig kritisierten.“71 Als sich die Unsinnigkeit einer totalen Stilllegung der Gesellschaft abzeichnete und selbst Merkel auf Druck ihrer eigenen Partei von der monströsen Idee Abschied nahm, blieb der Spiegel auf seinem unversöhnlichen Kurs. Nur für Impfbereite gab es Erleichterungen. Mit der einsetzenden Impfkampagne und der Einführung von den sogenannten 3-G-Regeln wurden Nicht-Geimpfte vom gemeinschaftlichen Leben als Sündenböcke ausgegrenzt. Mit den Regeln sollten Geimpfte und Nicht-Geimpfte „sichtbar“ gemacht werden, das wurde in den Leitmedien offen ausgesprochen. So erklärte Frank-Ulrich Montgomery, Ratsvorsitzender des Weltärztebundes im ZDF, wo er ein gern gesehener Gast war: Die Ungeimpften grenzen sich selbst aus. Wenn wir jetzt darüber reden, wie wir die zum Impfen kriegen, haben wir doch nur die Möglichkeit:
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ROLAND HOFWILER Zuckerbrot und Peitsche. Und deshalb plädiere ich, denen klar zu machen, dass sie auch die Folgen ihrer Unvernunft tragen müssen.72
Aussagen wie die von Montgomery wurden von den überregionalen Zeitungen bereitwillig aufgegriffen und mit weiteren Diffamierungen ergänzt. Für die taz war klar, die „Impfverweigerer“ terrorisieren die impfbereite Mehrheit: „Weil 30 Prozent der für eine Impfung infrage Kommenden sich aufgrund unbestimmter Angst verweigern, vielleicht auch aus schräger Überzeugung heraus,“ werde es noch lange dauern, bis man sich „wieder schöneren Dingen des Lebens“ zuwenden dürfe. Aber man könne ja nachhelfen: „Wenn es mit Zuckerbrot nicht geht, muss die Peitsche ran.“73 Die taz unterschlug wider besseres Wissen, dass Merkel und ihr „Team Vorsicht“ bei einer Impfquote von 70 Prozent von einer Herdenimmunität ausging. Der Feuilleton-Chef der SZ, Peter Fahrenholz, kommentierte, es gehe den „Selbstausgrenzern allein um die Abschaffung der Demokratie.“ Der leitende Redakteur dankte dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron für dessen Fäkalausspruch gegen Impfskeptiker, „er habe Lust sie anzukacken“: Endlich klare Worte. Wann übernimmt ein deutscher Politiker die gleiche rüde Wortwahl und ruft den Impfverweigerern zu: Ihr geht mir ordentlich auf den Sack, verpisst Euch…. Statt sich immer nur darum zu sorgen, dass sich Impfgegner nicht noch weiter radikalisieren, sollte das Augenmerk allmählich dem wachsenden Zorn und Frust der Geimpften gelten.74
Es gab während der Corona-Jahre nur ein kleines Fenster einer kritischen Berichterstattung innerhalb der klassischen Leitmedien, die der Autor kurz erwähnen möchte. Der Springer-Konzern mit seinen Blättern Welt und Bild scherte in Deutschland aus der Einheitsfront aus, in der Schweiz war es die NZZ. Die Züricher Tageszeitung wagte sich am weitesten hervor, als sie als einziges deutschsprachiges Medium Giorgio Agamben, einen der bekanntesten Philosophen der Gegenwart75 und Experte zu modernen Formen des Ausnahmezustandes, zu Wort kommen zu ließ. In einem Gastbeitrag zitierte Agamben Anfang April 2020 den verstorbenen Denker Elias Canetti, der einst für sein Hauptwerk Masse und Macht den Nobelpreis bekommen hatte. Canetti befasste sich mit der „stockenden Masse“, wie er es nannte, wo der Einzelne die äußeren Verbote verinnerlicht und sich diese letztlich selbst auferlegt, um kein Außenseiter zu werden. „Die stockende Masse wartet“, zitiert Agamben, sie wartet einfach ab ohne aktiv zu werden:
HOFBERICHTERSTATTUNG STATT RECHERCHE 329 Die Bürger liberaler Demokratien haben es geschehen lassen, dass sie über Nacht ihrer Freiheitsrechte beraubt wurden. So paradox es klingt: Das neue Credo der sozialen Distanzierung führt zu einer neuen Massengesellschaft passiver Menschen […]. Jeder Notstand – diesmal ist es der gesundheitliche – ist immer auch ein Labor, in dem neue politische und soziale Lagen ausprobiert werden, die auf die Menschheit erst noch warten.76
In einem weiteren Essay attackierte Agamben die italienische Gesellschaft, wie sie mit den Sterbenden von Bergamo umgegangen sei: Wie konnten wir nur im Namen eines Risikos, das wir nicht näher zu bestimmen vermochten, hinnehmen, das die uns lieben Menschen […] in den meisten Fällen nicht nur einsam sterben mussten, sondern dass ihre Leichen verbrannt wurden, ohne bestattet zu werden […] Wir haben bedenkenlos hingenommen, wiederum nur im Namen eines nicht näher bestimmten Risikos, dass unsere Bewegungsfreiheit in einem Ausmaß eingeschränkt wurde, wie dies nicht einmal während der beiden Weltkriege galt […]. Die Kirche unter einem Papst, der sich Franziskus nennt, hat vergessen, dass Franziskus die Leprakranken umarmte.77
Agambens Analyse war zu viel für die Leitmedien. Ohne größere Textauszüge nachzudrucken oder je ein Interview mit dem Philosophen zu führen, setzte ein Schmähgewitter gegen den Corona-MaßnahmenKritiker ein. Neben den Texten nahm man Agamben übel, dass er seinen Namen als Mitherausgeber einer neuen Publikation hergab, dem Demokratischen Widerstand, veröffentlicht von einer Gruppe von Alternativen, die fortan Demonstrationen gegen die Corona-Politik organisierte.78 Die SZ behauptete, ohne auf konkrete Sätze einzugehen, Agamben habe „die sich ausbreitende Epidemie zu einer Erfindung“ erklärt. Dieser „Erkunder der Biopolitik“ habe philosophisches Denken „nachhaltig diskreditiert.“79 Neben solchen Kommentaren brachte die SZ zahlreiche Reportagen, bei denen die Protagonisten sich klar regierungskonform gaben und es gut fanden, dass in diesen Zeiten das „Sonnenbaden im Park“ und ein “Buch auf einer Bank lesen“ verboten waren und bei Beerdigungen nur „zehn Angehörige einen Menschen in den Tod begleiten“ durften. Der Papst wurde gelobt, dass er die Osterfeierlichkeiten auf dem Petersplatz ausfallen ließ. Das Leitmedium fand dies eine „bemerkenswerte Flexibilität“ der Kirche, obwohl: Kein Krieg, kein Erdbeben, keine Katastrophe, und es gab über die Jahrhunderte hinweg weiß Gott viele, hatte dieses wichtige, symbolisch so beladene und emotionale Fest bisher verhindern können. Aus dem stillen, leeren Rom wird es Osterbilder geben, die man so noch nicht gesehen hat.80
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Wieder waren es Bilder, diesmal von leeren Räumen, die die GefahrenWahrnehmung der Menschen beeinflusste. Die SZ kommentierte, es sei erfreulich, wie sich die Menschen verhielten: „Es überwiegen bisher, trotz drastischer Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, Disziplin und Geduld.“ 81 Josef Joffe, Mitherausgeber der Zeit, hatte für die Gedanken des „Untergangsphilosophen“ Agamben nur Geringschätzung übrig. Der schüre unbegründet „Angst vor dem demokratischen Staat, […] der werde die Macht nicht mehr loslassen, die er sich in der Pandemie ergriffen hätte.“ 82 Die taz warf dem Philosophen vor, sich über die „geretteten Leben“ dank der Kontaktbeschränkungen und Ausgangssperren (ein Wort, das die Zeitung bei der Berichterstattung stets vermied) keine Gedanken zu machen, sondern sich abstrakt auf das „nackte Leben“ zu fokussieren, und er dabei vergesse, dass „Corona […] eine Geschichte des Todes [ist].“ 83 Der Begriff „nacktes Leben“ wurde von der taz einfach in den Raum geworfen, kaum ein Leser konnte wissen, was damit gemeint war. Der Leser musste den Eindruck gewinnen, Agamben wollte nicht, dass Leben gerettet werde, sondern dass die Pandemie die Menschen schlicht töte. Was der italienische Philosoph dachte, konnte man nur aus der NZZ erfahren, wo René Scheu den Begriff wieder aufnahm. Der Philosoph kritisierte seinerseits die europäischen Regierungen, die die Gesellschaft „nun zugunsten des nackten Lebens, des Überlebens, zurückfahren“ und umgestalten wollten: Wir halten uns plötzlich an frühneuzeitliche Wissenschaftsmodelle, als würden die Menschenpunkte durch eine Art unsichtbares Naturgesetz gesteuert, das nur die Regierungen – dank den Modellierungen – zu erkennen vermögen. Damit wird Wirklichkeit nicht abgebildet, sondern erst geschaffen, aber diese Vorstellung wirkt beruhigend auf uns. Daraus ergeben sich die hohen Zustimmungswerte zu den getroffenen Maßnahmen in allen Ländern, und dies wiederum legitimiert das Handeln der Regierung.
Für Scheu waren zu diesem Zeitpunkt die Modellierungen, nach denen es möglicherweise noch viele Tote geben werde, Simulationen […] aber keine Prognosen, sondern hypothetische Konditionale […]. Die Vorhersage-Tools, die wir für menschliches Verhalten verwenden, sind inadäquat. An der Prognostizierbarkeit menschlichen Verhaltens ist schon der Marxismus gescheitert und jüngst auch die Verhaltensökonomie.
HOFBERICHTERSTATTUNG STATT RECHERCHE 331 Scheu ging dann auf die Berater um Kanzlerin Merkel ein: Unser Zusammenleben in Deutschland wird mittlerweile vom Team des Virologen Christian Drosten und vom Robert-Koch-Institut gestaltet […] So paradox es klingen mag: Der postmoderne Reflex ist nun in dieser Stunde, in der alle die Objektivität der Wissenschaft beschwören, tatsächlich zur Wirklichkeit geworden. Simulation und Wirklichkeit fallen zusammen, der vielgeschmähte französische Soziologe Jean Baudrillard hat dieses Phänomen in den 1990er Jahren wunderbar beschrieben.84
Der Autor dieser Zeilen war von den Beiträgen der NZZ begeistert und reichte sie seinen befreundeten Kollegen weiter, so auch an Mascolos Recherchenetzwerk: Denn ihm fiel auf, keiner seiner befreundeten oder bekannten Journalistenkollegen behandelte je einen Skandal, über den Welt, Bild oder NZZ berichtet hatten. Bild enthüllte unter anderem, dass auf dem ZDF-Traumschiff eine Party mit Promis stieg84, während Ausflüglern das Reisen in Ferienorte verboten wurde85; dass ein Gerichtsmediziner feststellte, jeder Corona-Tote, den er obduziert habe, sei vorerkrankt gewesen, und bei gesunden Menschen vermute er einen milden Verlauf.86 Beigelegt war der Beitrag „Die größten Schock-Bilder und Alarm-Zahlen auf dem Prüfstand“, in dem das Boulevardblatt etwa hinterfragte, ob die bis zu diesem Zeitpunkt 46 gemeldeten Über100jährigen, nun am Virus direkt verstorben seien oder „im Zusammenhang mit Corona, […] denn meist haben Menschen in diesem Alter eine Reihe schwerer Vorerkrankungen wie Herzschwäche, Krebs, Diabetes,“ worauf Mediziner hingewiesen hätten. Sie forderten Klarheit durch Obduktionen, was nicht geschehe.87 Brisant war auch die Analyse der Bilder von Massengräbern auf der Insel Hort Island vor New York, wo unklar sei, so die Bild-Redakteure, wann diese aufgenommen wurden, denn: Seit über 150 Jahren werden hier die unbekannten Toten der Metropole begraben. […] Fakt ist: Die Massengräber existierten auch schon vor der Pandemie, […] [nun] sorgten diese Bilder für Panik.88
Auf diese detailierte Beschreibung sprang keines der großen Leitmedien an, ebenso wenig auf ein Dokument, das ein Whistleblower aus dem Bundesinnenministerium den Leitmedien zuspielte, das vor „gesundheitlichen Kollateralschäden“ warnte, denn die Wahrscheinlichkeit steige, dass Patienten „aufgrund der verschobenen OPs versterben werden.“ Die Fixierung auf Corona-Erkrankungen habe zur Folge,
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dass zu viele Krankenhausbetten freigehalten würden. So seien allein im März und April 2020 „an deutschen Kliniken 90% aller notwendigen OPs verschoben“ wurden.“89 Der Autor dieser Zeilen schickte Artikel wie diesen weiter und hoffte auf Zusatzinformationen. Stattdessen bekam er Emails mit fast gleich lautenden Antworten, in denen man ihm erklärte, die Bild habe nicht seriös recherchiert und außerdem habe man das Boulevardblatt noch nie ernst genommen, eine Aussage, die sich nicht halten ließ. Die politische Seite 2 der Bild gilt seit mindestens zwei Jahrzehnten unter Journalisten als Pflichtlektüre. Immer wieder gibt es dort Enthüllungen, Interviews und Recherchen, die dann die anderen Leitmedien aufgreifen. Über die NZZ wurde behauptet, sie habe ihre Seriosität seit der Aktienbeteiligung des Milliardärs und „rechtspopulistischen Volkstribuns“ Christoph Blocher eingebüßt.90 Diese Darstellung war eine Ausrede, denn zu anderen Themen abseits von Corona nahm man die NZZ ernst, zitierte sie gerne oder übernahm ihre Themen. Der Kontakt zu befreundeten Journalisten löste sich für den Autor mehr und mehr auf, je länger die Corona-Zeit andauerte. Renommierte investigative Journalisten verstummten einfach, man durfte rätseln, warum. Einst hatten sie sich als Mitglieder beim Rechercheprojekt des International Consortium of Investigatve Journalists (ICIJ) einen Namen gemacht, zum einen durch die Auswertung der Datensätze des Whistleblowers Edward Snowden über die weltweiten Spionagetätigkeiten der USA (2013), dann beim Aufdecken der Abgasmanipulation der Volkswagen AG (2015), auch bei der Einschätzung der sogenannten Panama-Papers (2016), wo tausende Milliardäre und 120 Staats- und Regierungschefs aus 47 Ländern zusammen mit Konzernen wie Apple und Google in Offshore-Steueroasen zum Zweck der Steuerhinterziehung ein Netz von Scheinfirmen gründeten.90a Doch nun brachte das Recherchenetzwerk über die gesamten drei Jahre keine einzige Enthüllung zum Thema Corona, als wäre es völlig selbstverständlich, dass hinter den Kulissen alles mit rechten Dingen zuginge. Ohne Bild, Welt und NZZ hätte man kaum oder erst spät erfahren: Bis zu 29 % der Corona-Toten starben nicht an Corona. Viele Verstorbene, die in den offiziellen Statistiken als Corona-Tote gezählt wurden, sind nicht an Corona gestorben […] aber als Corona-Tote vermeldet [worden].91
HOFBERICHTERSTATTUNG STATT RECHERCHE 333 In einer anderen Recherche thematisierte Bild, dass „fast alle Long-Covid-Patienten bereits vorher krank“ gewesen seien. 92 Bild und Welt recherchierten, dass manche Menschen „nach einer Impfung zum Pflegefall wurden.“93 Zu verdanken ist den Blättern auch die Enthüllung, dass die Merkel-Regierung unliebsame Corona-Beiträge auf Internetforen entfernt haben wollte: Die Regierung berief im ersten Corona-Sommer ein geheimes Treffen mit den größten sozialen Netzwerken Meta (u. a. Facebook, Instagram) und Google (u.a. Youtube) ein, um die Bekämpfung von Informationen zu besprechen, die sie als ‚falsch‘ ansah.94
Wichtig ist in diesem Zusammenhang: Einzelne Konzerne wie Google haben bei der Wissensvermittlung eine nahezu monopolistische ‚Türwächterfunktion‘ (der globale Marktanteil von Google wird auf ca. 84% aller Suchanfragen geschätzt). Genau dieses macht sich z.B. in Krisensituationen wie ‚Covid-19‘ […] besonders bemerkbar, indem abweichende Meinungen außerhalb des Korridors des ‚Denk- und Sagbaren‘ unterdrückt oder zensiert werden.95
Über das genaue Ausmaß der unter anderem von YouTube entfernten Beiträge und von Google nicht angezeigten Treffer gibt es bislang keine verlässlichen Informationen. Doch es blieb nicht bei einer einzigen Absprache: So traf sich das Gesundheitsministerium mehrfach mit Vertretern von TechKonzernen, um etwa die Verbreitung von Regierungsinformationen zu besprechen […]. Dies bestätigte ein Regierungssprecher. 96
Auf Regierungsebene gab es weitere informelle Treffen, „wo hinter den Kulissen der Kampf um die Deutungshoheit in der Pandemie erbittert geführt wurde.“ 97 Stets tonangebend bei den geheimen Treffen soll nach der Welt am Sonntag der Chefvirologe der Berliner Charité, Christian Drosten, gewesen sein. Danach habe Drosten damit gedroht, manch ein Virologe müsse „mundtot“ gemacht werden, falls sich seine Äußerungen „mit dem Gedankengut von ‚Querdenkern‘ überschneiden.“ Der Sonntagszeitung lagen zu diesen Auseinandersetzungen interne E-Mails vor. Die Wochenschrift kommentierte: Im Gedächtnis bleiben wird etwa jenes Interview mit Drosten im Januar 2021 im ‚Spiegel‘. ‚Einen größeren Schaden als Corona-Leugner haben wohl
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Eine Abstimmung der „Deutungshoheit“ und welche „wissenschaftlich begründeten Maßnahmen“ als seriös zu bewerten seien, sind mit großer Wahrscheinlichkeit in „vertraulichen Runden“ besprochen worden unter Einbeziehung ausgewählter Medienvertreter. Der Autor war während seiner Journalistenjahre mehrfach in „vertrauliche Runden“ eingespannt, wobei vereinbart wurde, welche Details veröffentlicht werden konnten und was als vertraulich galt. Während der Corona-Jahre erschien es ihm verdächtig, mit welcher Inbrunst der Überzeugung und sprachlichen Strenge manch ein Journalist seine Artikel schrieb. Als „Vermittler neuer Ideen“ waren sie sich ihrer Wahrheit ganz sicher und fühlten sich im Einklang mit der Politik. Aus diesen Kreisen kam öfters die Aussage, „die Pseudodebatten der ‚Bild‘Zeitung… zeigen exemplarisch, inwiefern eine Boulevardzeitung das Wesen der Forschung verkennen kann.“99 Und die Hauptgefahr der Desinformation lag für diese Journalisten in den amateurhaften VideoDiskussionen der zahlreichen alternativen Internetseiten: Klar ist, dass allein der Konsum von Videos mit Verschwörungstheorien die psychologische Unsicherheit der Bürgerinnen und Bürger verstärken kann. Wer sich bei der Meinungsbildung auf weniger glaubwürdige Informationskanäle verlässt, verbreitet auch ein Halbwissen, zum Beispiel um sein Selbstbild und seine Reputation vor anderen zu stabilisieren. Wer zum Beispiel zu Beginn dachte, diese Pandemie sei nicht schlimmer als eine Influenzawelle, der musste sich selbst irgendwann eingestehen, dass sich die Wirklichkeit anders entwickelte. Derartige kognitive Dissonanzen lösen bestimmte Menschen aber dadurch auf, dass sie in ihrem Informationssuchverhalten weniger seriöse Quellen konsultieren, um ihre vorgefestigten Meinungen zu bestätigen […]. Auch in dieser Pandemie zeigten die neuen sozialen Medien ihre Janusköpfigkeit […]. Das geschieht vor allem in Communities, in denen persönliche oder kollektive Einstellungen Orientierungswissen aus der Wissenschaft punktuell ablehnen oder verlässliches Wissen strategisch mit polarisierten politischen Positionen verknüpft wird.100
Keiner der Autoren übte im Frühjahr 2023, als manche Fakten nicht mehr zu übersehen waren, Selbstkritik, an welchen Punkten er sich auf der Sachebene „geirrt“ hatte. Dafür fehlte es nicht an Erklärungen, „dass Menschen, selbst wenn sie subjektiv nach Wahrheit streben, mitunter abwehrend auf neue Informationen reagieren, sofern diese ihre ‚gefühlte Wahrheit‘ gefährden, die ‚individuelle Rationalität ist stets
HOFBERICHTERSTATTUNG STATT RECHERCHE 335 begrenzt‘.“101 Das betraf selbstverständlich nicht sie selbst als Absolventen von Journalistenschulen. Man beließ es mit Allgemeinplätzen, für kommende Pandemien sollte man „besser gewappnet sein“ und „mehr Informationen, schnellere Überblicke, klarere Kommunikation“ bereitstellen.102 Welche Folgen es haben kann, wenn man aus dem vorgegebenen Narrativ ausschert, hat der Autor mehrmals in seiner JournalistenLaufbahn erfahren. Ein harmloses, weit zurückliegendes Beispiel: Am 3.8.1987 veröffentlichte die taz einen „unerlaubten“ Text unter dem Titel „Rumäniendeutscher von Polizei totgeprügelt.“103 Zu jener Zeit lebten noch etwa 380.000 deutschstämmige Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen im Reich des roten Diktators Nicolae Ceauşescu. Zwischen Bonn und Bukarest bestand damals ein Ausreiseabkommen, bei dem gegen Kopfgeldzahlung die Angehörigen der Minderheit gen Westen auswandern konnten. Das sollte reibungslos geschehen. Als sich im März des Jahres eine 55jährige vor der bundesdeutschen Botschaft in Bukarest mit Benzin übergoss und danach an ihren Brandverletzungen verstarb, waren beide Seiten alarmiert. Die Chefredakteure der Leitmedien in Deutschland wurden vom Außenministerium angewiesen, falls ihnen über das Ereignis und weitere Proteste etwas bekannt werden sollte, kein Wort darüber zu veröffentlichen, um die Ausreisen nicht zu gefährden. Vergessen hatte man dabei die damals als „linksextremistisch“ eingestufte taz, bei der man davon ausging, dass das „kommunistenfreundliche Organ“ ein derartiges Thema nie aufgreifen würde. Der Autor hatte mit seinem Artikel die „Spielregeln“ verletzt und wurde auf die bundesdeutsche Botschaft in Budapest zitiert. Dort wurde ihm klargelegt, bei künftigen „Verstößen“ habe er mit „Konsequenzen“ zu rechnen. Dieses ungeschriebene Gesetz der Verschwiegenheit ist in seltenen Fällen angebracht, wie 1996 bei der Entführung des Hamburger Multimillionärs Jan Philipp Reemtsma. In den Redaktionsbüros hatte man davon schnell Wind bekommen und hielt sich an die Vorgabe, kein Wort darüber zu schreiben, um die Fahndung nicht zu erschweren.104 Die Wahrscheinlichkeit, dass sich Chefredakteure und Spitzenjournalisten in den Corona-Jahren regelmäßig mit Regierungsmitgliedern in vertraulichen Hintergrundkreisen trafen, nicht nur online über Zoom, ist groß, wenn auch unbewiesen. Schon während der Flüchtlingskrise 2015 soll es das sogenannte „Linsensuppen-Format“ gege-
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ben haben, zu dem Kanzlerin Merkel ausgewählte Medienvertreter einlud.105 Diese „Linsensuppen-Treffen“ kann der Autor nicht bestätigen, er selbst kennt allerdings einige eilig einberufene Begegnungen zwischen Journalisten und Politikern, die man schlicht „SMS-Treffen“ nannte, da sie über den Kurznachrichtendienst angekündigt wurden. Es wäre naiv anzunehmen, dass bei der „größten Herausforderung“ seit dem Zweiten Weltkrieg, wie Merkel es nannte, keine Hintergrundkreise gebildet wurden. Verlässliche Informationen dazu wurden von keiner Seite „durchgestochen“, wie man es im Journalisten-Jargon nennt. Einen Hinweis auf mögliche Absprachen gab der ehemalige Bild-Chefredakteur Julian Reichelt in einer Talkshow, in der er zu Vorwürfen des Tagesspiegel befragt wurde, dass die Eigentümerin von Bild, Friede Springer, die kritische Berichterstattung seiner Redaktion kritisiert habe und ihm ab dieser Zeit bei Begegnungen den Handschlag verweigerte. Dazu Reichelt: Handschlag stimmt nicht, diese Kommunikation fand immer am Telefon statt. Der Streit ging um die Corona-Berichterstattung insgesamt, wo Friede Springer die Vorstellung hatte und es mir gegenüber auch sehr deutlich gemacht hat, dass ‚Bild‘ ab sofort unterstützend für die Regierung und die Kanzlerin berichten sollte. Das war nicht meine Auffassung von Journalismus.106
Das Recherchenetzwerk hüllte sich jedenfalls in Schweigen. Man konnte den Eindruck bekommen, es habe sich aufgelöst, da es sich zu keiner Enthüllung äußerte, keinen Skandal durch weitere Recherchen vertiefte, noch das Veröffentlichte in Bild, Welt oder NZZ als unseriös bewertete oder als Falschmeldung entlarvte. Die Journalisten meldeten sich erst Ende 2022 bei Projekten des ICIJ wieder zu Wort, etwa zur weltweiten Holz-Mafia: „Für Kriminelle sind Geschäfte mit dem Wald so lukrativ wie Drogen- oder Waffenhandel.“107 Und sie äußerten sich auch zu Russlands Cyberkrieg mit den sogenannten „Vulkan Files.“108 Eine weitere Recherchegruppe, das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND), das mehr als 60 regionale Tageszeitungen bedient, genügte sich über drei Jahre ebenfalls bei der Übernahme regierungsnaher Verlautbarungen. Diese langanhaltende Kritiklosigkeit ist in der Geschichte des modernen Journalismus ein einzigartiges Phänomen, das es vor Corona in dieser Ausschließlichkeit aus Sicht des Autors nicht gab.
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III. Keine Streitkultur beim Thema Corona Ein ungeschriebenes Journalisten-Gesetz besagt, bei gesellschaftlich relevanten Themen werden Pro- und Contra-Debatten geführt, wie obskur die Ansichten auch immer sein mögen. Als Beispiel seien einige Debatten der SZ angeführt: Da diskutierten 2022 zwei Apotheker über die Möglichkeit, dass Cannabis legalisiert werden könnte, der eine war dafür, der andere dagegen.109 Bei einer anderen Debatte schrieb einer der Pro- und Contra-Beteiligten zur Berichterstattung von ARD und ZDF über die Fußball-WM in Katar: „Grundlegende journalistische Tugenden wie vorurteilsfreies Hinschauen und kultureller Brückenbau, immerhin der Auftrag der öffentlich-rechtlichen Anstalten, haben mir weitestgehend gefehlt.“ Er meinte damit, die Einseitigkeit, wie über die Unterdrückung von Homosexuellen in dem muslimischen Wüstenstaat berichtet wurde, ohne die geschichtlichen Traditionen mitzuberücksichtigen.110 Als Elon Musk nach dem Kauf des Kurznachrichtendienstes Twitter die Konten von acht US-Journalisten sperren ließ, fragten sich manche, ob man Twitter nun boykottieren sollte. In der SZ konnte man pro und contra dazu lesen: „Geht einfach“, so die eine Meinung, „bleibt bitte“, die andere.“111 Während der drei Corona-Jahre gab es in der SZ keine einzige vergleichbare Debatte über die einschneidenden Verordnungen zur Bekämpfung des Virus. Als ab dem 13. März 2020 ein Bundesland nach dem anderen die Schließung der Schulen anordnete, schwiegen sich SZ, Zeit und Spiegel ohne jegliche Kontroverse aus. Ein ungeschriebenes Journalistengesetz wurde gebrochen. Es wird „Chronistenpflicht“ genannt, was besagt, bei internationalen Krisen muss regelmäßig darüber berichtet werden, wie in anderen Staaten mit dem Problem umgegangen wird, welche Versuche zu einer Lösung woanders unternommen werden. SZ, Zeit und Spiegel, die ansonsten Meinungsstreits hochheben und den Blick gerne in die Ferne schweifen lassen, schwiegen sich zu jeglicher Kontroverse aus. Sie berichteten nur oberflächlich darüber, wie etwa in den skandinavischen Ländern über Schulschließungen, Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr, Kontaktbeschränkungen und Impfungen debattiert wurde. Die Debatte im Deutschen Bundestag zur Impfpflicht im April 2022 wurde kontroverser geführt als in den Leitmedien. Es kam im Hohen Haus zu einer hitzigen Diskussion, da die AfD einen Antrag gegen eine gesetzliche Impfpflicht einbrachte, ebenso wie eine Gruppe von Abgeordneten um den Bundestagvizepräsidenten Wolfgang Kubicki. Beide
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Anträge waren für die meisten Abgeordneten von SPD, CDU und Grünen inakzeptabel. Die Argumentation, die Unversehrtheit des Körpers (Art. 2, Abs. 2 GG) sei kein Positivrecht des Staates, ließen sie nicht gelten. Dass beim damaligen Corona-Ausbruch das Abwehrrecht des Einzelnen gegenüber dem Staat zur Geltung kommen und jede Impfung auf Freiwilligkeit beruhen müsse, wollten sie nicht akzeptieren. So wurden beide Anträge mit überwältigender Mehrheit abgelehnt.112 Schließlich gelang es Friedrich Merz mit einem Antrag der oppositionellen CDU – wohl eher aus einer strategischen Motivation heraus – das von der Regierung befürwortete Vorhaben einer Impfpflicht doch noch zu stoppen. Diese Konstellation war den Leitmedien bewusst, weshalb sie im Vorfeld auch keine weitgefächerte Diskussion zur Impfpflicht eröffneten und „das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit mit der Gefahr einer Verletzung der Menschenwürde und der Selbstbestimmung“113 nicht debattieren. Das mediale Schweigen während der Sitzungswoche des Bundestages war ein Bruch mit der klassischen journalistischen Tradition, bei einschneidenden Entscheidungen des Parlaments so umfassend wie möglich aktuell und mit Hintergrundvertiefungen zu berichten: Debatten anzuschieben, bei denen alle gesellschaftlichen Schichten und Geisteshaltungen zu Wort kommen.114 Selbst medizinische Fragen zu den in aller Eile zugelassenen mRNAImpfstoffen wurden in den Leitmedien, abseits von Bild, Welt und NZZ nicht vielschichtig und kontrovers thematisiert. Paul Cullen, Professor für Labormedizin in Münster, warnte früh: Das mRNA-Impfprinzip, an dem seit über 20 Jahren gearbeitet wird, klingt vielversprechend, ist aber mit erheblichen Risiken behaftet. Deshalb wurden mRNA-Impfstoffe bisher nur in der Tiermedizin (Lachs und Schwein) und nicht beim Menschen zugelassen. Das Hauptrisiko besteht in der möglichen Auslösung schwerer Autoimmunreaktionen. Die Immunabwehr richtet sich nur nicht nur gegen den Erreger, sondern auch gegen Bestandteile des eigenen Körpers.115
Der Molekularbiologe schrieb diese Sätze in der Wochenzeitung Tagespost, nach einer Google-Suchanfrage und einem Wikipedia-Eintrag, eine „nach Einschätzung von Journalisten ‚rechtskatholische‘ Zeitung.“116 Der Asta der Universtät Münster befand wenige Monate später, was Cullen zu Corona sage, „bewege sich zwischen streitbar und schlicht falsch.“ Außerdem setze er sich dafür ein, „Schwangerschaftsabbrüche so schwer wie möglich zu machen und sie zu kriminalisie-
HOFBERICHTERSTATTUNG STATT RECHERCHE 339 ren.“ Unter anderem wegen „diesem explizit antifeministischen Engagement“ sollte eine Überprüfung stattfinden, ob der Professor für die Lehre weiter tragbar sei. 117 Die Gefahren von Autoimmunreaktionen bei den neuartigen Impfstoffen musste man mit Cullen nicht teilen, doch dieses Thema überhaupt nicht zu thematisieren, weshalb das mRNA-Prinzip bislang keine Zulassung gefunden hatte, warf ein bedenkliches Licht auf die breite Berichterstattung. Auch bei dieser Problematik konnte man den Eindruck gewinnen, die Leitmedien blieben strikt auf einer „regierungsamtlichen“ Informationslinie. Todenhöfer sah sich erneut bestätigt, was er bei früheren Weltereignissen bereits kritisiert hatte: Viele Leitmedien sitzen nicht als objektive Beobachter auf der Haupttribüne der Weltpolitik. Sondern in der Fankurve der Mächtigen. Sie betreiben Fankurven-Journalismus. Sie pfeifen nur bei Fouls des ‚Gegners‘. Fouls der eigenen Mannschaft ignorieren sie oder relativieren sie.118
Die Einschätzung Todenhöfers wurde von unzähligen Alternativmedien während der Corona-Jahre geteilt. Sie hatten die Löschung ihrer Beiträge auf den populären Internetplattformen hinnehmen müssen, da sie angebliche Fake-News verbreitet oder über nicht-rechtmäßig angemeldete Demonstrationen aus dem Querdenker-Milieu berichtet hatten. Als im Herbst 2022 der Querdenker-Begründer Michael Ballweg verhaftet wurde, war dies für die SZ ein großes Thema. Mit Häme schrieb die Tageszeitung darüber, dass dessen Sympathisanten behaupteten, mit dieser „Freiheitsberaubung seitens des Staates“, wolle man einen prominenten Kritiker für immer mundtot machen. Für den Journalisten war es unverständlich, wie man einen Betrüger, der etwa 640.000 Euro bei Spendensammlungen für Straßenproteste und andere Aktivitäten unterschlagen habe, noch die Treue halten und für dessen Freilassung vor der Justizvollzugsanstalt demonstrieren konnte. Es wurde nicht in Betracht gezogen, dass die Spender mit der Verwaltung der Gelder einverstanden waren.119 Ballweg kam erst nach neun Monaten Untersuchungshaft unter Auflagen im April 2023 wieder auf freien Fuß. Die Anklage blieb allerdings aufrechterhalten. Für manche Aktivisten aus der Querdenker-Szene ein Beweis, dass die Corona-Einschränkungen nach einem „Drehbuch“ abliefen, das in Fortsetzungen weitergeschrieben werden würde:
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ROLAND HOFWILER Es handelte sich, so gesehen, tatsächlich um eine Art Maschine, die, einmal gestartet, ihrer programmierten Eigendynamik folgte. So weit die harmlose Erklärung. Dennoch bleiben auch andere denkbar. Sollte die Pandemie mutwillig ausgelöst worden sein, das Virus also eine Biowaffe, dann würde sich die Situation wesentlich komplexer darstellen.120
Solche und ähnliche Vermutungen eines „mutwilligen“ Corona-Ausbruchs waren für die Leitmedien ein Indiz dafür, dass diese vermeintlichen „Biowaffen-Verschwörer“ mit „Rechtsextremisten“ und „Demokratiefeinden“ gemeinsame Sache machten. An Reportagen fehlte es nicht in den Zeitungen und die öffentlich-rechtlichen Anstalten sendeten ausführliche Dokumentationen, in denen kein differenziertes Bild über das breite Spektrum der Kritik zu vernehmen war.121 Für den Autor wirkte manch einer der pauschalisierenden Beiträge wie eine Verschwörungsthese, diesmal von den Leitmedien verbreitet. Albrecht Müller und Wolfgang Kubicki versuchten bereits im November 2020 in einem Streitgespräch dieses Phänomen der fehlenden Debatten und die kritiklose Übernahme des Regierungsnarrativs in den deutschen Leitmedien einzuordnen. Kubicki gehörte während der Corona-Jahre zu den wenigen Spitzenpolitikern, die den Kontakt zu alternativen Medien nicht scheuten und sich dafür in den Leitmedien immer wieder rechtfertigen mussten. Ausnahmen waren nur die Springer-Medien; in Welt-TV und Bild-TV war er ein gern gesehener Gast. Auf Müllers alternativ-politischem Internet-Blog sagte Kubicki: Wir haben die gleiche Analyse, aber unterschiedliche Gründe dafür. Ich habe bei Ihnen gelesen, dass sie glauben, dass die Medien aufgrund der Machtkonzentration und des Einflusses des Kapitals nur noch regierungsamtliche Politik verkünden […]. Ich glaube, dass es eine Art Innendruck, einen Mainstream gibt, dass Journalisten in der Hauptstadt Berlin nur noch für sich selbst schreiben und für andere Journalisten, um sich bestätigt zu fühlen, und es in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten mittlerweile auch so eine Art Mainstream gibt, das andere Auffassungen und Meinungen nicht zulässt [sic!], dass also nicht das Kapital, sondern die Haltung, die jetzt wertvoll geworden ist, für viele Journalisten dazu führt, dass Meinungen ausgegrenzt werden, die einfach zu der Haltung nicht passen […]. Mein Problem ist, dass sich das Meinungsspektrum nicht mehr komplett abbildet […]. Die Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gipfelt darin, dass er das Meinungsspektrum voll abbilden muss, das steht in allen Staatsverträgen.122
HOFBERICHTERSTATTUNG STATT RECHERCHE 341 Einflussreiche Journalisten und Politiker wiesen den Begriff der „Ausgrenzung“ weit von sich. Sie gaben vor, dass alle seriösen Meinungen in den Leitmedien zu Wort kämen und dort die besten Lösungen zur Pandemie-Bekämpfung debattiert würden. In einem langen Gespräch mit dem Talkmaster Markus Lanz war sich CDU-Spitzenpolitiker Wolfgang Schäuble, dessen Tochter als Programmdirektorin der ARD auf die Berichterstattung des Fernsehens großen Einfluss hat, völlig sicher, dass „die Seriosität der klassischen Medien, Rundfunk, Fernsehen, Printmedien […] durch die sozialen Netzwerke verdrängt“ werde, denen es nur um Skandal und Aufmerksamkeit ginge. Dagegen würden die „klassischen Medien“ wahrheitsgemäß berichten: Es sind diese Internetplattformen, dass [sic] Wahrheit nicht mehr entscheidend ist. Früher hätte man sich geschämt, wenn man ertappt worden wäre, dass man eine Lüge verbreitet. Heute sind Fake News etwas Selbstverständliches.
Die Möglichkeit, dass auch Leitmedien Fake News verbreiten könnten, gäbe es nicht, behauptete Schäuble, in den klassischen Medien arbeiteten gut ausgebildete Journalisten und würden Fakten auf mehreren Ebenen überprüft.123 In einer Bundestagdebatte zur Pressefreiheit im Mai 2021 vertraten Abgeordnete von SPD, CDU und Grünen ähnliche Auffassungen. So sagte Elvan Korkmaz-Emre: Es gehört zu den natürlichen Effekten der sogenannten sozialen Netzwerke, dass die angemessene Organisation von Information, früher nannten wir das einmal den gesellschaftlichen Diskurs, dass das systematisch in Frage gestellt wird und diese Unternehmen keinerlei Interesse daran haben, die Freiheit des Wortes im Sinne der Demokratie zu fördern, wir dürfen nicht vergessen, dass vermeintlich jeder alles sagen darf, macht noch keine Freiheit und erst recht keine Demokratie. Und gerade bei Facebook, Twitter und Co belebt Polarisierung und Spaltung gerade das Geschäftsmodell und diese Logik ist mit der Demokratie nicht vereinbar […]. Wir müssen die Gelegenheit nutzen und [sic] den öffentlichen Raum und insbesondere die digitale Öffentlichkeit wieder aktiv zu gestalten, denn gerade in der schönen, neuen Welt werden die klassischen Medien eine zentrale Funktion übernehmen müssen.124
Mit der Selbstsicherheit, keine Fake News zu verbreiten, konnten die Leitmedien ein weiteres ungeschriebenes Journalisten-Gesetz missachten. Man nennt es unter Journalisten die „Pflicht des Nachlegens“, dann weiter zu recherchieren, wenn ein Skandal durch eine seriöse Recherche oder durch einen Whistleblower ans Licht kommt. Die investi-
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gative Enthüllung wird nicht einfach der Konkurrenz überlassen, sondern man versucht weitere, brisante Einzelheiten herauszufinden. Zum einen um selbst seine „Wächterrolle“ zu erfüllen, zum anderen aus Solidarität mit den Kollegen, die die Enthüllung auf den Weg brachten. So sind in der Vergangenheit zahlreiche Affären vertieft worden. Es gehörte zum Selbstverständnis, „die Heuchelei der Mächtigen zu demaskieren.“125 Über die kritischen Fragen und Widersprüchlichkeiten, die Bild, Welt und NZZ zwischen 2020 und 2022 aufdeckten, konnten Interessierte fast nur auf alternativen Internet-Foren weiterführende Informationen und Diskussionen finden. Die anderen Leitmedien behandelten keine der von den drei kritischen Medien aufgegriffenen Widersprüchlichkeiten. Sie klammerten jegliche eigene Recherche auf der Sachebene aus. Auf der Meinungsebene initiieren sie dagegen manchen Shitstorm. Erinnert sei an die abwertende Reaktion auf die Satire-Clips von #allesdichtmachen vom April 2021, die von grüner taz bis finanznaher FAZ und allen öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten geteilt wurde, als bekannte Fernsehstars mit ironischen Videos gegen die Corona-Maßregelungen der Regierung protestierten. Schnell kam die Forderung nach Ächtung und Berufsverboten auf. So sollten die an der Aktion beteiligten Tatort-Stars Jan Josef Liefers und Ulrich Tukur künftig aus dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen verbannt werden.126 Als der Fußballstar Joshua Kimmich im November 2021 bekannte, er wolle sich vorerst nicht impfen lassen, er sei gesund und jung, schlug dies in den Leitmedien hohe Wellen. Zu jenem Zeitpunkt war schon bekannt, dass die neuartigen mRNA-Impfstoffe nicht hielten, was im Zusammenhang mit ihnen versprochen wurde. Man konnte trotz Ansteckung das Virus weiterreichen und ob sie vor schweren Verläufen wirklich schützten, wurde von manchen Studien bezweifelt. Kimmich wurde übel genommen, dass er öffentlich erklärte: „Ich habe für mich persönliche Bedenken, was die Langzeitfolgen angeht. Aber ich nehme meine Verantwortung wahr, lasse mich regelmäßig testen.“127 Politikern und Sportler konterten: „Ein ungeimpfter Spieler ist eine ständige Bedrohung“128 und eine „Gefahr für die öffentliche Gesundheit.“129 Kimmich hatte es gewagt, das Wort „Langzeitfolgen“ in den Mund zu nehmen, ein Unwort zu jener Zeit. Damals beteuerte Gesundheitsminister Karl Lauterbach mehrfach in Interviews: „Auf der anderen Seite müssen wir auch vermitteln, was ja auch so ist: Die Impfungen sind halt mehr oder weniger nebenwir-
HOFBERICHTERSTATTUNG STATT RECHERCHE 343 kungsfrei. Das muss immer wieder gesagt werden.“130 Der Regierende Bürgermeister von Berlin Michael Müller beteuerte, Impfen mit den mRNA-Stoffen sei „der beste und sicherste Weg“ zu Normalität und Freiheit.“131 In den Leitmedien wurde nicht nachgefragt, worauf sie ihre Erkenntnisse stützten, es wurden die Impf-Debatten in anderen Ländern ignoriert.
IV. Journalisten üben kaum Selbstkritik Doch dann kam im März 2023 in gewissen Fragen eine Kehrtwende aus dem Gesundheitsministerium. Minister Lauterbach gestand, es könnten auch „schwere Impfschäden“ auftreten: „Diese Schicksale sind absolut bestürzend, und jedes einzelne Schicksal ist eins zu viel.132 Genaueres sagte Lauterbach nicht, Zahlen nannte er keine. Auch räumte er Fehler ein, wobei er zu seiner eigenen Verantwortung schwieg und diese auf die Bundesländer abwälzte: Vieles, von dem, was wir gemacht haben, ist richtig gewesen […]. Was Schwachsinn gewesen ist, wenn ich so frei sprechen darf, sind diese Regeln draußen […], das sind Exzesse gewesen [...], da haben die Länder massiv überreizt […]. Die langen Schulschließungen waren ein Fehler.133
Über sein eigenes Trommeln für flächendeckende Schulschließungen, denn „Schulen sind Cluster, treiben Pandemie, Studienlage klar“,134 verlor der Minister kein Wort. Erst als von Lauterbach solche Worte geäußert wurden, begannen manche Leitmedien, ähnliche Fragen zu stellen, allerdings vorsichtiger, innerhalb des vom Gesundheitsminister gesteckten Kritikrahmens. Wie hoch der Prozentsatz der Impfnebenwirkungen war, ob man überhaupt hätte Schulen schließen müssen, wie effektiv die Maskenpflicht war, ob die Zulassung der mRNA-Impfstoffe sorgfältig geprüft wurde, all das waren noch immer keine Themen in den Leitmedien, abseits von Welt, Bild und NZZ. Zum späten Gesinnungswandel von Lauterbach kommentierte die Welt im März 2023, man solle sich ins Gedächtnis rufen: Nur war Lauterbach nie allein. Er hatte zahlreiche laute Unterstützer in Medien, Kultur, Wissenschaft und Politik, die sich an der Kampagne gegen Kimmich und die Ungeimpften beteiligten […]. Die Virologin Melanie Brinkmann sagte über Kimmich: ‚Das Sicherheitsprofil der Impfung ist fantastisch!‘ und fügte hämisch hinzu: ‚Ich bin auch gerne dabei, wenn er sich
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ROLAND HOFWILER impfen lässt, wenn er eine Hand braucht, während er geimpft wird.‘ Der Soziologe Harald Welzer sagte, dass es ‚Langzeitnebenwirkungen bei der Impfung schlicht nicht gibt‘ und schloss messerscharf: ‚Nur weil jemand einen Ball treten kann, muss sich nicht die halbe Welt um seine persönlichen Irrtümer bemühen‘ […]. Alena Buyx, die Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, sprach ebenfalls im Fall Kimmich von ‚Sorgen vor Langzeitfolgen, die es nicht gibt‘ […] gegen die ‚Gefahr‘ der Ungeimpften müsse man Maßnahmen ‚schrittweise hocheskalieren‘.135
Soziologen wie Welzer mussten nicht erklären, woher sie ihr medizinisches Wissen hatten. Zahlreiche Künstler und Schriftsteller, die im Namen der Regierung für die „nebenwirkungsfreie Impfung“136 warben und alle Einschränkungen als „alternativlos“ darstellten, hatten sich ebenso wenig nach dem offiziellen Ende der Pandemie im Frühjahr 2023 zu rechtfertigen. Keiner der Programmdirektoren und Chefredakteure gestand Fehler bei der Berichterstattung ein. Es gab nur wenige Ausnahmen der Selbstkritik. In einem Sieben-Minuten-Beitrag auf 3sat im April 2023 wurden die verbalen Entgleisungen von Prominenten zitiert, allerdings ohne deren Namen zu nennen: ‚Es wird höchste Zeit, dass die Impfpflicht kommt, es ist asozial, sich nicht impfen zu lassen‘. ‚Was es jetzt braucht, ist nicht mehr Offenheit, sondern ein scharfer Keil, einer der die Gesellschaft spaltet‘. ‚Kein Impfgegner wird wie ein Staatsfeind behandelt, er darf nur hoffentlich bald nicht mehr unter die Leute gehen, weil er ein gefährlicher Sozialschädling ist‘.137
Aus welchen Gründen auch immer wurden im Fernsehbeitrag zwei Journalisten bloßgestellt, zum einen Zeit-Autor Christian Vooren, der damals vorschlug, „die Gesellschaft muss sich spalten“, in Vernünftige und Unvernünftige, in Solidarische und Unsolidarische. Zum anderen Spiegel-online-Kolumnist Nikolaus Blome, einst stellvertretender Chefredakteur bei Bild, der gefordert hatte: „Impfpflicht! Was denn sonst.“ Gegen Impfmuffel empfahl er: „Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen.“ Wie beide Autoren und andere Prominente heute denken, ließ der Beitrag offen. Als einziger Wissenschaftsjournalist gab Ranga Yogeshwar, einst ARD, nun zu: Also nicht auf eine Parkbank gehen zu dürfen, ist absurd und vielleicht hätte ich einfach an der Stelle mehr die Fahne heben müssen und sagen müssen: ‚Moment mal, ja, also wir reden hier von Wissenschaft und der tatsächlichen Möglichkeit einer Infektion, ja, wir sind da plötzlich etwas über das Ziel hinausgeschossen.‘
HOFBERICHTERSTATTUNG STATT RECHERCHE 345 Yogeshwar sagte, er „hätte kritischer sein sollen in bezug auf offizielle Stellen“, und kritisierte nun, dass bis heute keine ausführlichen Datensätze bereitgestellt werden und man immer noch nicht wisse, wer überhaupt an und wer nur mit Corona verstorben sei.138 Das erinnerte an die Fragen, die der Philosoph Agamben schon zu Beginn der Pandemie-Ausrufung stellte. In seiner Deutlichkeit war der 3sat-Beitrag des Autorenpaares Katja und Clemens Riha eine Ausnahme. Warum beide, die während der Corona-Jahre mit ihren TV-Reportagen „auf Programmlinie“ waren139 nun kritischer berichteten, dafür gab es möglicherweise mehrere Gründe. Die Stimmung hatte sich in der Bevölkerung ab dem Herbst 2022 gedreht, als die Prognosen von Gesundheitsminister Lauterbach über eine mögliche neue „Todeswelle“ sich nicht bewahrheiteten und andere europäische Länder ihre Virus-Verordnungen gänzlich aufgehoben hatten, ohne dass es zu einer Gesundheitskatastrophe gekommen wäre. Der wichtigste Grund scheint dem Autor jedoch zu sein, dass vom regierenden Koalitionspartner FDP der Ruf nach einem „Untersuchungsausschuss zur Corona-Pandemie“ in den verschiedenen Landtagen immer lauter wurde140 und auch in Teilen der oppositionellen CDU Anklang fand. So konnte man als Journalist leicht auf den Aufarbeitungs-Zug aufspringen, was aber nur einige wenige taten. Einer von ihnen war der Spiegel-Kolumnist Alexander Neubacher, der in einem kurzen Zweispalter, der nicht im Inhaltsverzeichnis angekündigt wurde, die einstige Berichterstattung des Nachrichtenmagazins kritisierte. Er schrieb unter dem Titel „Wir Coronaversager“: Was mich im Nachhinein umtreibt, ist, wie leicht die Freiheitsrechte in unserer angeblich so liberalen Gesellschaft suspendiert wurden. Der Firnis der Zivilisation ist diesbezüglich offenbar dünner, als ich glaubte. […] Zu wenige widersprachen. […] Was, wie ich heute sagen würde, ein Riesenversäumnis war. Und wir Medien, auch wir beim SPIEGEL, die wir uns gerne als vierte Gewalt betrachten? Ich fürchte, der Diktator in uns war ziemlich stark.141
Bezeichnenderweise fand sich außer diesem Kommentar weder in den vorherigen noch in den kommenden Printausgaben irgendeine sachbezogene Aufarbeitung, etwa für die steile These von einst, dass „nachweislich viele Tote auf das Konto von Pflegekräften gehen, die sich aus Bockigkeit nicht impfen lassen.“142 Man musste zur auflagenschwachen, in ihrer Wirkung lokal begrenzten Berliner Zeitung (BLZ) greifen,
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um zu erfahren, dass die einrichtungsbezogene Impfpflicht für Pflegekräfte und Ärzte nie auf wissenschaftlichen Daten beruhte, sondern eine willkürliche politische Verordnung war. Auf den FaktencheckSeiten von ARD und ZDF sei nun zu lesen, schrieb die BLZ, „dass zum Zeitpunkt [dieses Beschlusses] […] keine gesicherten Daten zum Schutz vor Übertragung des Virus durch Geimpfte vorgelegen hätten.“ Wer nun mit einer Selbstkritik im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gehofft hatte, fand diesbezüglich kein Wort. Man überging dort wie auch in anderen Leitmedien, was die BLZ kommentierte: Trotzdem wurde in Deutschland noch im März 2022 die einrichtungsbezogene Impfpflicht eingeführt, mit der dezidierten Begründung: Die Impfstoffe würden signifikant vor Ansteckung schützen. 143
Beim ZDF kam es in keinem Augenblick zu einem selbstkritischen Rückblick, wie pauschal in den Tagen der Impfstoff-Zulassung die Alternativmedien diskreditiert wurden, als diese den Verdacht äußerten, es könne bald zu einer Impfpflicht für gewisse Berufsgruppen kommen. Diese wurde als „Verschwörungsideologie“ weit zurückgewiesen, die „rechtsextreme Kreise“ verbreiteten, um den Rechtsstaat zu schwächen.144 Die Korrektur mancher falscher Fakten während der CoronaJahre beschränkte sich in den Leitmedien nur auf wenige Artikel und diese nur für einen kurzen Zeitraum. Ab Juni 2023 war es mit der „Aufarbeitung“ wieder vorbei. Ein ganzseitiger Artikel der FAZ unter dem Titel „Mit Vor-Sicht in den Rückspiegel“ war typisch für die Art, wie „vor-sichtig“ man an im Rückblick die Corona-Einschränkungen bewertete. So schrieben drei Professoren „über das Zusammenspiel von Wissenschaft, Gesellschaft und Politik“ in der FAZ: Angemessen ist es vielmehr rückblickend selbstkritisch zu fragen: Würde ich mit dem damaligen Wissen unter gegebener Unsicherheit und mit damals kalkulierbarem Risiko wieder so handeln? Oder ist auch unter den genannten Bedingungen etwas falsch gelaufen? Die überlangen Schulschließungen waren sicher wissenschaftlich wie politisch eine Maßnahme, die man auch mit dem Wissen von damals weit früher hätte beenden können, ja müssen.
Danach verwiesen die Autoren auf „die Ethik Immanuel Kants, die uns darauf verpflichtet, nur nach derjenigen Maxime zu handeln, durch die wir zugleich wollen können, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“,
HOFBERICHTERSTATTUNG STATT RECHERCHE 347 um dann John Locke zu zitieren: „Freiheit ist kein Freibrief und damit keine Lizenz zur Verantwortungslosigkeit.“145 Außer der Kritik an Schulschließungen gab es in der FAZ kein weiteres Thema der Aufarbeitung. Über Impfschäden wurde in den Leitmedien nur das übernommen, was das Gesundheitsministerium selbst einräumte. Auch bei diesem Thema wurde auf weitergehende Hintergrundanalysen und Recherchen verzichtet. Die taz und SZ beließen es mit der Übernahme von Verlautbarungen aus dem Gesundheitsministerium und dem Hinweis, wie löblich es sei, dass Gesundheitsminister Lauterbach nun das Thema offen angehe. Die SZ beharrte darauf, was Lauterbach behauptete, dass „nur bei 0,02 Prozent der verabreichten Dosen schwere Komplikationen auftreten.“146 Die SZ erwähnte keine Studien, die eine weit höhere Zahl an Komplikationen angaben. Die taz relativierte: „Allerdings ist nicht jeder Verdacht eine Nebenwirkung und für Beschwerden, die nach einer Impfung auftreten, kann es auch andere Ursachen geben.“147 Wieder einmal waren es die Redaktionen von Welt und Bild, die als einzige Leitmedien die Zahlen der Komplikationen hinterfragten und weiterhin das Thema behandelten. Dort wurde bezweifelt, ob die offizielle Zählung der Impfschäden nicht untertrieben sei. Selbst wenn man die Zahlen akzeptiere, stelle sich die Frage, wie es sein kann, dass die Nebenwirkungsrate bei Impfstoffen normalerweise um ein Vielfaches niedriger liege, bei lediglich 0,002 Prozent.148 Die SZ ließ bei der Nachbereitung kaum einen Wissenschaftler zu Wort kommen, es waren stets moralische Statements von Geisteswissenschaftlern und Theologen, die die Spalten füllten. Eine Theologieprofessorin wurde befragt, ob sie es bereue, dass der Ethikrat, dem sie angehöre, sich einst „auch für eine allgemeine Impfpflicht ausgesprochen“ habe. Ihre Antwort: In dieser medizinischen Frage bin ich sehr klar. Ich würde im Notfall auch zu einer Impfpflicht raten. Was ich aber gar nicht mehr, oder nur in der äußersten Notlage empfehlen würde, ist Schulen zu schließen. Die Jugend hat einen hohen Preis bezahlt.149
Nur dafür wollte sich die Theologin entschuldigen. Die Wissenschaftsjournalisten der SZ warnten unterdessen in mehreren Beiträgen, eine weitere Pandemie werde „wieder passieren“ und dagegen würden nur weitere Impfungen schützen, denn es sei bewiesen: „Corona-Spätfolgen treten bei bis zu 15 Prozent aller ungeimpften, erwachsenen SARSCov-2-Infizierten auf.“150
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In dieser kurzen „Aufarbeitungszeit“ wurden in den Leitmedien nach dem Frühjahr 2023 offene Fragen so gut wie nicht mehr behandelt. Das Thema Corona war keine Zeile mehr wert. Ausschließlich in Alternativ-Medien wurden die Fragen zu einer erhöhten Übersterblichkeit, die Gefahren durch mRNA-Impfstoffe und der Gain-of-function-Forschung weiter verfolgt. Wer sich dieser Themen annehmen wollte, war auf sich allein gestellt, welchen Informationsseiten er im Internet vertrauen sollte und welche Plattformen eher unwissenschaftlich aufgestellt waren. In den Leitmedien wurden die alternativen Analysen verschwiegen. Die Diffamierung gegen diese Organe der „Querschreiber“151 ging unterdessen weiter. In der SZ äußerte sich unter anderem Matthias Cornils, Professor für Medienrecht: Man kann zu diesen Querdenkereien stehen, wie man will – natürlich ist das zum größten Teil Unsinn – aber dagegen staatlich vorgehen zu wollen, halte ich für keine gute Idee. […] Damit würde man Wasser auf die Mühlen derer gießen, die ohnehin von Meinungsdiktatur schwafeln.152
Der Medienrechtler Tobias Gostomzyk beantwortete die Frage, ob es nicht sinnvoll wäre, das Presserecht zu verschärfen: Die Selbstregulierung der Presse und die Abwehr staatlicher Kontrolle haben historisch gesehen gute Gründe […]. Es sanktioniert aber nicht alles, gerade wenn es um Meinungsäußerungen geht. So ist manches, was für viele schwer zu ertragen ist, nicht immer gleich ein Fall für die Justiz.153
Zur gleichen Zeit hatte SZ-Redaktion kein Problem damit, an Fakten festzuhalten, die wissenschaftlich bereits widerlegt waren. Weiterhin wurden die Fake-News wiederholt, „dass während der schweren Infektionswellen die Zahl der verfügbaren Intensivbetten auf ein Minimum schrumpfte, Patienten mit Hubschraubern ausgeflogen werden mussten und jeder hunderte Infizierte starb.“154
V.
Keine Einsicht in eigene Faktenfehler bei der Berichterstattung
Der Germanist Christoph Waldhaus zeigte in einer Untersuchung über die mediale Berichterstattung zu Corona, wie die Leitmedien ihre Wächterrolle missachteten und den politischen Entscheidungsträgern nicht auf die Finger schauten. Die Analyse bezieht sich nur auf einen kurzen Zeitraum, doch aus Sicht des Autors hat der Germanist die
HOFBERICHTERSTATTUNG STATT RECHERCHE 349 medialen Frames überzeugend analysiert, wie sie bis zum Sommer 2023 wirkten. Der Sprachwissenschaftler an der Fu-Jen-Universität in Neu-Taipeh glaubte zu erkennen: Analysiert man Beiträge unterschiedlicher deutschsprachiger Leitmedien, fällt auf, dass viele eng an das politische Narrativ gebunden sind, abweichende Positionen, wenn auch von etablierten ExpertInnen und wissenschaftlich fundiert, kaum öffentlich diskutiert und wenn, dann vielfach diskreditiert bzw. als Verschwörungstheorie abgetan werden. […] Man gewinnt den Eindruck, dass eine ausgewogene, objektive und kritische mediale Berichterstattung vielfach wertenden und richtungsweisenden Frames Platz macht, und eine manipulative Verwendung der Sprache auch bei Qualitätsmedien zusehends Verwendung findet.155
Nach Waldhaus wurde der Begriff „Unverständnis“ von Seiten der Politik häufig genannt und von den Leitmedien als Frame übernommen: Diese Kategorie dient dem Entkräften des Arguments […] dass die CoronaMaßnahmen die Freiheitsrechte zu stark einschränken, weil man, wie vielfach argumentiert, Freiheit zum Wohle der Gesundheit vorübergehend einschränken müsse. Diese beiden Extreme werden im Kontext in klaren Kontrast gesetzt. Menschenleben retten oder Freiheiten haben. Beides scheint nicht zugleich möglich zu sein.156
Außerdem war das Frame von Seiten der Politik, jede Kritik ins rechte Spektrum zu rücken, für die Medien „stark rahmend“ und dies wurde bei jeder Gelegenheit betont: Diese Einordnung ins rechte Spektrum erfolgte auf unterschiedliche Weise. Zum einen indirekt, es wurden Gegendemonstrationen erwähnt [und das bei nahezu jedem Straßenprotest, R. H.], die gegen das Aufmarschieren von Rechten veranstaltet wurden, und direkt, indem man explizit von Extremisten und extremen Rändern sprach, ein Bild, das man in der Frameanalyse bereits aus dem ‚Krieg gegen den Terror‘ und den ‚Islamischen Extremisten‘ und dergleichen kennt.[…] Der Rahmen, der hier aller Voraussicht nach verwendet wurde, soll wahrscheinlich zur Abschreckung von potentiellen SympathisantInnen der Demonstrierenden dienen bzw. verhindern, dass bei zukünftigen Demos noch mehr Menschen anwesend sind. Dies könnte funktionieren, weil wahrscheinlich kaum jemand als Rechtsextremist bezeichnet werden will.157
Unzählig sind die Beispiele, in denen diese Frames von konservativ bis links-grün verbreitet wurden, sie fanden sich in der konservativen FAZ,158 der liberalen SZ159 bis zur grünen taz.160 Die taz hatte sich im ersten Jahrzehnt ihrer Existenz noch auf die Fahnen geschrieben:
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ROLAND HOFWILER ein Gegengewicht bilden zu wollen zur Zeitungslandschaft in der BRD, die sich mehr und mehr an staatlich verordnete Nachrichtensperren hielt und die einmütig Sympathisantenhetze betrieb.161
Das Wort Sympathisantenhetze bezog sich auf all jene, die in den 1980er Jahren Kritik an Übergriffen des Staates gegen Atomkraftgegner, atomare Aufrüstung und der Volkszählung übten. Seitdem hat die Redaktion mehrfach gewechselt; nun freut man sich, im Kreis der Leitmedien angekommen zu sein und in Regierungskreisen als seriös eingestuft zu werden. Was sich im Internet als „Gegengewicht“ zur klassischen Berichterstattung tummelte, wurde von der taz ignoriert. Bei der anhaltenden Diffamierung der „Querdenker-Szene“ unterschied sich das einst aufmüpfige Blatt in keiner Weise von einer „Analyse“ der Nachrichtenagentur dpa, die in über 50 Tageszeitungen zwischen Ostsee und Bodensee wortgenau und zeitgleich im Frühjahr 2023 abgedruckt wurde: Die Querdenker-Szene hat hingegen früh darauf gepocht, exklusiver Träger der Wahrheit zu sein. Diejenigen, die wissenschaftliche Hinweise als elementar betrachteten, waren für sie ‚Schlafschafe‘. Im Querdenker-Milieu hat sich eine Gruppenideologie mit sozialen Bindungen aufgebaut. In dieser Blase bekamen Anhänger ihre Bestätigung. […] Die am häufigsten gestreute Erzählung: Mit den Corona-Impfungen sei allen ein unberechenbares Medikament aufgezwungen worden. Sie selbst hätten hingegen schon immer gesagt, die Mittel – oft von ihnen als ‚Giftspritze‘ oder ‚Genspritze‘ bezeichnet – seien gefährlich bis tödlich. Sie behaupten: Was einst als Verschwörungsmythos gebrandmarkt worden sei, werde mittlerweile als Fakt anerkannt.162
Alle Behauptungen der Querdenker seien „falsch“ oder zumindest „ungenau“. Die Fakten vermittelten ein viel differenzierteres Bild, natürlich gäbe es, wie selbst bei der Influenza-Impfung, Nebenwirkungen, doch die seien ausgesprochen selten. Ohne Impfungen wären viel mehr Menschen schwer erkrankt. Mit Häme wird im dpa-Text kommentiert: Wenn nun zufällig ein Ergebnis herauskommt, von dem sie zwei Jahre zuvor ausgegangen sind, dann ist das der Fall eines blinden Huhns, das auch mal ein Korn findet.163
Der österreichische Schriftsteller Karl-Markus Gauß wagte im April 2023 in der SZ einen Vergleich, bei dem er weit ausholend manche Querdenker mit Nazis gleichsetzte. Gauß beschrieb, wie man in man-
HOFBERICHTERSTATTUNG STATT RECHERCHE 351 chen Kreisen in der Monarchie dachte und sieht einen schleichenden Übergang des Gedankenguts zu den Querdenkern von heute: ‚Wissenschaft ist das, was ein Jud vom anderen abschreibt‘. Wird die Verachtung der Wissenschaften mit der Verachtung der Juden kurzgeschlossen, droht ein lebensgefährlicher Totalausfall kritischen Denkens. Diese Verbindung von Geistfeindlichkeit und Antisemitismus hat in Österreich über die politischen Umbrüche des 20. Jahrhunderts fortgewirkt. […] Bei Gelegenheit kann sie noch heute reaktiviert werden. Auf den Großdemonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen haben zahlreiche Teilnehmer ungehindert behauptet, dass die Pandemie die Erfindung einer angeblichen jüdischen Pharmaindustrie sei.164
Ähnliche Häme fand sich zur gleichen Zeit auch in einem Artikel von Sascha Lobo auf Spiegel-online unter der Überschrift „Die ewige Wut der Corona-Gekränkten“. Zum Glück sei Corona vorbei und man könnte das Thema vergessen, wären da nicht die zwei Gruppen, die an die Seuche erinnerten. Zum einen diejenigen, die bedauerlicherweise an Long Covid erkrankten und Zum anderen die Menschen, die während der Pandemie umgezogen sind in eine düstere Fantasiewelt, also Querdenker*innen, Verschwörungstheoretiker*innen, Esoteriker*innen. Ergänzt um Menschen, die sich eher nicht in diese Gruppierungen einsortieren lassen, die aber leider trotzdem beitragen zu einer besorgniserregenden Entwicklung, nämlich der komplett irrationalen Umdeutung des gesamten Pandemiegeschehens. […] Es ist in der Tat so, dass im Frühjahr 2023 wieder lautstarke Stimmen in sozialen Medien erschallten, die immer noch die gleichen Lügen, Unwahrheiten und Verschwörungstheorien wie bisher weitererzählen, oder besser weiterschreien. […] Was bei den Corona-Gekränkten geschieht, kann man analog dazu als Nonpräventionsparadox bezeichnen. Sie betrachten die Tatsache, dass sie selbst trotz fehlender Impfung nicht gestorben sind, als Beweis für ihre falschen Erzählungen. Sie leiten daraus weiter ab, dass gleich alles falsch gewesen sein muss, und betrachten im gleichen Atemzug sich selbst als Inhaber*innen der einzigen Wahrheit. […] Die Corona-Gekränkten versuchen, dem Rest der Gesellschaft ihre darke Fantasiewelt überzustülpen, die doch vor allem eine Funktion hat: die Produktion von Schuldigen.165
Solche Meinungsbeiträge waren in den Monaten der „Aufarbeitung“ keine Einzelfälle. Erstaunlich allerdings, dass selbst das offizielle Ende der Pandemie am 7. April 2023 manchen Leitmedien keine einzige Zeile wert166 war, als trauere man der Ausnahmesituation nach und hätte sie gerne noch länger aufrechterhalten. Die Chronistenpflicht wurde sträflich verletzt. So wundert es nicht, dass die bereits ange-
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dachten Vorbereitungen neuer Einschränkungen aufgrund kommender Pandemien als Thema keine Erwähnung fanden. Im Deutschen Ärzteblatt, herausgegeben von der Bundesärztekammer und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, konnte man die brisante Nachricht lesen, wonach die EU, USA, Kanada und die WHO mit dem globalen Gesundheitsunternehmen GSK Verträge über die Lieferung von Impfstoffen abschlossen, „für den Fall einer von der WHO ausgerufenen Grippepandemie.“ Das Ärzteblatt merkte an: [dabei, R.H.] wurde der Herstellungsprozess bereits bewertet und zugelassen, obwohl das finale Virus noch nicht bekannt ist. Sobald die WHO das eigentliche Saatvirus bekannt gibt, beziehungsweise der Virusstamm isoliert worden ist, wird nur noch ein ergänzender Antrag eingereicht. Auf diese Weise soll die Produktion eines Impfstoffes beschleunigt werden.167
Diese Vorgänge könnten ein Einschnitt sein in der Betrachtung von künftigen Grippeausbrüchen, ein spannendes Thema für jeden Fachjournalisten. Warum auf diese Problematik nicht eingegangen wurde, darüber kann sich der Autor nur wundern. Denn es scheint, die Heilmittel sind schon fertig, es fehlen nur die Krankheiten, auf die sie angewendet werden sollen. Jeder Journalist hat gelernt, sich solche Fragen zu stellen. Wie absurd sie auch klingen mögen, es ist seine Aufgabe zu fragen: Werden künftig Impfstoffe zugelassen, die die bisherigen Sicherheitsvorschriften einfach überspringen? Wird demnächst eine Impfpflicht gegen Grippe für ältere Personen angeordnet? Oder ist alles harmloser, als es dem spekulierenden Autor erscheint? Kein Wort zu dieser Problematik zu verlieren, ist eine Verletzung der Wächterrolle. Diese journalistische Selbstverpflichtung ist allerdings rechtlich nicht einklagbar. Ob es Alternativmedien gelingen wird, durch seriöse Recherchen solche Themen aufs Tablett zu bringen und zu einer ernsten Konkurrenz der wirkmächtigen Leitmedien zu werden, ist derzeit mehr als fraglich. Noch ist die Dominanz der Leitmedien ungebrochen, allein schon durch die Milliardenbeiträge, die durch den Beitragsservice den öffentlich-rechtlichen Fernseh- und Radioanstalten zufließen. In einem ZDF-Gespräch unter dem Titel „Wer hat die Meinungsmacht“ sah der YouTuber Rezo, dessen Webvideo „Die Zerstörung der CDU“ im Mai 2019 eine breite gesellschaftliche Debatte ausgelöst hatte, keine Chance für die Alternativmedien, der Meinungsmacht der Leitmedien adäquat zu begegnen. Wenn es wichtig werde, könnten die Leitmedien finanzielle Ressourcen und eine Manpower mobilisieren,
HOFBERICHTERSTATTUNG STATT RECHERCHE 353 wozu kein Alternativkanal in der Lage sei.168 Auch gilt noch immer: Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung informiert sich regelmäßig über die Leitmedien,169 zwar oft nur passiv beim Kochen, Autofahren oder vor dem Abendprogramm im Fernsehen, doch das Gesendete bleibt haften. Der Medienwissenschaftler Michael Meyen glaubt herausgefunden zu haben, bereits ein Drittel der Bevölkerung im deutschsprachigen Raum würde die Leitmedien meiden und aktiv „ihre“ Themen bei den „Alternativen“ suchen. Er gibt jedoch selbst zu, allein zehn Millionen Menschen schauten täglich die Tagesschau: Manche sagen, das schleicht sich aus mit den Leitmedien […] irgendwann sind andere Kanäle [die über das Internet Sendungen anbieten, R. H.] wichtiger, […] Problem ist, dass man bei diesen Kanälen nicht allgemeine Wahrnehmung unterstellen kann, es wird schwierig sein, etwa zu sagen, ich habe da etwas […] gesehen, weil man gleich den Stempel weg hat, du bist ja bei den Verschwörungsideologen unterwegs.170
Die Leitmedien-Eigentümer und fest angestellten Journalisten, die in ihnen arbeiten, sehen in den alternativen Medien, so der Eindruck des Autors, wenn er mit alten Bekannten darüber spricht, noch keine ernstzunehmende Gefahr durch die weit verästelten alternativen Internetplattformen. Aus ihrer Sicht wird nur bei Lieblingsthemen aktiv und zielgenau auf alternative Publikationen oder Internetseiten zugegriffen. Ansonsten sei die Dominanz der Leitmedien allgegenwärtig, die mit eigenen Web-Kanälen und Faktencheck-Seiten ihren Einfluss im Internet erweitern. Die Wirkmächtigkeit zeige sich zum Beispiel auch darin, wie schnell und ausdifferenziert die populäre Internet-Enzyklopädie Wikipedia etwa die Verschwörungserzählungen eines Medienwissenschaftlers wie Meyen wöchentlich aktualisiere.171 Das Vertrauen, das Wikipedia entgegengebracht werde, sei nicht zu unterschätzen, allein im deutschsprachigen Raum seien es mehr als 30 Millionen Aufrufe am Tag und die meisten Quellenangaben zu politischen Themen würden aus den Leitmedien übernommen. In zahlreichen Wikipedia-Einträgen werden Alternativmedien wie etwa der Internetseite Rubikon unterstellt, sie bedienten sich Verschwörungstheorien und verkauften diese als seriöse Nachrichten. […] Während der COVID-19 Pandemie wurde ‚Rubikon‘ zu einer Plattform der Verschwörungsszene in Berlin, die die Gefährlichkeit des Virus negiert. Der Spiegel nannte Rubikon ‚eine Art Hausmedium der Protestler‘.172
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Es war allerdings eine Rubikon-Recherche über den Chef des Pharmakonzerns Bayer, Stefan Oelrich, der sich zufrieden zeigte, dass durch den Ausbruch der Pandemie die mRNA-Impfstoffe endlich hoffähig wurden. Er sagte wörtlich auf dem Weltgesundheitstreffen am 24. Oktober 2021 in Berlin, korrekt von Rubikon wiedergegeben: Für uns als Unternehmen Bayer ist die Zell-Gen-Therapie eines der Beispiele, bei denen wir hoffentlich einen Sprung vorwärts machen werden. […] Hätten wir vor zwei Jahren die Öffentlichkeit befragt: ‚Wären Sie bereit, sich eine Gen- oder Zelltherapie in den Körper injizieren zu lassen?‘, hätten wir wahrscheinlich eine Ablehnungsquote von 95 Prozent gehabt. Ich denke, dass diese Pandemie vielen Menschen auch die Augen für Innovationen geöffnet hat, wie es vorher vielleicht nicht möglich war.173
Man musste die Analyse, die in Rubikon (seit April 2023: Manova) zu diesem Eingeständnis verfasst wurde, nicht teilen. Doch über die Machtkonzentration von Bayer und anderen Pharmakonzernen, die sich mit den neuartigen mRNA-Impfstoffen künftig milliardenschwere Profite erhoffen, kein einziges Wort zu verlieren, war eine grobe journalistische Unterlassung. Journalisten müssen bei solchen Aussagen hellhörig werden und nachhaken, wem Impfungen nützen: Als sich das voreilige Versprechen als falsch herausstellte, durch mRNA-Injektionen könnten Geimpfte das Virus nicht weiterverbreiten, wurde weiter an einer allgemeinen Impfpflicht festgehalten. Weshalb wurden Menschen ausgegrenzt, die Impfungen nur auf freiwilliger Basis befürworteten? Der Wissenschaftsphilosoph Michael Esfeld resümierte über die Bürgerrechtseinschränkungen der Corona-Jahre: In der Coronakrise haben von Experten ersonnene Vorschriften das Zusammenleben der Menschen beherrscht. […] Das ist Szientismus: die Auffassung, dass mit wissenschaftlichen Methoden erworbenes Wissen unbegrenzt ist und dementsprechend nicht nur Tatsachen erkennt, sondern auch normativ ist; es umfasst die Erkenntnis des Guten für alle und jeden. Politisch ist der Szientismus, wenn aus diesem Erkenntnisanspruch ein Herrschaftsanspruch wird: ‚Follow the science‘ (folge der Wissenschaft) als politisches Programm. […] Wie das geschehen kann, hat bereits Karl Popper im Angesicht von Kommunismus und Nationalsozialismus, die sich beide für wissenschaftliche Lehren hielten, in seinem Werk ‚Die offene Gesellschaft und ihre Feinde‘ in den 1940er-Jahren dargelegt. […] Vor hundert Jahren war die Eugenik mit der Lehre von höher- und minderwertigen Genen und dem politischen Programm, die Menschen mit minderwertigen Genen aus Solidarität mit dem Fortbestand der zivilisierten Menschheit zu sterilisieren, wissenschaftlicher Konsens. […] Die letzte Konsequenz, die Vernichtung der Menschen mit angeblich minderwertigen Genen, hat dann natürlich
HOFBERICHTERSTATTUNG STATT RECHERCHE 355 niemand gewollt. […] Der politische Szientismus baut auf dem Versagen von Urteilskraft auf und treibt dieses an: Die Menschen können gemäss dieser Auffassung gar nicht selbst über die Gestaltung ihres Lebens urteilen.174
Für den Autor bleiben die Worte des Philosophen Jean-François Lyotard als Warnung aktuell, an der er sich einst in seinem Berufsleben orientierte: Im Zeitalter des „postmodernen Wissens“ ist vieles was an Wissen verbreitet und in Medien dargestellt wird, „gemessen an ihren eigenen Kriterien“ nichts anderes als „Fabeln.“175 Oder wie es der Kybernetiker Heinz von Förster ausdrückte, geht es Journalisten oft nur darum, „wie erfinde ich eine interessante Geschichte, dass jeder sagt, so muss es gewesen sein.“176 Deshalb ein bescheidener Tipp zum Schluss an den Leser: Fast alle Menschen haben ein Thema, in dem sie sich sehr gut auskennen, meist beruflich bedingt. So können sie abgleichen, welches Leitmedium seriös über dieses Thema berichtet oder welches darüber nur schwafelt. Die Wahrscheinlichkeit, dass dann auch bei anderen Themen geschwafelt wird, ist verhältnismäßig hoch. Diesen Medien sollte man ein gewisses Misstrauen entgegen bringen. Oder man orientiere sich an Kurt Tucholsky: „Was in der Zeitung steht, ist nicht halb so wichtig, wie das, was nicht drin steht.“ 177 1 2 3 4
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Gisela Dachs, Die Zeit, Nr. 25/1997, S. 1, und persönliche Gespräche mit israelischen Kollegen. Der Spiegel, Nr. 19/2008, S. 20; Zeit-Geschichte, Heft 3/2017, S 10. Sven Kellerhoff, Berliner Morgenpost, 6.11.2008, S. 9. Julie Metzdorf, Bayrischer Rundfunk, 13.9.2021 https://www.br.de/nachric hten/kultur/der-militaerkonvoi-aus-bergamo-wie-eine-foto-legende-ents teht,TJZE6AQ [31.6.2023]. Lucien Scherrer aus Bergamo, Neue Zürcher Zeitung (NZZ), 30.5.2020, S. 10. Siehe Endnote 4. Handelsblatt, 2.2.2023, S. 37; Der Autor übernimmt diesen Begriff für „die großen meinungsbildenden Medien“, im deutschsprachigen Medienraum, sie werden auch als „klassische Medien“ bezeichnet. Es sind die Medien, die von Entscheidern wahrgenommen werden, an denen man sich orientiert, ob auf kommunaler Ebene oder im Bundestag. Der Autor fasst in seiner Analyse unter den Begriff die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten und überregionalen Tageszeitungen wie Frankfurter Allgemeine (FAZ), Süddeutsche Zeitung (SZ), Handelsblatt, die tageszeitung (taz), Die Welt und Bild. Außerdem die Wochenschriften Spiegel, Stern, Focus, Zeit. Für die Schweiz die Neue Zürcher Zeitung (NZZ), den Tagesanzeiger und die Basler Zeitung, für Österreich den Standard, Die Presse und das Nachrichtenmagazin Profil. Auf lokale Leitmedien, die vor Ort großen Einfluss auf Entscheidungen haben, wird nur am Rande eingegangen.
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Titelseite, Spiegel Nr. 11, 10.3.1997, Originalabzug im Besitz des Autors. Tagesspiegel, 9.11.2011, S. 7; „Sechzig Jahre Internationaler Frühschoppen“, https://www.youtube.com/watch?v=nHy2MNukqNs [31.6.2023]. Jörg Zittlau, „Fürs Rauchen bezahlt“, in Psychologie heute 4 (2009), S. 10f. Giovanni di Lorenzo, Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt (Köln: KiWi, 2009), S. 125. Wolf Schneider, Unsere tägliche Desinformation (Hamburg: Buchverlag des Stern, 1984), S. 43-44. Jürgen Todenhöfer, Die große Heuchelei. Wie Politik und Medien unsere Werte verraten (Berlin: Propyläen, 2019), S. 276. Ebd., S. 280; auf S. 281 schreibt Todenhöfer über sich: „Zwanzig Jahre meines Lebens habe ich in der Politik und 22 Jahre in den Medien gearbeitet.“ https://www.focus.de/kultur/medien/dagmar-rosenfeld-was-franca-le hfeldt-anders-machen-will-als-christian-lindners-ex-ehefrau_id_11083865 5.html [31.6.2023]. Aus Gesprächen mit Winkelmann weiß der Autor, dass sie trotz persönlicher Differenzen zum Ex-Partner Lauterbach dessen Gesundheitsvorstellungen teilt; und https://www.tz.de/politik/karl-lauterbach-privatlebenfrau-kinder-karriere-91263684.html [31.6.2023]. https://www.daserste.de/specials/ueber-uns/ueber-uns-programmdire ktorin-christine-strobl100.html und https://wwwzeit.de/2012/32/Deget o-Christine-Strobl?utm_referrer=https%3A%2F%2Fde.wikipedia.org%2F [31.6.2023]. https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/medien/juliane-schauble-wi rd-neue-usa-korrespondentin-des-tagesspiegels-3941956.html [31.6.2023]. https://www.gala.de/stars/news/doris-schroeder-koepf--sie-spricht-ue ber-die-frau-von-gerhard-schroeder-21801872.html und https://www.ste rn.de/lifestyle/leute/scheidung-joschka-fischers-vierte-ehe-hielt-nur-vie r-jahre-3518362.html [31.6.2023]. https://www.tagesspiegel.de/meinung/wir-waren-beide-anti-kommuni stisch-3514693.html [31.6.2023]. Bundeskanzler Scholz erklärte zur Ernennung, „wir kennen uns sehr lange“ und es sei etwas „ganz besonderes“ wenn man als Journalist „auf die Seite der Regierung wechselt“, https://www.bundesregierung.de/bre g-de/aktuelles/pressestatements-von-bundeskanzler-scholz-staatssekret aer-a-d-seibert-regierungssprecher-hebestreit-und-regierungsdirektor-sch aefer-zur-amtsuebergabe-an-den-neuen-sprecher-der-bundesregierung-a m-9-dezember-2021-1990464 und https://presseportal.zdf.de/biografien /uebersicht/hebestreit-henner [31.6.2023]. Tagesanzeiger, 13.9.2013 https://www.tagesanzeiger.ch/der-botschafter-s pricht-in-floskeln-seine-frau-ueber-politik-445477796682 [31.6.2023]. https://tel-aviv.diplo.de/il-de/ueber-uns/-/2542086 [31.6.2023]. Münchner Merkur Nr. 20, 25.1.2023, S. 21 und FAZ, Nr. 20, 25.1.2023, S. 19. Bundestagsdebatte 14.5.2021, Position 11:01 https://www.youtube.com/ watch?v=T4ir9PGsmps [31.6.2023]. Jürgen Leinemann, Höhenrausch. Die wirklichkeitsleere Welt der Politiker (München: Karl Blessing, 2004), S. 11.
HOFBERICHTERSTATTUNG STATT RECHERCHE 357 27 Aktenzeichen des Wissenschaftlichen Dienstes 3 300-154/22 vom 21.11.2022 und https://afdbundestag.de/martin-e-renner-honorarzahlun gen-der-bundesregierung-gefaehrden-journalistische-unabhaengigkeit/ [31.6.2023]. 28 DLF online, 08.03.2023 https://www.deutschlandfunk.de/bundesregierun g-zahlte-seit-2018-honorare-von-fast-1-5-millionen-euro-an-journalisten-1 00.html [31.6.2023]. 29 Siehe Endnote 27. 30 Bild, 10.3.2023, S. 2. 31 Kommentar von Jost Müller-Neuhof, Tagesspiegel, 9.3.2023 https://www. tagesspiegel.de/politik/journalisten-im-dienst-der-regierung-die-afd-hat -eine-ungemutliche-frage-gestellt-9474260.html [31.6.2023]. 32 Siehe Endnote 27. Bereits im Jahre 2009 gab es einen ähnlichen Skandal um die Nebenverdienste der TV-Moderatoren Tom Buhrow, Petra Gerster, Claus Kleber und Peter Hahne. Siehe Bild, 19.6. 2009, S. 3; Spiegel Nr. 28/2009, S. 86-88). 33 Siehe Printbroschüre des Deutschen Presserats, Richtlinie 12; und: https:// www.presserat.de/selbstverpflichtung-onlinemedien.html; und Kritik: h ttps://www.telepolis.de/news/Diktatur-der-Gutmenschen-oder-diskriminierungsfreie-Berichterstattung-3068402.html [31.6.2023]. 34 Valentin Falin, Politische Erinnerungen (München: Knaur Nachf., 1993), S. 231-233. 35 Gideon Rachman, Financial Times, 21.1.2023, S. 8. 36 Original „We are committed to improving the state of the world“. Henryk M. Broder, Bild-TV, 19.1.2023, 20:47, https://www.youtube.com/watch?v =T4i [31.6.2023]. 37 E-Mail an den stellvertretenden Chefredakteur der Zürcher Woz, Yves Wegelin, vom 12.11.2019 nach DLF, 20.11.2019 https://www.deutschlandf unk.de/weltwirtschaftsforum-in-davos-keine-akkreditierung-fuer-100.ht ml [31.6.2023]. 38 Spiegel Nr.1/2020. 39 ARD-Datenbank, vom Autor eingesehen beim Südwestfunk, Stuttgart; erste ARD-TV-Meldung https://www.youtube.com/watch?v=hU7vVnx FoBk [31.6.2023]. 40 https://www.lexisnexis.de/ [31.6.2023]. 41 https://www.youtube.com/watch?v=oGSAs6v5GyY [31.6.2023]. 42 https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/an-diesem-imperativkann-die-politik-scheitern-16714610.html [31.6.2023]. 43 Günter Roth, https://einfachkompliziert.de/medien-und-die-erosion-der -demokratie/ [31.6.2023]. 44 Münchner Merkur, 14.2.2023, S. 21. 45 Siehe Fußnote 25, CDU-Abgeordnete Elisabeth Motschmann, Pos 10:23. 46 Spiegel Nr. 6, 31.1.2020, Titelgeschichte. 47 Profil Nr. 6, 2.2.2022, Titelgeschichte. 48 Spiegel Nr. 8, 15.2.2020, S. 17 – 18. 49 A.a.O., S. 102-103.
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50 Deutsche Welle, 13.2.2020 https://www.dw.com/de/spahn-corona-bleibtweltweite-gefahr/a-52368162 [31.6.2023]. 51 Die Begriffe „Social Media“ oder „Social Web“ missfallen dem Autor, er übernimmt daher den unscharfen Begriff „Alternativmedien“ für all jene Internet-Plattformen, die sich von den „Leitmedien“ unterscheiden, siehe Endnote 7. 52 Paul Schreyer, Chronik einer angekündigten Krise. Wie ein Virus die Welt verändern konnte (Frankfurt/M: Westend, 2020), S. 121-123; Gerhard Wisnewski, 2021 – das andere Jahrbuch. Verheimlicht, vertuscht, vergessen (Rottenburg: Kopp, 2020), S. 117 -126. 53 Jonas Tögel, „Zur psychologischen Steuerung in der Corona-Krise“, 3.4.2023, https://multipolar-magazin.de/artikel/nudging-psychologisch e-steuerung und https://www.centerforhealthsecurity.org/our-work/ex ercises/event201/about [31.6.2023]. 54 Spiegel Nr. 8, 15.2.2020, S. 72-74. 55 Bill Gates, Vancouver, März 2015, Ted talks - Bill Gates: The next outbreak? We are not ready, https://www.youtube.com/watch?v=6Af6b_wyiwI [31.6.2023]. 56 Bill Gates, April 2022 https://www.youtube.com/watch?v=B5smctuV7-Q [31.6.2023]. 57 Mascolo, ARD-Presseclub, live über Phoenix-TV, 29.3.2020, 12:13. Autor hat live mitgeschnitten und keinen Zugriff mehr im April 2023 gefunden. 58 Welt, 17.9.2022, https://welt.de/241078911 [31.6.2023]. 59 A.a.O.: Die Gates Foundation selbst informiert über ihre Stiftungsgelder unter https://www.gatesfoundation.org/about/committed-grants [31.6.2023]. 60 Karin Mölling, Phoenix-Runde, 17.3.2020, https://www.youtube.com/watch ?v=qDPQTqvMoFY [31.6.2023]. 61 Karin Mölling, NZZ-Standpunkte, 22.11.2020 https://www.youtube.com /watch?v=i1a4vLPwkzU [31.6.2023]. 62 Tagesanzeiger, 29.2.2020, https://interaktiv.tagesanzeiger.ch/2020/keinepanik-wegen-coronavirus/ [31.6.2023]. 63 Siehe Endnote 5 Lucien Scherrer. 64 Albrecht Müller und Wolfgang Kubicki im Gespräch, 19.10.2020, https:// www.youtube.com/watch?v=8pDOd0KZv7A&list=PLpNi0Wmi7L80YY abA3qOGKP8ZporDTlRA&index=7 [31.6.2023]. 65 Kerstin Behnke, „Eine andere Art still“, SZ, 3.2.2021. https://www.suedde utsche.de/muenchen/muenchen-gastbeitrag-kerstin-behnke-corona-krise -kultur-1.5194779 [31.6.2023]. 66 Informationsdienst Wissenschaft, 18.12.2020, https://idw-online.de/de/new s760360 [31.6.2023]. 67 https://www.ardmediathek.de/video/ard-sondersendung/merkels-tv-r ede-zur-corona-krise-es-ist-ernst-nehmen-sie-es-auch-ernst/das-erste/Y3 JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL2FyZC1zb25kZXJzZW5kdW5nL2FkMGI4Yj A3LThkMGQtNGZjZi04MDA2LWJhOWY5ODUyODkyMA [31.6.2023]. 68 Siehe Endnote 59. 69 Siehe Endnote 67.
HOFBERICHTERSTATTUNG STATT RECHERCHE 359 70 Bundesgesundheitsministerium (2022), Evaluation der Rechtsgrundlagen und Maßnahmen der Pandemiepolitik – Bericht des Sachverständigenausschusses nach §5 Abs. 9 Infektionsschutzgesetz, S. 87f. und https://7argumente.de/kei ne-evidenzfreie-maskenpflicht [31.6.2023]. 71 https://www.nzz.ch/meinung/der-andere-blick/corona-und-fluechtlin gskrise-das-versagen-der-deutschen-medien-ld.1732546 [31.6.2023]. 72 ZDF (18.11.2021): Maybrit Illner, Autor hat live mitgeschnitten und im April 2023 keinen Zugriff mehr gefunden. 73 Susanne Knaul, „Peitsche statt Zuckerbrot“, taz 3.9.2021, https://taz.de/ls =susanne+knaul+zuckerbrot/ [30.6.2023]. 74 Peter Fahrenholz, SZ 12.1.2022, S. 12. 75 https://de.wikipedia.org/wiki/Giorgio_Agamben [31.6.2023]. 76 NZZ, 4.2020, S. 23. 77 NZZ, 25.4.2020, S. 2. 78 Erste Ausgabe, 17.4.2020, kostenlose Flugschrift, 8 Seiten Umfang, Agamben S. 6, vom Autor am gleichen Tag am Boxhagener Platz, Berlin, auf Parkbank gefunden. 79 Georg Simmerl, SZ, 27.7.2021, https://www.sueddeutsche.de/kultur/rob erto-esposito-1.5365127 [31.6.2023]. 80 SZ, Nr. 84, Gründonnerstag-Karfreitag-Ausgabe, 9.4.2020, S. 1-3. In dieser einzigen Ausgabe fanden sich zehn Reportagen zu Corona, darin werden alle erwähnten Beispiele behandelt. 81 A.a.O. 82 Gastbeitrag, NZZ, 20.4.2020, S.25. 83 Georg Diez, taz, 15.4.2020, S. 12. 84 René Scheu, NZZ, 30.4.2020, S. 28, 29. 85 Bild, 3.4.2020, S. 1-2. 86 Münchner Merkur, 4.4.2020, S. 1. 87 Bild 11.4.2020, S. 1-2. 88 Bild, 11.5.2020, S. 3. 89 Bild, 13.5.2020, S. 2. 90 https://www.handelszeitung.ch/unternehmen/blocher-geist-im-hausenzz-629050 [31.6.2023]. Haltlos ist zudem der Vorwurf, „Bild“ sei unseriös, seit Jahren sind die politischen Beiträge die meistzitierten Artikel, die andere Medien aufgreifen, erst mit Abstand folgen Spiegel, Handelsblatt, ARD und ZDF, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/169706/umfra ge/die-meistzitierten-medien-in-deutschland/ [11.9.2023]. 90 „Weltweite Recherche – Das Leak“, SZ, 3.4.2026, S. 1-4 und eine zusätzliche Sonderbeilage in der Printversion. Im Internet wurde eine Sonderseite eingerichtet, die laufend erweitert wurde: https://panamapapers.sueddeutsc he.de/ [11.09.2023]. 91 Bild, 18.1.202, S. 1-2. 92 Bild, 13.7.2022, S. 8. 93 Welt, 22.6.2022, S.5; Bild, 29.6.2022, S. 3. 94 Bild, 25.1.2023, S. 2. 95 Siehe Roth, Fußnote 43. 96 Bild, 25.1.2023, S. 2.
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97 Welt am Sonntag, N. 3, 15.1.2023, S. 4; NZZ, 4.12.2022, S. 8. 98 A.a.O.. 99 Volker Stollorz, Redaktionsleiter des gemeinnützigen Science Media Center Germany, in Bundesgesundheitsblatt Nr. 1, 2021, S. 71-72 https://doi.org /10.1007/s00103-020-03257-x [31.6.2023]. 100 A.a.O., und https://www.zeit.de/zustimmung?url=https%3A%2F%2Fw ww.zeit.de%2Fwissen%2Fgesundheit%2F2020-04%2Fausgangsbeschraenkungen-coronavirus-angstansteckung-kontaktverbot-covid-19 [31.6.2023]. 101 A.a.O. 102 SZ, Nr. 72, 27.3.23, S. 12. 103 „Rumäniendeutscher von Polizei totgeprügelt“, 3.8.1987, https://taz.de/ Archiv-Suche/!1862363&s=hofwiler%2Brum%C3%A4niendeutsche&Suc hRahmen=Print/ [31.6.2023]. 104 https://www.ndr.de/geschichte/chronologie/Entfuehrung-von-Jan-Phil ipp-Reemtsma-33-Tage-im-Kellerverlies,reemtsmaentfuehrung103.html [31.6.2023]. 105 https://www.nzz.ch/international/corona-angela-merkels-fragwuerdige -medienpolitik-in-krisenzeiten-ld.1715145 [31.6.2023]. 106 Chez Krömer-Show, RBB, 15.11.2022, 22:15 https://www.youtube.com/w atch?v=lfLQX_WNtQU [31.6.2023]. 107 SZ, Nr. 51, 2.3.2023, S.3. Holz bringt Mafia Milliarden-Umsatz. 108 SZ, Nr. 76, 31.3.2023, S. 7, Wie Russland den Cyberkrieg plant. 109 „Kommentar: Fünf Gramm Gras ...“, SZ 5.12.2022, S.16. 109 Kai Hafez, SZ 17.12.2022, S. 4, https://www.sueddeutsche.de/medien/ka tar-wm-berichterstattung-1.5717110?reduced=true) [31.6.2023]. 111 SZ 16.12.2022, S. 4, https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/meinu ng/twitter-pro-contra-gehen-bleiben-e652482/?reduced=true [31.6.2023]. 112 https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw14-de-impf pflicht-886566 [31.6.2023]. 113 https://7argumente.de/ [31.6.2023]. 114 Erinnert sei an Debatten zur Abtreibungsfrage beim Paragraph 218 (1971), der deutschen Beteiligung am Kosovo-Krieg (1999) oder den Hartz-IV-Reformen (2004). 115 Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung, 27.8.2020, S. 25. 116 https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Tagespost [31.6.2023]. 117 https://www.asta.ms/aktuelles-layout?id=125 [31.6.2023]. 118 Todenhöfer, siehe Fußnote 13, S. 80. 119 SZ, Nr. 68, 22.3.23, S.5. 120 Paul Schreyer, siehe Fußnote 52, S. 124. 121 „Im Sog der Lügen“, RBB, 3.2.2022, https://www.youtube.com/watch?v= LbklLnM7_54 [31.6.2023]. 122 https://www.youtube.com/watch?v=8pDOd0KZv7A [31.6.2023]. 123 ZDF-Talkshow Markus Lanz, 14.12.2022, https://www.youtube.com/wat ch?v=GkUUfM_vnTw [31.6.2023]. 124 Bundestagsdebatte, siehe Fußnote 25.
HOFBERICHTERSTATTUNG STATT RECHERCHE 361 125 Siehe u. a. die Rücktritte von Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (2011), Bundespräsident Christian Wulff (2012), Familienministerin Anne Spiegel (2021). 126 Bild, 24.4.2021, S. 2-3. 127 Joshua Kimmich, Sportshow, 23.10.2021, https://www.sportschau.de/fus sball/bundesliga/fussball-bundesliga-fc-bayern-kimmich-ungeimpft-wekick-corona-100.html) [31.6.2023]. 128 Fußball-Trainer Jürgen Klopp https://www.derstandard.de/story/20001 32022906/klopp-liverpool-wirdkeine-ungeimpften-spieler-verpflichten [31.6.2023]. 129 https://www.stern.de/sport/sportwelt/novak-djokovic--australien-hael ttennisstar-fuer-gefahr-der-oeffentlichen-gesundheit-31538584.html) [31.6.2023]. 130 https://twitter.com/Tim_Roehn/status/1492977851016126475?lang=de [31.6.2023]. 131 Michael Müller, Senatskanzlei Berlin, https://twitter.com/regberlin/status/1427676848704704513 [31.6.2023]. 132 Bild, 14.3.2023, S. 2. 133 Lauterbach in Talkshow Markus Lanz, https://www.focus.de/kultur/kin o_tv/tv-kolumne-markus-lanz-lauterbachs-corona-gestaendnis-was-schw achsinn-gewesen-ist-sind-regeln-draussen_id_185418427.html [31.6.2023]. 134 NZZ, 31.3.2023, https://www.nzz.ch/meinung/der-andere-blick/corona -und-fluechtlingskrise-das-versagen-der-deutschen-medien-ld.1732546 [31.6.2023]. 135 Welt, 24.3.2023, https://www.welt.de/kultur/plus244325985/Corona-Im pfung-Nebenwirkungsfrei-Wie-das-Team-Lauterbach-Joshua-Kimmich-ja gte.html [31.6.2023]. 136 Kulturzeit, 3sat, https://www.3sat.de/kultur/kulturzeit/kampf-gegen-c orona-was-lief-falsch-sendung-vom-22-03-2023-100.html [31.6.2023]. 137 A.a.O. 138 A.a.O. 139 https://programm.ard.de/TV/phoenix/wie-corona-unser-leben-%20veraendert/eid_287252991109152 [31.6.2023]. 140 Zeit, 21.2.23 https://www.zeit.de/news/2023-02/21/fdp-fordert-untersu chungsausschuss-zur-corona-pandemie?utm_referrer=https%3A%2F%2F www.google.de%2F [31.6.2023]. 141 Alexander Neubacher, Spiegel, Nr. 11, 11.3.2023, S.19. 142 https://www.nzz.ch/meinung/der-andere-blick/corona-und-fluechtlin gskrise-das-versagen-der-deutschen-medien-ld.1732546 [31.6.2023]. 143 „Die einrichtungsbezogene Impfpflicht fällt – endlich“, Berliner Zeitung, 22.11.2022, https://www.berliner-zeitung.de/open-mind/corona-komm entar-die-einrichtungsbezogene-impfpflicht-faellt-endlich-li.289511 [31.6.2023]. Von der SZ-Redaktion wird mittlerweile abfällig über die BLZ geschrieben. Manches was dort veröffentlicht werde, löse „Stirnrunzeln“ aus, etwa die „Weltsicht“ des schreibfreudigen Verlegers Holger Friedrich „zu Corona und der ostdeutschen Geschichte.“ Anne Ernst, SZ, Nr. 186, 14.8.2023, S. 4.
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ROLAND HOFWILER
144 https://www.zdf.de/nachrichten/politik/coronavirus-kein-impfzwangspahn-faktencheck -100.html; https://www.nachdenkseiten.de/?p=75176 und https://www.facebook.com/MP.Michael.Kretschmer/videos/gemei nsam-gegen-falschnachrichten-verschwörungstheorien/268104480985326/ [31.6.2023]. 145 Sabine Döring, Thomas Beschorner, Peter Dabrock, FAZ Nr. 49, 27.2.2023, S. 6. 146 Rainer Stadler, „Lauterbachs Offenheit“, SZ, Nr. 61, 14.3.2023, S. 4. 147 https://taz.de/Folgen-der-Corona-Impfung/!5920335/ [31.6.2023]. 148 Henryk M. Broder, Bild-TV, 24.3.2023 auf YouTube https://www.youtube. com/watch?v=IkJfWF46sjs [31.6.2023]. 149 Johanna Haberer im Interview, SZ 4.3.2023, S. R10. 150 Siehe den Beitrag in SZ, Nr. 33, 9.2.2023, S. 16, den gleich 6 Wissenschaftsjournalisten unterzeichneten, um Einigkeit zu demonstrieren: Werner Bartens, Christina Bernd, Hanno Charisius, Felix Hütten, Vera Schröder und Berit Uhlmann. 151 SZ, Nr. 82, 8 - 10.4.2023 (Osterausgabe), S. 44, Die Querschreiber. 152 A.a.O. 153 A.a.O. 154 Christine Berndt, „Glück nach Plan“, SZ, 27.1.2023, S. 4. Dazu verfasste der Autor zusammen mit drei Wissenschaftlern einen Leserbrief, der nicht abgedruckt wurde, https://7argumente.de/leserbrief-an-die-sueddeutschezeitung-zum-artikel-drei-jahre-corona-glueck-statt-plan/ [31.6.2023]. 155 Christoph Waldhaus, „Von Covididioten, Corona-Leugnern und anderen rechten Verschwörungstheoretikern. Eine Analyse medialer Frames“, in Synergies Pays germanophones 14 (2021), S. 45-60, hier S. 46. http://www.ger flint.fr/Base/Paysgermanophones14/waldhaus.pdf [31.6.2023]. 156 A.a.O.., S. 47. 157 A.a.O.., S. 56. 158 Pia Lamberty, „Es gab keinen Lerneffekt – Warum Bedrohungen durch die Impfgegnerszene endlich ernst genommen werden müssen“, in FAZ, Nr. 183, 9.8.2022, S. 4. 159 Susanne Knaul, siehe Fußnote 73. 160 Jan Bielicki, „Wie man Reichsbürger zur Umkehr bewegt“, in SZ, Nr. 2, 3.1.2023, S. 5. 161 Zeitungsjahrbuch (1989): Selbstportrait der beteiligten Zeitungen (München: Kastell, 1989), S. 556. 162 Nordkurier, Schwerin, 2.4.2023, 09:10, dpa https://www.nordkurier.de/pol itik/faktencheck-warum-querdenker-meinen-recht-gehabt-zu-haben-1512 687 und: https://www.schwaebische.de/politik/faktencheck-warum-que rdenker-meinen-recht-gehabt-zu-haben-1512574 [31.6.2023]. 163 A.a.O. 164 Karl-Markus Gauß, „Ignoranter leben“, in SZ, Nr. 86, 14.4.2023, S. 5. 165 Sascha Lobo, Spiegel Online, 29.03.2023, 17.38 Uhr https://www.spiegel.de /netzwelt/netzpolitik/pandemie-die-ewige-wut-der-corona-gekraenkten -und-ihre-verschwoerungserzaehlungen-a-3c6f7f73-d698-4dea-9d3b-a24e 669d7201?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE [31.6.2023].
HOFBERICHTERSTATTUNG STATT RECHERCHE 363 166 Die SZ brachte dazu keinen einzigen Text, die FAZ einen Kurzbericht, 8.4.2023, Nr.83, S. 4, mit dem Hinweis, dass „Einrichtungen […] und Arztpraxen das Maskentragen natürlich im Rahmen des Hausrechts regeln könnten.“ 167 Deutsches Ärzteblatt, Köln, Jg. 120, Heft 15, 14.4.2023, S. 657-659. 168 Richard David Precht im Gespräch mit Rezo: „Wer hat die Meinungsmacht“, ZDF, 20.9.2020, https://www.youtube.com/watch?v=zxnNZ09q aL4 [31.6.2023]. 169 Siehe Endnote 25. 170 Michael Meyen: Die Wahrheit ist immer ein Punkt, an dem die Lügen zerschellen, https://auf1.tv/berlin-mitte-auf1/prof-michael-meyen-die-wah rheit-ist-immer-ein-punkt-an-dem-die-luegen-zerschellen [31.6.2023]. 171 Wikipedia zu Michael Meyen: https://de.wikipedia.org/wiki/Michael_ Meyen [31.6.2023]. 172 Wikipedia zu Rubikon: https://de.wikipedia.org/wiki/Rubikon_(Webseit e) [31.6.2023]. 173 Stefan Oelrich, Opening Ceremony World Health Summit, Berlin, 24.10.2021, https://www.youtube.com/watch?v=IKBmVwuv0Qc (ab Minute 1:43) und Wolfgang Wodarg, Die Shedding-Gefahr, in Rubikon, 25.2.2023 https://www.manova.news/artikel/die-shedding-gefahr [31.6.2023]. 174 Michael Esfeld, Wissenschaftshörigkeit führt in den Totalitarismus, Schweizer Monat, Ausgabe 1104, März 2023, https://schweizermonat.ch/wissenschaftshoerigkeit-fuehrt-in-den-totalitarismus/#. 175 Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen (Wien: Böhlaus Nachf., 1979), S. 13. 176 Heinz von Förster, “Where is reality”, https://www.youtube.com/watch? v=dgv9aYcDd7E und The Net, https://www.youtube.com/watch?v=Yn9 BvNAUvcU&t=0s [31.6.2023]. 177 Siehe Endnote 12, S. 189.
Fear Factories: Serbian Media and the ‘Invisible Enemy’ Vladan Jovanović
I.
Political preconditions for orchestrated hysteria
The historical context of emergency management suggests that governing natural disasters and epidemics usually tends to silence and minimize a catastrophe, instead of inciting fear and mass panic.1 This is why the planetary instrumentalization of fear, in this specific case, known as Covid-19, raised suspicion from the very beginning. In the absence of clear, fearless, unambiguous, and critically intoned reactions from the natural sciences2, curious researchers from various social disciplines became involved in the interpretation of this unusual phenomenon that was seen by skeptics as a terminal crisis of financial capitalism and the attempt to prevent its implosion by causing continuous global emergencies, freezing the real economy, and controlling people.3 It seems that the excessive spread of fear by means of overly aggressive messages has bounced back on its senders, contrary to the experiences of marketing and social politics, especially in the era of “post-industrial turbo-capitalism”. Comparable to the early days of the Covid crisis in the United Kingdom, there was a systematic sowing of fear as a desirable social emotion (via Telegraph, Sun, Daily Mail et al.).4 A similar amount of panic, disproportionate to the objective danger, was also recorded by social psychologists in Australia, where the reaction to the “pandemic”, based on a language of fear, seemed to have been more disastrous for public health than the virus itself.5 Some surveys have shown that this ultimately led to an increase in distrust both in the media and the very expediency of an aggressive vaccination campaign: “As a result, participants began to actively reduce their media consumption as a self-protective compensatory mechanism, with some restricting their media consumption to the point of stopping it entirely”.6 Without delving deeply into the core reasons for igniting such a global mass hysteria, I will try to depict the very implementation of fear propaganda and its (in)authenticity in Serbia. The concern of Mila Alečković, Professor of Clinical Psychology and Anthropological
364
FEAR FACTORIES 365 Psychiatry (labeled by the Serbian mainstream media as an aggressive “conspiracy theorist” due to her loud and frequent warnings that we were all exposed to Stanley Milgram’s experiment on obedience to authority), was focused on the destructive effects of propaganda that caused death from a psychotic fear of terror and bullying, “which the corrupt, incompetent, and inhumane media spread every day much worse than any other virus”.7 Thus, the pandemic turned out to be a kind of blessing for governments all around the world. The reign of a converted chauvinist like Aleksandar Vučić and his Serbian Progressive Party (SNS) was a decade of pure kakistocracy, the rule of greedy dilettantes who, starting in 2012, barbarized Serbian society by suspending fragile democratic institutions, with undisguised international support. The very source of the European Union’s and the United States’ positive stance towards this “stabilocracy” could not be found in functioning democratic institutions but in other issues: Kosovo, subservience in migrant policy, access to cheap labor and natural resources and, last but not least, the ‘impeccable’ handling of the pandemic. As formal inheritors of the Euro-Atlantic integration agenda, which was initiated after their previous fall from power in October 2000, yet under the burden of their ultranationalist, warmongering pedigree, the opportunistic attitude of Vučić and his SNS frustrated a significant part of the formerly pro-European citizens in Serbia, pushing them towards EU-skepticism, shared by the majority of the population. In a similar way, the Vučić government, by overdosing propaganda, generated doubts about the real character of the pandemic itself. In doing so, the President was supported by the media, from private tabloids and TV stations, which are his main force (TV Pink, Informer, Alo, Telegraf), to the state-owned Radio Television of Serbia (RTS), and three large and influential, supposedly impartial media groups: Ringier Axel Springer (Blic, Noizz), Adria Media Group (Kurir, Espreso, Glossy), and United Media (N1, Nova S, Danas). However, the lack of balance in the Serbian media inadvertently exposed a good part of the inflexible and inappropriate policies of the Vučić administration. Blic was at the forefront of spreading disturbing news from social networks, while the mocking of Covid deniers and “anti-vaxxers” became the favorite discipline of some of their journalists, who competed in creating terrifying headlines.8
366 VLADAN JOVANOVIĆ In his desire to be the most obedient executor of the pandemic agenda, the President of Serbia went too far in intimidating his citizens. His ambiguous and shocking statements, such as those regarding a controversial lithium exploitation project in Serbia’s Jadar Valley, were an additional source of fueling anxiety: “We have no right to destroy the lives of more people than originally planned”.9 As early as March 2020, he stated in one of his frequent “addresses to the nation”, that all the Belgrade cemeteries would not suffice if pensioners (who were only allowed to go shopping between 4 and 7 in the morning!)10 dared to venture outside for a walk.11 With undertones not lacking a sadistic note, he admitted that he was glad that Serbian citizens were afraid of the improvised hospital at the Belgrade Fair, and that he would have to come up with something even worse and scarier.12 Six days later, the self-proclaimed “Crisis Headquarters for the Suppression of the Infectious Disease Covid 19”13 signed as the sender of an SMS that reached all mobile phone users within the national MTS network on 31 March and 1 April 2020: “The situation is dramatic. We are approaching the scenario from Italy and Spain. Please stay at home”.14
II.
The advertizing power of Bollywood and Tik Tok aesthetics
However, charlatan performances and exaggerations were not only a Serbian specialty. What is more, from the outset, Covid propaganda resembled a messed-up algorithm contrary to common sense. Would, we may ask, some recent announcements from the realm of artificial intelligence perhaps reveal the modus operandi of the media over the last three years?15 Short videos taken with a shaky mobile phone in motion and drone footage have become basic sources of information on various “emergencies” that spread virally on social networks, be they rows of hospital beds lined up in huge halls, blurry shots from hospital corridors to heighten the drama, “mass graves” dug for victims of the virus, armored vehicles on trains, national flags flying in cemeteries, or trucks with rotating emergency lights. White tents appeared to be “must have” accessories around the planet, as improvised points for triage, testing, or vaccination. The aesthetics were exactly the same. The first photos of the “fight against an invisible enemy”, which resembled telenovelas from the 1990s, in terms of production and
FEAR FACTORIES 367 pathos, most often came from Latin American photographers affiliated with the European Pressphoto Agency (https://epaimages.com/), a pivotal platform from which much of the visual hysteria was sown.16 According to my (albeit subjective) impression, among the most frequently repeated photographic motifs in the media all over the planet, including Serbia, the following dominate: taking nasal and throat swabs from a “patient” grimacing in pain or fright; a blurred person holding a vaccine vial with their index finger and thumb in the foreground; a needle-sticking into a tattooed arm; a thermometer pointing suggestively at a forehead, like a gun; the relatives of “victims” being consoled; tired poses of “health workers”, i.e. individuals in hazmat suits; “funeral pyres”; drone footage of freshly dug “mass graves”; panoramic shots of halls, stadiums and fairgrounds transformed into Covid centers with geometrically arranged beds, etc.17 In some cases, when, for example, (un)masked civil servants greeted each other with elbows or when apparently endless rows of “medics” performed the so-called Jerusalema Dance Challenge18, the whole story almost took on the form of a psychedelic farce. Apart from pictures taken from the central EPA database, several photographers circulated their work in Serbia. Some were even awarded for “a series of dramatic photos”, such as those from Kurir on 25 October 2020. Blic often used morbid photos from the Belgrade Fair (with unhidden allusions to the WWII concentration camp Sajmište), such as on 12 November 2020.19 N1 journalist Jelena Zorić dedicated the state medal she received from the Serbian President in February 2021 for reporting on Covid to her cameramen who shot “iconic scenes in the red zone”.20 In the spring of 2021, the Serbian media launched what I would call a “Bollywood phase”, depicting the transformation of the virus into a “double mutant” and of India, where oxygen bottles allegedly reached the price of gold.21 A series of articles on the “Indian strain” in Blic were mostly illustrated with the image of three persons in hazmat suits consoling each other, while the other six carried a white coffin. The lack of places for cremation and “forced cremation in parking lots” were part of the central narrative, this time illustrated with a twinkling Bollywood decoration of a text taken from Spiegel.22 An obsession with funeral pyres, the fighting for air, the dying on the streets, and kitschy photos of old ladies in a consoling embrace turned into an inexhaustible reservoir of pathos and amateur acting by anonymous dabblers.23
368 VLADAN JOVANOVIĆ Kurir published an article in which readers could not deduce what caused the deaths of the people pulled out of the Ganges with a net24, while it speculated that the bodies removed from the “holy river” had been the result of incomplete cremation.25 Just as the easing of pandemic measures in Serbia was announced on the website of the Government of Serbia,26 the portal Espreso reported that the “Indian strain surrounded Serbia”, which again provoked a huge vaccination campaign with very inconclusive, almost tragicomic evidence.27
III. The intimidation toolbar: coffin, crematorium, mass graves, body bags Admittedly, Vučić and his ruling SNS, fans of kitsch spectacles28, inherited a media matrix in which morbid news was amplified by regular morning reports from the emergency room to inject daily doses of hypochondria. In apocalyptic headlines, meteorologists announced earthquakes, red weather alerts and “polar vortices” looming over Serbia. In mid-July 2022, Kurir announced a heat wave with a very suggestive headline (“Scary weather forecast, Lucifer will rule the world”)29, while Blic went even further on 10 March 2023: “Get ready, it’s Armageddon time! The apocalypse that has encased the USA in snow and ice is now rushing unstoppably towards Europe, and soon everyone will be struck”.30 The spreading fear of a nuclear cataclysm due to the war in Ukraine and the ensuing craze for Lugol’s solution were also part of this atmosphere at the end of 2022. What raised suspicion from the beginning of the pandemic operation was the extremely aggressive visual campaign during which tabloids Blic and Kurir competed to publish more pictures of coffins.31 Anonymous social media sources began to circulate, alternating between satellite images of “mass graves” in Iran32 and Reuters drone footage of grave holes and stringed coffins on Hart Island, New York.33 Morbid photographs of crematoria and coffins in Bergamo (EPA/EFE, AP)34 were inspiring for Kurir journalists, who seemed more obsessed with horror aesthetics than with the analyses of the epidemic itself. Hence, it published plenty of anonymous video footage and photos to illustrate “mass burials” and “overcrowded morgues”.35 Death was a central leitmotif of the pro-government tabloids Informer and Kurir, which, based on anonymous sources, enthusiastically wrote about the
FEAR FACTORIES 369 “scourge” in Spanish cities.36 Furthermore, Kurir wrote about the mass graves in Brazil with a suggestive short video in which the excavator had been burying supposed corona victims.37 On the eve of the vaccination campaign in Bosnia and Herzegovina, a morbid video about burial holes and coffins was broadcast, with cruel allusions to the war that ended not so long ago.38 With its gloomy, “funeral” aesthetics, drone production, and clumsy movements of hazmat-suited helpers, this video was almost a tribute to the first, similar works that, since March 2020, had arrived from the South American offices of Reuters and AFP to spread panic. However, messages to skeptics became increasingly bizarre, tragicomic, and therefore less convincing.39 In early April 2021, the “oppositional” web-portal Nova S reached the level of Kurir and Blic in terms of its morbidity. In a news article whose leitmotif consisted of a picture showing a convoy of funeral vehicles, it is suggested that Belgraders were suffering en masse from “a scourge against which doctors were intensively fighting on the front line”.40 In its distinctive manner, Kurir conveyed the supposedly caring message of Polish funeral companies addressed to unvaccinated citizens.41 According to Blic, there had never been more funerals, so the drivers, coroners, and grave diggers were exhausted.42 This subtitled apology to the undertakers was also given by Kurir. New reports from cemeteries were accompanied by panoramic images of symmetrical geometric shapes, inspired by the effective photo-sessions from the Belgrade Fair, which were created according to the universal matrix, recognizable after various fairgrounds were turned into “Covid hospitals” (Belgrade, Bordeaux, Catanzaro, Bangkok, etc.).43 The propaganda used unusual metaphors, trying to make people’s fear more logical, tangible, convincing, and easier to visualize. Thus, in the fall of 2021, a “crowded bus” became the daily measurement unit for the alleged coronavirus victims. The WHO official in charge of the Balkans, Marjan Ivanuša, vividly “entertained” the population with the information that a “busload of people” died from the coronavirus every day.44 A head of anesthesiology testified that their hospital was crowded and that every day they had “a bus full of dead people” who had been unsuccessfully “fighting for breath”.45 A month later, Dr. Zoran Bekić, director of the vaccination point at the Belgrade Fair, used the same metaphor, saying that the “death buses” are passing through Serbia, sweeping away “a whole city”.46
370 VLADAN JOVANOVIĆ The necrophiliac fascination with coffins and body bags was, above all, expressed in Kurir reports from the “red zones”, with standard photos-blurred faces of patients and “heroes in hazmat suits” posing near monitors and bending their heart-shaped palms. In an almost poetic article in Kurir, doctors recounted their “horror movie experiences” after which they reviled “irresponsible” skeptics.47 In November's fear-mongering campaign, Kurir picked up the pace. The anesthesiologist introduced as “Milunka Savić in the age of corona”48 spoke about the worst wave during which vital organs failed, with a plethora of terrifying details.49 Even at the beginning of 2021, a journalist from Kurir was fascinated by body bags, which she ecstatically wrote about in her recapitulation of the “fight”.50 Moreover, in May, she rode with an ambulance team and described her favorite hospital accessories – mortuary bags: “At the end of a long corridor, a row of several rooms, two black body bags on beds. Down, in the distance, another two [...] Sickening. In the bag closest to me, an old man, born in 1939, just passed away. A nurse rushes by, holding black bags in her arms [...] Inside, monitors are beeping, and ventilators are still keeping numerous patients alive. Who will be lucky enough not to be caught by the black bag?”51 Body bags became a favorite leitmotif in Blic as well, where a semi-anonymous person told readers a story about her dad, who allegedly supplied hospitals with body bags. Using teenage slang, she concluded: “So, get vaccinated. Or don’t. There, dad got another sixty bags”.52 TV Prva and Blic rekindled their fascination with body bags after a video from the Covid hospital in Batajnica, which otherwise visually resembled one of the montage studios of the commercial TV Pink.53 Kurir honored the staff of the Kruševac Covid hospital (colloquially known as Jasenovac concentration camp)54 who helped the patients to “fight for that damned breath”. In fact, it all looked like a poorly staged drama in which the nurses encouraged the patients to “catch their breath” as if they were in labor.55 Panegyrics dedicated to doctors otherwise involved in corruption scandals have almost developed into a special literary genre.56 One of the most picturesque pieces of evidence of the “Bergamo massacre” was the testimony of a Serbian citizen about a municipal official “who was constantly dictating names into the book of the dead”.57 A similar “skit” with death certificates was later performed in Novi
FEAR FACTORIES 371 Pazar. On June 28, the headquarters for emergency situations announced that “Novi Pazar has acquired tin coffins and body bags”, which the Beta news agency spread at the speed of light.58 With equal doses of poetic disorientation and drama, typical of low-budget horror movies, Blic wrote about the “hissing of oxygen”, the crying of patients, and the “evil silence” in Novi Pazar.59
IV. “Religion and socializing are life-threatening” It seems that each area of social life was covered with evidence that the virus exists and that the scourge kills. In the case of the Orthodox clergy, the campaign was more than convincing. In fact, Kurir wrote on 8 October 2020 that the Montenegrin Metropolitan Amfilohije caught the infection at a village celebration while singing an old Serbian song dedicated to Kosovo. Considering the ongoing negotiations on Kosovo, the symbolism was quite clear, but not the mysterious death of the bishop that soon followed. The mass deaths of high church dignitaries “from Covid” in a short period of time, including the patriarch himself, remained under a veil of secrecy. On the other hand, the self-proclaimed “theologian from Hilandar” Miloš Stojković (a picturesque member of the ruling SNS) claimed that no prayer helped against the coronavirus: “For me, the apostles of Christ in this time are doctors and nurses, who without air, in spacesuits, struggle for hours to save lives. They are the new apostles”.60 Doctors from the aforementioned Crisis Headquarters focused on believers and religious holidays, trying to scare them and limit their participation in religious services. The Medical Chamber of Serbia and Blic were begging people to stop family gatherings, to wear masks continuously and to not question the place of infection because it remained an “eternal mystery”61, while the “Serbian Fauci” Predrag Kon cynically advised that traditional holidays could be celebrated only illegally, “as under the Ottoman rule”.62 Easter 2020 was hit particularly hard, when most churches were closed due to “liturgical risk”.63 On the eve of Easter 2021, the Medical Chamber of Serbia appealed to the citizens that “there must be no relaxation” and that family gatherings should be avoided because “the virus does not know about holidays”.64 As a (bad) joke, BBC News in Serbian started to promote a contactless alternative for a traditional Orthodox egg smash in the form of video games.65
372 VLADAN JOVANOVIĆ The whole pandemic narrative was directed against everything that upheld social interaction, such as family meetings, traditional celebrations, student parties, vacations, even weddings. Accordingly, the director of the Covid hospital in Batajnica coined her apocalyptic slogan: “People must be vaccinated, otherwise we will disappear”.66 Her daily addresses were accompanied by headlines more suited to horror movies. At the same time, she interviewed dying patients who regretted their “irresponsibility” for not getting vaccinated on time.67 Virologist Ana Banko suggested that face masks should not be removed, even in the toilet.68 In mid-August 2020, the director of the clinical hospital center “Bežanijska kosa” Marija Zdravković (who participated in the mass celebration of the SNS election victory in June 2020) warned that “the coronavirus is not funny nor anyone’s invention, and it is so real, and it kills.“69 Speaking about the elections, it should be pointed out that some media, such as TV Pink, reported climatologists' forecasts that the epidemic would subside on 3 April 2022, just on the day scheduled for the general elections in Serbia.70
V.
Youth and pregnant women in the crosshairs of the intimidator
Since late March 2021, the propaganda has been focusing on pregnant women dying from coronavirus,71 while Nova S published “revolutionary” news about babies with a body temperature of 39 degrees.72 During April, Blic and Kurir favored stories about pregnant women dying. The pattern was often the same: there was a recapitulation of the news about the deaths of unvaccinated pregnant women, combined with interviews of anonymous mothers giving birth and advice from doctors angry with skeptics.73 In mid-April 2021, a series of articles about babies on respirators began.74 The pro-government tabloid Informer joined the campaign by blaming the unvaccinated parents for the death of their baby.75 However, Blic still dominated in this campaign, using war terminology. To further develop the ‘children’s theme’, a doctor wearing a visor, Olivera Ostojić, head of the children’s clinic, also floored the argumentative accelerator.76 On 29 August 2022 she threatened, via the same tabloid, to “take babies away from asymptomatic parents for monitoring”.
FEAR FACTORIES 373 Novosti began to frighten pregnant women with spooky front pages, concluding that they should also be vaccinated.77 The heads of gynecological clinics testified that “pregnant women struggle for breath” and predicted the trend of pregnant women dying.78 The head of the GAK Narodni Front Clinic was convinced that vaccines do not harm pregnant women or the fetus/baby.79 As in the case with children, the campaign for the vaccination of pregnant women also required the participation of celebrities. Presenter Marijana Mićić accepted the duty and was allegedly vaccinated “right before giving birth”, even sharing a photo of the act as proof.80 With the same goal, Olivera Ostojić, the head of pediatrics, scared pregnant women and tried to persuade them to get vaccinated as “the virus has turned towards children”.81 In mid-October, along with the attack on pregnant women, the promotion of baby vaccinations was heating up. Blic responded with a title that was as disturbing as it was suggestive, in which it demonstrated how the only unvaccinated member, a ten-year-old boy, died in a large family of fully vaccinated people.82 Apart from babies, teenagers also came under attack. During the first days of May 2021, a direct campaign for the vaccination of teenagers began, which was symbolically opened by the Minister of Labor, who put her daughter’s shoulder under a syringe in a photo session.83 When Pfizer’s vaccine for teenagers was expressly approved in June 2021, social media bots were lined up at the news, simulating the euphoria that parents would finally be able to vaccinate their children, who were supposedly very happy about the decision themselves. Former Minister of Defense Dragan Šutanovac was among the first to encourage the vaccination of the youngest, putting his son under a needle and in front of a camera.84 At the beginning of June 2021, young people were targeted by the Student Center and the United Festivals of Serbia, whose “vaccination bus” sought to attract students and other citizens by offering them a free gym, sauna, and parking space if they were vaccinated in it.85 By using teen slang, anonymous experts responded to “confused students” about vaccine safety (in response to rumors on sterility issues), after which the students allegedly decided to get vaccinated. This recognizable, ornate, and constrained language was also cultivated by the newly recruited Blic journalists, who were promoting booster doses for the vaccinated.86 Blic published an “experts’ appeal” for teenagers to be
374 VLADAN JOVANOVIĆ vaccinated because youths were labeled as “selfish supercarriers”. This aggressive text was equipped with photos of a masked teenager getting vaccinated, as well as one of a small baby looking curiously at the approaching syringe.87 From mid-2021, pulmonologist Slavica Plavšić was particularly active on Twitter, and due to the contents of her advertising posts, which were regularly quoted and popularized by the opposition media, she also earned the nickname “Pfizer”. As well as giving “free advice” to anyone interested in vaccination, she was particularly enthusiastic about children and pregnant women on 7 October 2021: “Dear pregnant women, mothers who breastfeed your babies! Get vaccinated as soon as possible! Do not listen to your gynecologists or doctors who advise you otherwise. Their ignorance and incompetence are unacceptable. Refer to SMU88 where it is clearly written that pregnancy and breastfeeding are not contraindications for the Pfizer vaccine!”89
VI. Infected in the line of duty: politicians and celebrities send “powerful messages” Among both the ruling SNS nouveau riche and those “normalizing” their chauvinist past (to which a significant part of liberals from the LDP party belong), being sick with the coronavirus became almost a status symbol. The role of pioneer and vanguard of this weird performance was played by Serbian playwright Biljana Srbljanović, an ultraliberal persona dramatis of dark ultra-nationalist pedigree.90 Her performance91 was followed by a motivational speech by LDP president Čedomir Jovanović, addressed to his supporters from his hospital bed, of course, with the appropriate hashtag (#odustaćemonikad = we will never give up).92 Moreover, while attached to the infusion, he wrote a pamphlet, criticizing the anti-Vučić protests. His party colleague Ivan Andrić described his eleven-day sojourn of isolation in the Arena sports hall through a viral thread on Twitter and, using the well-known clichés, wrote an apology to “heroes in hazmat suits”.93 It seems that every political party fulfilled a certain quota that had to be publicly declared as “tested positive”. This also applied to the highest holders of executive power, such as former and actual ministers, who made their ‘corona confessions’.
FEAR FACTORIES 375 Many show business celebrities started sending identical “powerful messages” mentioning “bilateral pneumonia, which is not to be underestimated”, while appealing to their fans to remain responsible and be grateful to the doctors “on the front line”.94 In June 2020, Nova S reported how the coronavirus gripped Serbian athletes and quoted the then-Fiorentina striker Dušan Vlahović as saying that “he will also score against the virus”.95 Even in the first days of the pandemic, several actors close to the regime came to the fore and offered preventive advice, these included Miloš Biković, who initiated applauding for the doctors at 8 pm in Serbia. His colleague, a respected Rotarian and preelection mascot of the ruling party, Svetislav Goncić, also boasted that he had been infected with the coronavirus in July. On the cover of Informer (29 October 2020), he revealed that he was still experiencing breathing problems, “as if he had a belt around his chest”. Interestingly, each celebrity “appeal” would be followed by a warm and affirmative story of the previously “publicly ill and cured”.96 In search of glamor, many reached out for this part-time propaganda job. Due to the (modest) acting capacities of most celebrities, this type of marketing had counter-effects and raised doubts about the advertised ‘product’ itself.97 Former politician, screenwriter and columnist Žarko Jokanović angrily addressed skeptics who thought he had been paid for his corona-marketing and invited them to take their loved ones to the Covidhospital and see the brave staff in hazmat suits.98 Nova S reported how some actors “occupied” the Belgrade Fair to receive the Chinese vaccine “with no fear of needle sticks and consequences”. Everyone praised the organization, while the Austrian and Italian press allegedly envied Serbia for its diverse range of vaccines.99 The Arena sports hall also turned into a popular place for the show’s stage designers. From this building came confessions from both celebrities and anonymous patients, who poured out the same keywords and bowed to the self-sacrificing medical staff. Celebrity criminal Kristijan Golubović described the symptoms of Covid using vivid comparisons from his “professional career”: “Headaches, catastrophic stabbings throughout the whole body, as if bullets had shot through my shoulders and back, that’s how I feel”.100 The virus also “infected” controversial doctor Danica Grujičić (now the Minister of Health), who on that occasion told the families of her oncological patients via Facebook to “take care of their loved ones”
376 VLADAN JOVANOVIĆ and that she, as an impatient workaholic, would quickly put on a white coat and go back to her doctor’s office. She said that with almost absolute certainty she contracted the virus at a funeral where the attendees “briefly removed their masks”, and with sentiments close to anger, she appealed to people to “be responsible”.101
VII. Mannequins in hazmat suits on the “battlefield”: humanization of fictional heroes A white hazmat suit cut in half with a blue ribbon bearing a handwritten personal name or nickname of a doctor/nurse on duty was not merely a matter of costume design, but one of the rehearsed rituals performed for the global psychodrama. There was also a tendency amongst the media to feign public intimacy with the medical staff who, like comic book heroes, became celebrities, such as “Dr. Darija”, “Nurse Nada”, “Doctor Goran”, “Dr. Mirsad”, “Pediatrician Saša”, “Cardiologist Srđan”, and many others. In addition to the vibe of lowclass films, the pandemic scenario in Serbia was full of illogical and surreal moments. The temporary hospital at the Belgrade Fair was commanded by a colonel who was a veterinarian by profession, a specialist in beef quality and frozen chicken meat.102 Hence, it was obvious that the preferred media format would be an ode to the self-sacrificing medical workers. The phrase “heroes in white”, promoted by UNICEF103, was coined in countries where the level of corruption in healthcare is high, which also includes Serbia. And the media focus was set on the medical staff rather than on the victims, who appeared as semi-anonymous, almost invisible. Blic was particularly dedicated to admiring and almost adoring the doctors’ palms, crumpled under protective equipment, leading, again, to the conclusion that medical personnel are actually the biggest victims of the pandemic, not the people hit by the virus.104 The head of Belgrade’s Infectious Disease Clinic (and supporter of Vučić's electoral list in 2017), posed for the cameras, displaying his “wounds” caused by a face mask and hazmat suit “on the battlefield”, to deter citizens from leaving their homes.105 Espreso portal also spread a co-authored story about nurses, “those quiet Serbian heroines from the red zone”, and, of course, the story is centered on troubles with “hazmat suits and sweating”, while patients did not figure.106
FEAR FACTORIES 377 A special genre was born from literary works, songs, and apologies to “heroes in white”, sung by journalists and doctors on duty.107 Similar trends were noted during the smallpox epidemic in Yugoslavia in 1972, when “invisible heroes” (policemen, medics) wrote reverent songs about the “invisible enemy”.108 Even the reports from the Institute of Virology did not lack exaggerated pathos, which, in the absence of real patients, humanizes the very material from the test tubes.109 The advertisement was successful because the queues for PCR testing suddenly increased. In his poetic ecstasy, actor and director Radoš Bajić paid tribute to the “humble and dedicated doctors in hazmat suits in the red zone” but also carelessly described the hospital as “a TV set that does not lack background actors”.110 The staged hospital crowd and the sloppy acting of masked extras who burst into the close-up shot, dramatically examining some charts, also contributed to the arousal of suspicion. During July 2020, dozens of reports from “Covid clinics” appeared with clichéd motifs: a face in a hazmat suit behind a visor, with thumbs up. Doctors were photographed as if they were performing complicated surgical procedures on the battlefield instead of huddling around hospital beds and monitors: exhausted, sitting pensively, in sweat, still showing marks from the protective equipment. This self-victimizing hospital selfie-mania spun out of control on Twitter, Facebook, Instagram, and Tik Tok.111 What is significant here is that the doctors who were rising to prominence in Serbia during this time had previously been participants in various criminal affairs. The strong ties between Serbian Health Minister Zlatibor Lončar and the notorious Zemun Clan (within which he was allegedly better known by his nickname Doctor Death) were demonstrated in a story awarded by the EU Investigative Journalism Award in 2018.112 The head of the Crisis Headquarters, Predrag Kon, was implicated in the affair with the procurement of the swine flu vaccines in 2009113, Zoran Bekić was involved in the affair with children’s cytostatics (Cytostatics Affair)114, while Radmilo Janković was accused of negligent treatment with a fatal outcome.115 At the end of October, Janković stepped up the campaign to vaccinate children and pregnant women and proposed to deal with the “eccentrics” and “confused”. He stated for Blic on 26 November 2021: “I have to tell you that one of our viewers who is now watching your show completely care-
378 VLADAN JOVANOVIĆ free, will unfortunately not be alive in a few days or a few weeks.” The head of the Vojvodina crisis headquarters, an orthopedist well-known from the fake insurance affair, was cruelly concise in Blic on 29 September 2021: “Either a vaccine or a respirator!” Another leading promoter of necrophiliac aesthetics, aside from Janković, also comes from Niš. In a morbidly titled confession, radiologist Aleksandar Ivković, who likes to pose as a mason on social networks, conveyed his sensations and concluded: “This disease kills, it is looking for a way to creep in where it is sure to kill. The main goal is destruction. There is no deception and talk about easy colds [...] And as for the small-minded people who do not believe in viruses, I invite them to go through what I went through and am going through. Anyone who argues for abandoning masks should be arrested and sent to prison for the organized spread of the infection. There should be no mercy”.116 He threatened skeptics with “beautiful bonfires in parking lots”, alluding to a series of stories about funeral pyres in India and Thailand.117 When receiving the Order of Vidovdan (dedicated to a mythologized medieval battle of the Serbs against the Ottoman invaders) from president Aleksandar Vučić, veterinarian Milanko Šekler compared hazmat suits and vaccines to medieval armor, and the 1389 Battle of Kosovo to the “fight against an invisible and silent enemy – Covid-19”: “Even today, that armor is available for all citizens. I wonder if the outcome of the battle would have been like this and what the history of Serbia would have looked like if there had been armor for all the warriors in Kosovo.”118 In order to convey the advantages of mixing vaccines to the broadest masses, he compared the vaccine boosters to the strategy of strengthening the wing positions in football.119 Hence, apart from those involved in criminal affairs, Serbian authorities (or the regional WHO office?) engaged stern-looking doctors, preferably in military uniform, to praise vaccines and their safety.120
VIII. How to frighten and convert curious skeptics The pressure on skeptics and hesitant or confused people was constant and hard to bear. Asking questions was proscribed in public discourse, while selected participants of the vaccination campaign were privileged to communicate the truth. The director of the Clinical Center of Serbia told the citizens that “corona time” was more difficult than the
FEAR FACTORIES 379 NATO bombing of Serbia in 1999.121 Colonel Dr. Udovičić kept urging teenagers to get vaccinated “against the scourge that is ravaging the planet”.122 The same “commander of the Covid hospital” compared body armor to vaccine antibodies and threatened young, unvaccinated people that they could suddenly die, even half a year after being infected.123 In an interview for Kurir, Colonel Udovičić challenged “antivaxxers”, calling for them to change the diapers of Covid patients.124 He was particularly angry with those youths who would confidently ignore the virus and then die at his hospital: “Don't let the last days of your life be spent suffocating on a respirator, with creepy monitor alarms, with medical staff in hazmat suits, whose names you don't even know, whose eyes you only partially see, and whose voice you recognize”.125 Keeping fear high on social networks and in the opposition media was in the hands of “independent influencers” who lean towards the liberal population. One of the regular “Covid correspondents” from Slovenia, pulmonologist and agile tweeter Srđan Lukić, a native of Kragujevac, has been pushing fear and pessimism from the very beginning, presenting the details of an inevitable fatal scenario in case of infection in his tweets.126 Blic did not stop this kind of propaganda, so journalists reported, e.g., how unvaccinated patients “struggle(d) for breath” in a hospital while in the next room, those vaccinated were carelessly watching a tennis match.127 Even when referring to “emotional posts” from anonymous profiles on social networks, Blic was cruelly extreme.128 Their stories were still harsh, but surprisingly naive and unconvincing. Blic Žena reported Instagram posts from regional journalist Mirna Zidarić, who “greeted the skeptics” with a picture of strands of her fallen hair.129 In addition, “a man from California” allegedly repented, alas, too late. After months of mocking the pandemic on social media, he ended up on a respirator and died, preceded, of course, by ritual selfies.130 Other classic motifs, consisting of surviving relatives warning the public: an “anti-vaxxer” had died and her daughter, who happened to be a nurse, sent a “terrible warning” to skeptics and urged them to get vaccinated, could frequently be found on the portal Noizz.131 Kurir regularly published anonymous articles from related British tabloids (Daily Mail, The Sun); thus, the death of an “anti-vaxxer” who mocked the coronavirus was recorded several times. A friend of the
380 VLADAN JOVANOVIĆ late skeptic then urged people not to repeat his mistake and to get vaccinated immediately.132 Blic also made a kind of recapitulation of repentant cases, from older teenagers to bodybuilders, who made fun of the coronavirus and then allegedly “bitterly repented”.133 A favorite feature of domestic portals consisted of sharing semi-anonymous stories from western tabloids about the deceased families of unvaccinated skeptics, where a surviving member told educational stories.134 Even the “opposition” N1 stooped to that level by conveying the alleged message of a Texan “anti-vaxxer” who expressed her desire on her deathbed to have her children vaccinated.135 An inverse situation was also introduced into the narrative, when parents apparently turned out to be wiser than their children, who were suspicious of vaccines.136 The importance of vaccination status in romantic relationships was also highlighted.137
IX.
In search of a more convincing presentation: fear mongering in “opposition” media
At the end of July 2020, the campaign experienced an interesting turn. It seemed that the pro-government yellow press and their web portals (Informer, Kurir, Alo, Srpski telegraf, Blic, Espreso) had not been persuasive enough, which led to the need to mobilize the “opposition” media. The fact that the campaign was not a regime-related phenomenon was also shown by a column in Danas (“Let us be responsible today”), which, through several influencers, singers, and tweeters, shyly sent a message on the necessity of wearing masks, which soon turned into everyday recklessness, almost terrorizing Covid advertising. Based on the frequency and regular intervals of agitation on Twitter, it could be said that it gained some points, and the opposition leader Saša Radulović also stated that the Serbian branches of German foundations (“all active in Serbia”)138 generously rewarded the influential promoters of the “plague”. That is how the opposition Danas started. TV Nova S went one step further and started publishing identical stories to those in Blic, in which “anti-maskers” were criticized, while the opponents of social distancing were labeled as having “lower intelligence and weaker working memory capacity”.139 Since the end of July, the reports from N1 and Nova S about “starvation for air” had been trying to dramatize the situation in hospitals even more.140 The owner of a leading Serbian
FEAR FACTORIES 381 IT company said that after he had become infected on a business trip in Dubai, he felt as if he was being “crushed by a tornado” and therefore appealed to citizens “to be more responsible”.141 In mid-November, the fear campaign became more reckless.142 From the opposition portal Direktno, the story of body bags was revived, this time by the aggressive group “United Against Covid”.143 To my sincere regret, many noted anti-war activists and freedom fighters from the Milošević era have now launched a series of articles in which “anti-vaxxers” and “half-vaxxers” were ridiculed. The propaganda purpose of such texts was no longer concealed: “The point of this text, therefore, could be summed up in that Jesuit message – if I convert one, I have already done a lot”.144 An academic brochure also appeared to popularize vaccination among young (hesitant) people by advocating restrictions on personal freedoms in the name of “the health of the nation”.145 Many NGOs took part in the morbid campaign, such as CRPS146 from Novi Pazar, whose website soon became inaccessible after their pathetic promo-video on social distancing scared middle-aged Serbians in early April 2020: “Do you love your mother? Get away from her. Do you love your wife? Don’t touch her. Do you love your grandfather? Don’t go near him. Today love means, staying away from those you love. The further you are from me, the closer you are to me.”147 As if on command, the two leading opposition parties synchronously invited their supporters to get vaccinated on 4 April 2021.148 On the same day that the editor-in-chief of the German tabloid 149 Bild issued a public apology for his paper’s inappropriate Covid propaganda, the opposition daily Danas published an article by an anesthesiologist whose style dwelled on the same level as those of Kurir and Blic. However, adorning this text was a footnote at the bottom: “This text was written within the project `Mitigating the Social and Economic Consequences of the COVID-19 Pandemic in Serbia`, which was implemented by the Ana and Vlade Divac Foundation with the support of the Balkan Fund for Democracy of the German Marshall Fund of the USA (BTD) and the US Agency for International Development (USAID)”.150 Were the main sponsors of spreading fear in Serbia explicitly mentioned here by mistake? In August 2021, Danas became more aggressive and criticized all doctors who opposed the mandatory vaccination of children.151 Moreover, Danas advocated for the Covid Pass on 14 August 2021, referring
382 VLADAN JOVANOVIĆ to Dr. Zoran Bekić, forementioned participant in the Cytostatics Affair, but also one of the 1000 academic signatories to support Aleksandar Vučić. Just like Blic and Kurir, the editorial board of Danas joined in on the propaganda for the vaccination of pregnant women.152 The investigative portal KRIK (allegedly inclined to the opposition while sparing Vučić at the same time) had its own fact-checking service that passionately guarded the official pandemic narrative.153 At the end of the summer of 2021, the aggressive medical association “United Against Covid” (inclined toward the opposition) began to issue official statements on mandatory vaccination and urged for the restriction of human freedom “in the name of a higher goal”. In October 2021, Nova S fully mimicked the pandemic hysteria of Kurir and Blic. Mass death became a keyword in the confessions of doctors from the “red zones”.154 Using military terminology and suggestive phrases to describe beeping ventilators, injected syringes, and body bags, the director of the controversial ad hoc hospital in Batajnica, Tatjana Adžić, inspired the Nova S journalist to come up with an “instructive” title for his reportage: “Come and see how the unvaccinated die”.155
X.
Instigators of the “holy act”: Folk stars and academics united
The opposition politicians and influencers were competing on social networks to describe their (re)vaccination experience with more pathos and positive impressions, where vaccination was presented as a divine act of patriotism.156 The vaccination of the “Serbian mother”, Ceca, as the folk singer and wife of the late paramilitary leader Željko Ražnatović, aka Arkan, even appeared to mirror a fashion show.157 Her clergyman and elder of the Church of St Sava, Stefan Šarić, also called for vaccination from a billboard as part of the City of Belgrade’s campaign.158 On the other hand, the vaccination points in Belgrade shopping malls (!) were opened for consumers by leading pop stars and smiling city authorities.159 And yet, “Dr. Mirsad”, as the state secretary in the Ministry of Health, Mirsad Djerlek was referred to by the press, showed dissatisfaction with the (low) percentage of vaccinated youths. Hence, he suggested that companies should stimulate their younger workers through financial incentives and vacations, discounts on clothes and
FEAR FACTORIES 383 shoes, scholarships, discounts for textbooks, free phones, laptops, and tickets for sporting events and concerts.160 Kurir also tried to break the resistance of the unvaccinated returning from vacation by scaring them with the high testing prices.161 Tourists who went to Montenegro and Albania without any restrictions came especially under attack. A doctor from Niš, a specialist in sports medicine and an activist of the ruling SNS, estimated that almost every tourist returning from vacation was infected with Covid.162 Rumors of screenshots as proof of the “job done” (persuading others to get vaccinated) began to circulate on the Internet. In the story about incentives for the vaccinated, Kurir inadvertently mentioned that in Slovakia “there was also a mechanism for awarding bonuses to those who persuade others to get vaccinated”. In the same article, it was claimed that in India, every “vaccination selfie” competed for a $70 prize.163 Apart from individual, well-connected academics, some scientific organizations also joined the propaganda. In late September 2021, the Network of Academic Solidarity and Engagement (MASA) appealed to universities to take even the most drastic measures following the decision of the Dean of the Faculty of Medicine on mandatory vaccination of their students.164 Serbian students abroad were ecstatically celebrating science and laughing at anyone who asked any questions.165 In mid-May 2021, a new campaign started – this time for receiving different vaccines, after Angela Merkel allegedly combined AstraZeneca and Moderna shots. On 15 July Blic began to advocate mandatory vaccination and the mixing of vaccines from different manufacturers, quoting the “expert” advice of virologist Šekler (“let’s mix it up a bit”). In order to demonstrate the safety of mRNA vaccines, Blic journalists praised the “vaccination marathon” of an anonymous Brazilian who allegedly got vaccinated every ten days.166 The obsession with the third dose was promoted in mid-August 2021 by all media, from Informer and Blic to Nova and Danas. In midAugust 2021, the government’s coalition partner, Vuk Drašković, posed for a picture at the Belgrade Fair while receiving the third dose of Pfizer and declared his support for mandatory vaccination.167 Looking up to her boss Nina Gavrilović, who was promoted after announcing her ardent vaccination experience168, Blic journalist Ivana Anđelković, headed to the Belgrade Fair to receive her third dose and
384 VLADAN JOVANOVIĆ to “mix vaccines”.169 Two weeks later, she took an antibody test after a “booster dose” in front of the cameras and urged Blic readers to get a third dose of any vaccine.170 Using sensational headlines, she called all the hesitant skeptics “traitors to civilization”.171 She was also a specialist for gloomy procedures for admission of patients and death registration in Covid hospitals.172 Speaking of which, after the BBC News in Serbian tried to deny the widespread rumors about the families of the deceased who would be “rewarded” if they reported Covid as the cause of death,173 the City of Novi Sad announced in early February 2021 that it would “continue to pay” (assist or stimulate?) for the reporting of each death from the coronavirus with 100,000 dinars (slightly less than 1,000 euros). The city authorities themselves undertook to “officially obtain proof that the person died of the infectious disease COVID-19 caused by SARS-COV-2”.174 In mid-May 2022, Blic removed the section “Coronavirus Serbia” from the front page of its portal and moved it to the section “News”. It was replaced with the “Online doctor” section that appeared on the front page. However, already from the first day of July 2022, public figures again “fell sick” and “appealed” via social networks. Former minister Zorana Mihajlović (and her cat) was among the first to post on Instagram that she had “tested positive”.
XI.
Neologisms from the age of “scourge”
The aggressive pandemic propaganda has not only corrupted the health system and the media, but also the language, which has acquired a new phraseology. In addition to the excessive use of terminology related to death, medical vocabulary was also compromised and rendered meaningless in fictional constructions and staged contexts. There was an insistence on “bilateral” pneumonia (which was previously understood as not differentiated because pluća/lungs is a collective noun in Serbian) and rough word forms such as zaražavanje (infection-ing) or novozaraženi (newly infected), which should have indicated a continuous, unavoidable, and permanent process. Linguistic leveling and the use of the same platitudes (“invisible enemy”, “scourge/plague”, “struggle for breath”, “red zone”, “frontline heroes”) were noticeable in all media spheres, while citizens were flooded with quasi-professional terminology. The concentration of antibodies became an arithmetical expression of patriotism. Thus, influencers
FEAR FACTORIES 385 competed by boosting the number of antibodies and comparing their biochemical blood results on social networks.175 A wave of orchestrated mass hypochondria and thanatophobia (fear of death) reached TV addicts, who quickly became familiar with terms like “saturation”, “intubation”, “antibody titer”, “D-dimer”, “cytokine storm”, “flatten the curve”, etc. According to the profile of the engaged journalists, the language was bent and, with a handful of tabloid phrases, began to resemble articles from popular sports and crime columns. The prefixes “Covid” and ”corona” inspired a plethora of neologisms, most of them composite nouns: “Covid children”, “Covid babies”, “Covid moms”, “Covid pregnant woman”, “corona numbers”, “corona abyss”, “corona parties”, “corona tips”, etc. In early November 2020, internet portals all over Serbia brought almost identical (copy/paste) titles, only their beginnings differed (“XY in the claws of coronavirus”). Kurir conveyed the views of media-exposed doctors about children as “reservoirs of infection” and “reservoirs of viruses” that needed to be vaccinated urgently.176 In neighboring Croatia, they slightly adapted the term (translated differently?); hence, children were labeled as “virus pools”. A concise analysis of the most frequently used words in the headlines of Serbian Covid propaganda 2020-2021 could indicate an intention to maintain a high intensity of intimidation, even at the cost of exaggeration, which inevitably leads to the opposite effect:
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XII. Conclusions Regardless of whether the change of global social paradigms, the redistribution of natural resources, or the impending collapse of financial capitalism (that some left-wing economists warn of) have been the main causes of the controlled demolition of societies that we have witnessed in the last three years, fear management had become a basic element of political action, in a similar way that emotions like fear, insecurity, and doubt were manipulated in marketing and social policy.177 By turning a kind of logical misunderstanding into an irreconcilable rival narrative and drawing it into the existing ideological plane, the screenwriters of the pandemic psychodrama won the first battle unexpectedly and easily. The inert masses settled on a fake ideological conflict, identifying themselves as “responsible liberals” as opposed to “conservative anti-vaxxers”. However, the problem remained that universally designed propaganda had not been adapted to the peculiarities of different traditions and cultures. In general, this makeshift campaign focused entirely on selfless doctors, “heroes in white”, while patients and victims stayed completely anonymous, if we exclude the public confessions of “infected celebrities”. In this regard, most layers of Serbian society were
FEAR FACTORIES 387 involved in a process of propaganda and mass corruption. Media-orchestrated pressure proved to be a persistent and deadly weapon that distorted statistics and foregrounded less important details by using sensationalist language and exaggeration. Sooner or later, the mindless repetition of negative associations (numeric or verbal) with the aim of sowing panic caused an oversaturation and involuntary immunization against a suspicious narrative. A desirable consequence of such pandemic propaganda in the years of post-truth politics and ethical decline could be a voluntary grouping of morally weak and corrupt cohorts of pseudo-liberal intellectuals in Serbia, along with faded artists and public figures. In both cases, it could be a purification filter necessary for building a more humane society. On the other hand, it will certainly propel forward and connect intellectuals from various scientific circles who are eager for the truth, questioning dubious narratives, and resisting dogmas and tyranny of any kind. 1 2
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Hani R. Khouzam, “Emergency Psychiatric Care of Survivors of Natural Disasters and Terrorism”, Handbook of Emergency Psychiatry (2007). Day after day, the “expert” reactions were contradictory, if we ignore the stereotyped phrases that selected doctors persistently repeated in the mainstream media. Fabio Vighi, “Homo Pandemicus: COVID Ideology and Panic Consumption”, Crisis and Critique, Vol. 7, Issue 3 (2020), 447-459; Andrea Komlosy, Zeitenwende, Corona, Big Data und die kybernetische Zukunft (Wien: Promedia, 2022). Karin Wahl-Jorgensen, “Coronavirus: how media coverage of epidemics often stokes fear and panic”, The Conversation, 14 February 2020 https://th econversation.com/coronavirus-how-media-coverage-of-epidemics-often -stokes-fear-and-panic-131844 [18.2.2024]. Cindy Gallois, “The language of fear? Australian media and the pandemic”, InPsych 2020, Vol. 42, June/July, Issue 3. A. Ravenelle, A. J., Newell, A., Kowalski, K. C. (2021). “`The Looming, Crazy Stalker Coronavirus`: Fear Mongering, Fake News, and the Diffusion of Distrust”, Socius, 7 (2021) https://doi.org/10.1177/23780231211024776 [18.2. 2024]. Mila Alečković, Crna psihijatrija i crne dijagnoze (Beograd: KPS/LCS, 2023) 37-50; “Psychological operations and the Covid-19 pandemic”, BitChute, 18 January 2023, https://www.bitchute.com/video/nZJPhLcDgnCU/; “We are experiencing the greatest moral and professional decline”, Direktno, 24 July 2020 https://direktno.rs/kolumne/290395/licni-stav-prof-dr-mila-
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agenda. Until recently, it was accessible at: https://webgate.epa.eu/webg ate?EVENT=WEBSHOP_SEARCH&SEARCHMODE=NEW&SEARCHTX T1=Coronavirus%20virus%20OR%20health%20OR%20pneumonia&DA TE_FROM=01.01.2020 [18.2.2024]. JDC was a ritual of uniformed and masked collectives in a TikTok performance, filmed all over the planet: medical staff, workers of corporate giants from the auto industry and seafood processing, grounded airline personnel, even “dancers” in priestly robes used the same choreography. It was also performed at Belgrade elementary school J. J. Zmaj in May 2021 https://www.youtube.com/watch?v=9uThGuTv340 [18.2.2024]. N. N. G., “These are the details of the new Corona Law: who goes to quarantine and who goes to isolation and what parents with infected children should do”, Blic, 12 November 2020 https://www.blic.rs/vesti/drustvo/o vo-su-detalji-novog-korona-zakona-ko-ide-u-karantin-a-ko-u-izolaciju-i-s ta-treba-da/xz3vld0 [18.2.2024]. https://n1info.rs/vesti/jelena-zoric-dobila-drzavno-odlikovanje/ There are also many errors in the Serbian newspaper titles themselves, which are most likely the results of incorrect translation from the English version. “If there is hell, this is it. Confessions from the land where the double mutant runs rampant: We have never seen so much death”, Blic, 27 April 2021. https://www.blic.rs/vesti/svet/ako-postoji-pakao-to-je-ovo-ispovest-izzemlje-u-kojoj-divlja-dupli-mutant-nikad/1j3n9vf [18.2.2024]. Stefan Brezar, “Visual representation of corona hell: This country has been brought to its knees by a double mutant, people are fighting for breath, and funeral pyres are not extinguished”, Blic, 28 April 2021. https://www.blic. rs/vesti/svet/vizuelni-prikaz-korona-pakla-ovu-zemlju-je-dupli-mutantbacio-na-kolena-ljudi-se-bore/z6ehg8z [18.2.2024]. “Horror in India, the authorities catch the bodies of people who died of corona with nets: Relatives cannot cremate them, they just throw them into the river!”, Kurir, 12 May 2021. https://www.kurir.rs/planeta/3686169/ horor-u-indiji-vlasti-mrezama-hvataju-tela-ljudi-umrlih-od-korone-rodbi na-ne-moze-da-ih-kremira-samo-ih-bace-u-reku-video [18.2.2024]. “Apocalyptic scenes. The holy river Ganges throws out the bodies of corona victims: Horror scenes filmed in India. Disturbing”, Kurir, 10 May 2021 https://www.kurir.rs/planeta/3684645/gang-izbacuje-tela-indijakorona-zrtve; M. G. “The dead from corona are thrown into rivers and buried in sand: Crematories are full, and the health system is collapsing”, Alo, 16 May 2021 https://www.alo.rs/korona/svet/504279/umrle-od-korone -bacaju-u-reke-i-zakopavaju-ih-u-pesak-krematorijumi-su-puni-a-zdravst veni-sistem-u-kolapsu-foto/vest [18.2.2024]. “Starting tomorrow, the easing of epidemiological measures”, Belgrade, 31 May 2021 https://www.srbija.gov.rs/vest/549768/od-sutra-popustanje-e pidemioloskih-mera.php [18.2.2024].
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27 “Will Serbs also get infected with the Indian strain of the coronavirus? Dr. Tiodorović on double mutant and the necessary measures”, Mondo, 7 June 2021 https://mondo.rs/Info/Drustvo/a1480251/indijski-soj-korona-viru sa-u-srbiji-branislav-tiodorovic-o-merama.html?utm_source=Midas&utm _medium=Widget&utm_campaign=Mini%2bPool%2b(Kurir%2b%252f% 2bMondo%2b%252f%2bEspreso [18.2.2024]. 28 SNS nurtured a cult of work uniform and visual extroversion: striking scenes of dozens of workers in yellow overalls from the ironworks behind the president giving an interview; white capes and cloaks of SNS activists on the streets; pink helmets of female authorities during various inspections; group portraits of young SNS members with non-prescription glasses at press conferences, simulating intelligence; Vučić's government meeting at the mining pit, which visually resembles the movie “War of the Worlds”, etc. 29 https://www.kurir.rs/vesti/drustvo/3972269/zastrasujuce-prognoze-m eteorologa-lucifer-ce-vladati-svetom-srbija-da-se-spremi-za-jedno-od-najt oplijih-leta-ikada-meteo-ekstrem [18.2.2024]. 30 https://www.blic.rs/vesti/svet/armagedon-stize-u-evropu-pasce-rekor dne-kolicine-snega/twffvlr [18.2.2024]. 31 “A video from a Milan hospital shows how dangerous the coronavirus is. Another proof why it is best to stay at home”, Kurir, 18 March 2020 https://www.kurir.rs/planeta/3430103/snimak-iz-milanske-bolnice-gov ori-koliko-je-korona-opasna-jos-jedan-dokaz-zasto-je-najbolje-da-ostanem o-kod-kuce-video; Tanjug, “Report from Italy: A massacre is underway, the virus has wiped out an entire generation”, B92, 4 April 2020 https://w ww.b92.net/info/vesti/index.php?yyyy=2020&mm=04&dd=04&nav_cat egory=78&nav_id=1672529 [18.2.2024]. 32 Erin Cunningham, Dalton Bennett, “Coronavirus burial pits so vast they’re visible from space”, The Washington Post, 12 March 2020: https://www.wa shingtonpost.com/graphics/2020/world/iran-coronavirus-outbreak-gra ves/; Tim Stickings, „Iranian mass graves for coronavirus victims are so huge they can be seen from space“, Daily Mail/MailOnline, 13 March 2020: https://www.dailymail.co.uk/news/article-8105543/Iran-digs-mass-gra ves-coronavirus-victims.html [18.2.2024]. 33 Nada Tawfik, “Coronavirus: New York ramps up mass burials amid outbreak”, BBC News, 10 April 2020 https://www.bbc.com/news/world-uscanada-52241221 [18.2.2024]. 34 “Shocking scenes from Italy. Eight photos from Bergamo that show how painful the fight with the coronavirus is”, Blic, 19 March 2020 https://ww w.blic.rs/vesti/svet/potresni-prizori-iz-italije-osam-fotografija-iz-berga ma-koje-pokazuju-koliko-je-mucna/7xkghwc [18.2.2024]. 35 “Creepy footage from the hospital, mass funerals, obituaries on 10 pages: Shocking images from Italy since the start of the corona epidemic”, Kurir, 23 March 2020 https://www.kurir.rs/planeta/3433053/jezivi-snimci-iz-b
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olnice-masovne-sahrane-citulje-na-10-strana-potresne-slike-iz-italije-od-p ocetka-epidemije-korone [18.2.2024]. “This is the biggest morgue in Europe! In Barcelona, they no longer have a place to put those who died from corona, this is what they had to do!”, Informer, 3 April 2020 https://informer.rs/planeta/vesti/505886/videoovo-najveca-mrtvacnica-evropi-barseloni-vise-nemaju-gde-umrle-koroneevo-sta-morali-urade; Nemanja Vlačo, “Exclusive: Testimony of a Spanish woman - There is chaos in hospitals, the dead are put in garbage bags”, Kurir, 6 April 2020 https://www.republika.rs/vesti/drustvo/197883/eksklu zivno-svedocenje-spankinje-bolnicama-haos-mrtve-stavljaju-kese-djubre [18.2.2024]. “Mass graves: This is how the dead from the coronavirus are buried in Brazil”, Kurir, 23 April 2020 https://www.kurir.rs/planeta/3452091/masovn e-grobnice-ovako-u-brazilu-sahranjuju-preminule-od-korona-virusa-video [18.2.2024]. “This is a war with no weapons: Sarajevo is still waiting for vaccines”, Radio Free Europe, 24 March 2021 https://www.slobodnaevropa.org/a/sar ajevo-groblja-pandemija-korona-virus/31167519.html?fbclid=IwAR1gVS GSCga44dk7vsS10Bp3InFpo9aUTOMpAU8g0Onv0UVpuMgSra-LS2U [18.2.2024]. M. I. M., “Anti-vaxxers from the neighborhood are changing their minds: He said he wouldn't get vaccinated even if he were dead, so Covid broke him”, Blic, 18 December 2021 https://www.blic.rs/vesti/svet/fata-se-plas ila-vakcine-a-sad-je-odahnula-antivakseri-iz-komsiluka-se-predomisljaju /cld52rx [18.2.2024]. Tanja Milovanović, “Column of 22 funeral vehicles: Photo of corona hell in Serbia”, Nova S, 3 April 2021 https://nova.rs/vesti/hronika/kolona-22-po grebna-vozila-fotografija-korona-pakla-u-srbiji/ [18.2.2024]. “Funeral companies to Poles: Get vaccinated as soon as possible, we have enough work to do without you anyway!”, Kurir, 22 July 2021 https://ww w.kurir.rs/planeta/3734031/poljska-pogrebna-preduzeca-vakcinacija [18.2.2024]. “We have never had this many funerals. The wait for a funeral can be up to five days, cemeteries are open even on Sundays, and undertakers do not remember that there have ever been so many deaths”, Blic, 12 October 2021 https://www.blic.rs/vesti/beograd/nikad-nismo-imali-ovoliko-sahranana-pogreb-se-ceka-i-do-pet-dana-groblja-rade-i/d87k6hq [18.2.2024]. “There is a five-day wait for the funeral. In October, there were 1,900 funerals in Belgrade, 800 more than in the same month last year”, Blic, 17 November 2021 https://www.blic.rs/vesti/beograd/na-sahranu-se-cekapet -dana-u-oktobru-u-beogradu-bilo-1900-pogreba-800-vise-nego/ce1sqft [18.2.2024]. “Ivanuša: A busload of people die from corona every day, if that’s not an alarm - I don’t know what is”, RTS, 21 September 2021 https://www.rts.rs
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w.blic.rs/vesti/drustvo/jeziv-prizor-tela-preminulih-u-crnoj-vreci-u-kov id-bolnici-u-batajnici-lekari/xcyvgfb [18.2.2024]. Anesthesiologist Slavoljub Živković said that people named this hospital after the infamous Jasenovac concentration camp from the Second World War, due to the extremely high patient mortality rate: “Dr. Živković: Something must be changed in the treatment protocol at the hospital in Kruševac before the new wave of diseases that is expected”, Jugpress, 21 July 2021 https://jugpress.com/dr-zivkovic-nesto-mora-da-se-menja-u-p rotokolu-lecenja-u-bolnici-u-krusevcu-pred-novi-talas-oboljenja-koji-se-oc ekuje/ [18.2.2024]. J. S. Spasić, “Angels from the chamber of death. Heartbreaking letter to sisters: Thank you for everyone: C`mon, breathe! Thanks for not letting me go that night!”, Kurir, 27 January 2022 https://www.kurir.rs/vesti/drustv o/3859245/andjeli-iz-sobe-smrti-potresno-pismo-sestrama-hvala-za-svak o-veki-disi-hvala-sto-me-niste-pustile-da-odem-one-noci [18.2.2024]. Jelena S. Spasić, “These people survived the ventilator and now toast with the doctor who saved them!”, Kurir, 31 December 2021 https://www.kurir .rs/vesti/drustvo/3840899/ljudi-koji-su-preziveli-respirator [18.2.2024]. “Ljiljana gave birth in the middle of the covid horror in Bergamo: a man was standing next to her who was just dictating the names in the book of the dead…”, Blic, 28 October 2020 https://www.blic.rs/vesti/drustvo/ljilj ana-se-porodila-usred-kovid-horora-u-bergamu-pored-je-stajao-covek-koj i-je-samo/qwb41ry [18.2.2024]. S. Novosel, “Novi Pazar is urgently acquiring tin coffins and body bags”, Danas, 28 June 2020 https://www.danas.rs/drustvo/novi-pazar-hitno-na bavlja-limene-sanduke-i-dzakove-za-posmrtne-ostatke [18.2.2024]. “The hiss of oxygen and the cries of patients. Apart from that, nothing, just an evil silence... The shocking confession of a volunteer in the Covid hospital in Novi Pazar”, Blic, 17 July 2020 https://www.blic.rs/vesti/drus tvo/sustanje-kiseonika-i-vapaj-pacijenata-osim-toga-nista-samo-neka-zlatisina-potresna/w0ckd2q [18.2.2024]. Jelena S. Spasić, “Barely survived. I believe this is biological warfare, but keep your heads up! Theologian from Hilandar: Right to the doctor as soon as these symptoms start”, Kurir, 17 August 2020 https://www.kurir.rs/ve sti/drustvo/3516211/verujem-da-je-ovo-bioloski-rat-ali-cuvajte-glave-teo log-sa-hilandara-pravo-kod-doktora-cim-krenu-ovi-simptomi [18.2.2024]. N. Ž. P., “I ran away and ran away from corona, in the end it came to my house! I have personally experienced these 3 facts about the virus and I have an important piece of advice”, Blic, 7 August 2020 https://www.blic.r s/vesti/drustvo/bezala-sam-i-bezala-od-korone-na-kraju-mi-je-ona-dosl a-u-kucu-licno-sam-iskusila-ove/559qcf0 [18.2.2024]. “Predrag Kon: Forget about the church and the guests, celebrate like under the Turks”, Naša borba, 29. October 2020 https://nasaborba.com/kon-nis ta-gosti-slava-i-crkva/[18.2.2024].
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63 “Citizens will spend Easter in quarantine. Curfew until Tuesday”, Niške vesti, 14 April 2020. Until recently it was available at: https://niskevesti.rs/ gradjani-ce-uskrs-provesti-u-karantinu-zabrana-kretanja-do-utorka/ [18.2.2024]. 64 Milica Marković, “The virus knows no holidays. Doctor’s appeal: Don’t let a new wave start because of a few days of relaxation, respect the measures”, Blic, 2 May 2021 https://www.blic.rs/vesti/drustvo/virusne-z na-za-praznike-apel-lekara-ne-dozvolite-da-zbog-nekoliko-dana-opustanj a/dysvtt9 [18.2.2024]. 65 “Coronavirus, Easter, and customs: Smashing eggs at a distance”, BBC News na srpskom, 19 April 2020 https://www.bbc.com/serbian/lat/srbija52344785 [18.2.2024]. 66 “In one room, five young people, watching as they are taken out one by one in black bags! Get vaccinated or we will disappear!”, Informer, 11 October 2021 https://informer.rs/vesti/drustvo/643564/vakcinisite-ili-c emo-nestati [18.2.2024]. 67 “They come on their own feet, they leave in wheelchairs: Dr. Adžić Vukičević warns: There is no more room in Batajnica, we are consuming enormous amounts of oxygen”, Blic, 15 October 2021 https://www.blic.rs /vesti/beograd/dodu-na-svojim-nogama-izadju-u-invalidskim-kolicimadr-azic-vukicevic-upozorava-u/l0pql7j [18.2.2024]. 68 “Do not remove the mask even in the toilet. Virologist Banko learns which vaccine protects best: Delta is transmitted by the vaccinated, this is a key change”, Blic, 10 October 2021 https://www.blic.rs/vesti/beograd/ne-ski dajte-masku-ni-u-toaletu-virusolog-banko-otkiva-koja-vakcina-najbolje-st iti/dp7hvvc [18.2.2024]. 69 J. Matijašević, “Exclusive footage from the red zone where you look death in the eye! Scenes from the hospital in Bežanija show the scourge that is mowing down young people in Serbia these days”, Informer, 18 July 2020 https://informer.rs/vesti/drustvo/535029/video-foto-ekskluzivni-snim ak-crvene-zone-gde-gleda-smrti-oci-scene-bolnice-bezaniji-prikazuju-pos ast-koja-ovih-dana-kosi-mlade-srbiji [18.2.2024]. 70 “The end of infection is expected around 3 April, this is shown by the mathematics: Stevančević's new Covid forecast”, Espreso, 17 February 2022 https://www.espreso.co.rs/vesti/drustvo/984879/milan-stevancevic-ko ronavirus [18.2.2024]. 71 J. M. “Before corona, she was completely healthy, but her heart and lungs suffered. The mother in labor died in the Dragiša Mišović hospital five days after an emergency caesarean section”, Informer, 7 April 2021 https:// informer.rs/vesti/drustvo/598705/porodilja-smrt-korona-dragisa-misovic [18.2.2024]. 72 Bojana Milovanović, “More and more children with corona: And babies with a temperature of 39”, Nova S, 7 April 2021 https://nova.rs/vesti/drus tvo/sve-vise-dece-sa-koronom-i-bebe-sa-temperaturom-39/?ref=fbnova&
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fbclid=IwAR2W0LAA0E8Uhi8T3HQFO088yhf7GWHwYsPPqOeQLbUo mpg4UcCgSz-94WE [18.2.2024]. D. K., “Instead of buying a house, I’m buying you a coffin: Grief in the Paunović family from Zaječar after the death of the mother in labor: The last message was – I’m fighting”, Blic, 29 April 2021 https://www.blic.rs/v esti/hronika/umesto-da-kupimo-kucu-ja-ti-kupujem-sanduk-tuga-u-por odici-paunovic-iz-zajecara-nakon/62hy1xz; D. K. “Instead of a wedding, the fiance prepares a funeral for Jovana and two unborn children. Knjaževac mourns for a pregnant woman who died of corona”, Blic, 7 October 2021 https://www.blic.rs/vesti/hronika/umesto-svadbe-vereniksprema-sahranu-za-jovanu-i-dva-nerodjena-deteta-knjazevac/gmbzbw1; A.J.K., “A sneaky virus does not choose. Corona took the lives of four young mothers and four children. After all, only one question remains”, Blic, 1 May 2021 https://www.blic.rs/vesti/drustvo/podmukli-virus-nebira-korona-odnela-cetiri-mlade-mame-i-cetiri-decija-zivota-posle/gn5lg7 y; “Young mother (33) lost her battle with corona! She died before dawn in the hospital in Batajnica”, Blic, 3 May 2021 https://www.blic.rs/vesti/dru stvo/mlada-mama-33-izgubila-bitku-sa-koronom-preminula-pred-zoru-u -bolnici-u-batajnici/fqje5mr; Aleksandra Kocić, “I was left without a wife and a child with 2 daughters! We were afraid to vaccinate her because she was pregnant, and now I lost 2 lives!”, Kurir, 24 August 2021 https://www .kurir.rs/vesti/drustvo/3753097/ostao-sam-bez-supruge-i-nerodjenog-d eteta-sa-dve-male-cerkice-kaze-za-kurir-suprug-preminule-trudnice-iz-vl asotinca [18.2.2024]. Aleksandra Petrović, “The most shocking picture: A baby on a respirator had a cytokine storm”, Nova S 16 April 2021 https://nova.rs/vesti/drustv o/beba-kragujevac-respirator/[18.2.2024]. J. M., K. M., “Unvaccinated parents infected the baby who later died of corona!”, Informer, 23 November 2021 https://informer.rs/vesti/drustvo /653995/nevakcinisani-roditelji-zarazili-bebu [18.2.2024]. “What should we do so that children are less infected? Dr. Ostojić: Vaccination is the only solution”, Blic, 20 April 2021 https://www.blic.rs/vesti/ drustvo/sta-treba-da-uradimo-kako-bi-se-deca-manje-zarazavala-dr-ostoj ic-vakcinacija-je/8stlwr3 [18.2.2024]. I.K.-B.R., “Why does Covid also kill pregnant women?”, Novosti, 8 April 2021 https://www.novosti.rs/vesti/drustvo/984582/zbog-cega-kovid-u bija-trudnice-povecan-broj-pacijentkinja-drugom-stanju-kojima-treba-kise onik-rizik-povecava-gojaznost-visok-pritisak [18.2.2024]. “Pregnant women dying? I am afraid this is just the beginning”, Direktno, 8 October 2021 https://direktno.rs/korona/376157/predrag-sazdanovickoronavirus-porodilja-kragujevac.html [18.2.2024]. “Women get pregnant between two doses of the vaccine, so neither they nor their babies are missing anything: Dr. Jovanović dispels misconceptions about vaccination of pregnant women and those planning to have a
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baby”, Blic, 28 July 2021 https://www.blic.rs/vesti/drustvo/zen e-zatrudne-i-izmedu-dve-doze-vakcine-pa-ne-fali-nista-ni-njima-ni-beba ma-dr/59zk006 [18.2.2024]. Kurir, 12 October 2021. “A Covid-positive baby in the hands of a mother who is suffering from fever. In the children’s ward of KBC Dragiša Mišović: The youngest patient is only 21 days old”, Blic, 24 October 2021 https://www.blic.rs/vesti/beog rad/kovid-pozitivne-bebe-u-rukama-majki-koje-lomi-temperatura-na-dec jem-odeljenju-kbc/6qfgme9 [18.2.2024]. A. J. K., “Mom, I cannot breathe. Stefan (10) became infected with the coronavirus and in just three days he went from a completely healthy child to being barely able to breathe, while his heart was beating like a train”, Blic, 18 October 2021 https://www.blic.rs/vesti/beograd/mama-ne-mog u-da-udahnem-stefan-10-se-zarazio-koronom-i-za-samo-tri-dana-od-potp uno/vpgwyhe [18.2.2024]. I. J. M. “The daughter of the Minister of Labor Kisić Tepavčević was vaccinated: It is the only way to protect ourselves and others from the coronavirus”, Blic, 7 May 2021 https://www.blic.rs/vesti/drustvo/vakcinisanacerka-ministarke-rada-kisic-tepavcevic-to-je-jedini-nacin-da-zasttimo/bl2 dd0m [18.2.2024]. D. L., “‘He asked me, I signed.’ The son (14) of Dragan Šutanovac received the vaccine against the coronavirus: ‘The procedure is simple’”, Blic, 21 August 2021. https://www.blic.rs/vesti/politika/sam-mi-je-trazio-ja-sa m-potpisao-sin-14-dragana-sutanovca-primio-vakcinu-protiv/b4j6ns4 [18.2.2024]. “Hurry up! Young people, run to the Faculty of Traffic: If you get vaccinated today, you get a free gym, sauna and parking!”, Espreso, 11 June 2021 https://www.espreso.co.rs/vesti/beograd/811621/privilegije-zavakcini sane [18.2.2024]. M. M. J., “I am 15 years old, and I am getting vaccinated tomorrow... The questions young people ask about vaccination show how much they are influenced by the anti-vaxxer campaign”, Blic, 9 October 2021 https://ww w.blic.rs/vesti/drustvo/imam-15-godina-i-sutra-se-vakcinisem-pitanja-k oja-mladi-postavljaju-o-vakcinaciji/5sw2kl1; Ana Bellotti Družijanić, “Pfizer bum-bum. How I blew the corona in 3 easy steps in two days”, Blic, 16 October 2021 https://www.blic.rs/vesti/beograd/fajzer-bam-bamkako-sam-za-dva-dana-oduvala-koronu-u-3-laka-koraka/xwmegpd [18.2.2024]. Milica Marković, “Appeal from experts: Teenagers should be vaccinated because they are supercarriers, and here is what they said about pregnant women and children”, Blic, 16 May 2021 https://www.blic.rs/vesti/drust vo/apel-strucnjaka-tinejdzeri-treba-da-se-vakcinisu-jer-su-superprenosio ci-a-evo-sta-su/enk6crg [18.2.2024]. Southern Methodist University, Dallas.
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89 https://twitter.com/SlavicaPlavsic/status/1445889209084964864 [18.2.2024]. 90 “I f*cked the mother of the virus! Biljana Srbljanović defeated the virus and announced good news!”, Informer, 10 April 2020 https://informer.rs/vesti /drustvo/508134/ala-sam-mater-koroni-biljana-srbljanovic-pobedila-vir us-objavila-dobre-vesti [18.2.2024]. 91 She even published her “corona diary notes”: https://javniservis.net/bilja nin-dnevnik-korone/[18.2.2024]. 92 M. G. “They announced that Čeda Jovanović had died, and then he called from the hospital”, Alo, 11 July 2020 https://www.alo.rs/vesti/politika/c edomir-jovanovic-ldp-bolnica-zdravstveno-stanje-korona-virus-upala-plu ca/325544/vest [18.2.2024]. 93 M. J. M., “Confession of a Serbian politician who stayed in the Arena for 11 days because of the coronavirus: Those people do not stop, they are heroes!”, Alo, 9 November 2020 https://www.alo.rs/vesti/drustvo/ispovest -srpskog-politicara-koji-je-zbog-korona-virusa-11-dana-lezao-u-areni-ti-lj udi-ne-staju-oni-su-heroji/355438/vest [18.2.2024]. 94 F. J., “It is true, I am afraid. Željko Joksimović sent a clear message about the coronavirus, and mentioned our experts”, Blic, 13 March 2020 https:// www.blic.rs/zabava/da-se-plasim-plasim-se-zeljko-joksimovic-poslao-ja snu-poruku-o-korona-virusu-pa/vdrbz44; “Corona crushed me! Dejan Milićević barely made it out alive, and now he speaks about the hell he went through because of the wicked virus! He told everyone to be careful”, Informer, 7 August 2020 https://informer.rs/dzet-set/vesti/539846/kor ona-samlela-dejan-milicevic-jedva-zivu-glavu-izvukao-sada-progovoriopaklu-koji-prosao-zbog-opakog-virusa; Jovanka G., “Corona plagues the Serbian jet set: The host is currently fighting Covid, and this is a list of celebrities who have faced the dangerous disease”, Srbija danas, 2 November 2020 https://www.srbijadanas.com/vip/vip/estrada-korona-virus-202010-31; A. V., J. K., “We were at the wedding even though they warned us not to go, what a fool I am: The host and wife of Marko Kon got infected with corona: We thought, for God's sake, there was no way that would happen to us”, Blic, 17 November 2020 https://www.blic.rs/zabava/mil ica-kon-marko-kon-korona-virus-svadba/e5qv229 [18.2.2024]. 95 Ivan Džodić, “Corona gripped Serbian athletes: From Vlahović to Đoković”, Nova S, 23 June 2020 https://nova.rs/sport/ostalo/koronascepala-srpske-sportiste-od-vlahovica-do-dokovica/[18.2.2024]. 96 “Only for Story: Milica Milša and Žarko Jokanović open the doors of their home in Voždovac”, Story, 16 April 2021 https://www.story.rs/celebritynews/flash-news/203306/samo-za-story-milica-milsa-i-zarko-jokanovicotvaraju-vrata-svog-doma-na-vozdovcu [18.2.2024]. 97 I. M. “I felt like I had an alien digging and drilling in my body: Milša about the fight with corona, symptoms and her husband, who ended up in the hospital”, Blic, 17 November 2020 https://www.novosti.rs/scena/poznati
398 VLADAN JOVANOVIĆ
/935383/kad-vanzemaljac-rovari-telu-milica-milsa-borbi-virusom-korona [18.2.2024]. 98 Pero Jovović, “Come to hear the cries of suffocation: Covid letter from Žarko Jokanović”, Nova S, 19 November 2020 https://nova.rs/zabava/do dite-da-cujete-krike-gusenja-kovid-pismo-zarka-jokanovica/[18.2.2024]. 99 “Serbia is a paradise for vaccines, and what about the EU? Italians point to huge differences in the speed of immunization here and in the countries of Western Europe”, Blic, 14 April 2021 https://www.blic.rs/vesti/drustvo/ srbija-je-raj-za-vakcine-a-sta-je-sa-eu-italijani-ukazuju-na-ogromne-razlik e-u-brzini/spy5dc1; “Vaccines as on the menu. Serbia is a paradise for vaccines, faster and more successful than the EU: Austrian state television broadcasts a special report about us tonight”, Kurir, 7 April 2021; https:// www.kurir.rs/vesti/drustvo/3661355/srbija-je-raj-za-vakcine-znatno-brz a-i-uspesnija-od-eu-austrijska-drzavna-televizija-emituje-specijalnu-repor tazu-o-nasoj-zemlji; Nemanja Rujević, “Vaccines for everyone: is Serbia a paradise?”, DW, 7 April 2021 https://www.dw.com/sr/vakcine-za-sve-d a-li-je-srbija-raj/a-57120262 [18.2.2024]. 100 Zorica Radulović, “Kristijan spoke after the test: I have coronavirus, my left ear is bleeding, it is terrible”, Telegraf, 26 November 2021 https://www .telegraf.rs/jetset/vesti-jetset/3423956-oglasio-se-kristijan-nakon-testiranj a-imam-koronu-krvarim-iz-levog-uveta-uzasno-je [18.2.2024]. 101 “I got infected at a funeral. Doctor Grujičić's confession about the fight with corona - this is the most important thing you have to do”, Informer, 26 August 2020 https://informer.rs/vesti/drustvo/544247/zarazila-sam-sahra ni-ispovest-doktorke-grujicic-borbi-koronom-ovo-najbitnije-sto-morate-u radite [18.2.2024]. 102 “The manager of the hospital at the Fair is a veterinarian”, Direktno, 7 April 2020. https://direktno.rs/vesti/drustvo-i-ekonomija/265810/upravnik-b olnice-na-sajmu-veterinar.html; Radivoje Anđelković et al., “Examination of the microbiological status of frozen chicken meat”, in Dragan Milićević, Aurelija Spirić (Eds.), International 56th Meat Industry Conference Meat and Meat Products – Safety, Culture, Development, Life Quality, Book of Abstracts (Belgrade: Institute of Meat Hygiene and Technology, 2011), I-15, pp. 47-48. 103 https://www.unicef.org/laos/stories/heroes-white [18.2.2024]. 104 S. M. P., “A photo of the hands of healthcare workers after 8 hours of wearing gloves at work set Serbian Facebook on fire: the scene is horrible, but realistic!”, Blic, 22 July 2020 https://zena.blic.rs/zdravlje/fotografija-ruku -zdravstvenih-radnika-nakon-8-sati-nosenja-rukavica-na-poslu-zapalila/ wj4e1jr [18.2.2024]. 105 “People are still not aware of the danger. Wounds on Dr Stevanović's face: We hope that when you see these scars, you will finally stay at home”, Kurir, 6 April 2020 https://www.kurir.rs/vesti/drustvo/3441931/rane-na-li cu-doktora-stevanovica-nadamo-se-da-cete-kada-vidite-ove-oziljke-napo kon-ostati-kod-kuce [18.2.2024].
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106 Ana Petrović, Bojana Petrović, “Every empty bed would beat me, I dreamed of the sounds of the machine: The most honest confessions of Serbian heroines from the red zone”, Espreso, 12 May 2021 https://www.espreso.c o.rs/vesti/drustvo/791293/svaki-prazan-krevet-bi-me-dotukao-sanjala-s am-zvuke-aparata-najiskrenije-ispovesti-srpskih-heroina-iz-crvene-zone [18.2.2024]. 107 “We prayed that the heart rate machine would not stop beeping: After these painful words of Slavko Beleslin, your tears will begin to flow by themselves!”, Republika, 2 November 2021 https://www.republika.rs/zab ava/estrada/318442/slavko-beleslin-instagram; “Another death, another straight line! The doctor from KBC Dragiša Mišović wrote a song about which Serbia is buzzing: With tears in my eyes I walk home, I kiss my child and my wife through the mask!”, Informer, 10 November 2020 https://info rmer.rs/vesti/drustvo/562358/pesma-srpski-lekar-korona-koronavirus [18.2.2024]. 108 Radina Vučetić, Nevidljivi neprijatelj.Variola vera 1972 (Beograd: Službeni glasnik, 2022), 236. 109 Jelena Pronić, “Kurir at the place where coronavirus samples are processed 24 hours a day: These are not test tubes, but human lives!”, Kurir, 27 July 2020 https://www.kurir.rs/vesti/drustvo/3504191/kurir-na-mestu-gdese-uzorci-koronavirusa-obradjuju-24-sata-ovo-nisu-epruvete-vec-ljudskizivoti [18.2.2024]. 110 “Radoš Bajić's diary from the red zone of the Covid hospital”, Blic, 28 December 2020 https://www.blic.rs/vesti/drustvo/umri-ko-te-j-dnevnik-rado sa-bajica-iz-crvene-zone-kovid-bolnice-morbidnu-i-zlokobnu/8648qwr [18.2.2024]. 111 Nikola Kojić, “The N1 crew visits the Covid clinic at night: Ominous silence, coughing, and hours of waiting”, N1, 7 July 2020 https://n1in fo.rs/vesti/a617382-ekipa-n1-u-nocnoj-poseti-kovid-ambulanti-zlokobnatisina-kasalj-i-sati-cekanja/[18.2.2024]. 112 https://www.krik.rs/krik-ova-prica-o-kriminalnim-vezama-ministra-lon cara-osvojila-eu-nagradu/[18.2.2024]. 113 Ivan Milićević, “A decade of mistrust: We do not trust Kon since the swine flu”, Nova.rs, 6 July 2020 https://nova.rs/vesti/hronika/dr-konu-nismo-v erovali-ni-u-vreme-svinjskog-gripa/[18.2.2024]. 114 “The Cytostatics Affair: the second time”, Center for Investigative Journalism of Serbia, 12 July 2010 https://www.cins.rs/afera-citostatici-drugi-put/ [18.2.2024]. 115 Zorica Miladinović, “The Commission of KC Niš checked the claims of negligent treatment of surgeon [Lazić]”, Danas, 30 Juny 2020 https://www .danas.rs/vesti/drustvo/komisija-kc-nis-proveravala-tvrdnje-o-nesavesn om-lecenju-hirurga/[18.2.2024]. 116 “I chose the grave site. The entire family of a radiologist from Niš infected with corona – he described the symptoms by day”, Novosti online, 19 July
400 VLADAN JOVANOVIĆ
2020 https://www.novosti.rs/vesti/politika/903371/odabrao-sam-grobn o-mesto-cela-porodica-radiologa-nisa-zarazena-koronom-opisao-simpto me-danima [18.2.2024]. 117 J. V. “A radiologist from Niš warns: This is what the world that the antivaccine advocates look like”, Blic, 14 May 2021 https://zena.blic.rs/zdravl je/dr-aleksandra-ivkovic/54n2gck [18.2.2024]. 118 “Milanko Šekler: Today's Vidovdan Battle takes place every day, on the streets, in bars, at weddings...”, Kurir, 29 June 2021 https://www.kurir.rs/ vesti/drustvo/3718931/milanko-sekler-danasnji-vidovdanski-boj-odvijase-svakodnevno-na-ulicama-u-kafanama-na-svadbama [18.2.2024]. 119 Marica Jovanović, “Vaccines are like a football team. Dr. Shekler explained in detail why mixing vaccines is the best combination for protection against Covid”, Blic, 22 September 2021 https://www.blic.rs/vesti/drustvo/sa-v akcinama-vam-je-kao-sa-fudbalskim-timom-dr-sekler-detaljno-objasnio-z asto-je/zhlbxnh [18.2.2024]. 120 “Dr. Udovičić on immunization. I responsibly claim that the vaccine is safer than the air we breathe and the food we eat”, Blic, 2 May 2021 https://www.blic.rs/vesti/drustvo/dr-udovicic-o-imunizaciji-odgovorn o-tvrdim-da-je-vakcina-bezbednija-nego-vazduh-koji/s1eryys [18.2.2024]. 121 Ž. Jevtić, “I was on the battlefield, I ran the emergency center during the bombing, but corona is worse than all of that”, Blic, 29 May 2020 https://w ww.blic.rs/vesti/drustvo/direktor-kbc-dragisa-misovic-bio-sam-na-ratist u-vodio-urgentni-centar-tokom/7x2jkv3 [18.2.2024]. 122 Ivana Mastilović Jasnić, “The fact that they say that they are young and that the coronavirus cannot do anything to them is simply not true. Colonel Dr. Udovičić explains how the (un)vaccinated fight against corona”, Blic, 1 August 2021 https://www.blic.rs/vesti/beograd/to-sto-govore-da-su-mladi -i-da-im-korona-ne-moze-nista-prosto-nije-tacno-pukovnik-dr/s83hbg0 [18.2.2024]. 123 “Unvaccinated people can die suddenly, even six months after Covid: Serious warning from Dr. Udovičić, he claims that we can have 10,000 infected a day”, Blic, 22 September 2021 https://www.blic.rs/vesti/drustvo/ nevakcinisani-mogu-iznenada-da-umru-i-sest-meseci-posle-kovida-ozbilj no-upozorenje-dr/jeq4tg1 [18.2.2024]. 124 J. S. S. “Dr. Ivo Udovičić to anti-vaxxers: Come to the Covid hospital to change the patients' diapers!”, Kurir, 22 September 2021 https://www.kuri r.rs/vesti/drustvo/3772091/dr-ivo-udovicic-pozvao-antivaksere-da-men jaju-pelene-pacijentima [18.2.2024]. 125 “Young man (31) died of corona. Dr Udovičić: Do not let the last days of your life be spent with creepy monitor alarms”, Blic, 22 November 2021 htt ps://www.blic.rs/vesti/beograd/mladic-31-preminuo-od-korone-dr-du ovicic-ne-dozvolite-da-poslednje-dane-zivota/3yhst5b [18.2.2024]. 126 “From coughing to death, it is a thin thread: A pulmonologist discovered the development of the disease in those infected with Covid”, Espreso, 31
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August 2021 https://www.espreso.co.rs/vesti/drustvo/863169/od-kasljuca nja-do-smrti-tanka-je-nit-pulmolog-otkrio-tok-bolesti-zarazenih-kovidom [18.2.2024]. 127 Ivana Mastilović Jasnić, “`I did not get vaccinated, and now I feel guilty‘. Blic in VMC Karaburma: The unvaccinated are fighting for breath, and those who received the vaccine watched Djokovic”, Blic, 1 August 2021 htt ps://www.blic.rs/vesti/beograd/nisam-se-vakcinisao-i-sad-mi-je-krivoblic-u-vmc-karaburma-nevakcinisani-se-bore-za/92f9zch [18.2.2024]. 128 Milijana Milkšić, “`I am sorry, it is too late`. Before this doctor inserts a tube into them, all the patients beg her for the vaccine: `They cry and say they made a mistake`”, Blic, 27 July 2021 https://www.blic.rs/vesti/svet/zaomi-je-prekasno-je-pre-nego-sto-im-ova-doktorka-stavi-cevcicu-svi-pacijen ti-je/fm90rq5 [18.2.2024]. 129 A. D. “The journalist showed on Instagram what the consequences of corona look like: Greetings to skeptics…” Blic žena, 17 August 2020 https:/ /zena.blic.rs/zdravlje/novinarka-okacila-post-i-pokazala-kako-izgledaju -posledice-korone-pozdrav-skepticima/j1nnsyj [18.2.2024]. 130 “An antivaxxer laughed at vaccines, died of corona: Pray for me, I am going on a ventilator”, Srbija danas, 25 July 2021 https://www.sd.rs/ vesti/svet/antivakser-korona-vera-crkva-vakcinacija-vakcine-kovid-2021 -07-25?ak=Bn1HdxUj [18.2.2024]. 131 “Do not be like my mom who refused the vaccine and died alone in utter agony - nurse's dire warning to anti-vaxxers”, Noizz, 21 August 2021 https://noizz.rs/noizz-news/strasna-poruka-medicinske-sestre-koja-je-o stala-bez-majke-zbog-korone/mz59r1y [18.2.2024]. 132 “It is not the vaccine that is dangerous, it is the coronavirus. Anti-vaxxer died of corona: He made fun of people who got vaccinated, said that coronavirus is a conspiracy of Big Pharma, and then he got infected”, Kurir, 6 August 2021 https://www.kurir.rs/planeta/3743625/anivakser-umro-o d-korone [18.2.2024]. 133 Jovana Radovanović, “Bad choice. They showed up, but it was too late: Antivaxxers who became the best argument for vaccination”, Blic, 8 August 2021 (https://www.blic.rs/vesti/svet/los-izbor-oni-su-se-pokajali-al i-bilo-je-kasno-antivakseri-koji-su-postali-najbolji/xbnjmk2 [18.2.2024]. 134 “A terrible fate, the family refused to be vaccinated: Now they all died, he was left alone, sadness!”, Espreso, 11 August 2021 https://www.espreso.co .rs/svet/planeta/851265/tuzna-sudbina-porodica-odbijala-da-se-vakcini se-sada-su-svi-mrtvi-ostao-je-sam [18.2.2024]. 135 “The dying anti-vaxxer`s last wish: Vaccinate my children”, N1, 20 August 2021 https://rs.n1info.com/svet/poslednja-zelja-antivakserke-na-samrtivakcinisite-mi-decu/ [18.2.2024]. 136 “The mother got vaccinated but the sons did not want to: both died on the same day, and that was not the worst nightmare!”, Espreso, 25 August 2021 https://www.espreso.co.rs/svet/svastara/859237/dzeksonvil-nevakcini sana-braca-umrla-istog-dana-video [18.2.2024].
402 VLADAN JOVANOVIĆ
137 “I left my boyfriend because he is an anti-vaxxer”, Objektiv, 1 September 2021 https://objektiv.rs/vest/789571/ostavila-sam-decka-jer-je-antivakse r-prelomila-sam-kad-je-izgovorio-ovo-ispovest-dragane-28-iz-nisa/ [18.2.2024]. 138 https://twitter.com/SasaRadulovich/status/1377685782450872327?s=20 [18.2.2024]. 139 Božica Luković, “All the arguments against the mask - and why they fall flat”, Nova S, 22 July 2020 https://nova.rs/zdravlje/da-li-maske-stvarnostite-svi-argumenti-protiv-maski-i-zasto-padaju-u-vodu/[18.2.2024]. 140 “Hunger for air - the TV N1 at the Bežanijska kosa Covid hospital”, N1, 28 July 2020 https://n1info.rs/vesti/a624050-najava-glad-za-vazduhom/ [18.2.2024]. 141 M. M., “I feel like a tornado crushed me! Businessman Veselin Jevrosimović spoke about the hell he went through in the fight with corona!”, Informer, 28 October 2020 https://informer.rs/vesti/drustvo/559150/osecam-kao-tornado-samleo-biznismen-veselin-jevrosimovic-progovorio-paklu-k oji-prosao-borbi-koronom [18.2.2024]. 142 N. N. G., “Never a more difficult situation, the black record broken! Corona shock: 17 people died, a dramatic number of patients on ventilators”, Blic, 14 November 2020 https://www.blic.rs/vesti/drustvo/nikad-teza-situaci ja-crni-rekord-srusen-korona-sok-umrlo-17-ljudi-dramatican-broj/872fsm v; “People, let us smarten up. Serbia on the brink of disaster: Corona is raging! Here's where the state of emergency has been declared and what it means”, Kurir, 14 November 2020 https://www.kurir.rs/vesti/srbija/356 7513/srbija-na-ivici-katastrofe-korona-divlja-evo-gde-je-sve-proglasena-v anredna-situacija-i-sta-to-znaci; “This is horror! Almost 4,000 newly infected, more and more people on ventilators!”, Espreso, 14 November 2020 https://www.espreso.rs/vesti/drustvo/664041/korona-presek-brojke [18.2.2024]. 143 Dragana Krstić, “Covid hospital doctor: Death takes its toll. You close your eyes, zip up the body bag, go home”, Luftika.rs, 27 July 2020 https://luftika.rs/doktorka-kovid-bolnica/[18.2.2024]. 144 Aleksandar Pavlović, “I still have not: On semi-vaccinators and vaxeroskeptics”, Peščanik, 3 May 2021 https://pescanik.net/nisam-jos-opoluvakc inasima-i-vakseroskepticima/[18.2.2024]. 145 Aleksandar Mojašević, Stefan Stefanović, What do we mean when we say... Is the health of the nation (or humanity) more important than freedom? (BeogradNovi Sad: IFDT, 2022). 146 CRPS: Centar za razvojnu politiku i saradnju (Center for Development Policies and Cooperation). 147 https://www.facebook.com/watch/?v=545641726087378 [18.2.2024].
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148 “DS and PSG call on citizens of Serbia to get vaccinated”, RTV, 4 April 2021 https://www.rtv.rs/sr_lat/drustvo/ds-i-psg-pozivaju-gradjane-srbije-na -vakcinaciju_1225394.html [18.2.2024]. 149 It belongs to the Springer family, just like Belgrade’s Blic, well-known for its unscrupulous intimidation of readers. 150 Radovan Balać, “Anesthesiologist from Novi Sad: The hardest thing is when you see the fear in the eyes of people who are struggling for air”, Danas, 31 July 2021 https://www.danas.rs/drustvo/anesteziolog-iz-novo g-sada-najteze-je-kad-vidite-strah-u-ocima-ljudi-koji-se-bore-za-vazduh/ ?fbclid=IwAR2Gq66gUGJS1b15jIWNKP1XzZsqOf2NlR2GIblJNj9DpJIUD 8KWBidGQtk [18.2.2024]. 151 Milica Radenković, “Dangerous medical petition against children’s vaccination”, Danas, 13 August 2021 https://www.danas.rs/drustvo/opasna-lekarska-peticija-protiv-vakcinisanja-dece/[18.2.2024]. 152 “CDC: Recommendation to pregnant women to vaccinate”, Danas, 11 August 2021 https://www.danas.rs/svet/cdc-preporuka-trudnicama-da-sevakcinisu/ [18.2.2024]. 153 Milica Ljubičić, “Disinformation and coronavirus: In 2021, anti-vaxxers dominated”, Raskrikavanje: projekat portala KRIK, 9 January 2022 https://www .raskrikavanje.rs/page.php?id=Dezinformacije-i-korona-U-2021—domini rali-antivakseri-945 [18.2.2024]. 154 Nemanja Lisinac, “When I got out of the red zone, half of the patients did not show up. They died”, Nova S, 10 October 2021 https://nova.rs/vesti/d rustvo/kad-sam-izasla-iz-crvene-zone-pola-pacijenata-mi-se-nije-pojavilo -umrli-su/[18.2.2024]. 155 Milena Ilić Mirković, “The red zone of Batajnica: Come and see how the unvaccinated die”, Nova S, 9 October 2021 https://nova.rs/vesti/drustvo /crvena-zona-batajnice-dodjite-da-vidite-kako-umiru-nevakcinisani/[18.2.2024]. 156 Rastislav Dinić, “Vaccines and patriotism”, Peščanik, 21 August 2021 https://pescanik.net/vakcine-i-patriotizam/[18.2.2024]. 157 “Ceca revealed how she feels after the vaccination: the Serbian folk star announced whether she had any side effects”, Novosti, 24 April 2021 https://www.novosti.rs/scena/poznati/990734/ceca-otkrila-kako-osecanakon-vakcinacije-srpska-folk-zvezda-saopstila-ima-neke-nuspojave [18.2.2024]. 158 “Bishop Stefan on vaccination”, Alo, 21 March 2021 https://www.alo.rs/v esti/drustvo/vladika-stefan-o-vakcinaciji-video/397526/vest [18.2.2024]. 159 “Thanks, Jelena! I believe that her decision will affect the young: Vesić welcomed Karleuša's decision to be vaccinated in the Ušće shopping mall”, Espreso, 5 May 2021 https://www.espreso.co.rs/vesti/beograd/786413/h vala-jeleni-verujem-da-ce-njena-odluka-uticati-na-mlade-vesic-pozdravio -karleusinu-odluku-da-se-vakcinise-u-uscu; “The Hurricanes have an
404 VLADAN JOVANOVIĆ
important message for you! Vaccination is the only way to beat the corona!”, Informer, 3 June 2021 https://informer.rs/dzetset/vesti/612809/uragank e-evrovizija-goran-vesuc-vakcina [18.2.2024]. 160 J. S. Spasić, “How to promote vaccination of those between 18 and 30 years old. Only 16 percent of young people received the vaccine! Dr. Mirsad Đerlek for Kurir: Here are 10 suggestions for what to give them to get vaccinated!”, Kurir, 14 June 2021 https://www.kurir.rs/vesti/drustvo/3707433/s vega-16-ih-je-primilo-vakcinu [18.2.2024]. 161 Ružica Kantar, “Too expensive. A vaccine is a lifesaver: An unvaccinated family, returning by plane from vacation, will pay 120 euros just to enter Serbia!”, Kurir, 3 June 2021 https://www.kurir.rs/vesti/drustvo/3701107 /vakcina-je-spas [18.2.2024]. 162 “95% of people who returned from Montenegro and Albania were infected! Dr. Jerkan: The situation is worse than in December”, Espreso, 8 September 2021 https://www.espreso.co.rs/vesti/drustvo/867843/miloradjerkan-zarazeni-korona [18.2.2024]. 163 “Lottery and other incentives: An apartment or a car for vaccinated students, new exam deadlines for vaccinated students”, Kurir, 22 July 2021 https://www.kurir.rs/vesti/drustvo/3733579/i-lutrija-i-druge-stimulacije-st an-ili-auto-za-pelcovane-novi-ispitni-rokovi-za-vakcinisane-studente [18.2.2024]. 164 “MASA appeals to provide conditions for the return of students to the faculties”, 29 September 2021. https://akademska-masa.org/masa-apelujeda-se-obezbede-uslovi-za-povratak-studenata-na-fakultete/ [18.2.2024]. 165 “Serbian scientist on the Pfizer vaccine: So natural that you can make grandma’s cake out of it”, BIZLIfe, 14 December 2020 https://bizlife.rs/srp ska-naucnica-o-fajzer-vakcini-toliko-prirodna-da-mozete-bakin-kolac-odnje-da-naravite/[18.2.2024]. 166 J. A. K., “Just in case. Every 10 days he went to get vaccinated: He received five doses, he was caught on the sixth attempt”, Blic, 28 August 2021. https: //www.blic.rs/slobodno-vreme/vesti/sto-je-sigurno-sigurno-je-na-svaki h-10-dana-isao-da-se-vakcinise-primio-pet-doza/8j96cmx [18.2.2024]. 167 S. B., “Mandatory vaccination should be introduced. Vuk Drašković received the third dose of the vaccine and said that he supports the immunization of the population”, Blic, 17 August 2021 https://www.blic.rs/vesti/p olitika/treba-uvesti-obaveznu-vakcinaciju-vuk-draskovic-primio-trecu-d ozu-vakcine-i-porucio/qyvhqkf [18.2.2024]. 168 She jokingly expressed the expectation that everyone should get vaccinated, so that life could return to normal and she would finally get married: G. N., “Today I received the Chinese vaccine, here is why I chose it, but also why I will continue to wear a mask – the reason is simple”, Blic, 2 January 2021 https://www.blic.rs/slobodno-vreme/iskustvo-novinarke-
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blica-danas-sam-primila-kinesku-vakcinu-evo-zasto-sam-je-odabrala/gp h8tsl [18.2.2024]. 169 Ivana Anđelković, “Blic journalist received the third dose. In January and February I was vaccinated with Sinopharm, in May I had an encounter with corona, and now I decided to mix vaccines”, Blic, 23 August 2021 https ://www.blic.rs/vesti/drustvo/novinarka-blica-primila-trecu-dozu-u-jan uaru-i-februaru-vakcinisana-sam-sinofarmom-u/tszx4el [18.2.2024]. 170 “Blic journalist did an antibody test after the third dose: These are the results of the Sinofarm-Pfizer combination”, Blic, 8 September 2021 https:// www.blic.rs/vesti/drustvo/novinarka-blica-uradila-test-na-antitela-posl e-trece-doze-ovo-su-rezultati/r6qwwv [18.2.2024]. 171 “‘Traitors of civilization have to come to their senses.’ Virologist Tanja Jovanović’s message to anti-vaxxers”, Blic, 18 September 2021 https://ww w.blic.rs/vesti/drustvo/izdajnici-civilizacije-da-se-dozovu-pameti-poruk a-virusologa-tanje-jovanovic/xphzn1n [18.2.2024]. 172 “What it really looks like when someone you love dies in a Covid hospital. They leave, cut off from their families, the last time you see them is in the infirmary, and they are all buried in a special way”, Blic, 27 September 2021 https://www.blic.rs/vesti/beograd/kako-zaista-izgleda-kada-ti-neko-na jdrazi-umre-u-kovid-bolnici-odlaze-odseceni-od/z2wklr1 [18.2.2024]. 173 Lazara Marinković, “Coronavirus and conspiracy theories: Are families being offered money to ‘agree’ that the deceased died of the coronavirus”, BBC News na srpskom, 25 November 2020 https://www.bbc.com/serbian/l at/srbija-55061980 [18.2.2024]. 174 “The city of Novi Sad continues to pay 100,000 dinars to the families of those who died from Covid”, 021.rs, 2 February 2021 https://www.021.rs/ story/Novi-Sad/Vesti/265166/Grad-Novi-Sad-nastavlja-da-isplacuje-100 000-dinara-porodicama-preminulih-od-kovida.html [18.2.2024]. 175 “Trifunović full of antibodies: He also sent an important message”, Direktno, 6 March 2021 https://direktno.rs/magazin/zabava/poznati/3389 28/branislav-trifunovic-antitela-koronavirus-vakcina-fajzer.html [18.2.2024]. 176 J. S. Spasić, “And they have their turn. Immunization: Children over 12 years of age will receive the vaccine with parental consent”, Kurir, 10 June 2021 https://www.kurir.rs/vesti/3705927/pelcovanje-deca-starija-od-12godina-dobijace-vakcinu-uz-saglasnost-roditelja [18.2.2024]. 177 Solomon et al., Consumer Behaviour.
Formation zum Gehorsam. Das Medizinstudium, das Arztsein und die Eliminierung des kritischen Geistes1 Paul Cullen
I.
Einleitung
Wenn man in hundert Jahren auf die Corona-Zeit zurückblickt, wird ein bestimmendes Merkmal die zentrale Rolle der Ärzteschaft sein. Kennzeichnend für das Verhalten dieser Berufsgruppe war die kritiklose Übernahme des herrschenden Narrativs, auch wenn dieses plötzlich wechselte oder sich in offensichtlichen Widersprüchen verstrickte. Daraus folgte die fast vollständige Gleichschaltung der Meinungen innerhalb des Berufstands, die der Medizinstudenten eingeschlossen. Zwar kam Druck „von oben“, sowohl auf den einzelnen Arzt als auch auf die Standesorganisationen, doch die Mehrheit der Ärzte und Studenten brauchte diesen nicht. Viele haben ihn nicht einmal wahrgenommen. Vielmehr entstand der Impuls zum „Mitmachen“ innerhalb der Ärzte- und Studentenschaft von allein, was in Forderungen nach noch strengeren Maßnahmen gipfelte als denen, die ohnehin bereits vorgeschrieben waren. Der Höhepunkt dieses gegenseitigen Hochschaukelns war dann der Ruf nach einer Covid-19-Impfpflicht Ende des Jahres 2022, die daraufhin in fast allen Einrichtungen des Gesundheitswesens eingeführt wurde. Aufgrund der Neuartigkeit der Impfstoffe und ihrer kurzen Erprobungszeit war es unmöglich, unerwünschte Wirkungen zu kennen, vor allem auf lange Sicht. Eine informierte Einwilligung der Patienten für die Impfung war somit gar nicht möglich. Eine Behandlung anzuwenden, ohne ihr Risiko zu kennen, verletzte zudem das Prinzip des „Zunächst keinen Schaden anrichten“, das seit Jahrtausenden eine Grundlage medizinischen Handelns bildet. Trotzdem hat sich die Ärzteschaft vom ersten Tag an aus innerer Überzeugung heraus an der Covid-19-Impfkampagne beteiligt. Nur ganz vereinzelt haben sich Ärzte und Studenten diesem Trend widersetzt. Diejenigen, die den Mut dazu
407
408 PAUL CULLEN aufbrachten, sahen sich schärfsten Repressionen durch den eigenen Stand ausgesetzt. Ausgehend von diesen Beobachtungen stellen sich wichtige Fragen: Wie konnte es zu diesem massiven Versagen des medizinischen Gewissens, der medizinischen Urteilskraft und zu dieser kritiklosen Anpassung der Ärzteschaft kommen? Warum war die Konformität der Ärzte mit den „Corona-Maßnahmen“ mindestens so hoch wie bei anderen Berufsgruppen, obwohl medizinische Grundkenntnisse hätten genügen müssen, um frühzeitig zu erkennen, dass das offizielle Narrativ nicht stimmig war? Bei diesen Fragen geht es nicht darum, ob die Covid-Maßnahmen angemessen, die Covid-Impfstoffe wirksam und sicher waren oder nicht, sondern um das fast vollständige Fehlen einer Diskussion innerhalb der Ärzteschaft über eine grundlegende Aufgabe der Medizin – eben zunächst keinen Schaden anzurichten. Es schließt sich zudem die Frage an, warum die Mehrzahl der Ärzte bis heute nicht die geringste Neigung zeigt, selbst offensichtliche Fehler zuzugeben, wie die Impfung von Kindern, die Diskriminierung und Ausgrenzung von Ungeimpften oder die Unterstützung einer medizinisch sinnlosen Impfpflicht im Gesundheitswesen? Mein Beitrag ist der Versuch, diese Fragen zu beantworten. So möchte ich die historischen Wurzeln dieser Haltung freilegen und insbesondere untersuchen, inwiefern die ärztliche Ausbildung hierbei eine Rolle spielt – und zwar nicht im Sinne einer Übertragung von Wissen, sondern im Sinne des französischen Wortes Formation.
II.
Die Eigenarten des Medizinstudiums
Zunächst ist es wichtig zu erklären, wie stark sich die Ausbildung der Ärzte von allen anderen Studiengängen unterscheidet. Das Studium der Medizin ist zum einen wesentlich verschulter als die meisten anderen Studiengänge und bietet nur geringe Wahlmöglichkeiten. Zum anderen beinhaltet es eine Unmenge an Daten und Wissen, wobei die konzeptionelle Pädagogik des Faches sich dadurch kennzeichnet, dass die Vermittlung von Deduktions- und Abstraktionsfähigkeiten im umgekehrten Verhältnis zur Daten- und Wissensmenge steht. Dies mag teilweise berechtigt sein, denn Medizin ist eine Erfahrungsdisziplin und stets ein Dienst am Menschen in seinem vulnerabelsten Zustand. Gerade in kritischen Situationen sind eingeübte Routinen und auswendig gelerntes Wissen daher wichtig und mitunter sogar lebensnot-
FORMATION ZUM GEHORSAM 409 wendig. Intensivstation, Notaufnahme oder Operationssaal sind nicht die Orte, um wissenschaftliche oder medizinethische Diskussionen zu führen. Das strikte Befolgen formeller oder informeller Anweisungen der Vorgesetzten ist eine weitere Eigenart des Medizinstudiums. Tatsächlich lässt es sich eher mit der Ausbildung eines Piloten oder eines Militäroffiziers vergleichen als mit der vermittelnden Einübung eines kritischen Geistes, wie dieses zumindest bis vor wenigen Jahren in anderen Studiengängen zum Programm gehörte. Die Sozialisation des Medizinstudenten erfolgt zudem informell und non-verbal, wodurch sie aber nicht weniger wirksam wird. Im Gegenteil: Es herrscht eine Vielzahl von unausgesprochenen Verhaltensnormen und Tabus, die das studentische Leben und später das des Arztes prägen, ohne dass sie je explizit artikuliert werden. Ausschließlich in der Medizin existiert zudem eine so inhärent enge Verknüpfung zwischen Studium und Beruf. Ein weiterer Unterschied zu anderen Fächern ist die Tatsache, dass das Arztsein gerne als eine Berufung angesehen wird, als eine Wesenseigenschaft also, die die ganze Person erfasst und die nicht wie in einem normalen Beruf einfach abgelegt werden kann. Man impliziert eine grundsätzlich fürsorgliche Einstellung, eine hohe moralische Grundhaltung und eine Opferbereitschaft, sollte es zu einem Konflikt zwischen dem ärztlichen Dienst und anderen Lebensnotwendigkeiten wie denen des privaten Bereichs kommen. Diese Eigenschaften des Medizinstudiums haben ihre Schattenseite. Die strenge Hierarchie, das elitäre Bewusstsein, die Intensität, der Korpsgeist, sind prägende Merkmale, die Kritik von außen abprallen lassen und ein Hinterfragen des eigenen Tuns erschweren. Medizin ist konservativ. Innovationen werden in der Regel skeptisch gesehen und als „systemfremd“ betrachtet. Deshalb stammen fast alle wichtigen Innovationen nicht vom Medical Establishment, sondern von der Peripherie oder aus den aus historischer Sicht weniger prestigeträchtigen medizinischen Berufen wie der Chirurgie.2 Grundsätzlich ist dieser Konservatismus positiv zu bewerten. Niemand möchte der Experimentierfreudigkeit seines Arztes bei jedem Besuch ausgesetzt sein. Doch führt sie auch dazu, dass in Stresssituationen die gesamte Ärzteschaft en Bloc funktioniert. Ist die Linie klar, laufen alle in die gewünschte Richtung,
410 PAUL CULLEN auch wenn sie nachweislich falsch ist und Gefahr läuft, Schäden am Menschen anzurichten.
III. Eine kurze Geschichte der Medizin Die Anfänge Der Beruf des Arztes ist sehr alt. Bereits für die Steinzeit, noch vor der Entwicklung der Schrift, gibt es Hinweise auf Medizinmänner und Schamanen, die neben der Verwendung von Heilkräutern versuchten, Patienten zu heilen, indem sie durch übernatürliche Methoden krankmachende Dämonen austrieben. Der wahrscheinlich früheste namentlich bekannte Arzt war Imhotep, Baumeister und Priester am Hof des ägyptischen Pharaos Djoser, der während des dritten Jahrtausends v. Chr. nicht nur für seine Heilkunst bekannt war, sondern auch als Architekt eine der ältesten Pyramiden plante und erbauen ließ.3 Ägyptische Papyri aus der Zeit um 1500 v. Chr. enthalten die ältesten Beschreibungen chirurgischer Behandlungen, von der Wundversorgung bis zur Operation von Tumoren oder Abszessen. Auch zu dieser Zeit wurden Krankheiten auf übernatürliche Ursachen zurückgeführt.4
Paradigmenwechsel hinsichtlich der Krankheitsursache: Von der göttlichen Strafe zum natürlichen Ursprung In Europa fand etwa im fünften Jahrhundert v. Chr. im heutigen Kleinasien ein Paradigmenwechsel statt. Krankheiten wurden nicht nur als Strafe übernatürlicher Kräfte gesehen, sondern deren Ursachen immer mehr in der Natur und der Lebensweise des Erkrankten gesucht. Von Empedokles von Agrigent (ca. 495 bis ca. 435 v. Chr.) stammt die Theorie der vier Urelemente Feuer, Wasser, Erde, und Luft und von Philistion von Lokroi (ca. 427 bis ca. 347 v. Chr.) die Lehre von der Mischung dieser vier Elemente im Körper des Menschen, denen er zudem die vier Grundeigenschaften, heiß oder kalt, nass oder trocken, zuordnete. Nach Philistion entstand Krankheit aus einem Ungleichgewicht der vier Elemente. Damit legte er die Basis für die später aufkommende Säftelehre. Auf der Halbinsel Knidos, der Insel Kos, und in Kroton auf Sizilien entstanden Heilerdynastien, deren bekanntester Vertreter Hippokrates von Kos (ca. 460 bis ca. 370 v. Chr.) war. Obwohl in Wirklichkeit nicht von Hippokrates geschrieben, sondern nachträglich zusammengesetzt, bildeten die sogenannten hippo-
FORMATION ZUM GEHORSAM 411 kratischen Schriften die Grundlage der Medizin für viele Jahrhunderte. Sie bestehen aus 72 Texten auf mehr als 89 Schriftrollen, die zwischen dem fünften und dem zweiten Jahrhundert v. Chr. entstanden sind. Als wichtigster Bestandteil dieser Schriften hat sich der sogenannte „Eid des Hippokrates“ herauskristallisiert, der bis heute die Grundlage der medizinischen Ethik bildet. Zwar kann man kritisieren, dass dieser Eid auch die Funktion hatte, die Ärztezunft als eine Art Männergilde nach außen hermetisch abzuschotten, doch hat er die Prüfung der Zeit bestanden, weshalb ich hier eben jenen Satz daraus zitieren möchte, der für unser heutiges Dilemma von besonderer Relevanz ist: „Die (diätetischen) Verordnungen werde ich nach Kräften und gemäß meinem Urteil zum Nutzen der Kranken (‚Salus aegroti suprema lex‘) einsetzen, Schädigung und Unrecht aber ausschließen (‚Primum nihil nocere‘)“. Die lateinischen Redewendungen, die erst in römischer Zeit entstanden sind, haben bis in unsere Zeit überdauert.5 Obwohl etwa 400 v. Chr. geschrieben, geriet der hippokratische Eid in Vergessenheit und wurde erstmals wieder 1518 als Promotionseid in der Universität Wittenberg verwendet – im selben Jahr, in dem Philipp Melanchthon (1497-1560) seine Professur für Altgriechisch dort antrat. Seine weltweite Verbreitung fand er nach dem Zweiten Weltkrieg als Reaktion auf den Missbrauch der Medizin in Deutschland während des Nationalsozialismus sowie in Japan während des Zweiten Japanisch-Chinesischen Kriegs (1937 – 1945).6 Wie Axel Bauer, Professor für Medizinethik und Geschichte der Medizin, notierte, betrieben die Hippokratiker „keine diagnostische Medizin, sondern eine prognostisch orientierte Heilkunde, die vor allem auf der korrekten Deutung körperlicher Zeichen (Semiotik) basierte. Eigene Beobachtung und langjährige Erfahrung waren hierzu notwendig. Wer Arzt werden wollte, ging zunächst bei einem anerkannten Meister in die Lehre, der den jungen Mann theoretisch und praktisch ausbildete. Daraus folgte auch, dass der Eid vor Beginn der Ausbildung abgelegt wurde und nicht erst nach ihrem Abschluss.“7
Die Teilung in der medizinischen Versorgung: Ein elitäres Berufsbild des Arztes entsteht Bereits in der Entstehungszeit der Hippokratischen Schriften während des Vorchristentums teilte sich die Medizin in zwei Zweige auf, die erst wieder im 19. Jahrhundert, also mehr als zweitausend Jahre später,
412 PAUL CULLEN zusammenkommen sollten: eine handwerkliche Medizin für das Einrichten von Brüchen oder Verrenkungen, für Amputationen oder die Entlastung von Abszessen; und eine innere Medizin basierend auf dem Konzept des Ungleichgewichts verschiedener Körpersäfte. Einem Polybos (um ca. 410 v. Chr.), dem Schwiegersohn Hippokrates’, wird der Satz zugeschrieben: „Der Körper des Menschen hat in sich Blut, Schleim und zweierlei Galle, die gelbe und die schwarze. Diese Qualitäten sind die Natur seines Körpers, und durch sie wird er krank und gesund.“8 Es ist leicht, über die damaligen Vorstellungen zu schmunzeln, doch sind uns solche Ideen oft wesentlich näher, als wir uns das bisweilen eingestehen. Bis heute haben sich etwa die Bezeichnungen der Säftelehre in unserer Sprache gehalten: Choleriker (gelbe Galle), Phlegmatiker (Schleim), Melancholiker (schwarze Galle), Sanguiniker (Blut). Und in mancherlei Hinsicht waren die damaligen Ärzte sogar näher an der Lebenswirklichkeit als wir. So sahen sie den Menschen als eine integrierte Gesamtheit und nicht als die Summe von einzelnen Organen und zellulären Strukturen. Wie der Radiologe und Medizinkritiker Gerd Reuther sagt, hatte dieser rationale Zugang zum Menschen auf der anderen Seite jedoch eine gravierende Folge: „Die Menschen begannen mit einer Krankheitstheorie, den Glauben an ihre eigenen Selbstheilungskräfte zu verlieren. Genesungen aus eigener Kraft wurden zu „Wunderheilungen“ oder konnten scheinbar nur durch Heiler, Schamanen, Geistliche und Könige bewerkstelligt werden.“9 Nach und nach verdrängten die hippokratischen Ärzte die traditionelle Volksmedizin, auch später in römischer Zeit war dies der Fall. Wie Reuther schreibt, stand eine Weiterentwicklung naturheilkundlicher Mittel nicht auf dem Plan.
Galen stellt die Weichen für die nächsten 2000 Jahre Um 300 v. Chr. führte Praxagoras von Kos (ca. 340 v. Chr.) zusammen mit seinem Schülern Herophilos von Chalkedon (ca. 335 bis ca. 280 v. Chr.) und Erasistratos von Keos (ca. 305 bis ca. 250 v. Chr.) in Alexandria erste Sektionen an Leichen durch. Die ersten handfesten Beobachtungen zur Anatomie gehen auf diese vorchristlichen Sektionen zurück. Verschriftlicht durch Galen von Pergamon (ca. 129 bis ca. 216 n. Chr.), bildete dieses Wissen über rund 1400 Jahre hinweg bis hin zur
FORMATION ZUM GEHORSAM 413 Veröffentlichung des Werkes De humani corporis fabrica von Andreas Vesalius (1514 – 1564) im Jahr 1543 die Grundlage der Anatomie. Für Galen, der vehement die Viersäftelehre vertrat, waren natürliche Faktoren wie Klima, Alter und Geschlecht weniger bedeutsam für die Entstehung von Krankheiten. Als viel wichtiger betrachtete er die Lebensweise des Menschen. Auf diesem Weg verband sich mit der Krankheit erstmalig das Stigma der Schuld, das bis heute nicht erloschen ist. Auf Galen geht daneben die Lehre der sogenannten „Plethora“ zurück, wonach ein Großteil der inneren Erkrankungen auf eine Blutüberfülle zurückzuführen ist, die man durch Aderlass behandelte. Neben Diätvorschriften galt der Aderlass deshalb als Universalheilmittel für die nächsten 1700 Jahre und wurde noch Ende des 19. Jahrhunderts regelmäßig praktiziert. Auch die Beschreibung des Blutkreislaufs im Jahr 1628 durch William Harvey (1578–1657) konnte diese Praxis nicht verdrängen. Mit Ausnahme weniger seltener Erkrankungen, wie etwa der Eisenüberladung oder dem extremen Bluthochdruck, hat der Aderlass dem Patienten mit Sicherheit nicht genutzt, sondern ihm viel mehr geschadet. Nichtsdestotrotz empfahlen die Autoren eines populären Medizinlehrbuchs noch 1920 den Aderlass für die Behandlung von Herzbeutelentzündung.10 Mit dem Zerfall des Römischen Reiches Ende des 5. Jahrhunderts existierte die griechisch-römische Ärztetradition nur noch in Salerno in Italien weiter. Das Kloster Monte Cassino richtete hier ein Hospital ein, um Kranke auf der Hinreise ins Heilige Land und auf dem Rückweg aus diesem zu versorgen. Salerno war im 13. Jahrhundert noch als einzige Medizinschule anerkannt durch den Stauferkaiser Friedrich II. (1194–1250), den Enkel von Friedrich Barbarossa (1122–1190).11
Die neue Ärzteschaft breitet sich in Europa aus Im Rest von Europa benutzte man weiterhin Pflanzen und Erden, Zaubersprüche, Trance-Techniken sowie bewusstseinsverändernde Drogen. Behandlungen wurden an Kultplätzen von Schamanen, heilkundigen Frauen und Druiden ausgeübt. Die Klostermedizin hat dieses Wissen teilweise übernommen. Karl der Große (747–814) verfügte, dass alle Klöster und Hospitäler Gärten anzulegen und Heilpflanzen anzupflanzen hatten, in denen 20 festgelegte Obstsorten und 75 verschiedene Heilkräuter angebaut werden mussten.12 Viele der Rezepturen aus dieser Zeit, etwa die Verwendung des Fingerhuts bei Herz-
414 PAUL CULLEN schwäche, wurden erst 1000 Jahre später von der Medizin wieder „entdeckt“. Waren nördlich der Alpen bis ins 12. Jahrhundert nur wenige jüdische Ärzte tätig, so änderte sich dies, als die ersten Ausbildungsstätten im frühen 13. Jahrhundert an den Universitäten in Bologna, Paris, Oxford, Montpellier und Padua entstanden. Der ins Lateinische übersetzte Kanon der Medizin des arabischen Gelehrten Avicenna (Ibn Sina, ca. 980–1037) galt bis ins 18. Jahrhundert hinein als das Standardwerk der Medizin sowohl in der islamischen Welt als auch in Europa.
Medizin im Mittelalter – Rückschritt gegenüber der Antike Die akademische Medizin blieb während des Mittelalters deutlich hinter der Medizin der Antike zurück. Im Gegensatz zu den hippokratischen Ärzten, die sich intensiv mit ihren Patienten auseinandergesetzt hatten, reduzierten sich die Untersuchungen am Patienten nun lediglich darauf, den Puls zu fühlen und den Harn zu beurteilen. In der Ausbildung fand keinerlei praktische Unterweisung statt. Im Spätmittelalter kümmerten sich neben den Ärzten vier weitere Berufe um die Versorgung der Kranken: Apotheker, Chirurgen, Hebammen und Pfuscher13, die in unterschiedlichen Gilden streng getrennt waren. Dennoch gab es vor allem zwischen den Ärzten und den Apothekern immer wieder Zuständigkeitskonflikte. Studierte Ärzte bildeten hierbei nur eine kleine Minderheit. Die Jahrgänge an den wenigen Hochschulen lagen im zweistelligen Bereich. Obwohl sie insgesamt nur bedingt effektiv waren, wurden Ärzte besser bezahlt und gehörten somit zur oberen Mittelschicht. Auch damals gab es eine strikte Hierarchie. Wie Gerd Reuther schreibt, standen „ganz oben … die Leibärzte der Fürstenfamilien und die Universitätsprofessoren. Darauf folgten die Hofärzte, die Amtsphysici, die Stadt- und die Landphysici, die im Angestelltenverhältnis oder in konzessionierter Praxis tätig waren. Universitätsprofessoren fungierten in Medizinalkollegien als Berater der Regierungen und übten mit den Leibärzten das Prüfwesen aus. Die Berufsordnungen trugen die Handschrift der Ärzte und führten zu stetigen Einschränkungen und Abwertungen der übrigen Heilberufe.“14 An diesem Zustand hat sich bis heute wenig geändert.
FORMATION ZUM GEHORSAM 415 Medizin in Europa während des 19. Jahrhunderts: Eine neue Blütezeit Bis Mitte des 19. Jahrhunderts hatte die Medizin mehr mit blindem Vertrauen und Tradition zu tun als mit Wissen. Erst mit der Systematisierung der Lehre und mit einer Reform der ärztlichen Ausbildung hat sie sich, wie wir sie heute kennen, schrittweise herausgebildet, – zunächst im post-revolutionären Frankreich und in den deutschen Staaten, dann in England und Nordamerika. Es entstand ein Fach, das zumindest teilweise auf Empirie und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen basierte. In diesem Prozess sind zwei Trends erkennbar: zum einen die zunehmende Rolle des Lehrkrankenhauses bei der Ausbildung der Ärzte und damit einhergehend zum anderen die Standardisierung und Professionalisierung des Berufs. Im Hôtel-Dieu in Paris, in der Charité in Berlin und im Johns Hopkins Hospital in Baltimore (USA) gewann die körperliche Untersuchung des Patienten nach Jahrhunderten der Vernachlässigung wieder an Bedeutung. Sie wurde mit den vier Hauptdimensionen der Inspektion, der Abtastung (lat. Palpation), des Abklopfens (lat. Perkussion) und des Abhörens (lat. Auskultation) in einer Form standardisiert, die bis heute praktiziert wird. In diesem Rahmen entstand auch ein neues Berufsethos der betonten Aufopferung. Am Johns Hopkins Hospital bildete sich unter dem kanadischen Arzt William Osler (1849–1919), der oft als der „Vater der wissenschaftlichen Medizin“ bezeichnet wird, so etwas wie eine Bruderschaft der Ärzte, die bewusst unverheiratet blieben, im Krankenhaus zusammenlebten, gemeinsam aßen und arbeiteten und damit ihr ganzes Leben in den Dienst des Berufs und ihrer Patienten stellten.15 Außer Nahrung und Unterkunft erhielten diese Ärzte noch nicht einmal ein Gehalt. Zumindest der Form nach hielt eine objektive Evaluation der medizinischen Interventionen nach und nach Einzug in die Praxis. Freilich gab es dabei viele Fehl- und Rückschläge. Die Einführung neuer, positiver Entwicklungen hat oft viel zu lange gedauert. Innovationen wurden meistens aufgrund von Revierkämpfen zwischen verschiedenen Sparten der Medizin bewusst sabotiert, wegen Rivalitäten und Eitelkeiten der „Koryphäen“ über Jahrzehnte schlecht geredet oder aber schlichtweg ignoriert. Handelte es sich bei den Koryphäen auch noch um Lehrstuhlinhaber, so waren diese in aller Regel keine Innovatoren, sondern besitzstandwahrendes Mittelmaß. Dennoch schien man, zu-
416 PAUL CULLEN mindest rückblickend, nach 2500 Jahren weitgehenden Stillstands endlich Wasser unter den Kiel zu bekommen und Fahrt aufzunehmen. Die Errungenschaften dieser Zeit sind zahlreich und echt: Hierzu gehören Antisepsis und Asepsis, die Keimtheorie und die Entwicklung wirksamer Antibiotika, eine immer feinere und weniger gefährliche Bildgebung, die Mikroskopie in der Mikrobiologie und der Histopathologie sowie die Verbesserung der chirurgischen Techniken in allen Bereichen, die trotz manchen Widerstands immer weniger invasiv, immer blutarmer und in der Regel immer komplikationsfreier wurden.
IV. Die Bedeutung der medizinischen Entwicklungen für den Kranken und für die Gesellschaft Der Wert dieser Errungenschaften kann für Erkrankte und Angehörige nicht groß genug eingeschätzt werden. Heute erscheint es unvorstellbar, eine Oberschenkelamputation ohne Schmerzlinderung und effektive Blutungsstillung bei vollem Bewusstsein des Betroffenen durchzuführen. Wie hat der Patient diesen Gewaltakt aus- und wie hat der Operateur ihn durchgehalten? Und doch war dies bis vor etwa 150 Jahren die einzige Möglichkeit, dem Tod durch Blutvergiftung zu entgehen, etwa bei einer Gangrän oder nach einer schweren Verletzung. Die messbaren Auswirkungen der Medizin auf die Gesundheit der Bevölkerung als Ganzes sind weniger klar. Betrug zu Beginn des 20. Jahrhunderts die durchschnittliche Lebenserwartung weltweit lediglich 31 Jahre, ist sie heute auf etwa 74 Jahre16 angestiegen, wobei dieser Anstieg überwiegend auf einen Rückgang der Sterblichkeit im Säuglings- und Kindesalter zurückzuführen ist. Zwar sind hygienische Kenntnisse in die Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensbedingungen eingeflossen. Doch hat der enorme Anstieg der weltweiten Lebenserwartung in den letzten hundert Jahren weit mehr mit sozialen Errungenschaften als mit einer Verbesserung der ärztlichen Versorgung zu tun. Zu den wichtigsten dieser Errungenschaften zählen sauberes Trinkwasser, eine funktionierende Kanalisation, eine verbesserte Ernährung und Wohnsituation, die Überwindung der Armut sowie der Rückgang von schwerer körperlicher Arbeit. Diese Sicht widerspricht der Meinung der meisten Ärzte und der Mehrheit der Bevölkerung, die für gewöhnlich den Anstieg der Lebenserwartung auf „Antibiotika,
FORMATION ZUM GEHORSAM 417 Krebsvorsorge, Impfungen und einer Vielzahl medizinischer Fortschritte“ zurückführen.17 In Wirklichkeit dürfte die Wirkung dieser Faktoren – vor allem der mittleren zwei – auf die Lebenserwartung der Bevölkerung jedoch gering sein.18 Dennoch eilte die Medizin in den etwa anderthalb Jahrhunderten zwischen 1850 und etwa 1990 von Triumph zu Triumph. Es schien alles in greifbare Nähe zu rücken. Nachdem die bakteriellen Infektionskrankheiten durch die Entwicklung der Antibiotika ihren Schrecken verloren hatten, würde auch der Krebs bald besiegt sein. Für jedes Leiden würde es eine Therapie geben. Die Lebenserwartung stieg Jahr für Jahr und, was fast noch wichtiger war, auch der Gesundheitszustand der Älteren verbesserte sich zusehends. Einige wagten sogar zu spekulieren, dass eines Tages der Tod selbst besiegt sein würde.19
V.
Auf dem Weg zu einer objektiven Beurteilung medizinischer Interventionen: Die prospektive randomisierte Studie
Eine besonders wichtige Innovation war die randomisierte, doppeltblinde, kontrollierte, klinische Studie, die als Standard für die Evaluation medizinischer Interventionen vom britischen Epidemiologen Austin Bradford Hill (1897–1991) in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt wurde.20 Über mehr als 2000 Jahre hatten sowohl Ärzte als auch Naturheilkundler in den hippokratischen und galenischen Traditionen auf Messungen und Zahlen verzichtet. In ihrer Denkweise bildete jeder Patient gewissermaßen eine je eigene Studie mit einer Teilnehmerzahl von je einer Person. An diesem Gedanken ist nicht alles falsch, stellt doch jeder Patient in seiner ganz persönlichen Lebenssituation tatsächlich ein Unikat dar. Durch diese Denkweise wird jedoch eine Evaluation therapeutischer Maßnahmen nahezu unmöglich. Nun aber existierte eine Methode, um den Erfolg einer Behandlung objektiv zu beurteilen. Das Prinzip scheint einfach, erfordert aber in der Praxis eine immense Disziplin, um systematische Verzerrungen (engl. bias) zu vermeiden: Eine Anzahl von Patienten wird per Zufall in zwei gleich große Gruppen geteilt, von der eine die zu untersuchende Behandlung bekommt, die andere ein sogenanntes Placebo. Besonders wichtig ist das Prinzip der „Doppelt-Blindheit“: Weder Patient noch Therapeut wissen, wer zu welcher Gruppe gehört und das
418 PAUL CULLEN Medikament oder das Placebo erhalten hat.21 Auch hat Bradford Hill neun Kriterien formuliert, um zu unterscheiden, ob das Zusammentreffen zweier Ereignisse zufälliger oder kausaler Natur ist – das heißt, um eine nur statistische Korrelation von einer tatsächlichen UrsacheWirkung-Beziehung zu unterscheiden.22 Mit besonderem Elan hat der schottische Epidemiologe Archie Cochrane (1909 – 1988) die Ideen von Bradford Hill aufgegriffen. Auf seine Bemühungen geht die 1993 gegründete sogenannte „Cochrane Collaboration“ zurück, die als eine Art Schiedsgericht etabliert wurde, das weltweit die Qualität von klinischen Studien beurteilt. Trotz ihrer augenscheinlichen Stärke gewann diese „evidenzbasierte Medizin“, wie sie Gordon Guyatt (*1953) nannte, nur langsam an Boden: international ab den 1980er-Jahren, in Deutschland erst ab etwa 1995. Diese Blütezeit empirischer Rationalität sollte allerdings weder von langer Dauer noch von besonderer Intensität sein. So gab es nur bei wenigen Studien eine im Vorfeld klar formulierte Hypothese, eine unbehandelte Kontrollgruppe und eine valide statistische Auswertung. Gemäß der Erkenntnisse von John Ioannidis (*1965), dem Epidemiologen, der während der Corona-Zeit einem breiten Publikum bekannt wurde, erweisen sich 80% der Forschungsergebnisse als falsch.23 Eine besonders niederschmetternde von Cochrane durchgeführte Metaanalyse aus dem Jahr 2016 zeigte, dass von 608 systematischen Evaluierungen nur 25 (ca. 4 Prozent) eine hohe Evidenzqualität für die Wirksamkeit der Intervention besaßen.24 Für die Wirksamkeit der restlichen 96 Prozent der Interventionen gab es keine gute Evidenz, was in vielen Fällen dazu hätte führen müssen, sie entsprechend einzustellen.
VI. Die evidenzbasierte Medizin stößt auf Widerstand Vor dem Hintergrund solch ernüchternder Befunde verwundert es nicht, dass gegen die unabhängige, prospektive, randomisierte, kontrollierte, doppelblinde Studie erbittert Widerstand geleistet wurde mit dem Ziel, der eisernen Umklammerung der Empirie zu entkommen. So werden fast alle Medikamenten-Studien nicht von unabhängigen Organen, sondern von deren Herstellern selbst durchgeführt.25 Operative Fachgebiete sind sogar von der Notwendigkeit entsprechender Studien freigestellt. Wegen des von den Herstellern indirekt
FORMATION ZUM GEHORSAM 419 ausgeübten politischen Drucks erfolgt die Zulassung von Therapien und insbesondere von Impfungen in immer kürzeren Abständen. Bei Corona erlebten wir, dass klinische Studien, die normalerweise mindestens fünf Jahre in Anspruch nehmen, nach etwa zwei Monaten endeten. Immer mehr Studien werden ohne eine echte, das heißt unbehandelte, Kontrollgruppe durchgeführt. Da eine Nichtbehandlung „aus ethischen Gründen nicht akzeptabel sei“, besteht die „Kontrollgruppe“ meist aus Personen, die nach dem geltenden Standard (engl. usual care) behandelt werden. Somit wird es unmöglich, die Frage zu beantworten, ob nach der Therapie mehr oder weniger Menschen krank oder verstorben wären, als wenn man rein gar nichts unternommen hätte. Auch ist es unmöglich, die absolute Wirksamkeit eines Medikaments ohne Placebo-kontrollierte Studie zu berechnen. Bei Impfstoff-Studien bekommt die „Placebo-Gruppe“ meist noch nicht einmal ein echtes Placebo, sondern eine Substanz, die alle Komponenten des Impfstoffs bis auf das aktive Prinzip enthält. Zunehmend lehnen EthikKommissionen Placebo-kontrollierte Studien gänzlich ab.26 Auch in der Ärzteschaft sammelt sich der Widerstand gegen die „Tyrannei“ der evidenzbasierten Medizin.27,28,29 So ist die Bradford-Hill-Methode, die so viele Fortschritte in der Medizin brachte, nach 1990 immer mehr ins Stocken geraten. Beinahe hat man den Eindruck, dass sie sich sogar zurückbildet. Nach und nach haben Regierungen und Spezialinteressen, allen voran die der pharmazeutischen Industrie,30 immer mehr Einfluss auf die Gestaltung der Gesundheitspolitik gewonnen, sodass die Evidenz, auf der diese beruhte, immer dürftiger wurde. Mittlerweile bilden oft selektive oder schlecht durchgeführte Studien die Grundlage für gesundheitspolitische Entscheidungen, von denen keine Abweichung möglich ist. Wer nicht Leitlinien-konform behandelt, sieht sich vor Gericht in großer Erklärungsnot, während der Leitlinien-Konforme unabhängig vom Ergebnis weitestgehend haftungsbefreit bleibt. Auch die Vergütungsmodelle belohnen Leitlinien-konformes Verhalten und bestrafen Abweichungen. Unter solchen Umständen ist es schwierig, Innovationen oder Korrekturen durchzusetzen, erst recht, wenn diese nicht zu den Interessen von Wirtschaft und Regierung passen. Eine weitere Folge ist die Medikalisierung aller Lebensbereiche. Aus kommerzieller Sicht kann es nicht Ziel sein, möglichst viele Gesunde zu haben, die keinerlei medizinische Intervention bedürfen. Vielmehr ist es von Interesse, viele
420 PAUL CULLEN chronisch Kranke zu generieren, die dringend und möglichst lange behandelt werden müssen. Dass derart „krank“ gemachte Menschen an Selbstsicherheit und Autonomie verlieren und damit abhängiger und politisch steuerbarer sind, liegt auf der Hand. Man hätte vielleicht erwartet, dass diese ungute Entwicklung einen Aufstand in der Ärzteschaft erzeugen würde. Doch abgesehen von einzelnen Stimmen, die fundamentale Kritik geübt haben, wie Ivan Illich (1926–2002) in der somatischen Medizin31, oder Ronald D. Laing (1927–1989)32 und Thomas Szasz (1915–2012)33 in der Psychiatrie, blieb dieser aus. Stattdessen hat man sich in einer Welt eingerichtet, in der ökonomische und regulatorische Zwänge im Beruf durch eine Medikalisierung des Lebens und damit einen Zugewinn an Einfluss der Ärzteschaft kompensiert wurden. Insbesondere bei Volkskrankheiten wie Bluthochdruck, Typ-2-Diabetes mellitus, Arteriosklerose mit den Endpunkten Schlaganfall und Herzinfarkt, sowie darüber hinaus bei psychologischen und psychiatrischen Problemen wie Angststörungen und Depressionen fand dieser Paradigmenwechsel statt. Die hippokratischen Ärzte der Antike konzentrierten sich auf den Patienten in seiner persönlichen Umgebung, hatten aber bis auf Veränderungen des Lebensstils fast keine spezifischen Behandlungen im Gepäck. Der heutige Arzt dagegen verfügt über eine unüberschaubare Zahl an medikamentösen Behandlungen, befasst sich aber kaum mit dem individuellen Patienten und lässt dessen Umgebung zudem fast vollständig außer Acht.
VII. Die evidenzbasierte Medizin steckt in einer Krise Die gegenwärtige Version der „evidenzbasierten“ Medizin ist in vielen Fällen nur noch eine Chimäre, die Scheinsicherheiten liefert. In der Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen beispielsweise sind Cholesterin und Eier in der Ernährung verpönt, obwohl diese kaum Einfluss auf den Cholesterinspiegel im Blut haben. Mit der Entwicklung der Cholesterinsenker, allen voran der Statine, wurden die „Normwerte“ für das Blutcholesterin immer weiter nach unten gesenkt. Eine Metaanalyse von 14 Statin-Studien34 zeigte, dass eine Senkung des „schlechten“ Cholesterins (LDL-Cholesterin) um 40 Milligramm pro Deziliter das Herzinfarkt-Risiko um 23 Prozent reduzieren kann. Eine
FORMATION ZUM GEHORSAM 421 Analyse derselben Studien mit einem anderen Fokus offenbarte, was dies für den einzelnen Patienten bedeutet: Eine Statin-Behandlung über im Schnitt fünf Jahre verlängert die Lebenserwartung um lediglich drei bis vier Tage.35 Allein dieses Beispiel zeigt das ganze Dilemma: Selbst wenn alle Studien wissenschaftlich korrekt und frei von externen Interessen durchgeführt und noch dazu alle Studien mit negativen Ergebnissen veröffentlicht würden, so kann über die Art und Weise, wie Ergebnisse analysiert und präsentiert werden, ein enormer Einfluss auf die scheinbare Wirksamkeit einer Intervention ausgeübt werden. Eine Senkung des Herzinfarkt-Risikos um 23 Prozent klingt zunächst bedeutsam, eine Verlängerung des Lebens um drei bis vier Tage schon sehr viel weniger, vor allem wenn man dafür fünf Jahre lang Tabletten mit dem Risiko unerwünschter Nebenwirkungen schlucken muss. Aber wer stellt sicher, dass beide Sichtweisen auf die Daten zur Verfügung gestellt werden, damit Patient und Arzt eine informierte Entscheidung darüber treffen können, ob eine Behandlung sich lohnt oder nicht? Die pharmazeutische Industrie wird dies mit Sicherheit nicht tun, und ob die Regulatoren nach der Erfahrung der letzten Jahre noch die nötige Unabhängigkeit dazu besitzen, ist leider zweifelhaft. Die Geschichte der Statine, bei denen die Anzahl der Verschreibungen im Umkehrverhältnis zum Vorteil für den einzelnen Patienten steht, ist kein Einzelfall. Sie findet Analogien in der Behandlung von Diabetes und im Einsatz von Psychopharmaka und schmerzlindernden Medikamenten. Spätestens mit der Corona-Krise im Jahr 2020 war die Ära der evidenzbasierten Medizin endgültig vorbei. In der öffentlichen Kommunikation während der „Pandemie“ spielten Statistiken und „die Wissenschaft“ eine außerordentliche Rolle, obwohl diese sich bei genauem Hinsehen meist als Propaganda entpuppten. Wir haben damit in Echtzeit erlebt, dass die Perversion der evidenzbasierten Medizin die menschliche Gesundheit stärker schädigen kann, als es die Viersäftelehre je vermochte. Bei Corona wurde die Wissenschaft (engl. science) durch „Szientismus“ ersetzt. Der Szientismus benutzt zwar das Vokabular der Wissenschaft, ist aber das Gegenteil davon. Im Szientismus hat die „Wissenschaft“ nicht die Funktion, Dogmen zu hinterfragen, sondern Dogmen zu untermauern, mit dem Ziel, sie gegen Kritik von außen zu immunisieren. Der medial immer wieder verlautbarte Aufruf „Follow the Science!“ war in Wirklichkeit das Totengeläut der Wissenschaft.
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VIII. Ärzte auf Irrwegen Leider haben mich meine Recherchen für diesen Aufsatz zu der Schlussfolgerung geführt, dass das Verhalten der Ärzteschaft in der Corona-Zeit keinen Ausreißer darstellte, sondern historisch gesehen zu erwarten war. Überall und zu allen Zeiten hat sich die verfasste Ärzteschaft als eine Priesterkaste verstanden, deren Funktion darin besteht, der jeweils herrschenden Ideologie zu dienen. Bei der Euthanasie-Debatte während der 1930er Jahre in den USA verhielt sich das so, bei den Nationalsozialisten in Deutschland ebenfalls. In keiner anderen Berufsgruppe waren so viele Mitglieder in der NSDAP wie unter den Ärzten.36 Im katholischen Rheinland waren beispielsweise 56 Prozent aller Ärzte Parteimitglieder gegenüber 25 Prozent der Lehrer.37 Zieht man in Betracht, dass 1933 etwa 16 Prozent der 52.000 Ärzte im Deutschen Reich jüdisch waren38, so sind diese Zahlen noch umso aussagekräftiger. Man hat das Phänomen bisher als ein spezifisch deutsches betrachtet. Doch die Tatsache, dass sich Ärzte während „Corona“ in der gesamten westlichen Welt nahezu identisch verhalten haben, lässt an dieser These Zweifel aufkommen. Die Beobachtung legt vielmehr nahe, dass die hohe Konformität der Ärzteschaft innerhalb der westlichen Kulturhemisphäre eher in den soziologischen Spezifika des Berufs zu verorten sein dürfte und weniger in der Nationalität. Auch heute und ganz unabhängig von Covid, scheint die gefasste Ärzteschaft der westlichen Welt ihre Funktion nicht primär darin zu erkennen, herrschende politische Normen bei Bedarf zu hinterfragen, sondern ist bemüht, diese zu unterstützen. So hat sich die US-amerikanische Ärztekammer im Juni 2021 gegen die Eintragung des biologischen Geschlechts in Geburtsurkunden ausgesprochen, weil hierdurch der Eindruck erweckt würde, dass dieses unveränderlich sei.39 In einem besonders kalten und regnerischen Juli 2023 in Deutschland hat der Bundesverband der Amtsärzte als Reaktion auf vermeintlich unerträgliche Außentemperaturen die Einführung von Siestas gefordert.40 Dass am selben Tag die gleiche Maßnahme vom deutschen Gesundheitsminister gefordert worden war, belegt nur die enge Verzahnung von Verbände-Medizin und Politik.41 Um die angestellten Überlegungen abschließend zusammenzufassen: Ärzte gibt es seit mindestens 4000 Jahren. Während dieser Zeit spielte Rationalität und wissenschaftliche, das heißt empirische Evidenz nur für die rund 140 Jahre ab 1850 eine wirklich entscheidende,
FORMATION ZUM GEHORSAM 423 handlungsleitende Rolle. Davor galt für die längste Zeit die Viersäftelehre, für die es nicht die geringste empirische Untermauerung gab. Durch die arabische Medizin (Avicenna) ebenso wie durch „Rebellen“ im Westen, wie Theophrastus von Hohenheim („Paracelsus“, 1493/941541), gab es immer wieder Versuche, eine Veränderung herbeizuführen, jedoch stets ohne Erfolg. Ein Lehrbuch, das Aderlass empfiehlt, erschien noch 1920.42 In den Jahren um 1990 nahm man Abschied von einer Medizin, die auf Empirie und wissenschaftlicher Evidenz basiert und kehrte zu den alten Eminenz-basierten Strukturen zurück. Dieser Prozess war Anfang 2020 abgeschlossen. Unter dem Einfluss der Pharmaindustrie, der Regierung, der Weltgesundheitsorganisation, der Ökonomisierung sowie nicht zuletzt unter dem der Digitalisierung erfolgte die Flucht aus der Wissenschaft in das Dogma, wie in längst vergangenen Zeiten. Wer einigermaßen aufmerksam lauschte, hat hierbei keinen Aufschrei der ärztlichen Empörung wahrgenommen, sondern vielmehr ein kollektives Aufatmen, dass die anstrengende Zeit des wissenschaftlichen Zweifels und des damit verbundenen Selbstzweifels endlich wieder vorbei war. Nun konnte man sich ungestört in die alte Rolle des Vertreters jener vormodernen Medizinalkollegien zurückfallen lassen. Die als natürlich empfundene Nähe zur Macht, die man aus dem Alten Ägypten, dem Antiken Rom oder aus dem katholischen Mittelalter kannte, war wiederhergestellt. In der nahtlosen Kontinuität mit dem Staat und der technisch-pharmazeutischen Industrie nimmt die Medizin nun wieder ihre alte Vermittlerrolle ein und wird im Tausch für die Vortäuschung der Patientenfürsorge mit einer einträglichen Monopolstellung belohnt.
IX.
Die Zukunft der Medizin und des Arztberufs
Diese Entwicklung der Medizin geschieht nicht in einem Vakuum. Unsere Kultur wirkt erschöpft. Pessimismus, Depression und hysterische Angstzustände sind zur Norm geworden und werden täglich von Medien und Mächtigen geschürt. Technologische Entwicklungen dienen vielmehr der Überwachung und der Kontrolle und weniger der Befreiung und der Ermächtigung. Die ehemaligen moralischen Instanzen, ob Kirche, Akademie oder Wissenschaft, sind bankrott. Die Medizin verliert jeden Tag an Prestige, ist aber bereit, den letzten Rest zu opfern bei dem Versuch, immer noch einen weiteren
424 PAUL CULLEN Tag hinter sich zu bringen. Patienten werden vielfach nicht als Fokus ärztlichen Handelns, sondern als lästiges Beiwerk gesehen, das erledigt werden muss, um die eigene Existenz und die individuelle gesellschaftliche Stellung zu sichern.43 Die medizinischen Hochschulen sind zu Produzenten von Technikern, die Krankenhäuser zu Produzenten von Interventionen, die Standesorganisationen zu Produzenten von Funktionären geworden. Die Medizin bildet in unserer Gesellschaft hierin keine Ausnahme, sondern ist Sentinel in einem Verfallsprozess, der überall mit Händen zu greifen ist. Wie es weitergeht, in der Medizin und anderswo, kann keiner sagen. Mangels positiver Visionen scheint das Rezept der Mächtigen Kontrolle, Repression und die Erzeugung von Angst zu sein. Dabei waren die Voraussetzungen für ein gutes Leben für alle Menschen auf der Erde nie auch nur annähernd so gut wie sie gerade jetzt sind.
X.
Epilog – Wege aus dem Dilemma
Gemessen an unserer Vorstellung verfolgten die hippokratischen Ärzte der Antike keine wissenschaftlichen Vorgehensweisen, hatten dafür aber den ganzen Menschen im Blick. Die „aufgeklärten“ Ärzte unserer Zeit lehnen diese Art von Medizin gerne als subjektivistische Sentimentalität ab, verfügen gleichzeitig aber nur über ein bedingtes Verständnis hinsichtlich der Rolle von empirischer Wissenschaft für die Medizin. Somit fallen sie zwischen beide Stühle und verraten nicht nur ihre Patienten, sondern ihren Beruf und allem voran sich selbst. Was ist zu tun? Hier sind sieben Vorschläge: 1.
Wünschenswert wäre ein ärztliches Selbstverständnis, das versucht, subjektive Beschwerden mit objektiven naturwissenschaftlichen Befunden zusammenzubringen. William Osler umschrieb das folgendermaßen: „Der gute Arzt behandelt die Erkrankung, der große Arzt den Patienten mit der Erkrankung“.44 Ein solches Selbstverständnis wäre in der Lage, auch die nötige Demut vor der provisorischen Natur allen ärztlichen Wissens aufzubringen. Ganz im Sinne Oslers, der gesagt haben soll: “Meine Herren [gemeint sind die Studenten], ich
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muss ein Geständnis bei Ihnen ablegen. Die Hälfte dessen, was wir Ihnen beigebracht haben, war falsch. Aber wir wissen nicht, welche Hälfte.“45 Das Medizinstudium muss reformiert werden, um neben dem Auswendiglernen großer Stoffmengen analytisches Denken und einen selbstständigen Geist zu fördern. Hierzu gehört insbesondere die Fähigkeit, die wissenschaftliche Primärliteratur zu lesen und sie darüber hinaus beurteilen zu können. Wichtig ist außerdem, in Erinnerung zu rufen, dass die Medizin den Patienten nicht heilen, sondern bestenfalls seine Selbstheilungskräfte mobilisieren und unterstützen kann. Zu dieser Denkrichtung gehört auch der Begriff der Salutogenese, d.h. die Notwendigkeit eines gesunden Lebensstils mit ausreichender Bewegung, frischer Luft und ausgewogener Ernährung. Bestandteil dieser Ausrichtung ist außerdem die Idee, wonach der Patient der beste Arzt und Vorbeugen besser als Heilen ist, sowie ihre pädagogische Vermittlung im Rahmen der ärztlichen Ausbildung. Es muss ein Kulturwechsel stattfinden, um eine Atmosphäre in der Medizin zu schaffen, die Innovationen von Minderheiten und „Außenseitern“ nicht reflexartig verwirft, sondern zunächst auf ihren Nutzen, ihre Plausibilität und ihre Praktikabilität hin überprüft, unabhängig von ihrer Provenienz. Die Meinungsbildung in der Medizin muss von eminenzbasiert wieder zurück auf evidenzbasiert umgestellt werden. Und hat die Ärzteschaft sich auf dieser Basis eine Meinung gebildet, so muss sie diese unerschrocken und mit Nachdruck gegenüber Politik und Wirtschaft vertreten. Die Ärzteschaft muss erkennen, dass sie mit ihrem bisherigen Verhalten lediglich Diener der Macht, aber keinesfalls deren Inhaber war. Für Glasperlen und Lametta hat sie sich selbst und ihren Beruf verkauft. Für Regenten sind Ärzte nur so lange von Interesse, wie sie ihnen nützlich sind. „Primat der Politik“, sagt man heute dazu; die Mitglieder des Corona-„Expertenrats“ durften dies am eigenen Leib erfahren. Dabei steht die Loyalität der Ärzteschaft eigentlich nicht zur Disposition, denn sie ist bereits an den Kranken vergeben. Jeder Arzt ist Diener seines Patienten, und zwar nicht dem Patienten als Abstractum oder als Mitglied einer Gruppe, sondern als der ganz konkrete Mensch, der vor ihm steht.
426 PAUL CULLEN 7.
Der Ärzteschaft muss es darum gehen, das Vertrauen ihrer Patienten und der Gesellschaft zurückzugewinnen. Hierfür dürfte eine grundsätzliche Neu-Organisation oder vielleicht sogar eine Neu-Gründung aller medizinischen Institutionen vonnöten sein. Zwar führen Ärzte regelmäßig die Liste der vertrauenswürdigen Berufe an, doch ist diese Stellung seit 2020 nachhaltig in Mitleidenschaft gezogen worden.
Für diesen Umbruch muss überraschend wenig gemacht werden, denn die Werkzeuge und das nötige Wissen liegen vor, der ethische Anspruch ist klar formuliert. Es liegt an uns, erstere einzusetzen und letzteren erneut zu beherzigen. Während meiner Kindheit in den 1960er und 70er Jahren sah man die Zukunft positiv. Obwohl die Chancen auf eine gute Zukunft in den letzten 50 Jahren erheblich für alle Erdenbürger gestiegen sind, ist heute das Gegenteil der Fall. Allen Kassandra-Rufen und ihren medialen Verstärkern zum Trotz herrscht heute kein Mangel, sondern Überfluss. Für die Natur gilt das sowieso und immer. Die Ärzteschaft könnte eine führende Rolle bei der Gestaltung und der Vermittlung dieser optimistischen Zukunftsvision einnehmen. Wenn sie es nur will. 1
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Bei der Vorbereitung dieses Essays habe ich folgende Bücher mit großem Nutzen zu Rate gezogen: Gerd Reuther, Heilung Nebensache: Eine kritische Geschichte der europäischen Medizin von Hippokrates bis Corona (München: riva Verlag, 2022); Brian Elliot, White Coat Ways. A history of medical tradition and their battle with progress (West Chester, OH: Med Media Publishing, 2023); William Bynum, The history of medicine. A very short introduction (Oxford: Oxford University Press, 2008); Jerome Groopman, How doctors think (New York u. Boston: Houghton Mifflin Company, 2007). Gemeint ist hier die Zeit vor dem 19. Jahrhundert, als Medizin und Chirurgie noch getrennte Berufe waren. Wie bei vielen Figuren aus dieser Zeit ist es nicht leicht, zwischen Taten, die zu den Lebzeiten der Person vollbracht wurden, und späteren Legendenbildung zu unterscheiden. So wird Imhotep als der Autor des Edwin Smith-Papyrus gehandelt, in dem verschiedene Verletzungen und ihrer Behandlungen beschrieben werden. Obwohl dieser Text etwa aus dem Jahr 1600 v. Chr., etwa 1000 Jahre nach dem Tod Imhoteps, stammt, geht man davon aus, dass der Inhalt auf dessen frühere Arbeit zurückgeht. Siehe Gerd Reuther, Heilung Nebensache, 2022. Siehe: Der Hippokratische Eid. Deutsche Übersetzung und medizinhistorischer Kommentar von Axel W. Bauer (1993) https://archiv.ub.uni-heidelberg.de /volltextserver/15743/1/Bauer_Hippokratischer_Eid.pdf
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Rachel Hajar, “The Physician‘s Oath: Historical Perspectives”, in Heart Views. 2017 Oct.-Dec.; 18 (4), S. 154-159. doi: 10.4103/HEARTVIEWS.HEA RTVIEWS_131_17. Neue Fußnote 5a: Der Hippokratische Eid. Griechischer Text, deutsche Übersetzung und medizinhistorischer Kommentar von Axel W. Bauer (1993). Urkunde zur Verleihung an die Promovenden der Medizin und der Zahnmedizin anlässlich der Promotionsfeiern der Medizinischen Fakultäten der Universität Heidelberg. https://www.researchgate.net/publicat ion/280662586_Der_Hippokratische_Eid._Ubersetzung_und_Kommentar [29.2.2024]. Hippokrates, De natura hominis. Dt. Übersetzung von Fuchs, Bd.1, Kap. 4, S. 193f. Reuther G., op. cit., S. 24 William Osler, The Principles and Practice of Medicine (New York und London: Appleton, 9. Auflage, 1920), S. 759. “Local bloodletting by cupping or leeches is advantageous in robust subjects, particularly in the cases of extension in pneumonia” Paul Oskar Kristeller, “The school of Salerno, its development and its contribution to the history of learning”, in The Bulletin of Historical Medicine 1945; 17, S. 138-194. http://nibelungenliedgesellschaft.de/03_beitrag/schweitzer/fs11_schwe itzer.html [29.2.2024]. Als Pfuscher (bzw. Medizinalpfuscher), Storger und Medikaster wurden Personen bezeichnet, die eine Heiltätigkeit ausübten, ohne als Arzt oder Apotheker zugelassen zu sein. Reuther G., op. cit., S. 49 Aus dieser Zeit stammt der Begriff Residency, der heute noch in den USA für die Zeit der Facharztausbildung verwendet wird. https://www.statista.com/statistics/1302736/global-life-expectancy-byregion-country-historical/ [29.2.2024]. Elliot, White Coat Ways, S. 7. Für eine Diskussion der fehlenden Übereinstimmung zwischen medizinischen Ausgaben und Lebenserwartung siehe: S. Jay Olshansky, Douglas J. Passaro, Ronald C. Hershow, Jennifer Layden, Bruce A. Carnes, Jacob Brody, Leonard Hayflick, Robert N. Butler, David B. Allison, David S. Ludwig, “A potential decline in life expectancy in the United States in the 21st century”, in New England Journal of Medicine, 2005 March 17; 352 (11): S. 1138-45. doi: 10.1056/NEJMsr043743. Douglas Lain, Advancing Conversations. Aubrey de Grey: Advocate for an indefinite human lifespan (New Alresford: Zero Books, John Hunt, 2016); Raymond Kurzweil und Terry Grossman, Transcend. Nine steps to living well forever (New York: Rodale, 2009). Bei der ersten Studie, die nach diesen Kriterien durchgeführt wurde, taucht der Name von Bradford-Hill als Autor nicht einmal auf: “Streptomycin treatment of pulmonary tuberculosis. A Medical Research Council
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investigation”, in British Medical Journal 1948, 2:769-82. PMID: 18890300; PMCID: PMC2091872. Nur bei den Methoden wird er gebührend erwähnt: „Determination of whether a patient would be treated by streptomycin and bed-rest (S-case) or by bed-rest alone (C-case) was made by reference to a statistical series based on random sampling numbers drawn up for each sex at each centre by Professor Bradford Hill; the details of the series were unknown to any of the investigators or to the co-ordinator, and were contained in a set of sealed envelopes, each bearing on the outside only the name of the hospital and a number. After acceptance of a patient by the panel, and before admission to the streptomycin centre, the appropriate numbered envelope was opened at the central office; the card inside told if the patient was to be an S or a C case, and this information was then given to the medical officer of the centre.” Gerade dieser Schritt erweist sich in der Praxis oft als besonders schwierig oder gar unmöglich, etwa bei chirurgischen Interventionen oder bei Lebensstiländerungen. Austin Bradford Hill, “The Environment and Disease: Association or Causation?” in Proceedings of the Royal Society of Medicine, 1965, 58, S. 295-300. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/pmc1898525/[29.2.2024]. John P. Ioannidis, “Why most published research findings are false”, in PLoS Med. 2005 Aug; 2 (8): e124. doi: 10.1371/journal.pmed.0020124. Epub 2005 Aug 30. Erratum in PLoS Med. 2022 Aug 25; 19 (8): e1004085. PMID: 16060722; PMCID: PMC1182327. Padhraig S. Fleming, Despina Koletsi, John P. Ioannidis, Nikolaos Pandis, “High quality of the evidence for medical and other health-related interventions was uncommon in Cochrane systematic reviews”, in J Clin Epidemiol. 2016 Oct; 78, S. 34-42. doi: 10.1016/j.jclinepi.2016.03.012. Epub 2016 Mar 29. PMID: 27032875. Jon Jureidini, Leemon B. McHenry, “The illusion of evidence-based medicine”, in BMJ 2022 Mar 16; 376: o702. doi: 10.1136/bmj.o702. PMID: 35296456. Siehe Antonia-Sophie Skierka, Karin B. Michels, “Ethical principles and placebo-controlled trials – interpretation and implementation of the Declaration of Helsinki’s placebo paragraph in medical research” in BMC Medical Ethics 19, 24, 2018. https://doi.org/10.1186/s12910-018-0262-9 Paul Bonisteel, “The tyranny of evidence-based medicine” in Can Fam Physician. 2009 Oct; 55 (10), S. 979. PMID: 19826153; PMCID: PMC2762294. Ben Roitberg, “Tyranny of a ‘randomized controlled trials’”, in Surg Neurol Int. 2012;3:154. doi: 10.4103/2152-7806.104748. Epub 2012 Dec 14. PMID: 23372970; PMCID: PMC3551523. Elizabeth Bogdan-Lovis, Leonard Fleck, Henry C. Barry, “It’s NOT FAIR! Or is it? The promise and the tyranny of evidence-based performance assessment.” in Theor Med Bioeth. 2012 Aug; 33(4), S. 293-311. doi: 10.1007/s11 017-012-9228-y. PMID: 22825592.
FORMATION ZUM GEHORSAM 429
30 Siehe beispielsweise das Interview der ZDF-Sendung Frontal 21 vom 06. Juni 2006 mit dem ehemaligen Gesundheitsminister Horst Seehofer, https://www.youtube.com/watch?v=_vJkIXwQJJo [29.2.2024]. 31 Z.B. Ivan Illich, Limits to Medicine. Medical nemesis: The expropriation of health (London: Marion Boyars Publishers, 1965). 32 Ronald D. Laing, The Divided Self (London: Penguin, 1965). 33 Thomas Szasz, The Myth of Mental Illness. Foundations of a theory of personal conduct (New York: Harper and Row, 1974). 34 C. Baigent, Anthony Keech, P.M. Kearney, L. Blackwell , G. Buck, Christine Pollicino, A. Kirby, T. Sourjina, R. Peto, R. Collins , R. John Simes, “Cholesterol Treatment Trialists' (CTT) Collaborators. Efficacy and safety of cholesterol-lowering treatment: prospective meta-analysis of data from 90,056 participants in 14 randomised trials of statins”, in Lancet 2005 Oct 8; 366 (9493): S. 1267-78. doi: 10.1016/S0140-6736(05)67394-1. Epub 2005 Sep 27. Erratum in: Lancet. 2005 Oct 15-21;366(9494):1358. Erratum in: Lancet. 2008 Jun 21; 371(9630): 2084. PMID: 16214597. 35 Malene Lopez Kristensen, Palle Mark Christensen, Jesper Hallas, “The effect of statins on average survival in randomised trials, an analysis of end point postponement”, in BMJ Open, 2015 Sep 24; 5 (9): e007118. doi: 10.1136/bmjopen-2014-007118. PMID: 26408281; PMCID: PMC4593138. 36 https://www.aerzteblatt.de/archiv/51098/Aerzte-in-der-NSDAP-Regio nale-Unterschiede [29.2.2024]. 37 Martin Rüther, „Geschichte der Medizin: Ärzte im Nationalsozialismus“, in Dtsch Arztebl 2001; 98 (49): A-3264 / B-2756 / C-2561. https://www.aer zteblatt.de/archiv/29733/Geschichte-der-Medizin-Aerzte-im-Nationalso zialismus [29.2.2024]. 38 Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages, Jüdische Ärztinnen und Ärzte im Nationalsozialismus: Ausgrenzung, Entrechtung, Verfolgung. Dokumentation WD 1 - 3000 - 035/18 (Berlin: Deutscher Bundestag, 2018). https://www.bundestag.de/resource/blob/585518/aa001bc743d58848b 2323ccc1725c3be/wd-1-035-18-pdf-data.pdf [29.2.2024]. 39 “It is the recommendation of the AMA’s LGBTQ Advisory Committee that our AMA should advocate for removal of sex as a legal designation on the public portion of birth certificates. Assigning sex using a binary variable and placing it on the public portion of the birth certificate perpetuates a view that it is immutable and fails to recognize the medical spectrum of gender identity.” Report of Board of Trustees of the American Medical Association, June 2021, Abrufbar unter https://www.ama-assn.org/system/ files/2021-05/j21-handbook-addendum-ref-cmte-d.pdf [29.2.2024]. 40 Der Vorsitzende des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes (BVÖGD), Johannes Nießen im Gespräch mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland am 18. Juli 2023. https://www.rnd .de/politik/siesta-in-deutschland-amtsaerzte-fordern-besseren-arbeitssch utz-bei-hitze-FNTCWT2OZJAJNBEVWAPCML2LWA.html [29.2.2024].
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41 https://www.rnd.de/politik/karl-lauterbach-siesta-bei-hitze-kein-schle chter-vorschlag-RN55UPC3ERKQPPGDCKKPO5IY3Y.html [29.2.2024]. 42 Osler, The Principles and Practice of Medicine, S. 759: “Local bloodletting by cupping or leeches is advantageous in robust subjects, particularly in the cases of extension in pneumonia.” 43 Freilich ist dieser Trend auch anderswo zu beobachten: Die Schüler sind nicht Fokus des Bildungssystems, sondern Verschiebemasse für die Sicherstellung von Planstellen. Gleiches gilt für Reisende bei der Bahn oder für Leser in der Stadtbibliothek. 44 “The good physician treats the disease. The great physician treats the patient who has the disease.” 45 “Gentlemen, I have a confession to make. Half of what we have taught you is in error, and furthermore we cannot tell you which half it is.”
Der Stellenwert von Frage und Zweifel in der Wissenschaft und die Bedeutung der Patientenautonomie Christine Wehrstedt In diesem Beitrag geht es um die Darstellung von Paradigmenwechseln in Wissenschaft und Praxis im Schatten der Corona-Krise, die durch die Abschaffung der essenziellen Erkenntnisinstrumente von Frage und Zweifel geprägt wurden und die gewaltige Angriffe auf die Freiheit und das Recht auf körperliche Unversehrtheit des Individuums darstellten. Als Hebamme stelle ich diese Entwicklung primär anhand von Beispielen dar, die mein Fach betreffen.
I.
Mund-Nasen-Bedeckungszwang für Schwangere und Gebärende
„Setzen Sie die Maske auf, wenn Sie Ihre PDA haben möchten!“ Diese Aufforderung eines Anästhesisten im Kreißsaal gegenüber einer Gebärenden im Jahr 2020, die unter schmerzhaften Wehen ihre FFP2-Maske abnahm, da sie diese Atembehinderung nicht mehr ausgehalten hatte, kann beispielhaft für einen übergriffigen Umgang mit Menschen genannt werden, die auf andere angewiesen waren. Die Periduralanästhesie (PDA), ein häufig angewandtes Betäubungsverfahren gegen Wehenschmerzen, steht in Deutschland einer gebärenden Frau auf Wunsch zu. In dieser Aufforderung vereinen sich Gewalt unter der Geburt, Verachtung der Patientenautonomie und erpresserisches Handeln ohne Evidenzgrundlage. Wer jetzt verwundert fragt, ob Frauen nicht nur während der Schwangerschaft, sondern auch unter der Geburt tatsächlich zum Tragen von FFP2- und sogar FFP3-Masken, also zu einer erheblichen Atemwegsobstruktion, genötigt wurden: Ja, ein großer Teil der Gesundheitsämter verfügte so. In allen Bundesländern war es über Monate hinweg verpflichtend, auch bei Schwangeren und Gebärenden Masken zu erzwingen. Laut Beschwerden von Gebärenden wurde in Bayern je nach Klinik zunächst die gesamte Geburt über die FFP2-Maske eingefordert. Inzwi-
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432 CHRISTINE WEHRSTEDT schen wird das gerne vergessen oder bagatellisiert, ja bereits die Erwähnung entsprechender Missstände gilt heute als kleinlich und rechthaberisch. Frauen, die die Masken nicht ertrugen, waren von dem jeweiligen Betreuungsteam abhängig, auf das sie trafen, welches entschied, als ob ihnen das Menschenrecht auf freie Atmung wenigstens zu diesem Zeitpunkt gewährte wurde. Trafen sie auf eines, das von seinem „Recht“ Gebrauch machte, so wurde den Frauen auch gegen deren Willen die Maske bis zur letzten Wehe teilweise mit physischer Gewalt wieder aufgesetzt: „Als ich mir die Maske vom Gesicht riss, wurde sie mir wieder auf das Gesicht gedrückt“. Hier drängt sich unweigerlich die Frage auf: Wozu haben wir die Debatte um Gewalt in der Geburtshilfe geführt, wenn jetzt unzählige Personen und Einrichtungen sämtliche noch so absurden und menschenverachtenden politischen Anweisungen durchsetzen konnten, ohne zu hinterfragen, was das im Hinblick auf ihre menschliche und fachliche Verantwortung bedeutete und welche Standards damit grob verletzt wurden? „Bis zum bitteren Ende“ ist hier wohl keine übertriebene Assoziation. Sie veranlasste mich bereits 2021, auf wissenschaftlicher Grundlage über diese Maßnahmen zu veröffentlichen1 und es scheint absurd genug, dass es dessen überhaupt bedurfte. Die Maskenpflicht für Gebärende wurde zwar wieder aufgehoben, für Schwangere im Allgemeinen jedoch zunächst nicht. Nicht alle Kliniken ließen freilich zeitnah von dieser Maßnahme ab, so dass es weiterhin reichlich Berichte von Frauen gab, die während der Geburt über mehr oder weniger lange Zeiträume zum Tragen der Mund-Nasen-Bedeckungen gedrängt wurden. Selbstverständlich gab es auf der anderen Seite Familien, die sämtliche politisch empfohlenen und verfügten Maßnahmen freiwillig mitmachten und sich mit dem Maskentragen unter der Geburt wohl und sicher fühlten. Jeder sollte machen können, wovon er zu profitieren glaubt, insofern er nicht zu etwas gezwungen oder durch Täuschung beeinflusst wird. Hier geht es in erster Linie um diejenigen, denen Maßnahmen aufgezwungen wurden, sowie in zweiter Linie um diejenigen, die durch irreführende Informationen eine Entscheidung trafen, die sie auf Basis ehrlicher und ausgewogener Informationen nicht getroffen hätten.
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II.
Ignorieren ist ungleich „nicht wissen“
Die klassischen drei Grundsäulen evidenzbasierten Arbeitens setzen sich aus empirischer Evidenz, professioneller Expertise und Patientenpräferenz zusammen.2 Empirische Forschungsergebnisse sind niemals mit Annahmen oder Hypothesen gleichzusetzen, was in den vergangenen Jahren jedoch unlauter vermengt wurde. Die professionelle Expertise vertritt die klinische Erfahrung; die Werte und Wünsche des Patienten sind zumindest aktuell noch dem Wortlaut nach in der gesetzlich verbrieften Patientenautonomie unter dem Begriff „Selbstbestimmung“ verankert.3 Applizieren wir diese grundlegenden Elemente auf die Eingangsszene der Erpressung einer Gebärenden, sich die Atemwege zu versperren, um zu diesem Preis Schmerzlinderung unter der Geburt zu erhalten, müssen wir systematische Fragen gegenüberstellen: Was wissen wir und wussten es auch zum betreffenden Zeitpunkt? Wissen wir und können wir uns sicher sein, ob unser Handeln mehr Nutzen erzeugt als Schaden anrichtet? Wie handeln wir vor dem Hintergrund dieser Mischung aus Wissen und Nichtwissen? Diese Fragen sollen im Folgenden beantwortet werden. Eine Geburt benötigt frei fließende Atmung, sowohl für die Sauerstoffversorgung der Mutter als auch insbesondere für die des Kindes, welches geboren werden möchte. Eine insuffiziente Atmung mit Anstieg des CO2-Partialdrucks und Verringerung der Sauerstoffsättigung im mütterlichen Blut kann die Sauerstoffversorgung des Ungeborenen verschlechtern und beim Kind zunächst eine respiratorische und im Verlauf schließlich auch die viel gefährlichere metabolische Azidose provozieren.4 Normalerweise reguliert der erwachsene Körper diese Verhältnisse durch Atmung, die in der Regel jedoch nicht durch Filter vor den Atemwegen erschwert wird. Es war bereits vor 2020 bekannt, dass das Tragen von Atemwegsbedeckungen bei Schwangeren sogar bei geringen bis mäßigen Anstrengungen über einen kurzen Zeitraum ihre Blutgaswerte negativ verändert: Der Sauerstoffgehalt nimmt ab und der CO2-Gehalt steigt.5 Aus diesem Grund waren Masken arbeitsschutzrechtlich für nicht länger als eine Stunde am Tag für Schwangere zugelassen, FFP-Masken nur für 30 Minuten pro Tag, für die Geburt waren sie es überhaupt nicht.6,7 Wer weiß, was eine Geburt bedeutet, wird zudem kaum behaupten, dass es sich hierbei regelhaft um eine sehr kurzfristige, geringe Anstrengung handle.
434 CHRISTINE WEHRSTEDT Was wussten wir hingegen zu dem Zeitpunkt nicht? Ob ebenjene Maßnahme die Infektions-, geschweige denn die Sterblichkeitsrate senkt. Bereits 2020 war bekannt, dass dies für Atemwegsinfektionen wie Influenza nicht zutrifft und damit höchstwahrscheinlich auch nicht für SARS-CoV-2.8 Im Verlauf der Pandemie wurde immer wieder durch weitere Veröffentlichungen wie beispielsweise durch Kappstein9 bestätigt, dass Maskentragen ein erhebliches Risiko für alle Bevölkerungsgruppen darstellt, insbesondere jedoch für Schwangere und ihre ungeborenen Kinder. Dies wurde in Folge mehrfach durch weitere Autoren bestätigt.10,11 Im Sinne des Nichtschadensprinzips oder Non-maleficence-principle sollten nur Interventionen flächendeckend durchgeführt werden, die nachgewiesenermaßen nützen. Das wurde für keine der Pandemiemaßnahmen bewiesen. Essenzielle Parameter wie die Number needed to treat (NNT) und Number needed to harm (NNH) blieben unklar, insbesondere die NNT. Das heißt, man wusste weder, wie viele Menschen man zu behandeln beziehungsweise einer Maßnahme zu unterziehen hätte, um bei auch nur einem Menschen eine Verbesserung im Outcome zu erzielen, noch, wie viele man im Gegenzug, und das ist wichtiger, durch unerwünschte Wirkungen einer Maßnahme schädigen würde.12 Sind solche Parameter unbekannt, kann es passieren, dass mehr Menschen durch eine Maßnahme sterben als gerettet werden – bis hin zu möglicherweise ausschließlichen Negativeffekten. In solchen Fällen werden Menschen geschädigt, ohne dass überhaupt jemand durch die Maßnahmen gerettet wird. Dennoch wurden multiple Interventionen nicht nur generalisiert empfohlen, sondern befohlen und mit unterschiedlichen Formen der Gewalt, mal subtil, mal brachial durchgesetzt. Dass die NNH häufig niedrig sein würde, es also bereits bei einer vergleichsweise geringen Anzahl Behandelter zu Geschädigten kommt, beziehungsweise die Rate an unerwünschten Wirkungen hoch sein würde, hätte zumindest als Trend im Vorfeld klar sein müssen, da es bereits eine Datenlage zu Schäden diverser Maßnahmen gab, ohne dass Belege für deren Nutzen vorlagen. Dies betrifft nicht nur das Maskentragen durch Schwangere und Kinder, sondern auch die soziale Distanzierung insbesondere der Kinder, die Lockdowns, Schulschließungen und vieles mehr.13 Die systematische, in dem Fall nicht besonders komplizierte Beantwortung dieser Fragen zur Empirie hätten auch zum damaligen
DER STELLENWERT VON FRAGE UND ZWEIFEL 435 Zeitpunkt ergeben, dass es keinerlei Evidenzgrundlage gibt, einen Maskenzwang, ja selbst eine Maskenempfehlung für Schwangere und insbesondere Gebärende zu implementieren. Bekannt waren zum betreffenden Zeitpunkt mehr Schäden als Vorteile – allein dieser Punkt wäre bereits ausreichend gewesen. Wie war die bis zu dem Zeitpunkt erworbene professionelle Expertise zu bewerten? Wer hatte bis dato Vorteile durch eine generelle Atembehinderung unter der Geburt erlebt? Warum wurde dieser Punkt weitgehend unterdrückt und abgelöst von der Hypothese, es sei nun alles anders als bislang? Offenkundig wurde der Aspekt Patientenpräferenz und -autonomie im genannten Beispiel – entsprechend der aktuellen Mode – gecancelt. Untergraben und verweigert durch erpresserisches Handeln gegenüber einem Menschen, der in dem Moment kaum eine andere Wahl hatte, als sich dem Recht des Stärkeren zu unterwerfen. Zudem, wer eine Geburt als Personal betreut, könnte durch logische Reflexion zu folgendem Ergebnis kommen: Wenn ich an Schutz durch persönliche Schutzausrüstung (und später zusätzlich durch chemische Präparate) glaube, so habe ich die Möglichkeit, mich selbst zu schützen. Misstraue ich dem vorgeblichen Schutz, welchen Sinn hat es dann, diese Komponenten anderen aufzuzwingen? Welche Verbesserung im Outcome ist zu erwarten, wenn beide Seiten eine Maßnahme ergreifen, deren Wirksamkeit ich offenkundig schon selbst nicht traue und die zudem die vulnerabelste Person belastet, die Hauptperson im Geschehen? Wäre es folglich nicht ethisch korrektes Handeln, dass die Frau für sich wählen kann und damit die dritte unabdingbare Säule des evidenzbasierten Arbeitens, die Patientenpräferenz, erhalten bleibt? Sich selbst nicht ausreichend evaluierten Maßnahmen mit Schädigungspotenzial zu unterziehen, steht jedem im Rahmen der Selbstbestimmung frei. Auch das gehört zur Patientenautonomie. Ganz anders sieht es aus, wenn ich einen wie auch immer gearteten Druck auf andere ausübe. Damit sprach weder Anfang 2020 noch zu irgendeinem späteren Zeitpunkt auch nur eine der Säulen evidenzbasierten Handelns dafür, irgendjemandem, geschweige denn Schwangeren, Gebärenden oder Kindern diese Maßnahme aufzunötigen. Es gab an keinem einzigen Tag eine Rechtfertigung hierfür.
436 CHRISTINE WEHRSTEDT Auch wer bis dato nie mit der wissenschaftlichen Erkenntnis konfrontiert worden war, dass die Behinderung der Atemwege unter der Geburt der Mutter und vor allem dem ungeborenen Kind schaden kann, hatte zumindest vor 2020 in aller Regel ein klares Bewusstsein dafür, wie wichtig es ist, dass eine Frau unter der Geburt frei und ungehindert atmen kann. Hierfür reichten bereits generelle Erfahrungswerte und der gesunde Menschenverstand aus. Man muss dafür nicht einmal lesen und schreiben können. Was die längste Zeit eine Binsenweisheit war, musste im Zusammenhang mit den Pandemiemaßnahmen erst einmal verschriftlicht und nachgewiesen werden. Erschreckenderweise wurden diese Vorgaben von Personen durchgesetzt, die es besser hätten wissen müssen und die ihre Durchführungsverantwortung sträflich ignorierten. Das ist besonders tragisch vor dem Hintergrund der Debatten um Gewalt unter der Geburt. Frauen mit teilweise körperlicher Gewalt und mindestens psychischem Druck daran zu hindern, beim Gebären ungehindert zu atmen, galt plötzlich als lege artis, ohne weitere Überprüfung. Habe ich also keine ausreichenden Informationen über NNT und NNH, gilt es, auf das Nichtschadensprinzip zu rekurrieren – non maleficence oder primum non nocere. Das würde bedeuten, dass ich einer Gebärenden die nötige Sauerstoffzufuhr auf natürlichem Weg zukommen lasse und diese nicht in Teilen blockiere. Als Eltern in den eigenen Räumlichkeiten Maske tragen zu müssen und auch im Winter alles eisig durchlüften zu sollen, ehe Hebammen zum Wochenbettbesuch nach der Geburt kommen, fällt ebenfalls nicht unbedingt in die Empfehlungsklasse nachvollziehbarer Evidenz. Leider sprengt es den Rahmen, hier jede nutzlose und schädliche Maßnahme ausführlich darzulegen. Nichtwissen, weil Nicht-Wissen-Wollen, stellt im wissenschaftlichen, gesundheitlichen und politischen Entscheidungsbereich eine Vernachlässigung der beruflichen Pflichten dar. Ein Handeln auf solcherlei Basis darf deshalb nicht als retrospektive Generalabsolution herangezogen werden. Im Gegenteil, es kann als aktives Nichtwissen durch unterlassene Informationsgewinnung betrachtet werden.
DER STELLENWERT VON FRAGE UND ZWEIFEL 437
III. Evidenzfreie Auflagen kompromittieren das Recht auf private Geburtsbegleitung Nicht nur die freie Atmung unter der Geburt als selbstverständliches Recht der Frau und des ungeborenen Kindes wurde leichtsinnig über Bord geworfen, sondern auch ihr Recht auf die freie Wahl einer Begleitperson für die Geburt. Dass Frauen zeitweise gar keine Begleitung zur Geburt mitbringen durften, steht sowohl der deutschen Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) zur Begleitung der vaginalen Geburt am Termin14 als auch den WHO-Empfehlungen Positive Childbirth Experience15 diametral entgegen. Beide Verordnungen fordern klar, dass die Gebärende eine Begleitung ihrer Wahl haben soll, da die Verweigerung dieser Begleitung zu schlechteren geburtshilflichen Outcomes führt und die Patientenpräferenz gleichfalls als hohes Gut zu wahren ist. Bei diesem Recht ist nicht definiert, dass es nach Gutdünken beschnitten und hin zu „für die letzten Wehen / Stunden“, „bis maximal eine Stunde nach der Geburt“ adaptiert oder auch vollständig verweigert werden darf. Demgegenüber verfügten Kliniken und Gesundheitsämter weder nach belegbaren noch nachvollziehbaren Gründen darüber, ob überhaupt und ab welchem Zeitpunkt Frauen unter der Geburt begleitet werden durften – bis hin zum kompletten Begleitungsverbot. Obendrein wechselten sämtliche Vorgaben inklusive derjenigen zur Geburtsbegleitung regelmäßig, so dass es nie eine Gewissheit für Gebärende gab, in welche Situation sie zur Geburt hin kommen würden. Da eine Geburt nicht wiederholt werden kann, ist jeder hierdurch gesetzte Schaden irreversibel und durch die Beliebigkeit der Entscheidungen weder solide zu erklären noch zu entschuldigen. Sogenannte positiv getestete Frauen mussten hierbei besonders häufig alleine gebären – unabhängig vom Teststatus der Partner. Wer es als Frau nicht schaffte, zur Geburt hin clean zu bleiben oder eben zufällig falsch positiv getestet worden war, musste sich den beliebigen Regeln der jeweiligen Klinik unterwerfen. Das konnte bedeuten, alleine und ohne private Begleitung durch Klinikpersonal in Ganzkörperschutzkleidung betreut zu werden und die Geburt ohne einen Moment frei von MundNasen-Obstruktion durchleben zu müssen. Hinzu kam das zweifelhafte Vergnügen für das Kind, den ersten Blick auf seine Mutter und alle Menschen in seiner Umgebung in der maskierten Variante werfen
438 CHRISTINE WEHRSTEDT zu müssen. Klingt das nach einer entspannten Geburtssituation, förderlich für den freien Fluss der geburtsnotwendigen Hormone? Ungeklärt und nicht erwiesen war, ob und warum das Infektionsrisiko für das Kreißsaal-Team höher sein sollte, wenn der Partner bei der Frau war. Wenn ich als Personal auf meine persönliche Schutzausrüstung vertraue, warum sollte ich dann nicht nur der Frau eine solche aufdrängen, sondern auch noch ihren Partner aus dem Setting entfernen? Stress für die Schwangere durch eine solche Handlungsweise ist dem Geburtsverlauf nicht zuträglich, Vorteile eines solchen Procederes hingegen konnten zu keinem Zeitpunkt belegt werden. Wo sind die Nachweise, dass die Infektionsgefahr für das Klinikpersonal steigt, wenn der Partner einer positiv getesteten Frau sie begleitet? Wer hat bei einer Geburt für gewöhnlich den heftigeren Atem? Das erpresste Individuum wurde gedrängt, Nachweise aus der schwächeren Position heraus zu erbringen, die willkürlich definiert wurden, anstatt dass die Institutionen, die die Grundrechte einschränkten, die hierfür dringenden Beweise liefern mussten – eine unsägliche Art der Beweislastumkehr. Die Begleitungsvorschriften nach der Geburt wurden ebenfalls weitgehend evidenzfrei, vor allem jedoch im Zweifel mit mehr Schaden als Nutzen gestaltet: Partner wurden regelmäßig ein bis zwei Stunden nach der Geburt weggeschickt, je nach Klinik und Gusto, wenn sie nicht das Glück hatten, auf Personal mit reduzierter Compliance gegenüber staatlich verfügten Maßnahmen zu treffen, welches die Regeln zumindest in Teilen ignorierte. Beim allgegenwärtigen Personalmangel dürften Begleitungsverbote außerdem eher ein Sicherheitsrisiko als eine -minimierung darstellen, da dann schlicht niemand mehr da ist, der pausenlos die Frau begleitet und damit auch überwacht. Begleitungsverbote wurden insbesondere am Anfang der kollektiven Angstspirale durchgesetzt. Im Verlauf veränderte sich dieser Punkt, wurde aber durchaus regelmäßig für Frauen beibehalten, die einen positiven Corona-Test aufwiesen; wobei alle Frauen sowie potenzielle Begleitpersonen zu diesem Test verpflichtet wurden. Dadurch wurden mit einem zur Feststellung infektiöser und erkrankter Personen nicht validierten und damit zur Entscheidung klinischer Konsequenzen ungeeigneten Test16 tiefgreifende Eingriffe in die Rechte Gebärender verfügt. Hinzu kamen Falsch-Positiv-Raten, die sogar die Raten korrekt positiver Tests überschritten, und damit schlimmstenfalls
DER STELLENWERT VON FRAGE UND ZWEIFEL 439 in ein enormes Missverhältnis abgleiten konnten17 – ein profunder Fehler medizinischer Entscheidungsfindung. Das drohende Damoklesschwert, zur Geburt hin positiv auf SARS-CoV-2 getestet zu werden, brachte Frauen und ihre Familien regelmäßig dazu, eine mit Prüfungsangst vergleichbare Furcht zu entwickeln und sich aus dieser Angst heraus umso mehr zu verschanzen, um nicht die bitteren Konsequenzen, positiv getestet zu sein, erleben zu müssen. Immer wieder mussten verzweifelte Frauen in den letzten Tagen vor der Geburt aufgrund eines Tests mit orakelähnlicher Aussagekraft eine andere Klinik zur Geburt suchen, da sie gebeten wurden, nicht in die angemeldete Klinik zu kommen. Weitere Höhepunkte der evidenzfreien Maßnahmen im Umgang mit der sensiblen Phase der Familienwerdung waren Vorgaben wie „2G“, jenes Kürzel für „Geimpfte“ und „Genesene“, deren rechtlicher Status ebenfalls politisch und nicht medizinisch definiert wurde. Die bis dahin übliche Definition von Immunität galt plötzlich für Corona nicht mehr. Diese Vorbedingung für die Begleitung Gebärender in einem Teil der Einrichtungen gehörte zu einem Wildwuchs an Verordnungen und resultierte in einer freien Auslegung des Hausrechts. Inwiefern ist die Akzeptanz einer unzureichend erforschten chemischen Substanz als Voraussetzung für die Begleitung der Schwangeren als freiwillig zu bewerten, wenn die Schwangere alternativ alleine zur Geburt in die Klinik muss? Die ethische Grundlage dieser Forderung steht hier aus Platzgründen nicht zur Debatte, wäre aber gesondert zu betrachten. Es gab nie eine wie auch immer geartete medizinische Evidenzgrundlage dafür, Partner oder sonst irgendjemanden aufgrund ihres politisch unerwünschten Impfstatus auszuschließen – sondern lediglich reißerische, diffamierende und unbelegte Behauptungen aus Politik und von politisch Profitierenden und deshalb qua Dekret korrekter Wissenschaftspersonen. Stattdessen wurde ein Grundrecht des Gebärens, gemeinsam mit einem frei zu wählenden Menschen, kompromittiert; durch bloße Behauptungen im Sinne des vorgeblichen Gemeinwohls.
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IV. Trennung von Müttern und Neugeborenen aufgrund eines „positiven Tests“ Immerhin wurde die anfangs ernsthaft diskutierte routinemäßige sofortige Trennung der Neugeborenen von den Müttern verworfen und ein differenzierteres Procedere empfohlen18, da sich rasch erheblicher Widerstand regte. Dennoch hat man sie unter Vorwänden teilweise praktiziert, ohne sich daran zu halten, dass die Ermöglichung des Mutter-Kind-Kontaktes und die Stillförderung oberste Priorität haben und, wo immer möglich, gewährleistet werden sollten. Kinder von Frauen, die positiv getestet waren, wurden während des Klinikaufenthaltes noch im Sommer 2022 teilweise von ihren Müttern getrennt gehalten, ohne auch nur eine einzige Möglichkeit des Körperkontaktes nach der Geburt. Zwei Beispiele von Familien, die ich im Anschluss an die Geburt zu Hause betreut habe, führe ich hier an: Beiden Neugeborenen wurde nach der Geburt keine Sekunde des Körperkontaktes ermöglicht, indem man sie unter fragwürdigen Vorwänden auf die Intensivstation aufgenommen hatte. Eines der beiden Kinder war ein gesundes, reif Geborenes, mit einer Lippen-Kiefer-Gaumen-Spaltbildung ohne weitere Komplikationen. Diese Maßnahme hat man bei einer Mutter mit belasteter Lebensgeschichte durchgeführt, die bereits in der Schwangerschaft unter Depressionen litt, da sie ein chronisch krankes Kind zu Hause hatte. Mit dem Hinweis, sie könne das Neugeborene abholen, sobald sie einen negativen Corona-Test vorlege, wurde sie ohne das Kind entlassen. Wie sie in Quarantäne die abgepumpte Milch zum Kind bringen sollte, hat man ihr überlassen, mit dem Hinweis, man könne ihm auch Formula per Flasche geben. Das zweite Kind wurde laut Entlassungsbrief ohne Anpassungsprobleme oder andere Komplikationen in der 37. Schwangerschaftswoche geboren und auf die Intensivstation verlegt. Seiner Mutter drohte man mit Polizeigewalt, falls sie versuchen sollte, zu ihrem Kind zu gelangen und stellte ihr selbst eine Pumpe zum Abpumpen der Milch sowie Essen vor die Tür. Ihr Neugeborenes bekam sie ebenfalls erst gegen Vorlage eines negativen Tests ausgehändigt. Beide Fälle haben sich in einer großen und bekannten Münchner Klinik zugetragen, durchgeführt durch Personen, die wissen sollten, was sie hier tun und wie nutzlos und schädlich ihre Handlungen sind.
DER STELLENWERT VON FRAGE UND ZWEIFEL 441 Was nützt uns jahrzehntelange Forschung hinsichtlich der fundamentalen familiären wie gesellschaftlichen Bedeutung eines ungestörten Bondings zwischen Mutter und Kind19, wenn am Ende derartig willkürliche, grob schädigende Auswüchse stehen? Das Ignorieren dieser Wissensbestände gefährdet die Familie in ihrer Bedeutung als Keimzelle der Gesellschaft, was die Frage aufwirft, welch hohen gesamtgesellschaftlichen Schaden man hierdurch auslöst. Wie kann so etwas im Gehirn als vermeintlich passend zusammengefügt werden? Inwiefern wurde wirklich verinnerlicht, wie bedeutend es ist, ungestörtes Bonding zulassen zu können – oder folgte man hier auch nur einer Mode, ohne Überzeugung, einfach zu der Zeit, als es en vogue war, so dass man mit Leichtigkeit wieder davon lassen konnte, sobald der Wind sich unter einem wie auch immer gearteten Vorwand drehte?
V.
Druck und Täuschung: mRNA-Präparate für Schwangere, Stillende und Minderjährige
Weit oben in der Hitliste der evidenzfreien Errungenschaften und unkritischen Übernahmen politisch oktroyierter Verfügungen steht, dass auch Schwangeren und Stillenden sowie Kindern und Jugendlichen als Impfungen deklarierte Präparate ohne ausreichende Prüfung und Entwicklungszeit nicht nur empfohlen, sondern aufgedrängt wurden. Garniert wurde dies mit der Schwangeren gegenüber geradezu üblichen Drohung, sie würden mit einer impfkritischen Haltung ihre Ungeborenen gefährden. Nebenwirkungen seien hingegen praktisch keine vorhanden – de facto wurden sie der politisch vorgegebenen Linie entsprechend meist nicht proaktiv angesprochen und bei Rückfragen häufig empört zurückgewiesen. Doch seit wann entspricht dieses Procedere einer Aufklärung nach ärztlichem Standard? Nach wie vor ist diese Impfung in den Empfehlungen als Regelimpfung für Schwangere und Stillende vorgesehen, wenn sie nicht vor der Schwangerschaft erfolgte.20 Bis heute stehen nicht widerlegte, klinisch in zeitlichem Zusammenhang aufgefallene Verdachtsmomente im Raum. Hierzu gehören etwa Berichte über lebensgefährdende Blutungsereignisse direkt nach der Geburt, die zudem häufiger durch Kontraktionsmittel nicht in den Griff zu bekommen sind. Hinzu kommen, um nur einige der Auffälligkeiten zu nennen, ursächlich ungeklärte Erhöhungen der Raten an Fehl- und Totgeburten, auf Seiten der Babys Myokarditiden,
442 CHRISTINE WEHRSTEDT Wachstumsverzögerungen und intrauterine Schlaganfälle bei Ungeborenen. Hinsichtlich der Mütter gibt es Daten und Berichte zu vermehrt vorzeitiger Wehentätigkeit, höheren Raten an Hypertonien und Präeklampsien. Besonders auffällig sind darüber hinaus thrombotische Geschehen bei Müttern und deren Plazenten sowie Plazenta- und Nabelschnurveränderungen.21, 22 Persönlich vorliegende Berichte, wie jeglicher Verdacht zu Zusammenhängen der Beobachtungen innerhalb von Kliniken durch Vorgesetzte erneut beweislos zensiert und unterdrückt wurde, sprechen Bände und gehen konform mit durch massiven politischen Druck erzeugten Vorgaben. Warum wird diesen gehäuften klinischen Erfahrungsberichten nicht nachgegangen? Aus welchem Grund werden mögliche Zusammenhänge a priori als unzulässige Fragen behandelt, obwohl selbst die Hersteller angeben, dass keine Daten für Schwangerschaft und Stillzeit vorliegen? Welches Sicherheitsverständnis und welches Verständnis ordentlicher wissenschaftlicher Datenerhebung liegt hier zugrunde? Hinzu kommt ein ungeklärter Einbruch der Geburtenrate, der „rein zufällig“ mit den Impfkampagnen korreliert23 und sich bis heute nicht erholt24, der aber von der Politik wahlweise ignoriert oder mit Spekulativursachen begründet wird wie Covid (selbst ohne jede diesbezügliche Korrelation) oder dem Allgemeinposten „Klimawandel“ – was dann doch zu einer gewissen Verwunderung hinsichtlich der Fertilitätsraten in besonders heißen Ländern führt. Auch das mütterliche Alter ist nicht innerhalb eines Jahres so angestiegen, dass es derartige Phänomene erklären könnte. Wieso gibt es bis heute keine stichhaltige Begründung, warum Fragen nicht gestellt werden dürfen, wenn die Verantwortlichen doch keine Angst vor den Antworten haben? Warum trägt das die Mehrheit mit, eher unwissend oder mancher doch eher faul? Mitmachend – oder schlicht als Vogel-Strauß-Taktik? “Too big to fail”, auch auf der Individualebene? Angst davor, sich einem Procedere angeschlossen zu haben, dessen Folgen nicht wiedergutzumachen sind? Mache alle zu Tätern und niemand wird an Aufklärung interessiert sein, was viele unbequeme Fragen aus dem Weg räumen kann... Noch vor der STIKO-Empfehlung schlossen sich 2021 sowohl der Deutsche Hebammenverband als auch die Deutsche Gesellschaft für Hebammenwissenschaften den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) an, zum Zeitpunkt
DER STELLENWERT VON FRAGE UND ZWEIFEL 443 der Booster-Impfungen dann auch die Stellungnahme der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften), Schwangere und Stillende den diversen COVID-Impfstoffen auszusetzen und diese sogar weitgehend uneingeschränkt zu empfehlen.25 Andere Stellungnahmen älteren Datums wurden hingegen nicht eliminiert. Selbst im Mai 2023 steht in der aktualisierten Impfempfehlung der STIKO: „Die Datenlage ist zum Teil limitiert, da für einzelne Gruppen (z. B. Schwangere, Personen mit Grundkrankheiten einschließlich der Immundefizienz) spezifische Daten fehlen und nur Daten aus der Allgemeinbevölkerung für eine Einschätzung vorliegen.“26 Die DGGG schloss noch im Mai 2021 rein konstatierend großzügig Komplikationen aus, ohne hierfür Nachweise zu bringen.27 Man muss sich fragen, aufgrund welcher Datenlage das geschah, da eine solche selbst im Mai 2023 von der STIKO als nicht existent konstatiert wird. Auch ist fraglich, wie die DGGG dazu kommt, auf Basis dieser Nichtexistenz die Empfehlung auszusprechen, Schwangere priorisiert mit mRNA zu behandeln. Zur Anwendung der Impfstoffe während der Schwangerschaft und Stillzeit gestanden alle Hersteller ein, dass keine ausreichenden Sicherheitsdaten vorlagen.28 Gerade Verbände, die mit Expertise besetzt sind, wussten zum Zeitpunkt der Empfehlung folglich, dass es keine suffiziente Datenlage zur Arzneimittelsicherheit gab. Den Expertengruppen dürfte hinreichend klar gewesen sein, dass es sich um Notfallzulassungen mit Haftungsausschluss gegenüber den Herstellern handelte. Als ihnen bekannt darf außerdem vorausgesetzt werden, dass es in der Vergangenheit mehr als nur Contergan (heute bekannt unter der Wirkstoffbezeichnung Thalidomid) und Duogynon gab, und dass diese Arzneimittel in Medizinskandale durch Gaben in der Schwangerschaft mit unerwarteten Schäden mündeten – die Schuld wollte am Ende auch hier keiner tragen. Den Schaden trugen alleine die Geschädigten. Die genannten Präparate waren zum Zeitpunkt ihrer Anwendung ebenfalls mit den Attributen „sicher und wirksam“ beworben worden. Vor diesem historischen Hintergrund stellt sich also zwingendermaßen die Frage, ob man Schäden leichterdings noch als unerwartet klassifizieren darf, wenn bereits durch Beispiele aus der Vergangenheit bekannt ist, welches Schädigungspotenzial eine mangelhafte oder fehlende Medikamentenprüfung provoziert? Vielmehr handelt es sich bei der aktuellen Anwendung um ein weiteres unkritisch
444 CHRISTINE WEHRSTEDT durchgeführtes In-vivo-Experiment, welches Schwangere, Stillende und Kinder einschloss, wobei unbekannt war, ob diese Stoffe für Schwangere und Kinder überhaupt einen Nutzen haben würden. Und falls ja, ob dieser Nutzen potenzielle Schäden aufwiegen würde. Diese offenen Fragen zu erwähnen, wurde jedoch heftig bekämpft. Damit wurde das Nichtschadensprinzip in sein Gegenteil verkehrt, hin zum Prinzip „lieber Schaden anrichten als etwas zu versäumen“. Wo ist der Nachweis (nicht die Hypothese!), dass die diskutierten Impfungen bei Schwangeren zu einem Schutz vor den gefürchteten schweren Verläufen und anderen klinisch relevanten Komplikationen der Infektion führten? Allein diese Frage ist bei jenem Kollektiv relevant. Niemals dürfte bei Schwangeren, Stillenden und Kindern ein – insbesondere ein lediglich konstruierter statt erwiesener – Fremdnutzen durch eine Hinnahme der Selbstgefährdung auch nur in die Nähe der Argumentation rücken. Nutzen durch die propagierten Präparate wurde behauptet. Wo aber wurde über die Behauptung hinaus der Nachweis erbracht, dass es ohne die entsprechenden Präparate zu höheren Morbiditäts- und Mortalitätsraten kommt? Wo ist der Beweis, dass Komplikationen durch die Behandlung ausgeschlossen werden können? Die mantraartige Behauptung, die Präparate seien sicher und effizient, wurde nicht verifiziert. Falsifiziert sollten sie aus politischen Gründen jedoch nicht werden, koste es an Einschüchterung, was es wolle. Eine Vorgehensweise, die dadurch noch unglaubwürdiger war, dass im Vertrag zwischen Pfizer und der EU beziehungsweise Slowenien vom 21.09.2021 dazu folgendes stand: „[…] the longterm effects and efficacy of the Vaccine are not currently known and that there may be adverse effects of the Vaccine that are not currently known”.29 Zeitliche Korrelationsdaten zu multiplen Parametern sprechen hingegen eine andere Sprache, wobei hier nur eine kleine Auswahl an Literatur angeführt werden kann.30, 31, 32, 33, 34 Warum ist es nach wie vor unerwünscht, die seit Beginn der Impfkampagnen ungeklärten Übersterblichkeiten, inklusive der Totgeburten, die nicht durch COVID-Infektionen erklärt werden konnten35, mit der Fragestellung zu verknüpfen, ob Zusammenhänge mit der Einführung gewisser Medikamente bestehen? Zu Beginn der Pandemie wurden großzügig Todesfälle als COVID-Todesfälle gezählt, und das selbst dann, wenn die eigentliche Ursache mit hoher Wahrscheinlichkeit eine andere war. Bei einem klaren zeitlichen Zusammenhang mit Impfungen soll jedoch nicht einmal
DER STELLENWERT VON FRAGE UND ZWEIFEL 445 die Frage nach einer möglichen Kausalität gestellt werden? Ist eine a priori Differenzierung in erlaubte und unerlaubte Todesursachen wissenschaftlich? Warum gibt es Tabufragen, wenn man keine Angst vor Antworten und Erkenntnissen hat? Warum wurden Wissenschaftler, wie beispielsweise Peter Schirmacher und Arne Burkhardt, öffentlich angegriffen beziehungsweise entlassen, wie Andreas Sönnichsen, die naheliegende Zusammenhangsverdachte offenlegten und auf einer ergebnisoffenen Diskussion bestanden? Warum wurde ebenso umgegangen mit Personen, die hinsichtlich alarmierender Korrelationsdaten Ursachenforschung forderten oder betrieben wie Andreas Schöfbeck und Tom Lausen, von Verunglimpfungen bis hin zu justiziablen Bezeichnungen und Herabwürdigungen sämtlicher sich kritisch statt akklamatorisch äußernden Menschen? Wann wurde von öffentlicher Seite eingestanden, dass wirksamer Schutz vor Erkrankung oder Übertragung durch keines der Präparate gewährleistet werden konnte oder ein verbessertes Outcome durch irgendeine der mit massiver Gewalt durchgesetzten Maßnahmen insgesamt? Eine der Kernfragen in dem Zusammenhang lautet: Warum wurde diese Vorgehensweise von der Scientific Community und dem öffentlichen medizinischen Komplex in so großem Stil nicht nur gebilligt, sondern sogar aktiv betrieben? Warum gilt es ohne jede Forschung hierzu a priori als sicher, dass schwere Komplikationen trotz und nicht wegen eines Konglomerats an Maßnahmen auftreten? Wer sich sicher ist, sollte keine Angst vor der Frage nach möglichen unliebsamen Zusammenhängen haben. Wer es nicht ist, sollte entsprechende Fragen dringend stellen. Welche der politischen Versprechungen und Suggestivaussagen in dem Zusammenhang wurden jemals wahr? Zunächst sollte der Kausalitätsverdacht dieser Korrelationen solide widerlegt werden, anstatt schlicht eine politisch motivierte Hypothese als Beweisersatz zu verteidigen, die im Verlauf auch die Regierungen angesichts sich verdichtender Hinweise nicht mehr ganz so aggressiv zu verteidigen wagten wie anfänglich und über viele Monate hinweg. Dennoch diente diese nachweisfreie Behauptung als Grundlage massivster Übergriffe und Grundrechtseinschränkungen, in allen Bereichen, insbesondere jedoch im Gesundheitsbereich, wobei auch hier Schwangere und Stillende offiziell keine Wahlfreiheit mehr hatten. Die unbelegte, aggressive und jeden Zweifel verteufelnde Behauptung, dass die Impfungen Transmission verhindern würden (was
446 CHRISTINE WEHRSTEDT schließlich die eigentliche Aufgabe einer Impfung ist), ließ sich bereits lange vor Einführung der Impfpflicht im Gesundheitswesen nicht halten. Sie wurde nicht einmal von den Herstellern selbst gefordert, jedoch von politischer Seite. Der U.S. Food and Drug Administration (FDA) Report der Arzneimittelbehörde der USA, Emergency Use Authorization (EUA) for an Unapproved Product Review Memorandum, listet 2020 und 2021 ausführlich auf, dass kein Nachweis für Effektivität hinsichtlich der Übertragung noch ein Schutz vor Erkrankung vorliegt.36, 37 Statt sich spätestens an dem Punkt der Verantwortung zu stellen und Kohortenstudien hoher Güte durchzuführen, um die Behauptungen „sicher und effizient“ zu veri- oder falsifizieren, wurden weitere Behauptungen verkündet. In der Hoffnung, sie würden durch Wiederholungen wahr, nach wie vor unter großzügigem Verzicht auf Beweise. Die Behauptungen wurden dadurch zwar nicht wahr, jedoch einfachen psychologischen Manipulationsweisen folgend als wahr empfunden. Funktioniert so saubere Wissenschaft? Wer diese Frage mit Ja beantwortet, möge eine Erläuterung liefern, warum dieses Procedere dem Wohl der Menschen dienen soll und woher diese absolute Gewissheit kommt. Zudem ersetzt eine irgendwann juristisch erkämpfte Anzahl anerkannter Impfschäden keine systematische Erhebung zu Mortalitäts- und Morbiditätszahlen. Gerade im Bereich der Impfschäden wurde eine traditionell massive Untererfassung bereits vor 2020 selbst durch eine Schätzung durch das Paul-Ehrlich-Institut38 kritisiert. Man ging damals von einer Untererfassung mit dem Faktor 10 bis 20 aus. Damals wurde jedoch noch kein vergleichbarer Druck auf Ärzte ausgeübt, wenn sie Verdacht auf Impfschäden meldeten. Wie das seit 2020 aussieht, kann sich jeder, der die vergangenen Jahre kritisch zu hinterfragen wagt, vorstellen oder hat es selbst erlebt. Eine weitere Hürde zur Erfassung stellt dar, dass jene aufwändig und unvergütet erfolgen muss. Unter diesen Umständen möchte man sich nicht vorstellen, wie Meldungen im Verhältnis zu den echten Verdachtsfällen aussehen mögen und wie sich die Untererfassungsrate seit 2017 verändert hat. Es sollte klar sein, dass eine derart unzuverlässige Erfassung keineswegs systematisch ist und es sehr von der Meldebereitschaft des jeweiligen Arztes abhängt, ob zu Impfungen (oder auch anderen Interventionen) zeitlich korrelierende Phänomene als Verdachtsfall gemeldet werden. Auf Basis derart nicht standardisierter, zudem unnötigerweise rein retrospektiver Datenerhebungen, nachfolgender Analysen etc. käme kei-
DER STELLENWERT VON FRAGE UND ZWEIFEL 447 ne Studie hoher Güte zustande – es reiht sich hier bereits im Erhebungsverfahren ein Bias an den nächsten. Diejenigen, die Maßnahmen einführen und verordnen, ebenso wie jene, die praktisch arbeiten, sind verpflichtet zu beweisen, dass diese Maßnahmen nicht schaden, sondern nützen, sowohl auf der Ebene des Individuums als auch auf der des Kollektivs. Dies gilt in verstärktem Maße, wenn sie diese unter großem politischen Druck verordnen. Diese Pflicht scheint ausgesetzt zu sein. Allein die Medikamentenskandale der Vergangenheit sollten ausreichen, niemals Druck auszuüben, sondern sich auf redliche Forschungs- und Aufklärungspflicht zu besinnen statt Therapien aufzudrängen. Besonders wichtig sind in einem derartig experimentellen Setting Beobachtungen und sorgfältige Dokumentationen aller praktischen Therapeuten, anstelle von deren Unterdrückung, insbesondere im Bereich der Schwangeren, Stillenden und Kinder. Solange keine unabhängigen, systematischen Erhebungen mit einer suffizienten Anzahl von Studienteilnehmern durch die verantwortliche Politik sowie eine strenge Kontrolle der Pharmaanbieter anstelle geheimer Verträge zwischen Industrie und Politik zu Lasten der Steuerzahler erfolgen, ist dies ein essenzieller Beitrag – leider auch einer, der inzwischen Mut erfordert. Wo sind die für jeden vollumfänglich einsehbaren Verträge, objektiv unabhängigen Kontrollmechanismen und Erhebungen zu finden? Wurde diese Frage von Verantwortungsträgern bereits wahrheitsgemäß beantwortet? Nach dem Nichtschadensprinzip darf, wie bereits erwähnt, bei Schwangeren und Stillenden keine Impfempfehlung ausgesprochen werden, solange nicht gesichert ist, dass der Nutzen für ebendieses Kollektiv den Schaden übersteigt. Wer sich solchen Empfehlungen anschließt, trägt eine hohe Mitverantwortung hinsichtlich aller daraus erwachsenden Schäden. Hierbei ist es von untergeordneter Bedeutung, ob es sich um eine eigens verfasste Empfehlung oder um eine Mitunterzeichnung handelt. Dieses Prinzip zu vernachlässigen, ist grob fahrlässig, generalisierte Empfehlungen auf einer solchen Basis unter dem Vorwand evidenzbasierter Medizin auszusprechen, moderne Scharlatanerie. Die Frage nach der Berechtigung eines erneuten Vertrauensvorschusses gegenüber Pharmakonzernen trotz multipler Medikamentenskandale in der Vergangenheit beantwortet sich prinzipiell von selbst und sollte Berufsverbänden relevanter Akteure in diesem Feld
448 CHRISTINE WEHRSTEDT klar sein. Offen bleibt die Frage, warum es plötzlich ein Tabubruch war, sie zu stellen.
VI.
Gewalt unter der Geburt, Stress für Schwangere – wieder salonfähig?
Zwangs- oder Erpressungsmaßnahmen bei Schwangeren und Gebärenden werden zu Recht als Gewalt klassifiziert. Ab März 2020 wurde Gewalt unter der Geburt über Nacht wieder unverhohlen salonfähig, insofern sie der Durchsetzung politischer Vorgaben diente. Das Nichtschadensprinzip – ein wichtiger Baustein in Forschungs- und Medizinethik – wurde es einfach vergessen oder bewusst vernachlässigt? Einfach weggewischt? Wer hier noch behauptet, derartige Implementierungen stünden auf dem Boden der Wissenschaft, möge bitte die Daten, Zahlen und Fakten aufzeigen, die der Forderung von Sackett und Strauss39 entsprechen, wonach epidemiologische Daten testbare und belastbare Hypothesen generieren sollen, ehe sie in generalisierte Empfehlungen transferiert werden. Von Legitimierung von Zwangsmaßnahmen sprechen die Autoren im Zusammenhang mit evidenzbasierter Medizin im Übrigen ohnehin nicht. Dieses Beispiel dient der Veranschaulichung dessen, wie Willkürlichkeiten über Nacht ohne jede Evidenzgrundlage zum „wissenschaftlich konsentierten Standard“ avancieren können, inklusive der Anwendung von Gewalt. Gewaltanwendung gegen Menschen, die Fragen stellten und wahrheitsgemäße Antworten forderten, wurde also nicht nur auf der Straße durch die Polizei salonfähiger Usus, sondern auch in sehr vulnerablen Settings. Besonders Paare, die sich Masken, Zwangstestungen und Behandlung mit medizinischen Präparaten widersetzten, bekamen diese Gewalt im Rahmen der geburtshilflichen Versorgung spüren. Eine Betreuung wurde im klinischen Bereich fast unmöglich gemacht – selbst bei Befreiungsattesten gab es reichlich Berichte durch werdende Eltern, dass die Betreuung verweigert oder dem begleitenden Partner der Zugang verwehrt wurde. Wer sich ein solches Verhalten zu eigen machte, muss sich die Frage stellen, ob die Erkenntnisse der Jahre vor 2020 wirklich handlungsleitend einer verinnerlichten Überzeugung oder eher dem damaligen Stil entsprachen, einer Mode, die man sich ebenso wenig reflektiert zu eigen machte wie im Anschluss das Diktat des Panikduktus.
DER STELLENWERT VON FRAGE UND ZWEIFEL 449 Überzeugungen sind nicht so leicht abzuschütteln wie ein Kleid, das man mit der Mode wechselt. Eine initiale Unsicherheit mit einhergehender, weitgehend unreflektierter Panikreaktion mag noch erklärbar sein, die Fortführung schädigenden Verhaltens über Jahre hinweg hingegen nicht. Zwangsmaßnahmen und Druck dürften mit hoher Wahrscheinlichkeit Distress auslösen, also negativ belastenden Stress, was im Sinne der Gesundheitsförderung insbesondere während der Schwangerschaft, unter der Geburt und im Wochenbett zu vermeiden ist. In dieser Phase der menschlichen Biografie könnte Stress kaum ungünstiger sein; das gilt sowohl für die Mutter als auch für das Kind. Es ist längst bekannt, dass mütterlicher Stress das geburtshilfliche Ergebnis und die kindliche Entwicklung negativ beeinflussen.40 Davon abgesehen, erscheint die Frage zynisch, ob man eine bestimmte Anzahl Schwangerschaften oder Geburtsverläufe opfern oder zumindest verschlechtern darf (der mutmaßlichen NNH nach zu urteilen Tausende), um eventuell eine Infektion zu vermeiden oder jemandem dadurch das Leben zu retten. Letztere Annahme verzichtet nach wie vor auf den Beweis. Die Bejahung dieser Frage aber würde schlussendlich fatalerweise fast alles rechtfertigen. Hinzu kommt, dass die weitgehende Wirkungslosigkeit der sogenannten Pandemiebekämpfungsmaßnahmen zum Zeitpunkt der Durchführung ebenfalls bereits bekannt war. Die WHO selbst konstatierte 2019, dass die nicht-pharmazeutischen Interventionen einen sehr geringen bis keinen Nutzen aufweisen, bei gleichzeitig hohen gesundheitlichen, wirtschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Kosten.41 Diese Erkenntnis wurde jedoch in ihr Gegenteil verkehrt und der sachliche Stand des Wissens wurde nur noch von einer Minderheit verteidigt, die bereit war, gegen einen von Kollegen, Politikern und Gesellschaft entfachten Hurrikan zu einem hohen persönlichen Preis auch unbequeme Wahrheiten zu benennen. Jahrelange Bemühungen um eine menschlichere, würdige Geburtshilfe wurden über Nacht durch eine zu Expertise deklarierte Hysterie hinweggefegt. Die Würde des Menschen war plötzlich problemlos antastbar, auch mit Füßen zu treten, und das schien völlig in Ordnung zu sein für einen erheblichen Anteil der Bevölkerung inklusive Wissenschaft und Politik, wie reichlich Originalzitate aufzeigen, an die nicht mehr erinnert werden möchten, die sie öffentlich hinausposaunten.42
450 CHRISTINE WEHRSTEDT Welche Leitung geburtshilflicher oder auch anderer medizinischer Abteilungen intervenierte hier und legte ein Veto gegen die Verordnungen der Politik ein? Die ärztliche Berufsordnung gibt gemäß § 2 Abs. 4 der Musterberufsordnung für Ärzte und Ärztinnen der Bundesärztekammer in der Fassung vonav 2011 vor, dass ärztliches Handeln nicht durch Anweisungen von Nichtärzten bestimmt werden darf43, um Druck beispielsweise von Seiten politischer Interessen zu verhindern. Hier stellt sich die Frage, was schlimmer ist, dass Ärzte glauben, es sei medizinisch sinnvoll, Frauen auch gegen ihren Willen Atemwegsbehinderungen unter der Geburt aufzuzwingen? Oder dass Ärzte, Hebammen und Pflegepersonal eine derartig gesundheitsschädigende Maßnahme gegen ihre Überzeugung aus Angst vor persönlichen Konsequenzen am Arbeitsplatz und bezüglich ihrer Reputation gegenüber denen durchsetzen, zu deren Wohl zu handeln sie verpflichtet sind? Wie kann es in unserer Gesellschaft von heute auf morgen als normal gelten, Frauen eine Periduralanästhesie bei Bedarf zu verweigern, wenn sie während der Wehen keine Mund-Nasen-Bedeckung tragen? Welches Spektrum an übergriffigen Handlungen wäre vor diesem Hintergrund möglich, wo die Grenze erreicht? Was würde Menschen durch Menschen an ungewollten körperlichen Eingriffen angetan, nur weil es die Politik verfügt? Gibt es eine rote Linie oder ist es eine Illusion, dass die erschreckenden Erkenntnisse des Milgram-Experiments, einer der bekanntesten Studien zum bedingungslosen Gehorsam, nicht mehr zuträfen?44 Es ist unwahrscheinlich, dass kaum jemand derer, die in der jetzigen Krise lieber schadeten als hinterfragten, nicht an irgendeinem Punkt gegen die eigene Überzeugung handelte, dies jedoch aus unterschiedlichen Motiven wegwischte. Diese Frage sollte sich jeder stellen, der anderen eine Maßnahme aufnötigte: Warum habe ich das getan? Warum habe ich den mir anvertrauten Menschen nicht die Wahl gelassen? Was war meine Angst? Gesundheit oder Konsequenzen für meine Karriere? Wieviel Vertrauen ist hier berechtigterweise verlorengegangen? Zur Beantwortung dieser Fragen hilft es wenig, sich auf das allgegenwärtige, in juristisches Recht gegossene Unrecht zu berufen – sowohl hinsichtlich moralischer als auch faktischer Aspekte. Dieses Unrecht mag niemals juristisch geahndet werden, da es gezielt gedeckt wurde und wird; das macht es jedoch nicht besser.
DER STELLENWERT VON FRAGE UND ZWEIFEL 451 Damit erübrigt sich auch eine Anerkennung der inzwischen regelmäßig bemühten Ausrede, es nicht besser gewusst zu haben. Damit ginge die Schlussfolgerung einher, wenn man es nicht besser weiß, sei die Durchsetzung von auf Annahmen basierenden Maßnahmen aller Art per Gewaltanwendung im Zweifel der bessere Weg. Diese Vorgehensweise ist für mich aus wissenschaftlicher, medizinethischer und nicht zuletzt menschlicher Sicht abzulehnen. Wenn ich nicht weiß, ob eine Maßnahme nützt, dann gilt: zuallererst nicht schaden, also nichts mit Schadenspotenzial durchzuführen, nicht umgekehrt. Hier gibt es nichts schönzureden. Dieser Umgang in der Geburtshilfe – und bei Weitem nicht nur hier – reflektiert eine grausame Handlungslogik, im Zweifel lieber alles zu zerstören, um das Ungewollte auf alle Fälle mit zu vernichten. Wann und wo war diese Strategie in der Geschichte nachhaltig? Zudem ist die Behauptung, es nicht gewusst haben zu können, unzutreffend und eine Lüge, zumindest auf der Ebene der Entscheidungsträger. Sie tragen die Verantwortung dafür, sich einseitige Expertise unter Ausgrenzung hochkarätiger Experten zur Basis ihrer Entscheidungen gemacht zu haben. Zutreffend ist vielmehr, dass unerwünschte Wahrheiten vom Tisch gewischt wurden, dass man sie nicht wissen wollte. Der Schaden fast aller Maßnahmen war mit dem damaligen Wissensstand absehbar, während sich der propagierte und auf einseitigen Modellannahmen beruhende vorgebliche Nutzen als Vorgaukeln falscher Tatsachen nach und nach bestätigte. Seien es die Maskenpflicht in teils eiskalten oder wahlweise überhitzten Schulen, Schulschließungen, das Sperren von Spielplätzen, das Aussperren nicht mRNA-präparierter Menschen, die Verweigerung von Kontakten für alte und kranke Menschen, die man alleine sterben ließ, oder das Erzwingen sozialer Distanz: Alles erwies sich als weitgehend nutzlos, griff jedoch hochgradig in die Würde der Menschen ein, richtete persönliche und wirtschaftliche Schäden an und ließ gesellschaftliche Abgründe wiederauferstehen. Wie sehr sich Blüten verrückter Handlungsweisen als geradezu Realsatire – wider Selbstverständlichkeiten, wider bis dato gewonnener wissenschaftlicher Erkenntnisse und wider den gesunden Menschenverstand – gegen die Menschenwürde wenden können, vermag, neben vielem anderen, vor allem der Umgang mit Familien in der Geburtshilfe zu illustrieren.
452 CHRISTINE WEHRSTEDT
VII. Patientenschädigendes Verhalten in weiteren medizinischen Bereichen Die Erfahrungen eines derartigen Umgangs im medizinischen Bereich beschränken sich nicht auf die Geburtshilfe. Zwei persönlich gesicherte Beispiele aus anderen Medizinbereichen zeigen einen besonders hohen Grad an Patientenschädigungsbestrebungen auf: Nach einem Unfall mit Verdacht auf Wirbelsäulenschaden im Sommer 2020 etwa drängte man seitens der großstädtischen Rettungsstelle darauf, den Verletzten im eigenen Auto in die Klinik fahren zu lassen, da man wegen potenzieller Infektionsgefahr nicht kommen wollte. Die telefonische Diskussion konnte nur durch die klare Ansage beendet werden, dass derjenige, der die medizinisch dringend indizierte Hilfe abzuwiegeln versuchte und durch Ratschläge ersetzte, die Behandlungsfehler darstellen, mit rechtlichen Konsequenzen zu rechnen habe, im Falle einer Querschnittslähmung durch unterlassene Hilfeleistung; sowie durch die Bitte um die Angabe der persönlichen Daten der Person, die verweigern wollte, Notarzt und Krankentransport zu schicken. Das zweite Beispiel stellt vielleicht ebenfalls keinen Einzelfall dar: Eine nicht mRNA-injizierte Patientin traute sich im Zuge ihrer COVIDErkrankung viel zu lange nicht in die Klinik, da sie Angst vor Diskriminierung hatte und nicht wusste, ob sie ein Krankentransport überhaupt mitnehmen und eine Klinik sie normal behandeln würde, bis sie in einem sehr kritischen Zustand war. Wer weiß, wie viele Menschen eben durch diese Diffamierung Kliniken zu lange mieden und vielleicht sogar verstarben? In der Klinik wurde anschließend durch einen Arzt konkret mit Zwangsbeatmung gedroht, sollte sie nicht in eine baldmöglichste Impfung nach Genesung einwilligen, sowie der quasi sichere Tod angekündigt durch eine gewiss erfolgende weitere Infektion. Inzwischen ist bekannt, dass eine hohe Anzahl Patienten an einer falsch indizierten und durchgeführten Beatmungstherapie sowie an Behandlungsfehlern verstarb – und nicht an Covid-19. Darüber hinaus war es ein Fehler, Menschen mit einem schweren Verlauf nicht zeitnah und adäquat zu behandeln, und sie stattdessen so lange wie möglich wie Aussätzige alleine ohne Betreuung fernzuhalten.45
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VIII. Paradigmenwechsel in der Wissenschaft: Tabuisierung von Fragen und Zweifeln Wer es wagte, auch nur vorsichtig nach Evidenz und Nachweisen hinsichtlich der verfügten Maßnahmen zu fragen, bekam im medizinischen Umfeld keine Antwort in der sonst üblichen Form von Daten, Zahlen, Fakten, sondern in Form von Diffamierungen, Vorwürfen, Diskreditierungen. War es plötzlich vergessen, dass Zweifel eine Bereicherung im wissenschaftlichen Erkenntniskreislauf sind, der zwingendermaßen ein iterativer Prozess und kein Fixpunkt ist? Rückendeckung für die offiziell vorgegebene Linie gab es von sogenannten Faktencheckern, die in der Regel nicht die Qualifikation aufwiesen, Fakten wissenschaftlich herauszuarbeiten und denjenigen, die sie zerrissen, fachlich bei Weitem nicht gewachsen waren. Warum benannten es so wenige als unseriös und suspekt, wenn Wissenschaftler Schützenhilfe durch diese Faktenchecker benötigten, die vor allem medienwirksam zur Meinungsmanipulation aufgestellt wurden? Warum wurde eine derartige Vorgehensweise als Aufklärung suggeriert statt realistischerweise als Marketing benannt? Warum waren Talkshows mit einseitig ausgewählten Experten auf einmal Ersatz für einen seriösen wissenschaftlichen Diskurs? War das dröhnende Schweigen zu diesen antiwissenschaftlichen, diskursabwürgenden Methoden wahlweise mangelnde Kritikkompetenz oder fehlende Aufrichtigkeit in Kombination mit ängstlichem Duckmäusertum? Der Kern des Übels wird durch Turni und Lefringhausen46 auf den Punkt gebracht: “Who gave bureaucrats the means to destroy the fundaments of science and tell scientists not to argue the science?” Diese Frage ergänze ich um: “Why did the scientific community surrender to this procedure, outlawing their own members, who did not comply but still dared to ask?” Diese Frage ist meinem Verständnis nach noch bedeutsamer. Warum stimmte die Scientific Community in den Chor von “just trust, don’t ask” mit ein und verriet ihre Grundsätze damit fundamental? Denn auch diese Vorgehensweise verlief wie eine Choreografie, die alle mitreißt, in Windeseile, nur von Wenigen derer hinterfragt und bekämpft, die es hätten besser wissen müssen – Wissenschaftlern, Praktikern in einschlägigen Berufen, insbesondere dem Gesundheitswesen, in sämtlichen Lehranstalten, und vielen weiteren Bereichen. Der enorme Rückschritt einer nach Evidenz strebenden Medizin
454 CHRISTINE WEHRSTEDT zurück zu einer eminenz- und dogmabasierten Medizin, einem System, in dem Machtverhältnisse definieren, was Wahrheit sein darf, welche Fragen überhaupt gestellt werden dürfen, und in der Wissenschaftsfreiheit zum Tunnel verengt wird, ging in einer bemerkenswerten Geschwindigkeit mit bemerkenswert marginalem Widerstand vonstatten. Flankiert wurde dieser Prozess von einem erschreckenden Unterstützungs- und Gewaltapparat in fast allen Teilen der Politik, der Justiz und der Bevölkerung. Dass dies möglich war, lässt einen Blick auf den Zustand der Gesellschaft zu, einen Blick in Abgründe – denn wäre die Gesellschaft nicht empfänglich für derartige, ins Totalitäre abdriftende Botschaften gewesen, so wären diese wohl nicht auf fruchtbaren Boden gefallen. Deshalb bleibt die realistische Befürchtung zurück, dass sich dieser Zustand nicht von selbst plötzlich und ohne weitere Reflexion wandeln wird, weil der Pandemie-Schalter auf „Stop“ gestellt wurde, oder zumindest auf „Pause“. Im Gegenteil, es war erneut ein Lehr- und Bühnenstück darin, dass das, was passierte, immer wieder mit verheerender Simplizität geschehen kann und mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut geschehen wird. Nichtwiederholung derartiger Dynamiken hat keine Perspektive auf automatische Beständigkeit und ist bestenfalls ein dynamischer Prozess, ein ständiges Ringen einer Minderheit darum, Ausmaße und Frequenzen gesellschaftlicher Entgleisungen zu verringern. Nur weil sich eine Gesellschaft zum entsprechenden Zeitpunkt einen aufklärerischen Anstrich gegeben hatte und dem Lippenbekenntnis folgte, „wissenschaftsbasiert“ zu handeln, heißt das offensichtlich noch lange nicht, verinnerlicht oder wenigstens ansatzweise verstanden zu haben, dass unzensiertes Fragen einen wesentlichen Kern der Wissenschaft ausmacht. Fragen müssen keine Zulässigkeitsanträge stellen. Verfault dieser Kern, entstehen auch keine intakten Früchte der Erkenntnis. Im Gegenteil, es zeigte sich, dass das neue „Wissenschafts“-Dogma lediglich ein Medium war, sich als Teil der als gut definierten Masse zu fühlen, die sich auf dem sogenannten richtigen Weg wähnten. Wäre dem anders, so wäre wohl aufgefallen, welche Abkehr vom Wissenschaftsgedanken es bedeutet, wenn Forderungen nach Fragen in alle Richtungen durch einen „wissenschaftlichen Konsens“ und installierte, qua Dekret mehr oder weniger unangreifbare „Experten“, eine Eminenz- statt Evidenzbasis ersetzt werden. Kommt Konsens dadurch zustande, dass Wissenschaftler, die unerwünschte
DER STELLENWERT VON FRAGE UND ZWEIFEL 455 Ergebnisse generieren, als unseriös gebrandmarkt werden, anstelle sich dem Wettbewerb um höherwertige Beweise zu stellen, ist es um die Wissenschaftsfreiheit geschehen. Egal, um welches Thema es sich handelt. Damit wurde auch im wissenschaftlichen Bereich etwas etabliert, das dem Faustrecht nicht mehr fern ist, mit entsprechend fatalen Folgen. Von vielem wollen die Täter bereits jetzt nichts mehr wissen und versuchen sich mit „nicht besser gewusst, das Beste gewollt“ und ähnlichen Unwahrheiten und Ausreden aus der Affäre zu schleichen. So, wie insbesondere Personen mit Macht und Verantwortung zum entsprechenden Zeitpunkt unliebsame Erkenntnisse nach Kräften unterdrückten und es in Teilen weiterhin tun, versuchen sie nun sogar zu zensieren, dass ihre eigenen Zitate aufgeführt werden, um zu verhindern, dass deren Absurdität in der Retrospektive aufgezeigt werden kann, indem sie es als „Hassrede“ brandmarken, wenn ihre verbalen und schriftlichen Entgleisungen lediglich zitiert werden.47 Die Bedeutung dieser Abgründe, das eigenhändige Schaufeln des Grabs evidenzbasierter Medizin, bis nur mehr eine Farce davon übrig blieb, die Reduktion auf eine Illusion48, hat vermutlich gravierende Auswirkungen. Theorie-Praxis-Transfers sind im Gesundheitswesen ohnehin traditionell konflikt- und spannungsbehaftet, da sie alles andere als reibungslos funktionieren. Empirisches Wissen, professionelle Expertise, Patientenpräferenz und Ressourcen in einen für alle Beteiligten passenden Konsens zu bringen, ist ein schwieriges Unterfangen. Dieses ohnehin vulnerable System dürfte nachhaltig geschädigt und kontaminiert sein für diejenigen, die erkennen, wie sehr die übergeordnete Ebene „Wissenschaft“ in weiten Teilen nur suggerierte wissenschaftlich zu arbeiten anstelle es zu tun, in diesem Procedere jedoch unbedingten Gehorsam einforderte und damit die grundsätzlichen Prinzipien und Forderungen einer lege artis durchgeführten Wissenschaft auf Basis von Macht statt Erkenntnis (mehr oder weniger) zum Fenster hinauswarf. Auch viele, die aktives Nichthinschauen praktizierten, wussten im Grunde, wie sehr Kritik tabuisiert wurde und konnten miterleben, wie jene bekämpft wurden, die einen lege artis-Arbeitsstandard einforderten oder auch nur wagten, Fragen zu stellen, die außerhalb des eng gezogenen Rahmens erlaubter Fragen standen – mit entsprechend abschreckender Wirkung. Wichtig ist und bleibt für einen nützlichen statt schädigenden Theorie-Praxis-Transfer, dass theoretische Erkenntnisse
456 CHRISTINE WEHRSTEDT korrekt gewonnen werden, da ansonsten der Transfer wissenschaftlich zementierter Irrtümer in die Praxis erheblichen Schaden anrichten kann und das auch ganz konkret tut. Dem Nichtschadensprinzip (primum non nocere) folgend, muss jede Intervention per möglichst hoher Evidenzqualität nachweisen, dass sie Vorteile gegenüber dem Weglassen der Intervention beziehungsweise einem bis dahin gültigen Standard hat und dass ihr Schadenspotenzial nicht über den Vorteilen liegt. Reine Modellrechnungen können unterstützen, dürfen aber nicht primär ausschlaggebend sein, wenn es um die Gesundheit von Menschen geht. Zu groß ist die Gefahr, dass im dynamisch-komplexen System Mensch und Gesellschaft andere Ergebnisse als im vergleichsweise reduktionistischen Modell auftreten. Zudem ist transparent zu machen, wenn Empfehlungen auf Basis von Annahmen statt Beweisen gemacht werden, da sich dann von selbst versteht, dass solche niemals unter Druck propagiert werden dürften, da sie nicht evidenzbasiert sind. Verbindlich dürfen sie ohnehin nicht sein, da in dem Moment die Säule der Patientenpräferenz eingerissen wird. Die immer striktere Unterteilung in „erlaubte“ und „unerwünschte“ Fragen stellt gleichsam einen Paradigmenwechsel gegen den wissenschaftlichen Grundsatz dar, nach dem eine jede Frage ihre Berechtigung hat und dass es wichtig ist, Fragen in alle Richtungen ergebnisoffen zu untersuchen. Ohne Fragen gibt es keine Wissenschaft, und je enger der Korridor erlaubter Fragen wird, desto mehr wird das, was an Restwissenschaft bleibt, zum Tunnelblick. Durch diesen Paradigmenwechsel hat die Wissenschaft ihre Glaubwürdigkeit und Nachvollziehbarkeit nachhaltig geschädigt, und damit auch ihre Integrität – zumindest bei jenen, die Wert auf reflexives, wissenschaftlich analytisches Denken legen und hierbei nicht durch vorgegebene Korridore und Denkboxen an echtem Erkenntnisgewinn gehindert werden möchten. Besonders strenge Maßstäbe sollten hierbei an Maßnahmen gestellt werden, deren Schutz nicht primär dem Individuum gilt, sondern dem Kollektiv, für welche das Individuum je nach Gruppenzugehörigkeit ein persönliches Risiko eingehen muss, und zwar mit der Begründung, andere schützen zu müssen. Das Solidaritätsargument darf nicht in Unfreiwilligkeit, Druck oder gar Erpressung und Zwang münden. Denn die Folge wäre der Verlust auf das Recht am eigenen Körper, auf körperliche Unversehrtheit und auf Wahlfreiheit. Dies geschähe unter
DER STELLENWERT VON FRAGE UND ZWEIFEL 457 dem Deckmantel der Wissenschaft, de facto jedoch nach Gutdünken derer, die die Macht innehaben und die weitgehend frei definieren können, was dem Allgemeinwohl vorgeblich dienlich sei. Sobald insbesondere Kinder und Schwangere gesundheitliche Risiken eingehen sollen, um einer solchen Kollektivforderung nachzukommen, ist der Bereich des ethisch Prekären bis Verwerflichen betreten. Dies bedeutet einen Tabubruch zu Lasten einer besonders schützenswerten Gruppe, was fundamentale Fragen hinsichtlich des Menschenbildes aufwirft, wenn eine Gesellschaft zukunftsfähig sein möchte. Auch aus diesem Grund muss jede Forderung, die aus der Theorie kommt, von den Anwendern überprüft und nicht blind übernommen werden. Bei welcher der stets primär schädigenden, im Nutzen nicht belegten Maßnahmen wurde das praktiziert? Von Anfang an gab es klare Stimmen, die zu allen Teilen der Maßnahmen in weiten Teilen ebenjene Schäden auf Basis einer zum jeweiligen Zeitpunkt bereits bekannten Wissenslage voraussagten, die inzwischen eingetreten sind. Es sind die Stimmen derer, die trotz Diffamierung und häufig Beschädigung bis hin zur Zerstörung von Reputation und beruflichen Existenzen und Perspektiven immer weiter darauf hinwiesen, dass untersucht und evaluiert werden müsse, statt immer weiter im Schatten eines selbstgeschaffenen Panikmodus durchzuregieren. Einzelpersonen und Gruppen mit hoher Expertise aus unterschiedlichen Richtungen sind an Regierungen, Öffentlichkeit, an kleinere und größere Gremien herangetreten, um darauf aufmerksam zu machen, wie wichtig Erkenntnisstreben statt Verfügen auf Basis von „wir gehen davon aus, dass…“ ist. Fatal waren die Forderungen dieser Politik, realisiert wurden sie jedoch durch die große Menge an Menschen, die augenscheinlich keine ausreichende Reflexion ihrer sowohl moralischen als auch in funktionalen Systemen juristischen Durchführungsverantwortung zwischen Befehlsempfang und Handlung schalteten. Die Aussetzung des Nichtschadensprinzips und gleichzeitige Verweigerung einer Evaluierung zumindest im laufenden Procedere in allen Bereichen ist mit keiner Ausrede zu rechtfertigen. Ein derartiges Vorgehen diskreditierte die Wissenschaft an sich, da der Begriff zu Machtzwecken missbraucht und mit Inhalten gefüllt wurde, die mindestens in Teilen wissenschaftlichen Grundprinzipien widersprechen. Das bestätigt beispielsweise das vom damaligen Leiter des Robert-Koch-Instituts Lothar Wieler explizit ausgesprochene
458 CHRISTINE WEHRSTEDT Hinterfragungsverbot bezüglich aller durch die Staatsgewalt oktroyierten Maßnahmen: „Diese Regeln müssen also der Standard sein. Die dürfen nie hinterfragt werden“.49 Die Aussage vertritt das Gegenteil reflektiert gewonnener empirischer Ergebnisse. Denn selbst wenn es korrekt wäre, dass wir es anfangs mit einem Handeln aus Unwissenheit zu tun gehabt haben, so würde ein solches durch das Verbot zu hinterfragen und zu zweifeln zementiert – eine Haltung, die weder der Bevölkerung noch der Erkenntnis dienlich ist, sondern lediglich der Festigung von Machtstrukturen. Mag eine solche Vorgehensweise im Sinne einer Notfallintervention anfangs noch gerechtfertigt gewesen sein für einen bis dahin unbekannten Fall, und auch nur für den Fall, die These sei richtig, dass man es nicht besser wusste, so ist sie keineswegs mehr zu rechtfertigen, wenn entsprechende Maßnahmen deutlich länger als kurzfristig und einmalig zur Anwendung kommen. Gerade dann nicht, wenn diese objektiv und ergebnisoffen auf Nutzen und Schaden evaluiert werden müssten. Insbesondere die Förderung eines Publikationsbias durch Unterdrückung unerwünschter Resultate ist weit weg von genuin unabhängiger, wissenschaftlicher Forschung; vielmehr bedient sie in erster Linie Macht- und Geldinteressen. Wissenschaftliche Entwicklung ist im Gegensatz dazu von der Hinterfragung aller Regeln und des Status quo abhängig, was Lothar Wieler, als Professor, bekannt sein müsste. Allein das zu erwähnen, wurde jedoch als antiwissenschaftlich diskreditiert, eine Haltung, die insbesondere im Hochschulbereich reichhaltige Akklamation fand. Damit hat sich genau der Bereich, der es besser wissen müsste, nicht nur in größten Teilen unglaubwürdig gemacht, sondern auch schuldig, da es sich zwingendermaßen um Handeln wider besseres Wissen drehte – sei es aus Angst um den eigenen Arbeitsplatz, das Verfallen in allgemeine Gesundheitspanik (durch persönliche Angst vor der Infektion) oder aus Angst um die eigene Reputation. Die Berufsethik wog offenbar weniger als andere Aspekte – so wich der Forscherdrang dem Untertanentum. Je mehr ersichtlich wurde, wie kritisch hinterfragende Menschen nach Kräften ruiniert wurden, desto weniger trauten sich, ihre Stimme gegen das Procedere zu erheben. Ein weiterer Punkt in der Menschheitsgeschichte, der offenbarte, wer in guten Zeiten Gratismut zeigt, im Auge des Sturms jedoch lieber Wahrheit und Ethik opfert, um sich selbst zu retten oder Vorteile zu verschaffen, im zudem oft heuchlerisch vorgeschobenen Duktus, das Gute zu wollen – oder aber sich
DER STELLENWERT VON FRAGE UND ZWEIFEL 459 tatsächlich blenden ließen, was immerhin mehr Hoffnung auf eine Änderung durch Erkenntnis zulässt. “Trust the Science” – welch offenkundiger und eklatanter Widerspruch in sich. Blindes Vertrauen und Glauben stehen wissenschaftlichem Streben gegenüber, weshalb ich diesem Credo entgegensetze: “Never trust if you want to do science!” Wissenschaft und Erkenntnisstreben leben von der Skepsis und dem Hinterfragen des Status quo, nicht von ungeprüftem Vertrauen in das, was irgendjemand aus einer hierarchisch höher stehenden Position heraus verfügt. Für die Wissenschaft sollte kein Ansehen der Person gelten – es geht alleine um die Sache. “Trust the Science”-Verfügungen wurden als Wissenschaftsergebnisse vermarktet, die sich nicht als wissenschaftlich haltbar darlegen ließen. Die Kritiker wurden wiederum als unwissenschaftlich verunglimpft, obwohl sie im Unterschied zu den propagierten Verfügungen Belege von genau denen forderten, die jene in einem intakten statt korrumpierten System liefern müssten. Dass ausgerechnet Akademiker dieses Procedere weitestgehend unhinterfragt mittrugen und zu Mittätern und Mitläufern wurden oder sich wahlweise dem Druck beugten, sich sklavisch wie mit Scheuklappen an ihre Disziplingrenze zu halten, zeigt entweder eine große Feigheit oder aber eine immer noch eminenz- statt evidenzbasierte Denkweise auf, womöglich auch nur schlichten Egoismus. Recht hat, wer nachweisen kann, wie er zu welchen Erkenntnissen gelangt – nicht, wer Definitionsmacht hat. Wer Hinterfragen verbietet, blindes Vertrauen fordert und das gleichzeitig Wissenschaft nennt – welchem Test unterzieht so jemand sein Gegenüber? Hat das ein ausreichender Anteil erkannt? Warum zeigte auch das Gros der Akademiker, wie wenig es „erkennt“ im ursprünglichen Sinne des intellegere und wie viel es abnickt, sobald es der Karriere dienlich ist? Ein bestürzendes Resultat, wo das Forschungsumfeld mit echtem, von politischen Interessenskonflikten freiem Erkenntnisstreben seine Integrität beweisen sollte, anstelle die ihm obliegende kritische Analyse auf dem Altar eines in vielen Bereichen zunehmend politisch statt erkenntnisgeleiteten Handlungskorridors zu opfern. Diejenigen, die es besser wissen müssten und sich äußern sollten, hüllten sich in Schweigen und möchten nun ihr Verhalten beschönigen. Die Patienten Wissenschaftsfreiheit und Gesundheitswesen sind umfassend erkrankt. Die Einschränkung der Freiheit, offen in alle
460 CHRISTINE WEHRSTEDT Richtungen zu fragen, unter Wahrung von Würde und Autonomie als weit oben angesiedelten Prinzipien, sitzt nicht nur wie ein isolierter Tumor im System, sondern hat bereits in alle Richtungen metastasiert und droht damit, den gesamten Korpus der Gesellschaft anzugreifen. Dieses Problem ist ein grundsätzliches, welches sich in der Krise erneut bewahrheitete. Es erledigt sich auch nicht damit, dass die Krise als beendet deklariert wird. Beim Ausrufen der nächsten Krise kommt es voraussichtlich wieder an die Oberfläche, wie eine zugedeckte statt verheilte Wunde.
IX.
Rückschritt im Patienten-Behandler-Vertrauen
Wo fanden die beiden Säulen der professionellen Expertise und der Patientenpräferenz noch Raum? Sie wurden hinweggefegt von übergriffigen Anweisungen und Verfügungen. Die Grundsätze evidenzbasierter Medizin wurden im Rahmen des Umgangs mit Sars-CoV-2 nicht nur vernachlässigt, sondern mit Füßen getreten und teilweise geradezu verteufelt, als habe man einen Dauernotfall, der kein Nachdenken mehr zulässt. Fachliche Standards wie Transparenz, Fehlerkultur, umfassendere Modelle von Krankheits- und Gesundheitsentstehung unter Berücksichtigung von Patientenrechten und Qualitätssicherung wurden ersetzt durch die vormals üblichen, hierarchisch paternalistischen Prinzipien statt partizipativer Strukturen. Damit wurde auf ein überkommenes Führungsprinzip rekurriert. Eine streng auf Erregertoxizität fokussierte, reduktionistische Denk- und Handlungsweise unter Ausgrenzung des Kontextes, in dem Gesundheit und Krankheit entstehen, feierte Wiederauferstehung und bekämpfte sämtliche Alternativen massiv. Surrogat-Parameter wurden zum alleinigen Standard, man könnte sie das Goldene Kalb nennen. Als krank und gleichzeitig als gefährlich wurde definiert, wer entsprechende Laborergebnisse aufwies. Klinische Zustände wurden über Nacht irrelevant. Zu allem Überfluss wurde die Geheimhaltung, eine wichtige Vertrauensbasis zwischen Patienten und Behandlern, auf dem Altar einer Digitalisierung geopfert, deren Vorteile für die Patienten vor dem Hintergrund der begleitenden Risiken unklar sind. Hochkarätige Experten für evidenzbasierte Medizin wurden qua Dekret zu Staatsfeinden, zu Schwurblern erklärt, Faktenchecker hingegen zu Experten ernannt. Lineare Denkmodelle wurden auf dynamisch-komplexe Systeme appliziert – ein Traum für hierarchisches Durchregieren sowohl auf Staats-
DER STELLENWERT VON FRAGE UND ZWEIFEL 461 als auch Institutionenebene. Das inhaltliche Scheitern dieser Vorgehensweise war klar absehbar für jeden, der diesbezüglich Gelerntes verinnerlicht hatte, anstelle es durch einen gesamtgesellschaftlichen Hype aus seinem Bewusstsein löschen zu lassen. Die Forderung, keine Fragen zu stellen, keine echte Evaluation durchzuführen, und anstelle dessen “based on assumptions” zu handeln, ist näher an den Glaubensappellen und -forderungen von Religionen als an wissenschaftlichem Streben nach Erkenntnisgewinn. Je mehr Fragen unterdrückt werden, desto mehr herrscht der Duktus des Verfügens statt des Erforschens. Durch eine Vermengung von Verfügung und Wissenschaft und das Verwischen der jeweiligen Grenzen wurde der Bevölkerung eine wissenschaftliche Grundlage für das jeweilige Handeln vorgegaukelt, die in keinem der Maßnahmenbereiche den jeweiligen Behauptungen standhielt. Dass es überhaupt zu Überprüfungen kam, ist zudem nicht denen zu verdanken, in deren Verantwortung es gestanden hätte, unabhängige Prüfungen ergebnisoffen durchführen zu lassen und die das nicht nur vernachlässigten, sondern eine retrospektive objektive Evaluation blockierten und weiterhin blockieren, sondern denen, die gegen erheblichen Widerstand unermüdlich weiterhin ihre Stimme erhoben. Die Kompromittierung eines gelingenden Theorie-Praxis-Transfers zeigte durch eine Umstellung auf Propaganda-Praxis-Transfer auf Seiten von Wissenschaft, Politik und Praxis Abgründe auf. Politik und Wissenschaft haben, Hand in Hand, ihre Glaubwürdigkeit weitgehend verspielt und sind bemüht, dies durch weitere Täuschungsmanöver zu vertuschen. Glaubwürdigkeit ist das Gegenteil der Forderung nach blindem Vertrauen. Man muss sie sich erarbeiten und erhalten durch beständige Integrität und Transparenz in allen Vorgehensweisen. Stattdessen wurde der Beweis erbracht, dass sich in Machtpositionen jederzeit erneut erzwingen lässt, was man durchsetzen möchte. Es genügt das Gefühl, sich in einer Gefahrenlage zu befinden. Eine echte, überdurchschnittliche Gefahrenlage ist hierfür nicht einmal erforderlich. Die eigentliche Pathologie liegt in der Psychologie der Massen begründet, gelenkt durch diejenigen, die den hierzu passenden Instrumentenkasten nutzen und keine Hemmungen haben, alles hinwegzufegen. Alle beteiligten Akteure, die diese Zwangshandlungen mitgetragen haben, sollten sich dringend die Fragen stellen: Wie kam es durch
462 CHRISTINE WEHRSTEDT dieses Handeln zu einer konkludenten Zustimmung, einen derartig tiefgreifenden Paradigmenwechsel zuzulassen – weg vom Respekt und der Achtung der Autonomie von Körper und Geist der in vulnerablen Situationen anvertrauten Menschen, ja des Menschen an sich? Hinzu kommt, dass ein nicht erwiesenes, schäbig missbrauchtes Argument der „Solidarität“, welches eigentlich „Unterwerfung“ bedeutet, über die Würde des Menschen gestellt wurde. Damit wurden Milgram, Ash, Rhue (The Wave) und viele Sozialexperimente mehr aus der Psychologieforschung zu Gehorsam und massenpsychologischen Phänomenen bestätigt. Und es wurde gezeigt, dass die Würde des Menschen viel zu häufig ein Lippenbekenntnis ist, welches endet, sobald man für sich selbst einen Vorteil darin sieht oder wenigstens die Vermeidung von Nachteilen. In dem Moment ist das aktive Nicht-Wissenwollen und Nicht-Sehenwollen unantastbar und deshalb auch keinesfalls retrospektiv zu kritisieren. Wer auch immer mitspielte, egal in welcher Form, von anderen, insbesondere von Schwangeren, Stillenden und Kindern, zu ihren eigenen, teils absurden Lasten einen Fremdschutz zu fordern bei völlig ungeklärtem Nutzen, anstelle ihnen die Wahl zu lassen, muss sich, wenn schon nicht juristisch, so dennoch dem eigenen moralischen Anspruch stellen. Der sich logisch anschließenden Frage: Wo wäre die eigene Grenze des Mitläufertums gewesen? Hätte es eine Grenze gegeben? Wer gehört auch heute in die Kategorie der 62%, die bei Milgram die Erhöhung der Stromschläge nicht stoppten, obwohl sie unter keiner Bedrohungslage standen, sondern lediglich ihrem Drang folgten, einer Autorität zu gehorchen? Wobei man bei Verweigerung der Pandemie-Verordnungen sehr wohl bedroht wurde. Was die Frage provoziert, wie hoch die Rate unter beginnender Bedrohungslage wohl wäre?
X
Paradigmenwechsel in der Praxis: Verletzung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit
Wenn das Wort „freiwillig“ bedeutet, dass man ohne Akzeptanz von Eingriffen in die körperliche und / oder mentale Unversehrtheit eine schlechtere Gesundheitsversorgung bekommt, an erheblichen Teilen des gesellschaftlichen Lebens nicht mehr teilnehmen kann, keine
DER STELLENWERT VON FRAGE UND ZWEIFEL 463 Reisefreiheit mehr genießt, seine berufliche Existenz verlieren kann und zusätzlich vor der Impfung eine sachlich falsche Unterschrift leisten muss, aufgeklärt worden zu sein, dann erfüllte das den Tatbestand erheblicher Erpressung, Betrug und Nötigung. Besonders schwer wiegen solche Taten gegenüber Schwangeren und Minderjährigen. Wenn die Gesundheit des Individuums per Nötigung gefährdet und geopfert wird mit dem Argument, andere zu schützen, so verstößt das gegen die Deklaration von Helsinki50 und den Nürnberger Kodex51. In diesen internationalen Vereinbarungen sind keine Ausnahmen vorgesehen, unter denen es in Ordnung ist, Menschen zur Aufgabe ihrer Patientenautonomie zu nötigen oder zu zwingen. Es ist auch nicht vorgesehen, Falschaussagen zu Risiken und zu unerwünschten Wirkungen von Stoffen zu machen, um Menschen durch Lügen zu einer Entscheidung zu drängen, die sie unter anderen Umständen nicht treffen würden. Diese Vereinbarungen wurden nicht für schönes Wetter ratifiziert, sondern für den Sturm – um Halt und Orientierung in Krisen zu schaffen und daran zu erinnern, was geschehen kann, wenn diese Grundpfeiler eingerissen werden. Lange wurde nicht mehr so sehr auf die Akzeptanz einer unzureichend informierten Entscheidung gedrängt, mit Methoden, die bis dato mafiösen Strukturen vorbehalten waren. Dass Patientenautonomie und das Recht auf körperliche Unversehrtheit von einem Kollektivismus abgelöst wurden, in dem die potenzielle Schädigung des Einzelnen bis hin zur Tötung zu Gunsten eines vorgeblichen oder tatsächlichen Wohls der Gemeinschaft mindestens billigend in Kauf genommen wird, stellt einen verheerenden Paradigmenwechsel dar. Unter dem Argument eines diffusen und nicht belegten „Allgemeinwohls“ ist nicht absehbar, wie weit Eingriffe in sämtliche Lebensbereiche gehen dürfen und ob es überhaupt eine Grenze geben wird. Warum haben wir Werte wie die Unantastbarkeit der Menschenwürde und das Recht, über Eingriffe am eigenen Körper zu verfügen, verschriftlicht? Weil die Vergangenheit mehrfach und regelmäßig lehrte, wohin es führt, wenn diese Bekenntnisse ausgesetzt sind. Wenn aber derart bedeutende Werte in so kurzer Zeit über Bord gehen können, dann steht die Frage im Raum, ob diese auf individueller wie auf gemeinschaftlicher Ebene überhaupt verinnerlicht waren oder ob es sich für einen viel zu großen Anteil der Gesellschaft um bloße Worthülsen handelte? Oder war es zum gegebenen Zeitpunkt
464 CHRISTINE WEHRSTEDT nur en vogue, ohne sich differenziert mit diesen Werten auseinanderzusetzen? Oberflächlichkeiten lassen sich schneller abschütteln als verinnerlichte Werte. Diese sollten zum Nachdenken und Abwägen führen, ehe man sich eventuell von ihnen trennt. Einen hektischen Paradigmenwechsel mitzumachen, wirft die Frage auf: War es stets ein Nachplappern des jeweiligen Zeitgeistes oder eine profunde Überzeugung als Ergebnis von Reflexion?
XI.
Ausschaltung des Souveräns durch die Politik
Pseudowissenschaftliche Argumentationslinien, flächendeckende Einschränkungen und Zwangsmaßnahmen unter dem Vorwand durchzusetzen, diejenigen zu schützen, die man mit ebenjenen Maßnahmen schädigte, waren nicht nur eine Beleidigung des Intellekts; sie zeigten eine kaum verhohlene Lust daran, durchzuregieren ohne echte demokratische Hürden. Darüber hinaus zeugte deren Erfolg von einem profunden Verlust an gesundem Menschenverstand. Im Englischen ist das gut auf den Punkt zu bringen: “The problem with common sense is that common sense ain’t common any more” – im Deutschen könnte man analog sagen, der gesunde Menschenverstand sei erkrankt. Beiden Ausdrucksweisen ist gemeinsam, dass etwas Bodenständiges, für das tägliche Zusammenleben und Funktionieren von Gemeinschaften Essenzielles großen Schaden genommen hat. Was trivial klingen mag, erschüttert das Fundament des gegenseitigen Vertrauensvorschusses, den Menschen brauchen, um als Gemeinschaft leben zu können. Man hat der Gesellschaft damit tiefe Verletzungen zugefügt. Die Prognose für eine Heilung wird unter anderem davon abhängig sein, ob man diese Wunden heilen oder nur zudecken wird. Letzteres würde den gesellschaftlichen Organismus nur umso schwerer und komplizierter bedrohen und das menschliche Zusammensein in einen septischen Verlauf entgleisen lassen. Überlassen die Bürger und ihre Staaten diese Entscheidungen in Zukunft der World Health Organisation (WHO), so wird verstetigt werden, was wir in den vergangenen drei Jahren erlebt haben: Die Autonomie über unsere Körper und unseren Geist bis hin in unsere Gedankenwelt, die Würde und der Unversehrtheitsanspruch des Einzelnen wird uns abgesprochen werden durch nicht demokratisch gewählte und niemals wählbare Instanzen.
DER STELLENWERT VON FRAGE UND ZWEIFEL 465 Dies wäre jedoch eine neue Szene im Bühnenstück. Was geschieht, wenn alles unhinterfragt und ungebremst weitergeht, was wir erlebten? Wird es irgendwann auch wieder gelingen, die Massen davon zu überzeugen, Kritiker auf dem Marktplatz zu verbrennen, weil „die Wissenschaft“ sagt, dass derartige Verbrennungen Pandemien beenden und dem Wohle der Bevölkerung dienen? Wundern würde mich inzwischen eher, wenn das nicht gelingt. Rote Linien sind zum Luxusgut geworden, das sich die Mehrheit, ungeachtet ihrer historischen Erfahrung, scheinbar nicht mehr leisten möchte. 1 2 3
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30 Jarle Aarstad, Olav Andreas Kvitastein, „Is there a Link between the 2021 COVID-19 Vaccination Uptake in Europe and 2022 Excess All-Cause Mortality?", in Asian Pacific Journal of Health Sciences 10, 2 (2023), S. 25-31. 31 Joseph Fraiman, Juan Erviti, Mark Jones, Sander Greenland, Patrick Whelan, Robert M. Kaplan, Peter Doshi, “Serious adverse events of special interest following mRNA vaccination in randomized trials in adults”, in Vaccine, 40 (2022), S. 5798-5805. 32 Michael Mörz, “A case report: multifocal necrotizing encephalitis and myocarditis after BNT162b2 mRNA vaccination against COVID-19”, in Vaccines 10, 10 (2022), S. 1651. 33 Constantin Schwab, Lisa Maria Domke, Laura Hartmann, Albrecht Stenzinger, Thomas Longerich, Peter Schirmacher, “Autopsy-based histopathological characterization of myocarditis after anti-SARS-CoV-2-vaccination”, in Clinical Research in Cardiology 112, 3 (2023), S. 431-440. 34 Conny Turni, Astrid Lefringhausen, “COVID-19 vaccines – An Australian Review”, in Journal of Clinical and Experimental Immunology 7, 3 (2022), S. 491-508. 35 Christof Kuhbandner, Matthias Reitzner, “Estimation of Excess Mortality in Germany During 2020-2022”, in Cureus 15, 5 (2023), S. e39371. 36 Food and Drug Administration (FDA), Emergency Use Authorization (EUA) for an Unapproved Product Review Memorandum (20.11.2020). https://www.f da.gov/media/144416/download [08.09.2023]. 37 Food and Drug Administration (FDA), Emergency Use Authorization (EUA) for an Unapproved Product Review Memorandum (09.04.2021). https://fda.rep ort/media/149528/nr_EUA+27034.132+Review+Memo+Pfizer-BioNTech +COVID-19+Vaccine_REVISED24May_final.pdf [08.09.2023]. 38 Paul-Ehrlich-Institut – Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel 2017, Bulletin zur Arzneimittelsicherheit 1/2017. https://www. pei.de/SharedDocs/Downloads/DE/newsroom/bulletin-arzneimittelsic herheit/2017/1-2017.pdf?__blob=publicationFile&v=2 [31.05.2023]. 39 David L Sackett, Sharon E Strauss, Warren Scott Richardson, Evidence Based Medicine: How to Practice and Teach EBM (London: Churchill-Livingston, 2000) 40 Claire S Traylor, Jasmine D Johnson, Mary C Kimmel, Tracy A Manuck, “Effects of psychological stress on adverse pregnancy outcomes and nonpharmacologic approaches for reduction: an expert review”, in American Journal of Obstetrics and Gynecology MFM November 2, 4 (2020). 41 Roth, “Weak evidence for strong pandemic interventions: a 2019 WHO warning for the current COVID-19 crisis”. 42 Marcus Klöckner, Jens Wernicke, Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen, 6th edn, (Mainz: Rubikon, 2022, 6. Auflage). 43 Bundesärztekammer Deutschland, (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte - MBO-Ä 1997 - *) in der Fassung der Beschlüsse des 114. Deutschen Ärztetages 2011 in Kiel. https://www.bundesa erztekammer.de/fileadmin/user_upload/_old-files/downloads/MBO_0 8_20112.pdf [12.06.2023].
DER STELLENWERT VON FRAGE UND ZWEIFEL 469
44 Saul McLeod, The Milgram Experiment. Simply Psychology (2007). http://w ww.edmotivate.com/uploads/4/7/6/4/47648491/milgram_experiment. pdf [08.09.2023]. 45 Thomas Voshaar, Dieter Köhler, Patrick Stais, Peter Haidl, Thomas Hausen, Andreas Edmüller, Peter Nawroth, Matthias Schrappe, Gerd Antes, Andreas F. Rothenberger, Warum hat in der Pandemie die Intensivmedizin häufig mehr Probleme geschaffen als gelöst? (25.04.2023). https://www.sokrat es-rationalisten-forum.de/ [31.05.2023]. 46 Turni, Lefringhausen, “COVID-19 vaccines – An Australian Review”. 47 Günter Roth, Medien als Problem der Demokratie (24.05.2023) https://einfach kompliziert.de/medien-und-die-erosion-der-demokratie/ [08.09.2023] 48 Udo W. Endruscheit, “The illusion of evidence-based medicine”, British Medical Journal 2022. 49 Volker Wildermuth, RKI-Präsident: „Die Entwicklung macht uns große Sorgen“ (28.07.2020). https://www.deutschlandfunk.de/mehr-covid-19-faell e-in-deutschland-rki-praesident-die-100.html [31.05.2023]. 50 World Medical Association (WMA) General Assembly, WMA Declaration of Helsinki - Ethical Principles for Medical Research Involving Human Subjects (2013). https://www.wma.net/policies-post/wma-declaration-of-helsink i-ethical-principles-for-medical-research-involving-human-subjects/ [31.05.2023]. 51 Deutsche Gesellschaft für Pflegewissenschaft e. V., Der Nürnberger Kodex 1947. https://dg-pflegewissenschaft.de/wp-content/uploads/2017/05/ NuernbergKodex.pdf [31.05.2023].
Autorinnen und Autoren Rainer Baule, Prof. Dr., ist seit 2012 Inhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Bank- und Finanzwirtschaft, an der FernUniversität in Hagen. Neben allgemeinen gesellschaftlichen Fragen beschäftigt er sich mit Risiken auf Finanzmärkten, strukturierten und derivativen Finanzprodukten sowie dem Verhalten von Privatanlegern an Kapitalmärkten. Er veröffentlichte u.a. das Buch Finanzwirtschaftliches Bankmanagement (Schäffer-Poeschel 2019). Klaus Buchenau, Prof. Dr., ist seit 2013 Professor für Geschichte Südost- und Osteuropas an der Universität Regensburg. Seine Forschungsschwerpunkte verlagerte er im Lauf seines wissenschaftlichen Werdegangs von der historischen Soziolinguistik zur Religionsgeschichte des östlichen Europas. Seit der Finanzkrise 2008 entwickelte er einen weiteren Forschungsschwerpunkt in der Geschichte der Korruption. Zu seinen neuesten Veröffentlichungen zählen eine Geschichte Südosteuropas (zusammen mit Ulf Brunnbauer, 2. Auflage 2023 bei Reclam erschienen) und das investigative Stück From Grand Estates to Grand Corruption. The battle over the possessions of Prince Albert of Thurn and Taxis in interwar Yugoslavia (Brill/Schöningh 2023). Paul Cullen, Prof. Dr., ist Facharzt für Innere Medizin, Facharzt für Laboratoriumsmedizin, Molekularbiologe und außerplanmäßiger Professor für Laboratoriumsmedizin an der Universität in Münster, wo er hauptberuflich ein großes medizindiagnostisches Labor leitet. Er hat über viele Jahre im Bereich der Herzkreislauferkrankungen geforscht und auf diesem Feld zahlreiche Originalarbeiten, Übersichtsarbeiten und einige Lehrbücher veröffentlicht. Seit etwa fünfzehn Jahren unterhält er eine rege publizistische Tätigkeit zu bioethischen Fragen sowie seit dem Jahr 2020 zu wissenschaftlichen Fragen rund um die CoronaPandemie. Jan Dochhorn, Prof. Dr., ist Theologe. Er ist seit 2014 Associate Professor für New Testament Studies an der Durham University. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Offenbarung des Johannes, Paulusforschung, Apokryphen und Parabiblica zum Alten und Neuen Testament, Sprachen und Kulturen des Christlichen Orients. Zuletzt
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472 AUTORINNEN UND AUTOREN publizierte er (zusammen mit Alexander Dietz, Axel Bernd Kunze und Ludger Schwienhorst-Schönberger) Wiederentdeckung des Staates in der Theologie (Evangelische Verlagsanstalt 2020) und Der Adammythos bei Paulus und im hellenistischen Judentum Jerusalems (Mohr Siebeck 2021). Gerald Dyker, Prof. Dr., ist seit 1995 Professor für Organische Chemie, zunächst an der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg, dann an der Ruhr-Universität Bochum. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen metallorganische Katalyse und Synthesen. In der Lehre setzt er auf das Inverted Classroom-Konzept, mit seinem Youtube-Kanal „Prof. Gerald Dyker's Chemistry and more“ als Basis. Matthias Fechner, Dr., studierte Komparatistik, Politik und Philosophie. An eine literaturhistorische Promotion schloss er ein pädagogisches Aufbaustudium an. Er war 16 Jahre als Lehrer in Baden-Württemberg und Hessen tätig. Seit einigen Jahren arbeitet er wieder an Hochschulen, zuletzt als Fellow, Nachwuchsgruppenleiter und Research Associate im DFG-Forschungskolleg „Lyrik in Transition“ an der Universität Trier (2018 – 2022). Zuletzt publiziert er (mit Nikolas Immer und Henrieke Stahl) Wiederkehr des Subjekts? Perspektiven auf Philosophie, Poetik und Lyrik der Gegenwart (Peter Lang 2022). Roland Hofwiler ist mittlerweile in Rente. 1979 gehörte er zu den Mitbegründern der Berliner tageszeitung „taz“, ab 1992 war er Redakteur beim „Spiegel“. In den vergangen Jahren verabschiedete er sich vom Journalismus und arbeitete als Psychologe in der Familientherapie. Vladan Jovanović, Dr.phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter (Principal Research Fellow) am Institut für neuere Geschichte Serbiens (INIS) in Belgrad. Er wurde an der Universität Belgrad im Fach Geschichte promoviert. Zu seinen Forschungsinteressen gehören die politische und soziale Integration ehemals osmanischer Territorien in den jugoslawischen Staat, Zwangsmigrationen, ethnische und religiöse Gewalt, Nationsbildung, transnationale Kriminalität und Korruption. 2020 veröffentlichte er die Monographie Opijum na Balkanu : proizvodnja i promet opojnih droga 1918.-1941. (Opium auf dem Balkan. Produktion und Vertrieb von Rauschgift 1918-1941, AGM Verlag). Seit November 2020 ist er auch Chefredakteur der historischen Fachzeitschrift Tokovi istorije/Currents of History (https://tokovi.istorije.rs/eng/).
AUTORINNEN UND AUTOREN 473 Boris Kotchoubey, Prof., Dr. Phil., Jahrgang 1952, Studium der Humanmedizin 1965-71 und Psychologie 1978-91 in Moskau, Promotion im Fach Psychologie 1981 (Russische Akademie der Erziehungswissenschaften), Habilitation 2002 im Fach Medizinische Psychologie an der Universität Tübingen. Seit 2005 apl. Prof. an der Universität Tübingen. Insgesamt über 150 wissenschaftliche (peer-reviewed) Publikationen v.a. zu den neurophysiologischen Grundlagen des Bewusstseins und der Bewusstseinsstörungen, der Lernprozesse und der Sprache (Neurolinguistik). Publizistik v.a. bei „Novo-Argumente“ und „Achse der Guten“. Die letzten Bücher sind Why Are You Free: Biology and Psychology of Voluntary Action (Nova Science Publishers, 2012), Irrsinn der Sterbehilfe (Tübingen University Library, 2018) und Untergang einer Institution (Deutscher Wissenschaftsverlag, im Druck). Axel Bernd Kunze, PD Dr., ist promovierter Christlicher Sozialethiker und Privatdozent für Erziehungswissenschaft an der Universität Bonn. Er ist beruflich als Schulleiter und Publizist (DFJV, GKP) tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind bildungs-, kultur- und staatsethische Fragen. Er publiziert(e) u.a.: gemeinsam mit Oleg Dik und Jan Dochhorn Menschenwürde im Intensivstaat? Theologische Reflexionen zur Coronakrise (S. Roderer Verlag, im Druck), Bildung und Religion. Die geistigen Grundlagen des Kulturstaates (LIT 2022) sowie gemeinsam mit Alexander Dietz, Jan Dochhorn und Ludger Schwienhorst-Schönberger Wiederentdeckung des Staates in der Theologie (Evangelische Verlagsanstalt 2020). Klaus Morawetz, Prof. Dr., ist theoretischer Physiker. Er forschte an verschiedenen internationalen und Max-Planck-Instituten und ist seit 2009 Professor an der FH Münster. Seine Arbeitsgebiete sind wechselwirkende Vielteilchensysteme fernab vom Gleichgewicht. Neben zahlreichen Veröffentlichungen in Physikjournalen ist er Autor und Editor von 9 Büchern, u.a. der Monographie Interacting Systems far from Equilibrium – Quantum Kinetic Theory bei Oxford University Press Robert Obermaier, Prof. Dr., ist Inhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Accounting und Controlling an der Universität Passau, deren Vizepräsident für Forschung er auch war. In Forschung und Lehre liegen seine Schwerpunkte in den Bereichen Controlling, Entscheidungstheorie, Unternehmensbewertung sowie
474 AUTORINNEN UND AUTOREN Produktion und Digitale Transformation. Darüber hinaus beschäftigt er sich regelmäßig mit wirtschaftshistorischen und ordnungspolitischen Fragestellungen. Neben zahlreichen nationalen und internationalen Zeitschriftenaufsätzen zählen zu seinen jüngeren Buchpublikationen: Handbuch Industrie 4.0 und Digitale Transformation – Betriebswirtschaftliche, technische und rechtliche Herausforderungen (Springer Gabler 2023, 2. Auflage) und (mit Edgar Saliger) Betriebswirtschaftliche Entscheidungstheorie (De Gruyter 2020, 7. Auflage). Markus Riedenauer, Prof. Dr., ist Philosoph und katholischer Theologe. Seit 2018 hat er den Lehrstuhl für Philosophische Grundfragen der Theologie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt inne. Seine Forschungsinteressen sind Individualethik und politische Ethik, philosophische Theologie, Philosophiegeschichte und philosophische Praxis. Zu seinen Publikationen gehören: (mit Andrea Tschirf) Zeitmanagement und Selbstorganisation in der Wissenschaft (utb 2022, 2. Auflage) sowie zahlreiche Aufsätze. Harald Schwaetzer, Dr. phil. habil.; hauptamtliche Co-Leitung des Philosophischen Seminars e.V. (Stuttgart), akademische Leitung der Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte. Professor für Philosophie von 2009 bis 2022 in Alfter, Bernkastel-Kues, Hildesheim und Biberach. Mitherausgeber der Allgemeinen Zeitschrift für Philosophie, der Internationalen Zeitschrift für Kulturkomparatistik, der Coincidentia sowie der Buchreihen Studien und Texte zur europäischen Geistesgeschichte, Philosophie interdisziplinär sowie Beihefte der Allgemeinen Zeitschrift für Philosophie. Monographien zu Cusanus, Kepler, Raffael und dem metaphysischen Neukantianismus; weitere systematische Veröffentlichungsschwerpunkte: Philosophie der Mystik, Existenzphilosophie, Naturphilosophie, Bildungsphilosophie. Christine Wehrstedt, Dr., ist Hebamme und Hebammenwissenschaftlerin. Sie forschte zu berufsbiografischen Entscheidungsprozessen und ist nebst praktischer Hebammentätigkeit in Fort- und Weiterbildung für Hebammen an und außerhalb von Hochschulen tätig. Hier liegen die Schwerpunkte in den Bereichen Förderung der natürlichen Geburt in Umfeldern mit hoher Kaiserschnittraten, kritische Beleuchtung genereller Screenings für Schwangere, Bindungsförderung versus Vorschriftenmedizin, Gesundheitsförderung versus Krankheitsbekämp-
AUTORINNEN UND AUTOREN 475 fung im salutogenetischen Ansatz. Die letzten Publikationen lauten Luft zum Atmen (Deutsche Hebammenzeitschrift, 2021) sowie Co-Sleeping und SIDS (Pinard 2022).
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