T I LL MAYER
EUROPAS FRONT KRIEG IN DER UKRAINE
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KARTE
INHALT
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INHALT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . SEITE Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 004 Vorwort Markus Behmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 010 Einführung von Till Mayer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 012 Bildergalerie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 014 Am Ende Kerzenschein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 036 Schlaglichter aus dem Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 042 Ein Grab im Krater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 046 Widerstand mit Hundepulli . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 052 Putins Wut und Elenas Mut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 058 Eisiger Tod. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 064 Liebe, Krieg und Dunkelheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 072 Zeit der Pein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 078 Am Rande des Schlachtens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 084 Kunst im Kampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 090 In der Nachbarschaft lauert der Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 096 Retterin an der Front . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Nach der Flut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Tod aus der Luft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Die Geisterstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 1000 Tulpen und ein Baum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Gamer-Look im Erdbunker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Kameraden auf vier Pfoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Warten und Hoffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Wenn der Krieg droht, das Herz zu brechen. . . . . . . . . . . . . . . 150 Vor New York stehen die Russen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Die Drohnenjäger von Tscherkassy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Über den Autor & Fotografen / Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . 168
Zeittafel Ukraine
russische Demonstranten bei Straßenschlachten und einem Brand.
JANUAR UND FEBRUAR 2014 Die Proteste gegen Präsident Janukowitsch schwellen landesweit an. Bei Straßenkämpfen in Kyjiw sterben über 100 Menschen. Parallel dazu entwickelt sich eine pro-russische Anti-Maidan-Bewegung vor allem im Osten der Ukraine.
18. MÄRZ 2014 Russland gliedert die Krim gewaltsam in die Russische Föderation ein. Zuvor hatte ein Referendum den Beitritt der Krim zu Russland legitimieren sollen. Die EU und die USA sowie die Übergangsregierung in Kyjiw sehen die Abstimmung als Bruch internationalen Rechts. Sie sprechen von einer Annexion. EU und USA reagieren mit Sanktionen auf Russland.
25. MAI 2014 Petro Poroschenko, ein pro-europäischer Politiker und Milliardär, gewinnt die Präsidentenwahl. In den Separatistengebieten bleiben die Wahllokale geschlossen. Ende Juni unterzeichnen die Ukraine und die EU das Assoziierungsabkommen, das Janukowitsch gestoppt hatte.
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21. FEBRUAR 2014 Auf Vermittlung der Außenminister von Deutschland, Frankreich und Polen und unter Verhandlungsbeteiligung Russlands wird zur Beilegung der Krise von Regierung und parlamentarischer Opposition das Maidan-Abkommen unterschrieben. Ein selbsternannter Maidan-Rat lehnt das Abkommen ab und ruft zum sofortigen Sturz der Regierung auf. Am selben Tag flieht Präsident Janukowitsch über die Krim nach Russland. 22. FEBRUAR 2014 Für Mai werden von Abgeordneten des Parlaments Präsidentschaftswahlen ausgerufen und Janukowitsch wird für abgesetzt erklärt. Russland spricht von einem verfassungswidrigen Handeln. ENDE FEBRUAR 2014 Es kommt zu Auseinandersetzungen auf der Halbinsel Krim zwischen Anhängern und Gegnern der neuen Führung in Kyjiw.
ANFANG APRIL 2014 Pro-russische Separatisten stürmen und besetzen Verwaltungsgebäude in mehreren ostukrainischen Städten. In Donezk wird eine „unabhängige Volksrepublik“ ausgerufen. 14. APRIL 2014 Die Übergangsregierung in Kyjiw schickt Truppen und Freiwilligenverbände in die Ostukraine. 17. APRIL 2014 In Genf einigen sich die Außenminister Russlands, der Ukraine, der USA und der EU auf eine Entwaffnung „illegaler Kräfte“. Eine Umsetzung bleibt aus. 2. MAI 2014 Bei einer Militäroffensive in Slawjansk sterben am 2. Mai zehn Menschen, in Odesa mindestens 43 pro-
11. MAI 2014 Eine Mehrheit der Teilnehmer stimmt in höchst umstrittenen Referenden in Donezk und Luhansk für eine Unabhängigkeit von der Ukraine.
17. JULI 2014 Eine Passagiermaschine der Malaysian Airlines mit 298 Menschen an Bord wird über der Ostukraine abgeschossen. Die ukrainische Regierung und die Separatisten beschuldigen sich gegenseitig. Im Verlauf des Prozesses, der ab 2020 in Den Haag beginnt, verdichten sich die Hinweise, dass das Flugzeug mit einer aus Russland gelieferten Rakete abgeschossen wurde. ENDE AUGUST 2014 Russland unterstützt massiv die separatistischen Milizen. Die Offensive der ukrainischen Kräfte gerät dadurch ins Stocken. Im Donezker Raum werden 7000 ukrainische Soldaten und Kämpfer eingekesselt. Laut ukrainischen Angaben sterben 366 unbewaffnete Soldaten am 29. August durch Beschuss, als sie einen von russischer Seite zugesicherten Korridor bei Ilowajsk zur Flucht nutzen wollen. Die Separatisten starten laut Beobachterangaben mit russischer Truppenunterstützung eine Gegenoffensive.
5. SEPTEMBER 2014 Regierung und Separatisten einigen sich im belarussischen Minsk auf eine Waffenruhe. Diese wird nicht eingehalten. Am 20. September wird die Vereinbarung ergänzt: Eine demilitarisierte Pufferzone soll entlang der Frontlinie entstehen. 26. OKTOBER 2014 Bei Parlamentswahlen setzen sich pro-europäische Parteien durch. Die Separatisten boykottieren die Wahl. 2. NOVEMBER 2014 In den international nicht anerkannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk halten die Separatisten eigene „Wahlen“ ab. Die ukrainische Regierung spricht von einer „illegalen Machtübernahme“.
schnelles Ende des Kriegs einzusetzen. Drei Tage nach dem Wahlsieg Selenskyis kündigt Putin an, den Menschen in den Separatistengebieten einen schnellen und unkomplizierten Zugang zu russischen Pässen zu ermöglichen. Dies wird von vielen Beobachtern als eine Vorbereitung zu einer Annexion gesehen.
SOMMER 2020 Eine neue Waffenruhe beginnt, die ein halbes Jahr lang für einen deutlichen Rückgang bei Gefallenen und Verwundeten sorgt. Russland vergibt weiterhin freizügig seine Staatsbürgerschaft an ukrainische Staatsangehörige aus dem Donbas.
12. NOVEMBER 2014 Russland wird von der NATO beschuldigt, Separatisten mit Kämpfern und Waffen zu unterstützen. Die Kämpfe und Verluste nehmen weiter zu.
JANUAR/FEBRUAR 2021 Beobachter sprechen von einem Ansteigen der Kampfhandlungen.
12. FEBRUAR 2015 Putin, Hollande, Poroschenko und Merkel einigen sich auf eine Waffenruhe ab dem 15. Februar für das Kampfgebiet im Donbas. Schwere Waffen sollen abgezogen und das ursprüngliche Minsker Abkommen umgesetzt werden. Die Folge von Minsk II ist ein Stellungskrieg mit marginalen Gebietsverschiebungen.
APRIL 2021 Die Russische Föderation verlegt bis zu 150.000 Soldaten während eines Manövers an die Grenze zur Ukraine. Der Vorgang wird von der Ukraine und den NATO-Staaten als klare Drohung und Provokation eingestuft. Auch nach dem Manöver bleiben starke russische Truppenkontingente in Grenznähe. Die russische Armee baut eine militärische Infrastruktur auf.
20. MAI 2019 Wolodymyr Selenskyi tritt sein Amt als neuer Präsident der Ukraine an. Im Wahlkampf versprach er, sich für ein
SOMMER 2021 Putin stellt in einem Essay die nationale Identität eines ukrainischen Volkes in Frage und leugnet das Recht der Ukrainer auf einen eigenständigen ukrainischen Staat.
HERBST 2021 Russland zieht erneut Truppen an der Grenze zur Ukraine zusammen. Mit dem massiven Anwachsen der militärischen Präsenz wächst die Furcht vor einer möglichen groß angelegten Invasion. Russland wirft im Gegenzug der Ukraine vor, den Krieg im Donbas militärisch lösen zu wollen. In Deutschland reicht das Volumen der russischen Gaslieferungen nicht aus, die Speicher zu füllen. Eine endgültige Genehmigung für die bereits fertiggestellte Pipeline Nord Stream 2 wird nicht erteilt. Das bestehende Pipelinenetz hätte jedoch genug Kapazität, um Europa wie in den Jahrzehnten zuvor mit Erdgas zu versorgen. NOVEMBER/DEZEMBER 2021 Putin warnt die NATO davor, „rote Linien“ zu überschreiten. Russland verlange Vereinbarungen, die „jegliche weitere Schritte der NATO nach Osten und die Stationierung von Waffensystemen ausschließen, die uns in großer Nähe zu russischem Territorium bedrohen.“ In ultimativen Vertragsentwürfen an die NATO und an die USA verlangt Russland, die militärischen Einrichtungen in allen Staaten der NATO-Osterweiterung abzubauen. Die Ukraine erhält von den USA Panzerabwehrraketen. Auch mit der Anschaffung bewaffneter Drohnen haben die ukrainischen Streitkräfte ihre Schlagkraft erhöht. Putin meldet den erfolgreichen Test russischer Hyperschall-Raketen. DEZEMBER 2021 Putin beklagt im Rahmen des Jahrestags des Zusammenbruchs der Sowjetunion, dass Russland dadurch 40 Prozent seines historischen Gebiets verloren habe. Seine Drohungen bestehen weiter. Biden und westliche Staatschefs drohen Putin ausdrücklich mit einem umfassenden wirtschaftlichen Embargo, falls er erneut Truppen in das Nachbarland einmarschieren lässt.
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1. MÄRZ 2014 Das russische Parlament ermächtigt Präsident Putin zu einem Militäreinsatz in der Ukraine. Offiziell sendet Moskau keine Truppen. Jedoch tauchen auf der Halbinsel Krim Kämpfer ohne Hoheitsabzeichen an den Uniformen auf. Monate später räumt Präsident Putin ein, dass russische Soldaten im Einsatz waren.
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ENDE NOVEMBER 2013 Auf dem Maidan in Kyjiw (Kiew) beginnen Demonstrationen, nachdem die Regierung die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union aussetzt.
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ZEITTAFEL
21. FEBRUAR 2022 Russland erkennt die beiden „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk an. NATO-Staaten reagieren mit ersten Wirtschaftssanktionen. 24. FEBRUAR 2022 Die Invasion, die von Putin als „militärische Spezialoperation“ tituliert wird, beginnt. Putin erklärt, dass Russland keine Pläne habe, ukrainisches Territorium zu besetzen. Ziel der „Operation“ sei die „Demilitarisierung“ und „Denazifizierung“ der Ukraine. Russische Truppen dringen von Belarus, der Krim und über die russisch-ukrainische Grenze in das Nachbarland. Raketen- und Luftangriffe werden aus der ganzen Ukraine gemeldet. ENDE FEBRUAR 2022 Schon zu Beginn der Invasion scheitern ehrgeizige Ziele der russischen Armeeführung wie die Einnahme des Hostomel Flughafens nahe Kyjiw. Auch die Hauptstadt kann von den ukrainischen Verteidigern gehalten werden, ebenso Charkiw nahe der russischen Grenze.
Odesa und Mykolajiw bleiben ebenfalls unter ukrainischer Kontrolle. Dennoch marschieren russische Truppen in den folgenden Tagen an vielen Fronten vorwärts. Der Widerstand, der ihnen entgegenschlägt, ist heftiger und erfolgreicher, als aus russischer Sicht prognostiziert. Russische Raketenangriffe überziehen weiter die gesamte Ukraine. Neben militärischen Einrichtungen werden zahlreiche zivile Ziele attackiert und zerstört. Es gelingt Russland nicht, die ukrainische Luftwaffe und Luftabwehr zu vernichten. Der Blitzkrieg mit einem Blitzsieg ist aus russischer Sicht gescheitert. Vor den Kämpfen fliehen Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer, fast acht Millionen Menschen bleiben als Binnenvertriebene im Westen des eigenen Landes. Über fünf Millionen fliehen ins sichere Ausland. Männern im Alter von 18 bis 60 Jahren ist die Ausreise aus der Ukraine nicht gestattet. MÄRZ 2022 Die ukrainischen Verteidiger treten mit hoher Kampfmoral gegen die Invasoren an, Freiwillige strömen in die Armee. Mit Drohnen, Panzerabwehrraketen und tragbaren Raketenwerfern fügen sie den russischen Truppen schwerste Verluste zu. In besetzten Gebieten stoßen die russischen Truppen immer wieder auf zivilen Widerstand, wie in Cherson. Dort sammeln sich die Bewohner zu Demonstrationen. Die Annahme der Aggressoren, dass die Bevölkerung in Gebieten mit russischer Sprachmajorität die Invasoren willkommen heißt, erweist sich als eine völlige Fehleinschätzung. Im Süden der Ukraine können russische Verbände jedoch mit geringeren Verlusten vorrücken. Ende März beginnen russische Verbände sich aus den besetzten Gebieten in der Region Kyjiw zurückzuziehen, ebenso aus anderen Gebieten im Norden und Nordosten der Ukraine.
APRIL 2022 Der Donbas wird zum kommenden großen Schlachtfeld des Kriegs. Russland sammelt dort seine Verbände. In Butscha und Irpin nahe Kyjiw werden die Opfer russischer Massaker geborgen. Allein in den ehemals von russischen Truppen besetzten Gebieten in der Region Kyjiw sind nach ukrainischen Angaben über 1000 Menschen ermordet worden. Aus den Gebieten, die unter Kontrolle der russischen Besatzer stehen, gelangen immer mehr Berichte über Vergewaltigungen, Verschleppungen und Exekutionen an die Öffentlichkeit. Von dort Geflüchtete berichten über einen Zustand der Rechtlosigkeit der Zivilbevölkerung. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen schließt am 7. April Russland aus dem UN-Menschenrechtsrat aus. Russland überzieht weiterhin das ganze Land mit Raketenangriffen. So fordert beispielsweise ein Raketeneinschlag in Kramatorsk am 8. April 57 Tote und 109 Verwundete. MAI UND JUNI 2022 Die Offensive der russischen Armee im Donbas fordert hohe Verluste auf beiden Seiten. Russland nutzt die Überlegenheit seiner Artillerie aus. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj beziffert die eigenen Verluste mit bis zu 100 toten Soldaten täglich. Den Verteidigern fehlen moderne schwere Waffen und der Schutz gepanzerter Fahrzeuge. Am 17. Mai übernehmen in der völlig zerstörten und zuvor hart umkämpften Hafenstadt Mariupol russische Truppen und Einheiten der Separatisten die Kontrolle. Bei Mykolajiw starten ukrainische Verbände zur Gegenoffensive. In der Kleinstadt Sjewjerodonezk sollen im Juni 90 Prozent der Häuser entweder zerstört oder beschädigt sein. Schrittweise liefert der Westen moderne schwere Waffensysteme.
JULI UND AUGUST 2022 Die Lieferung moderner und leistungsfähiger Raketenwerfer und Artilleriesysteme aus den USA und Großbritannien, aber auch aus Deutschland zeigen militärische Erfolge. Doch ihre Anzahl reicht nach Aussagen militärischer Beobachter nicht aus, um zum Game-Changer zu werden. Den Ukrainern gelingt es, Kommandoeinrichtungen sowie Munitions- und Treibstofflager des Feindes in größerem Ausmaß zu vernichten. Die Verluste der russischen Truppen erhöhen sich, die der Ukrainer sinken. Der russische Vormarsch verläuft im Donbas weiter schleppend. Ebenso kommen örtlich begrenzte ukrainische Gegenoffensiven im Süden nur langsam voran. Die Lage im und am Atomkraftwerk Saporischschja bedroht ganz Europa. Immer wieder schlagen Granaten auf dem Kraftwerksgelände ein, die Umgebung ist schwer umkämpft. Russland und die Ukraine machen sich gegenseitig für den Beschuss verantwortlich. Das Kraftwerk wird von russischen Truppen gehalten. Ein Notteam des ukrainischen Energiekonzerns Energoatom hält das Kraftwerk am Laufen. Ein internationales Abkommen ermöglicht die Nutzung von Odesa als Hafen für den Transport von ukrainischem Getreide. Am 1. August verlässt das erste beladene Schiff die Küstenstadt. Am 9. August kommt es auf einem russischen Luftwaffenstützpunkt auf der Krim zu schweren Explosionen. Die Ursache ist ungeklärt. Russland überzieht weiterhin die ganze Ukraine mit Raketenangriffen. Die angerichteten Zerstörungen sind gewaltig. So wurden beispielsweise 2300 Bildungseinrichtungen beschädigt und 286 vollständig zerstört, teilt das ukrainsche Bildungsund Wissenschaftsministerium mit (Stand Mitte August). ANFANG/MITTE SEPTEMBER 2022 Die angekündigte großangelegte ukrainische Gegenoffensive im Süden hat begonnen, die Ukrainer melden
Erfolge. Im Nordosten gelingt der ukrainischen Armee eine Überraschungsoffensive. Hier können russische Truppen großflächig zurückgedrängt werden. Im Donbas dauern die schweren Kämpfe an. Russland überzieht weiterhin das ganze Land mit Raketenangriffen. Ein Inspektoren-Team der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEA) warnt nach einer Inspektion des Atomkraftwerks Saporischschja vor der gefährlichen Situation. 30. SEPTEMBER 2022 Russland proklamiert völkerrechtswidrig die ukrainischen Oblaste Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja als zur Russischen Föderation zugehörig. Voraus gehen Scheinreferenden, die keinem demokratischen Standard entsprechen und unter unmittelbarem Zwang auf
die nicht geflüchtete Bevölkerung umgesetzt werden. Teile der von Russland beanspruchten Gebiete befinden sich unter ukrainischer Kontrolle. Die vor der Annexion durchgeführten „Referenden“ gelten völkerrechtlich als nichtig. 143 Staaten der Weltgemeinschaft verurteilen sie als illegal. MITTE NOVEMBER 2022 Die russische Armee muss sich aus der Stadt Cherson zurückziehen. Es ist die einzige Oblast-Hauptstadt, die die russischen Truppen seit Beginn der groß angelegten Invasion im Februar 2022 erobern konnten. Allein in Cherson unterhielt die Russische Föderation vier Foltergefängnisse. Die Soldatinnen und Soldaten der ukrainischen Armee werden von jubelnden Menschen begrüßt. Wie in allen befreiten Gebieten können den russischen
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JANUAR 2022 Der russische Aufmarsch, den Moskau weiterhin als Manöver bezeichnet, hat einen wesentlich größeren Umfang als die Truppenzusammenziehung im Vorjahr. So werden Kampfhubschrauber, Kampfflugzeuge, Flugabwehrsysteme und schwere Artillerie in großem Umfang an die ukrainische Grenze verlegt. Die USA und westliche NATO-Staaten warnen Putin erneut vor einem Angriff, ihre Geheimdienste sehen die Gefahr einer unmittelbar bevorstehenden Invasion. Die Ukraine erhält Waffenlieferungen von den USA und westlichen Staaten. Deutschland liefert keine schweren Waffen. Russland negiert weiterhin, eine Invasion zu planen.
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Längs der Fernstraße M03 warnen Schilder vor Minen (März 2023).
Ganze Landstriche sind vermint. Ihre Explosionen hinterlassen Versehrte und oft Tote.
FRÜHJAHR 2023 Die heftigen Kämpfe an der Front im Süden und Osten der Ukraine dauern unvermindert an. Neben der Artillerie wird in den Kampfgebieten auf beiden Seiten der Einsatz von Aufklärungs- und Kamikaze-Drohnen immer kriegswichtiger. Trotz hoher Verluste auf beiden Seiten kommt es kaum zu großen Veränderungen am Frontverlauf. Russische Raketen- und Drohnenangriffe auf zivile Ziele in der Ukraine dauern an. Am 20. Mai erklärt der Führer der Wagner-Privatarmee, Jewgeni Prigoschin, Bachmut stehe unter vollständiger russischer Kontrolle. Die Verluste seiner Privat-Armee bei der Schlacht um Bachmut wird er später mit über 20.000 Kämpfern beziffern. Die neue Frontlinie verläuft nun vor den Toren Bachmuts. In verschiedenen Nato-Staaten, darunter auch Deutschland, werden Soldatinnen und Soldaten für die geplante ukrainische Offensive ausgebildet. 6. JUNI 2023 Eine Explosion zerstört den unter russischer Kontrolle stehenden Kachowka-Staudamm. Es kommt zu großflächigen Überschwemmungen flussabwärts. Pestizide, Salz und riesige Mengen an Öl vermischten sich mit dem sauberen Wasser aus dem Stausee zu einer gifti-
gen Brühe. Die Staudamm-Sprengung führt so auch zu schweren ökologischen Schäden. Die Fakten- und Indizienlage weist auf eine Verantwortung der russischen Seite hin, die dies bestreitet. 23. JUNI 2023 Der Chef der Wagner-Söldnertruppe, Jewgeni Prigoschin, wagt den Aufstand und lässt Truppen Richtung Moskau marschieren. Am Tag darauf bricht er nach Verhandlungen die Operation ab. Er kommt am 23. August bei einem Flugzeug-Absturz ums Leben, der von Beobachtern als Strafaktion Putins gesehen wird. SOMMER 2023 Anfang Juni startet die ukrainische Armee zu einer Gegenoffensive. Militärführung und Präsident Wolodymyr Selenskyj stehen unter hohem Erfolgsdruck, die Erwartung in der ukrainischen Bevölkerung ist groß. Doch die Voraussetzungen sind schlecht. Die russische Armee nutzt die Zeit und kann die Befestigungen an der Frontlinie umfassend ausbauen. Den ukrainischen Kräften fehlen Flugzeuge für eine notwendige Unterstützung aus der Luft. Die vorhandene Artillerie kann nicht ausreichend genutzt werden, da große Teile der vom Westen zugesagten Munition nicht geliefert wurden. Vorrückende Panzer der Ukraine bleiben in Minenfeldern stecken. Eine funktionierende Infrastruktur für eine effiziente Reparatur des Kriegsgeräts aus dem Westen ist nicht ausreichend aufgebaut. Weitreichende Raketen, wie das Taurus-System, fehlen. Sie könnten den russischen Nachschub im Hinterland empfindlich stören. Kleinere Erfolge kann die ukrainische Armee zum Beispiel an der Südflanke der Bachmut-Front erlangen. Im Süden gelingt es, den Dnipro zu überqueren und sich festzusetzen.
HERBST 2023 Awdijiwka vor den Toren von Donezk ist seit 2014 Frontstadt und konnte von den ukrainischen Verteidigern auch nach der Invasion 2022 gehalten werden. Russische Verbände starten mit großem Aufgebot zur Eroberung der Stadt. Verteidigungslinien und Wohnbezirke der weitgehend entvölkerten Stadt werden bombardiert, ganze Wohnblocks und Straßenzüge sind nur noch Trümmer. Die russische Armee verliert Tausende von Soldaten bei den Angriffswellen. Viele Beobachter sehen mittelfristig den Fall der Stadt. Es wird immer klarer, dass die ukrainische Offensive weitgehend gescheitert ist. An der Front im Osten und Süden dauern die Kämpfe an. WINTER 2023/2024 Zwei Jahre dauert der großangelegte russische Angriffskrieg auf die Ukraine an. Russland startet nun zur Offensive an der Front und überzieht die Ukraine wieder mit Drohnen- und Raketen-Angriffen. Dabei schaffen es die Aggressoren nicht mehr, wie im Winter 2022/2023 die Energieversorgung in großem Ausmaß zu schädigen. Der ukrainischen Luftabwehr gelingt es, das Gros der Raketen und Drohnen abzufangen. Aber die herabstürzenden Trümmerteile setzten noch ganze Häuserblocks in Brand und töten Menschen, die darin leben. Über zehntausend ukrainische Zivilisten sind bisher durch Kampfhandlungen getötet worden. Der Schaden beträgt vermutlich hunderte Milliarden Euro. Hunderttausende gefallener Soldaten auf beiden Seiten sind zu verzeichnen. Vor allem die russische Armeeführung schickt Truppen ohne Rücksicht auf eigene Verluste ins Gefecht. Sperreinheiten der russischen Verbände schießen in wiederholten Fällen auf eigene zurückweichende Soldaten. Im Westen bröckelt die Unterstützung der Ukraine. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán blockiert mit seinem
Veto wiederholt die Unterstützung der Europäischen Union für die Ukraine. Rechtsextreme und pro-russische Parteien gewinnen europaweit Wahlen. In Deutschland betreiben die AfD und Sarah Wagenknecht eine Ukraine-Politik im Sinne Putins. Von Russland finanzierte Internet-Trolle agieren dabei als ihre Unterstützer in den sozialen Medien. Teile der Republikanischen Partei der USA wollen die Unterstützung der Ukraine einstellen oder stark verringern, allen voran Ex-Präsident Donald Trump. Er hat gute Chancen, für die Republikaner in die Wahl um das Präsidentenamt zu gehen. In der Ukraine selbst steht das eindeutige Gros der Menschen zur Verteidigung des Landes. Doch die gesellschaftliche Diskussion, die Last dafür gerecht zu verteilen, ist schmerzhaft. Ende Dezember erklärt die Armeeführung, bis zu 500.000 neue Soldaten zu benötigen.
6. FEBRUAR 2024 77 Prozent der russischen Bevölkerung stehen hinter dem Angriffskrieg auf die Ukraine, verkündete das als unabhängig geltende Lewada-Zentrum (Moskau) nach einer Umfrage. MITTE FEBRUAR 2024 Der von den Demokraten kontrollierte US-Senat stimmt einem Gesetzespaket zu, das rund 56 Milliarden Euro für die Ukraine vorsieht. Der republikanisch dominierte Kongress blockiert die Zahlungen. An der Front müssen die ukrainischen Verteidiger Artillerie-Munition rationieren, während russische Truppen in der Offensive sind. 17. FEBRUAR 2024 Die ukrainischen Verteidiger ziehen sich aus dem schwer umkämpften Awdijiwka zurück.
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WINTER 2022/2023 Die russischen Truppen starten in den Wintermonaten ihre Gegenoffensive, ohne wichtige Erfolge erzielen zu können. Große russische Truppenkontingente werden gegen Bachmut geworfen. Der monatelange Dauerbeschuss durch die russische Artillerie verwandelt die fast menschenleere Stadt in ein Trümmerfeld. Vermutlich zehntausende Soldaten sterben bei der Schlacht um Bachmut. An der Front im Donbas und im Süden sind mittlerweile ganze Gebiete durch die Kampfhandlungen völlig verwüstet und vermint. Zugleich überzieht Russland sein Nachbarland mit Raketen- und Drohnenangriffen. Hauptziel der russischen Angriffe sind Einrichtungen der zivilen Energie- und Wasserversorgung. Für die Menschen in den ukrainischen Städten bedeutet das stunden-, bisweilen tagelange Stromausfälle und Energierationierungen. Da auch Gasheizungen oft auf einem elektrischen Geber aufbauen, bedeutet das Kälte in Millionen Wohnungen. Kraftstoffbetriebene Generatoren kommen zum Einsatz, Wärmepunkte werden eingerichtet. Dank der Lieferung von Flugabwehrsystemen aus dem Westen, aber auch durch einen beispiellosen Einsatz der Reparaturkräfte und den ungebrochenen Widerstandswillen der Zivilbevölkerung geht Putins Plan nicht auf. Zahlreiche Zivilisten verlieren bei den Angriffen ihr Leben. Die gezielte Zerstörung für die Zivilbevölkerung überlebenswichtiger Infrastruktur ist laut dem Humanitären Völkerrecht ein Kriegsverbrechen. Der Iran und Nordkorea erweisen sich verstärkt als wichtige Lieferanten von Munition,
Drohnen und Kriegsgerät für die Russische Föderation. Ab Mitte Februar 2023 werden ukrainische Crews an Leopard-2-Panzern ausgebildet. In Deutschland bedeutet die am 24. Januar 2023 von Kanzler Olaf Scholz gegebene Zusage der Lieferung von Leopard-2-Panzern das Ende einer langen regierungsinternen Diskussion. 31 M1-Abrams-Panzer aus den USA sowie rund 100 Leopard-Panzer aus zwölf Nationen sollen in die Ukraine geliefert werden.
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Besatzern Mord, Folter, willkürliche Verhaftungen und weitere schwere Verstöße gegen die Menschenrechte nachgewiesen werden.
Vorwort Markus Behmer
Erschütternd, dass die alten Leute, denen wir dort begegneten und die uns Deutschen ohne Hass, mit offener Zugewandtheit von ihrem Schicksal in den finstersten Zeiten der deutschen Besatzung berichteten, nun, am Ende harter Leben (so sie noch leben mögen), wieder Krieg erleben, erleiden müssen. Es waren andere Zeiten damals, 2013 und im Jahr darauf, als die ukrainischen Studierenden zu einem weiteren Seminar nach Bamberg gekommen sind. Wie kann man die zivilgesellschaftlichen Entwicklungen medial unterstützen, wie einen Konsens finden zwischen West und Ost, wie Pluralismus und offenen Diskurs fördern – darüber haben wir intensiv diskutiert. Unfassbar, dass manche, die wir dereinst kennengelernt hatten, nun wohl an der Front stehen, kämpfen müssen, gar verletzt oder gestorben sind, dass andere geflohen sind, dass die meisten Zuflucht suchen müssen in Schutzräumen vor dem Drohnen- und Raketenterror nur gut zwei Flugstunden fern von hier.
Genau zwei Jahre ist es her, dass die russischen Truppen am 24. Februar 2022 in das Nachbarland einfielen, von dem sie Teile schon zuvor, mit der Annexion der Krim 2014 und der Invasion im Donbas, besetzt hatten. Hundertausende sind seither getötet worden, Millionen mussten fliehen, ein ganzes Volk lebt in Angst und Schrecken. Städte sind zerstört, riesige Regionen verwüstet. Russland ist eine Despotie, die Ukraine ist Kriegsgebiet, ihre Existenz höchst gefährdet, Europa, ja die Welt ist nicht mehr die, die sie vor diesem Schicksals- und Schreckenstag war. Till Mayer, der journalistische Wegbegleiter und Dokumentarist vieler humanitärer Aktionen seit drei Jahrzehnten, lange schon auch ein Mahner, was drohen könne, wenn man dem aggressiven Hegemonialstreben Putins und seines Militärapparates nicht entschieden entgegentrete, ist zum Chronist des Krieges geworden. 2019 ist sein Buch „Donbas. Der vergessene Krieg“ erschienen, 2022 sein Band „Ukraine. Europas Krieg“, nun „Europas Front“. Er zeigt: Die Front ist nicht nur da, wo sich Soldatinnen und Soldaten in Kampflinien und
Schützengräben gegenüberstehen, wiewohl er die Kämpfenden auch in ihren Unterständen aufsucht und dort ist, wo das Leben auf die simpelsten Funktionen des Überlebens begrenzt ist. Europas Front ist, wo Hinterbliebene Notgräber in Granattrichter scharren und Behelfskreuze errichten, russische Scharfschützen auf eine Mutter schießen, die den verbrannten Leichnam ihres Sohnes bergen will … Europas Front ist, wo Raketen in Wohngebiete einschlagen, wo Menschen um ihre Angehörigen fürchten, um sie trauern. Wo Männer, Frauen, Kinder in Trümmerfeldern leben, wo zwischen den Ruinen überall Minen liegen, die die russische Armee nach ihrem Rückzug hinterlassen hat. Bewundernswert, dass es Künstlerinnen und Künstler gibt, die zwischen Brandmauern Musikclips drehen, die aus Granatenhülsen Skulpturen gestalten, Menschen, die Zwiebeln für tausend weiße Tulpen setzen. Es sind dies: Zeichen des Lebenswillens, Signale der Hoffnung. „Warten und Hoffen“, so ist dann auch eine der eindringlichen Reportagen überschrieben, die Till Mayer in diesem Band versammelt. Kämpfen und
nicht nachlassen, nicht verzweifeln, das ist der Tenor vieler anderer. Auch: Menschlich bleiben in Zeiten der Inhumanität, des Irrwitzes des Krieges. Möge es doch bald wieder möglich werden, in Frieden und Sicherheit gemeinsame Seminare mit deutschen und ukrainischen Studierenden in Lwiw, Kyjiw oder gar Cherson und Charkiw zu halten. Anlass zur Zuversicht gibt es dazu allerdings derzeit wenig. Till Mayer jedenfalls bringt uns nahe, wie es den Menschen geht, die diesen Krieg in Europa tagtäglich durchleben. Nicht für Schlagzeilen taugen diese Schicksale, diese Geschichten zumeist – aber es sind Gesichter unserer Zeit. Sie zu zeigen, das ist ein großes Verdienst.
Prof. Dr. Markus Behmer Vorsitzender der Ludwig-Delp-Stiftung
VORWORT MARKUS BEHMER
Mit uns war auch Till Mayer, der schon oft in der Ukraine gewesen war, von seinen Eindrücken und Arbeitsmöglichkeiten als Journalist berichtete und – einer der emotionalen Schlüsselerlebnisse der Exkursion – ermöglichte, dass wir in einer vom Ukrainischen und Deutschen Roten Kreuz getragenen Begegnungseinrichtung für Opfer des Nationalsozialismus und des Stalinismus Menschen trafen, die KZs und Gulags überlebt hatten. Über sie hatte Till Mayer bereits 2007 einen Foto- und Reportageband gemacht: „Roter Winkel, hartes Leben“. Mit seiner Arbeit, mit von ihm initiierten Spendenaktionen, macht er es mit
möglich, dass die Einrichtung – das Medio-soziale Zentrum Lemberg – bis heute existiert.
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VORWORT MARKUS BEHMER
Elf Jahre ist es her, dass ich mit 15 Bamberger Studierenden nach Lwiw reiste, um dort gemeinsam mit ukrainischen Kollegen, Kommilitoninnen und Kommilitonen ein Seminar über das politische Potential neuer Medien zu halten. Die jungen Leute, die wir dort trafen, waren voller Optimismus, der vielversprechenden Zukunft zugewandt, mit Social Media mindestens ebenso vertraut wie wir aus dem wohlhabenden Westen. Mit ihnen diskutierten wir über Demokratie und Medienvielfalt, feierten zusammen, sahen Tosca im imposanten Opernhaus.
Einführung von Till Mayer
Eine Panzerhaubitze an der Front im Donbas: Der Mangel an Artillerie-Munition ist eine Herausforderung für die ukrainischen Verteidiger.
Foto: Oles Kromplias
Putins Angriff auf die gesamte Ukraine kam mit einer jahrelangen Vorgeschichte. Sie begann, als er 1999 in Tschetschenien gnadenlos bombardieren, töten und zerstören ließ. Seine Machtansprüche machte er 2008 mit einem Einmarsch in Georgien und der dort von Russland installierten Pseudo-Separatisten-Republiken deutlich. Dann annektierte Russland 2014 die Krim und Putin trug im gleichen Jahr mutwillig einen Krieg mit seinen Truppen in den Donbas. Der Westen reagierte mit weichen Sanktionen. Für seinen Krieg gegen die Ukraine bekam Putin sogar noch eine Belohnung. Zumindest muss ihm
Mittlerweile ließ Putin auch syrische Städte in Schutt und Asche bombardieren. Militärstrategisch auf den ersten Blick ein sinnloses Unterfangen. Auf den zweiten Blick jedoch: Millionen flohen. Viele davon Richtung Europäische Union. Dort sorgte der Streit um den Umgang mit den Geflüchteten und ihre Aufnahme für Risse in der Gesellschaft sowie für einen Stimmenzuwachs für rechtsextreme und europafeindliche Parteien: Putins Getreue auf EU-Boden. Hunderte Millionen Euro buttert Russland seit Jahren schon in Troll-Armeen, die in den Sozialen Medien einen Krieg führen: gegen die Demokratie, gegen ein vereintes Europa, in den USA für Trump und in allen Fällen gegen die Wahrheit. Wahlen wurden und werden so beeinflusst. Auch in Deutschland gibt es Nutznießer dieses hybriden Kriegs – die AfD und Sarah Wagenknecht. Sie machen eine Politik ganz im Sinne Putins. Russlands Imperialismus hat Hunderttausenden das Leben gekostet. In Deutschland reagierte man
auf einen Krieg mitten in Europa acht Jahre lang mit Verdrängen. Die „Friedensbewegung“ schwieg, als Russland schon 2014 begann, mit Panzern neue Grenzen in Europa zu ziehen. Als im Donbas und mitten in Europa ein Stellungskrieg jahrelang vor sich hin köchelte, herrschten Schweigen und Wegsehen in der Bundesrepublik. Zur Belohnung gab es weiterhin billiges Gas, das Russland gute Einnahmen bescherte und das mitfinanzierte, was am 24. Februar 2022 begann. Ein großangelegter Angriffskrieg auf die Ukraine. Auf ein Land, dem Russland einst zusammen mit Großbritannien und den USA umfangreiche Sicherheitsgarantien gab: 1994 trat die Ukraine ihr Nuklear-Waffenpotenzial an Russland ab und unterzeichnete den Atomwaffen-Sperrvertrag. Die Ukraine war zu diesem Zeitpunkt die drittgrößte Nuklearmacht der Welt und im Anschluss ein Musterschüler in Sachen Abrüstung. Was Putin von Verträgen und gegebenen Versprechen hält, zeigte er schon 2014. Er wird es mit jedem weiteren Vertrag so machen, der ihm nicht mehr nützt. In Polen, Schweden, Finnland und den baltischen Staaten haben es die
Menschen in Europa verstanden: Russland will wieder imperiale Größe. Mit der Ukraine wird es nicht getan sein. In Deutschland stellt sich weiterhin kein Gefühl der Dringlichkeit ein. Im Gegenteil, der Prozess des Verdrängens gewinnt wieder an Fahrt. Aber es geht nicht nur um Landgewinne eines Diktators, der vom „1000-jährigen ewigen russischen Reich“ sowie der „Überlegenheit der russischen Gene“ schwadroniert, Stalin als Staatenlenker bewundert und sich als Erbe mächtiger und kriegsgewinnender Zaren sieht. Es geht um die Freiheit und die Demokratie. In den von Russland okkupierten Gebieten werden die Menschen systematisch entrechtet. Es wird bespitzelt, gefoltert, verschleppt und gemordet. In Russland ist die demokratische Opposition geflohen, sitzt im Gefängnis oder im Straflager. Eine junge Frau, die in einem russischen Supermarkt kleine Sticker gegen den Krieg anbrachte, wandert dafür nun sechs Jahre hinter Gitter. Für die Ukrainerinnen und Ukrainer sieht so kein Leben in Frieden aus. Darum kämpfen sie. Obwohl ihnen zwei Jahre Krieg so viel Kraft geraubt
haben. Sie geliebte Menschen und oft genug ihr Zuhause verloren haben. Es gibt keinen Frieden ohne Freiheit. Darin ist sich die überwältigende Mehrheit der ukrainischen Gesellschaft einig. Davon erzählen die Menschen in meinem Buch. Sie brauchen Unterstützung in ihrem Kampf. Der Ausgang des Kriegs in der Ukraine wird für die Zukunft der Freiheit auch von uns Deutschen ausschlaggebend sein. Wir können es uns nicht noch einmal erlauben zu verdrängen. Es hätte fatale Folgen für den Frieden in Europa. Putin glaubt nur an Stärke, er respektiert nur Stärke. Kompromisse, die wir Demokraten untereinander finden, sie bedeuten für ihn Schwäche. Zeigen wir ihm, dass Demokratie Stärke bedeutet. Ein wenig
von dem Mut, den die Ukrainerinnen und Ukrainer Tag für Tag beweisen, wäre schon einmal ein Anfang. Till Mayer Journalist und Fotograf
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EINFÜHRUNG VON TILL MAYER
Über 10.000 getötete Zivilisten, Hunderttausende toter Soldaten auf beiden Seiten, eine Zerstörung, die hunderte Milliarden Euro Schaden ausmacht. Das ist das Ergebnis nach zwei Jahren groß angelegter Invasion Russlands auf sein wesentlich kleineres Nachbarland Ukraine. Hätte das verhindert werden können? Ich denke, ja. Die Staatengemeinschaft und wir als Zivilgesellschaft hatten 20 Jahren Zeit, ihm Grenzen aufzuzeigen.
das so vorgekommen sein: Nord Stream 2 erhielt 2015 den Segen der Bundesregierung.
EINFÜHRUNG VON TILL MAYER
Es gibt keinen Frieden ohne Freiheit
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Schlaglichter aus dem Krieg > 042
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Am Ende Kerzenschein > 036
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Widerstand mit Hundepulli > 052
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Ein Grab im Krater > 046
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Eisiger Tod > 064
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Putins Wut und Elenas Mut > 058
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Zeit der Pein > 078
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Liebe, Krieg und Dunkelheit > 072
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Kunst im Kampf > 090
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Am Rande des Schlachtens > 084
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Retterin an der Front > 102
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In der Nachbarschaft lauert der Tod > 096
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Tod aus der Luft > 114
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Nach der Flut > 108
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1000 Tulpen und ein Baum > 126
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Die Geisterstadt > 120
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Kameraden auf vier Pfoten > 138
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Gamer-Look im Erdbunker > 132
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Wenn der Krieg droht, das Herz zu brechen > 150
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Warten und Hoffen > 144
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Die Drohnenjäger von Tscherkassy > 162
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Vor New York stehen die Russen > 156
AM ENDE KERZENSCHEIN
Die Internationale Legion erobert im Oblast Saporischschja ein Dorf zurück. Es geht nicht ohne Verluste. Warum Ausländer ihr Leben für die Ukraine riskieren. Ein Bericht von der Front.
Sabyrzhan vor dem Portrait des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko. Die Kerze erinnert an einen Freund, der kurz zuvor gefallen ist.
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AM ENDE KERZENSCHEIN
Am Ende Kerzenschein
Oblast Saporischschja Ende Juli 2022
In der Lagerhalle warten Soldaten auf ihren Einsatz. Ziel ist es, ein wenige Kilometer entferntes Dorf zurückzuerobern und russische Stellungen Richtung Osten zu drücken. Es ist nicht mehr lang hin, dann beginnt die Mission. In der Ferne ist Artilleriefeuer zu hören. Dumpfes Grummeln. Vorboten auf das, was kommt. Die Männer
Sabyrzhan versucht noch einmal, seine Gedanken zu ordnen. Er ist ein nachdenklicher junger Mann. Der 23-Jährige stammt aus Kasachstan. Vor 15 Jahren heiratete seine Mutter einen Ukrainer. Sabyrzhan wuchs in Kyjiw auf. Studierte Internationale Beziehungen an der Jagiellonian Universität in Polen und im belgischen Löwen. „Ich glaube an Weltoffenheit. Das gefällt mir an der Ukraine. Die Menschen lieben ihr Land und sie teilen diese Liebe gerne mit anderen. Auch mit
einem kleinen Jungen, der zu ihnen aus Kasachstan kam. Ich habe die Ukraine und ihre Menschen schätzen gelernt“, erklärt der 23-Jährige. Putins Russland steht für Sabyrzhan genau für das Gegenteil. Für einen aggressiven, engstirnigen Nationalismus, der neben sich nichts duldet. „Putin muss jetzt aufgehalten werden. Sonst ist es vorbei mit der Freiheit für ganz Europa. Ich hoffe, das verstehen auch die Menschen in Deutschland. Wir brauchen dringend mehr schwere Waffen“, erklärt er. Zuletzt hatte die Einheit in Sjewjerodonezk gekämpft. Nun stehen sie an der Front im Südosten. „Gute Männer sind gefallen“, sagt der 23-Jährige, als er aus der Kniebeuge aufsteht. „Übrigens, die Amerikaner hatten die Idee, Schewtschenko mitzunehmen. Sie bekamen das Gemälde im Donbas geschenkt. Jetzt begleitet uns der Dichter“, sagt Sabyrzhan und deutet auf drei Männer, die ihr Lager direkt an der kahlen Wand aufgeschlagen haben. Die Amerikaner sind durchtrainierte Kolosse. Schnell stellt sich im Gespräch heraus, dass sie Profis im Kriegshandwerk sind, schon im Irak und Afghanistan
kämpften. „Jetzt verteidigen wir hier die Freiheit“, erklärt einer von ihnen. Ihr Sold entspricht offiziell dem der ukrainischen Soldaten. Der ist nach Gefährlichkeit gestaffelt. Bis zu 2500 Euro gibt es für Mannschaftsgrade, die direkt an der Front kämpfen. Das ist deutlich weniger als der Sold bei internationalen Sicherheits- und Militärunternehmen, die weltweit ihre Söldner in Einsätze schicken. Dort liegen die Verdienste je nach Erfahrung und Spezialisierung oft um ein Vielfaches höher.
renommierte Völkerrechtler Professor Daniel-Erasmus Khan von der Universität der Bundeswehr München: „Die Angehörigen der Internationalen Legion sind durch das Humanitäre Völkerrecht als Kombattanten geschützt. Sie sind Teil der ukrainischen Streitkräfte.“ Die Legionäre müssen jedoch „eine für ihre Untergebenen verantwortliche Person an ihrer Spitze haben, ein bleibendes und von Weitem erkennbares Unterscheidungszeichen führen, ihre Waffen offen tragen und bei ihren Kampfhandlungen das humanitäre Völkerrecht achten.“ So fordern es die „Haager Landkriegsordnung“ von 1918 und das „Genfer Abkommen über Kriegsgefangene“ von 1949.
In der Internationalen Legion müssen sich Ausländer bei der ukrainischen Armee vertraglich verpflichten. Von russischer Seite wurde den Angehörigen der Legion der Kombattanten-Status nach dem Humanitären Völkerrecht immer wieder abgesprochen. Obwohl gerade für Russland die berüchtigten Wagner-Söldner kämpfen: Sie wurden in der Ukraine gesichtet, sind in Syrien und in Afrika im Einsatz. Im Gegensatz zur Legion sind sie offiziell nicht Teil der Streitkräfte.
Gerade aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion und Nachbarländern melden sich Freiwillige aus Überzeugung, um der Ukraine beizustehen. Die russische Invasion sehen sie als direkte Gefahr für ihre eigene Heimat. Wie viele Kämpfer derzeit die Legion zählt, gibt das Verteidigungsministerium nicht preis. Doch verschiedenen Berichten nach veranlassten die heftigen Kämpfe viele Legionäre, die Ukraine wieder zu verlassen.
Rechtlich gesehen sind Angehörige der Internationalen Legion Kombattanten. Dies bestätigt auch der
Das Risiko ist nicht nur im Gefecht hoch. In der selbsternannten Volksrepublik Donezk wurden
Legionäre jüngst als „Terroristen“ zu Tode verurteilt. Gerade kursiert ein Video in der Ukraine, das zeigt, wie russische Soldaten einem ukrainischen Gefangenen die Genitalien abschneiden. All dessen ist sich Sabyrzhan nur zu gut bewusst. Davon erzählt auch seine Frisur. Ein Blick durch die Halle zeigt, egal ob aus Georgien oder Kolumbien, fast jeder trägt Kurzhaarschnitt. Nur der 23-Jährige nicht. „Manchmal weiß ich nicht, ob ich am nächsten Tag noch lebe. Jetzt will ich einfach überleben, hier in einem Stück herauskommen und dabei ein Mensch bleiben. Deswegen trage ich meine Haare weiterhin lang. Weil ich nicht vergessen will, dass es vor dem Krieg ein anderes Leben gab.“ Dann entschuldigt sich der Soldat. Er will noch ein wenig Zeit für sich. Wenig später verlassen die ersten Soldaten die Halle. Sie werden in vier Gruppen aufgeteilt. „Eine soll in das Dorf einrücken, zwei weitere gegen russische Stellungen außerhalb vorrücken. Die vierte koordiniert von einer strategisch günstigen Stellung den Vormarsch. Unterstützt werden wir von Artillerie und ukrainischen Einheiten“, erklärt George. Der 26-Jährige ist stellvertretender
AM ENDE KERZENSCHEIN
Sabyrzhan stellt eine Kerze vor dem wuchtigen Ölportrait ab. Sie brennt für einen Freund, der kurz zuvor gefallen ist. Der Schein flackert auf dem Gesicht des Dichters.
versuchen, noch ein wenig Schlaf zu finden. Oder wenigstens zur Ruhe zu kommen. Sie haben ihre Isomatten ausgerollt. Bald wird es so schnell keinen Schlaf mehr geben. Dessen ist sich jeder bewusst. Auch der jungen Portugiese, der mit nacktem Oberkörper unruhig mitten in der Halle steht. Bauch, Brust und Rücken mit Tätowierungen übersät. „Ich finde keine Ruhe. Schon zu viel Adrenalin im Körper“, sagt er heiser lachend. Aus Kolumbien, den USA, Portugal, Spanien, Australien, Neuseeland, Polen und Belarus kommen die Soldaten dieser Einheit der Internationalen Legion der ukrainischen Territorialstreitkräfte. Laut einem Sprecher sollen Staatsangehörige aus 55 Nationen in der Legion dienen.
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Taras Schewtschenko blickt grimmig mit Pelzmütze und dichtem Schnurrbart aus dem Bilderrahmen. Er steht auf staubigem Boden in einer großen Halle. Beton unter ihm, Beton links, Beton rechts. 1100 Denkmäler ehren den Schriftsteller (1814-1861) in der Ukraine. Das ist ein Rekord. Es gibt kaum ein Städtchen, in dem er nicht an markanter Stelle zu sehen ist. Der Künstler ist ein Nationalheld. Vermutlich wäre er als ukrainischer Patriot besonders stolz darauf, dass er hier zwischen Munitionskisten, Maschinengewehren und tragbaren Panzerabwehrraketen einen würdigen Platz gefunden hat.
George verabschiedet sich. Soldaten verschwinden mit Kalaschnikows und tragbaren Maschinengewehren in betagten, grün lackierten VW-Bussen. Es geht zum Sammelpunkt für den Angriff. Auf dem Weg dorthin bieten die Wagen wenig Schutz, es fehlt jede Panzerung. Den Stahl der Seitenwände kann jede Kalaschnikowkugel durchschlagen. Durch die Frontscheibe eines der Transporter ist bereits ein Geschoss gepfiffen. Die Wagen verschwinden in einer Staubwolke vom Gelände der Lagerhalle. Sabyrzhan ist für die Kommandotruppe eingeteilt. Sie wartet bis zum Einbruch der Nacht. In der Halle ist es stockdunkel. Kein Licht darf den
Standort verraten, die russische Artillerie würde die Halle in Grund und Boden schießen. So haben die Soldaten ihre Lichter auf den Helmen meist in rot-leuchtenden Modus gestellt. Lichtfetzen flackern über den Boden. Eine letzte kurze Besprechung. Dann geht es mit drei Wagen in die Nacht. An einem Steuer sitzt Andrii aus Belarus. Er ist von Beruf Arzt. Seit Jahren praktiziert er in Kyjiw. „Ich bin hier, weil ich in der Ukraine gesehen habe, wie wertvoll die Freiheit ist. So anders als in meiner alten Heimat, in der eine Diktatur herrscht“, erklärt er, als die Wagen für einige Minuten stoppen, bis eine weitere Freigabe für das nächste Streckenstück erfolgt. Die Scheinwerfer sind gelöscht, wo immer der Mond auch nur annähernd genug Licht gibt zum Fahren. Ansonsten muss es mit Parklicht gehen. Die Armaturen im Auto sind als Lichtquellen
abgeklebt. Die Wagen holpern durch verlassene Siedlungen, über von Schlaglöchern übersäten Asphalt. Dann geht es von der Straße herunter und auf Wiesengrund weiter. Der Fahrer holt aus dem Wagen, was er nur kann. An einem Waldstück steigen die Soldaten eilig aus. Mit schnellem Schritt geht es gleich weiter, 20, 30 Minuten durch die Dunkelheit. Bis zu einer Stellung der ukrainischen Armee, die als Kommandopunkt dienen wird. Zwei, drei Stunden sind es noch bis zum Sturm auf das Dorf. Im Wald herrscht Stille. Dann zerreißen die ersten Geschosse die Ruhe. In einem Erdloch bedient Sabyrzhan mit seinem Kommandanten das Funkgerät. In einem Graben am Waldrand beobachten zwei Soldaten mit Ferngläsern das Geschehen. Ein weiterer lässt eine Drohne steigen. Aus nahen Stellungen bellen Maschinengewehre der Ukrainer zur
Feuerunterstützung. Das Zischen von Granaten ist zu hören. Die Russen antworten mit gleichen Kalibern. Doch sie können den Kommandopunkt nicht lokalisieren, ebenso nicht die Positionen der Maschinengewehre. So pfeifen Granaten über den Kopf des 23-Jährigen hinweg. Pfiuuuh. Pfiiuuhhh. Die Soldaten ziehen die Köpfe ein. Irgendwo im Wald kracht ein Einschlag. Ein ukrainischer Soldat liegt im Splittergraben und hält sich die Ohren zu. Sabyrzhan steht am Funkgerät. Er ist nervös, eine Zigarette nach der anderen zieht er durch. Die Nachrichten, die aus dem Funkgerät knarzen, sind zumindest teilweise wenig ermutigend. Das Dorf ist bis auf ein Gebäude, in dem sich eine Handvoll russischer Soldaten verschanzt hat, eingenommen. Das ist die Erfolgsmeldung. Aber die beiden russischen Stellungen konnten nicht wie erhofft überrannt
werden. Es gibt heftige Kämpfe. Ein belarussischer Legionär kommt dabei ums Leben. George wird schwer verletzt, ebenso zwei weitere Kameraden. Die Männer im Beobachtungsstand verfolgen mit dem Fernglas, wie die Soldaten evakuiert werden. Die VW-Transporter rattern mit vollem Tempo durch das Grün. „Immerhin, das Dorf ist befreit“, freut sich der 23-Jährige. Doch am nächsten Tag droht ein Konterangriff der russischen Armee. Schon jetzt wird Sabyrzhan mindestens eine weitere Kerze vor dem Schewtschenko-Portrait anzünden. Wenn alles gut geht, er heil aus der Stellung kommt.
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„Es ist nicht leicht, so viel Verantwortung zu tragen. Gerade weil die Aufgabe, die man erfüllen muss, Menschenleben fordert. Es ist ein harter Kampf“, erklärt er. „Vor geraumer Zeit hatten wir einige ehemalige Bundeswehrsoldaten, die auch in Afghanistan im Einsatz gewesen waren. Stolz erzählten sie anfangs von ihren Erfahrungen. Doch sie mussten schnell lernen, dass sie eben keine echte Kampferfahrungen hatten. Zumindest im Vergleich zu dem, was sie hier durchstehen müssen. Sie blieben nicht lange bei uns und kehrten nach Deutschland zurück.“ Mit seiner
Truppe ist er jetzt zufrieden. Die Männer sind erfahren, haben harte Einsätze hinter sich. Mit kriegslüsternen Möchtegerns kann der Offizier nichts anfangen.
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AM ENDE KERZENSCHEIN
Kommandeur der Einheit. Wie alle Offiziere der Legion ist er Ukrainer. Auf Soldaten wie Sabyrzhan ist er sichtlich stolz. „Das ist ein feiner junger Mann“, sagt der ebenfalls sehr junge Offizier, der Männer befehligt, die vom Alter her seine Väter sein könnten.
SCHLAGLICHTER AUS DEM KRIEG
In Dnipro spielt eine Theaterguppe nach, was ihr Publikum durchlebt. Oxana hat ihr Zuhause in Bachmut verloren. Als sie ihre eigene Geschichte sieht, kann sie die Tränen nicht zurückhalten.
Seit einem Jahr lebt Oxana mit ihrer Mutter in einer Unterkunft für Binnenvertriebene in Dnipro. Das Zimmer teilt sie sich mit zehn anderen Frauen.
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SCHLAGLICHTER AUS DEM KRIEG
Schlaglichter aus dem Krieg
Die Gruppe tritt kurz zusammen, dann spielt sie die Geschichte von Oxana und Dipsy. Arme
strecken sich nach oben, die Schauspieler stehen dicht an dicht mit den Rücken zu ihr, undurchlässig wie eine Mauer. Hoch wie die Mauern der Wohnblocks aus Sowjetzeiten. Scheinbar unerreichbar ist das, was dahinter liegt. „In einem Zuhause wartet jemand. Wie meine Katze“, sagt der Sprecher und weiter: „Mein Zuhause ist in Bachmut. In meinen Gedanken bin ich dort, doch ich kann nicht zurückkehren. Ich habe eine Unterkunft gefunden, doch ich will eine wahre Heimat.“ Oxana sieht der Performance zu, die ein Gitarrenspieler mit schweren Klängen untermalt. Die 46-Jährige kann ihre Tränen nicht halten. Als sie sich für die Darbietung bedankt, zittert ihre Stimme. Der junge Mann neben ihr kämpft ebenfalls mit seinen Gefühlen. Viele der Zuschauerinnen und Zuschauer des „Play Back“-Theaters der Organisation „Farba Fabra“ sind wie Oksana Vertriebene. Alle in dem kleinen Saal haben eines gemeinsam, der Krieg prägt ihr Leben. Neun Kurzgeschichten, die ihnen erzählt werden, spielt an diesem Abend die Schauspiel-Gruppe nach. Es geht dabei zum Beispiel um eine Autofahrt, bei der plötzlich eine Rakete vor der Windschutzscheibe über die Straße zischt, um die Welt der Checkpoints und Sperrstunden.
Olga aus dem Donbas berichtet, wie wichtig es ihr ist, fließend und fehlerfrei Ukrainisch zu sprechen. „Zuhause wurde immer Russisch gesprochen. Doch jetzt, da uns Russland Tag für Tag bombardiert, will ich Ukrainisch sprechen. Auch zu Hause.“ Trotzdem stoße sie immer wieder auf Vorurteile, wenn sie auf Menschen aus der Westukraine trifft. Manche der Geschichten spiegeln einfach nur Alltag. Der junge Mann, der ein völlig verunglücktes Date verarbeiten will. Beim Erzählen selber ins Lachen kommt. Auch Oxana kann sich da ein Grinsen nicht verkneifen. Es gibt eine Pause. Nein, eigentlich ist das falsch ausgedrückt. Das Publikum wird aufgefordert, miteinander in Kontakt zu treten, das Gespräch zu suchen. Es klappt unter oftmals zueinander völlig fremden Menschen erstaunlich gut. Die 46-Jährige spricht mit ihrer Sitznachbarin, eine gepflegte Frau im urbanen Schick mit modischem Kleid und Pagenkopf. Oxana hat sich für den Abend auch fein gemacht. Doch sie wirkt schlichter als ihre Sitznachbarin. Oxana trägt ihr blaues Lieblingshemd mit weißem Besatz und einer Blume aus kleinen Glitzersteinen, dazu Leggings. Die Frauen sind schon auf den ersten Blick sehr unterschiedlich. Doch sie finden die richtigen Worte füreinander.
Die Geschichte von Oxana hat Olha bewegt. Die 24-Jährige gehört zur der Schauspielgruppe von „Farba Fabra“. Sie ist selbst eine Binnenvertriebene und kommt aus der Frontstadt Nikopol. Auf der gegenüberliegen Flussseite stehen dort russische Truppen – und das Atomkraftwerk Saporischschja, das weltweit für Schlagzeilen sorgt. „Als die russische Invasion im Februar 2022 begann, war es für mich, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen. Ich fühlte mich, als wäre da nichts mehr, auf dem ich stehen kann“, sagt die junge Frau. Ihre Flucht führte sie auch für wenige Monate nach Deutschland. Jetzt hat sie in Dnipro Zuflucht gefunden und arbeitet als Buchhalterin. „Die Schauspielerei mache ich zusätzlich, ich kann davon nicht leben. Durch meine eigene Erfahrung kann ich Oxana gut verstehen. Es ist wichtig für uns alle, dass wir reflektieren, was uns passiert. Der Krieg trifft das Leben von jedem und jeder von uns“, sagt die Schauspielerin. Dann geht das Spiel weiter. Schließlich neigt sich der Abend dem Ende entgegen. Roman Kandibur, Gründer und Direktor des „Playback-Theaters“, verabschiedet das Publikum. Er macht ein zufriedenes Gesicht. „Es war ein guter Abend“, sagt der Psychotherapeut, der sich
ganz der Theaterarbeit verschrieben hat. Schon 2014, als Russland den Krieg in den Donbas trug, half er mit seinem Playback-Theater, das Trauma des Kriegs zu bewältigen. „Wir hatten einst 500 PlaybackTheatergruppen in der Ukraine. Jetzt arbeiten noch zehn. Aber es werden wieder mehr“, erklärt der 39-Jährige. Flucht, Vertreibung, Dienst an der Front, das hat viele Ensembles nach dem 24. Februar 2022, dem Beginn der Invasion, auseinandergerissen. Gerade jetzt sind innovative Projekte für die mentale Gesundheit notwendig. 7,7 Millionen Menschen mussten innerhalb der Ukraine fliehen. Allein in Dnipro leben 185.000 registrierte Binnenvertriebene wie Oxana. Alle tragen sie das Trauma in sich, ihr Zuhause verloren zu haben. Dank der Unterstützung der deutschen Hilfsorganisation „Ärzte der Welt“ und mit Mitteln des Bundesministeriums für Entwicklung und Zusammenarbeit kann das Theater seine Aufführungen, die Personal-, Miet- und andere Unkosten stemmen. Am nächsten Tag sitzt Oxana im Unterteil eines Stockbetts. „Das Theater hat mir gut getan. Meine eigene Geschichte zu sehen. Das war natürlich traurig, aber zugleich auch schön. Ich werde mit meiner
Mutter und Tochter wieder zu einer Aufführung kommen“, erklärt sie. Durch die Fenster und Vorhänge des ehemaligen Erholungsheims in Dnipro fällt mildes Sommerlicht. Heute leben hier Binnenvertriebene. Familien aus Mariupol, aus den umkämpften Gebieten im Donbas – aus Städten wie Bachmut. „Es fällt mir schwer zu verstehen, dass ich schon seit einem Jahr hier lebe. Ich will nicht klagen. Wir werden gut versorgt. Aber ein Zuhause ist es natürlich nicht“, fügt sie hinzu. Oxana würde gerne eine Wohnung in Dnipro mieten. „Aber die Mieten sind sehr hoch. Wir haben nichts mehr. Unsere Ersparnisse hatten wir in unsere Eigentumswohnung in Bachmut gesteckt. Alles hatten wir saniert, samt neuer Waschmaschine. Jetzt sind es nur noch Trümmer“, erklärt die 46-Jährige. Die Vertriebene verdient etwas Geld als Putzkraft, ihr Mann ist Lkw-Fahrer. „Er fährt auch zu den Häfen, die immer wieder beschossen werden. Steht dort oft tagelang in der Warteschlange. Ich mache mir große Sorgen um ihn“, sagt sie. Dabei wird auch Dnipro immer wieder von russischen Raketen getroffen. Erst am Vortag gab es einen Einschlag in der Nähe. „Die Fenster haben gezittert. Es war furchtbar, das wieder zu erleben“, meint sie zum Abschied.
SCHLAGLICHTER AUS DEM KRIEG
Es kostet Oxana viel Mut, ihre kurze Geschichte zu erzählen. Die 46-Jährige steht ein wenig verloren im Scheinwerferlicht. Im Publikum herrscht völlige Stille. Ein halbes Dutzend Männer und Frauen, ganz in Schwarz gekleidet, steht vor ihr. Hinter ihnen grenzt ein schwarzer Vorhang den Bühnenbereich ab. Oxana berichtet von Bachmut, vom Donner der Artillerie, von den Raketen, die Haus für Haus treffen: eines Tages auch ihre Wohnung. Oxana spricht und ihre Stimme wird fester. Sie erzählt, wie sie nach einem Einschlag die Treppen hastig nach oben stolpert. Von der Zerstörung, die sie sieht, als sie durch die Türe tritt. Sie klettert über Trümmer, die einmal die Einrichtung waren. Nichts mehr ist heil. Die Fenster sind zerborsten. Teile der Deckenverkleidung hängen herab. „Aber das Wichtigste war, lebt meine Dipsy noch?“, sagt die 46-Jährige. Sie sucht nach ihr in dem Chaos. Dann findet sie die Katze scheinbar leblos auf dem Boden liegend. Von einer Staubschicht überdeckt, mit Glassplittern im Körper. „Aber sie lebt, sie hat überlebt“, sagt Oxana zum Erzähler der Schauspielgruppe. Und lächelt zaghaft.
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SCHLAGLICHTER AUS DEM KRIEG
Dnipro Mitte August 2022
EIN GRAB IM KRATER
Eine Granate schlug in den Garten von Jelena ein. Zurück blieb ein Trichter, in dem die Ukrainerin in ihrer Verzweiflung den Sohn begrub. Er wurde von russischen Soldaten ermordet. Wie Tausende andere Zivilisten, Opfer von Kriegsverbrechen.
im Krater Eine Granate schlug in den Garten von Jelena ein. Ihr Sohn wurde von russischen Soldaten ermordet. In ihrer Verzweiflung beerdigte sie den Leichnam in dem Krater vor ihrem Haus.
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EIN GRAB IM KRATER
Ein Grab
Kupjansk Ende September 2022
Ein ukrainischer Soldat vor den Überresten eines russischen Schützenpanzers. Das Dorf nahe Kupjansk war hart umkämpft. Ende September konnten die ukrainischen Truppen es zurückerobern.
„Wir dachten, wir überstehen das, wenn wir uns ruhig verhalten. Wir hatten genug Lebensmittel und wollten unser Haus nicht einfach so zurücklassen. Es war doch alles, was wir hatten“, erklärt Jelena. Also mieden sie in all den Monaten Besatzung russische Soldaten, wann immer es ging. Unten am Fluss zum Beispiel, den eine Brücke überspannt, die sie kontrollierten. Es sind nur wenige Hundert Meter Luftlinie vom Haus Jelenas. Jetzt ist dort nur noch ein Trümmerfeld zu finden. Eine ganze Häuserreihe abgebrannt, ausgebombt. Die Äste von Bäumen ragen nackt und schwarz zwischen zerstörtem Mauerwerk empor. Es riecht dort immer noch nach Brand. Im Schlamm liegt ein Streumunition-Behälter nahe einem völlig zerstörten russischen Schützenpanzer. Vier schwarze Säcke, je zwei hinter Büschen und am Straßenrand, bergen die Körper von toten russischen Soldaten. Sie werden bald abgeholt.
Fliegen haben sich auf dem Plastik niedergelassen. Trotz der Hülle stinkt es nach Tod. Die Kämpfe im September waren heftig. Oberhalb des Dorfs rückten die Ukrainer auf einer Anhöhe vor, auf der gegenüberliegenden Flussseite schossen die russischen Soldaten aus ihrer Stellung. Mittendrin liegt das Haus von Jelena. Als am 10. September die Granate im Garten einschlägt, wissen Mutter und Sohn, dass sie fliehen müssen. „Aber mein Sohn wollte unbedingt noch anderen Dorfbewohnern bei der Evakuierung helfen“, erklärt die 57-Jährige. Dazu musste er zur Dorfstraße, um dann zur Anhöhe abzubiegen. „Die Russen haben ihn vom Fluss aus gesehen und mit einem Panzer, oder was auch immer, auf ihn geschossen“, vermutet Jelena. „Kommen Sie, ich will Ihnen zeigen, was passierte. Davon sollen die Menschen in Deutschland erfahren“, sagt Jelena. Über den unbefestigten Weg von ihrem Haus führt sie quer über die asphaltierte Dorfstraße. Links liegt der Fluss, auf gleicher Höhe steht ein ausgebranntes gepanzertes Fahrzeug der Ukrainer. Es zielt auf den Fluss und die Brücke. Auf allen Seiten herum sieht man
EIN GRAB IM KRATER
Sie nimmt ihre Kraft zusammen und drückt das angespitzte Kreuz in das Erdreich. Dann atmete sie tief durch. „Was kann eine Mutter über ihren toten Sohn erzählen?“, meint sie leise. „Er war immer hilfsbereit. Zu jedem. Als mein Mann schwer an Krebs erkrankte und in die Stadt zur Behandlung musste, kam er zu mir ins Dorf zurück. Er half, unseren kleinen Hof zu bestellen, unsere Ernte zu verkaufen. Er wusste, dass ich es
ohne ihn nicht geschafft hätte. Dann kam der Krieg zu uns, die Russen rückten an“, sagt die 57-Jährige. Die meisten aus dem Dorf nahe der Kleinstadt Kupjansk flohen. Doch Mutter und Sohn beschlossen, der Evakuierungsaufforderung der ukrainischen Behörden nicht zu folgen.
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EIN GRAB IM KRATER
Das Kreuz ist fertig. Jelena hat es aus dünnem Holz zusammengenagelt. Mittig hat sie mit durchsichtigem Klebeband ein kleines Passfoto angebracht. Ein junger Mann blickt darauf mit ernstem Gesicht. Anatoli, ihr Sohn. Jelena hat ihn vor dem Haus begraben. Im Garten, in dem eine Granate einen Krater in das Grün sprengte. Die Druckwelle ließ die Scheiben splittern und riss Ziegel aus der Fassade. Jetzt kleben durchsichtige Plastikplanen in den leeren Fensterrahmen. Eine verblühte Rose leuchtet rot auf dem Grab. Die 57-Jährige hat sie dort eingepflanzt. Es war das Einzige, das sie fand, um das Grab zu schmücken. Grobe Bretter einer Holzkiste rahmen das Grab ein. Jelena steht verloren davor. Ihr gelbes Hemd leuchtet vor der dunklen Erde.
Russische Truppen haben das Haus von Volodymyr beschossen. Übrig ist eine ausgebrannte Ruine. Nur seine Ziegen konnte er retten.
Jelena umrundet das Transporter-Wrack. „Das Auto war weiß. Es sah bestimmt nicht wie ein Militärfahrzeug aus“, fügt sie hinzu. Durch die aufgerissene Ladetür fällt der Blick ins Wagenin-
Eine Woche später kehrt sie zurück. Sie hat gehört, dass das Auto ihres Sohnes getroffen worden sein soll. Sie erreicht den Transporter. Der verkohlte Leichnam ihres Sohnes liegt neben dem Wagen. Jelena kann ihn nicht bergen. Ein Sniper nimmt sie von russischer Seite aus unter Beschuss, berichtet sie. Also wartet sie weitere fünf Tage, bis die ukrainischen Streitkräfte das Dorf und seine nahe Umgebung endgültig unter Kontrolle bringen.
Sie nimmt sich einen kleinen Ziehwagen, zerrt den toten Sohn darauf und schleppt den Leichnam so bis zu ihrem Haus. Das war einen Tag, bevor der Journalist sie trifft, am 30. September. Der Trichter vor ihrem Haus ist nun ein Grab. „Das also ist die Geschichte vom Ende meines Antoli. Warum haben ihn die Russen ermordet? Er hat niemandem etwas getan. Er hat sie nicht bedroht. Er war Zivilist und wollte anderen Menschen helfen.“ Dann bittet sie noch kurz zu warten. Ein Mann aus der Nachbarschaft hatte ihren toten Sohn mit dem Handy abfotografiert, um die Spuren des Verbrechens zu sichern. Er kommt gerade am Haus vorbei. Weil sie keinen Strom mehr im Dorf haben, fragen sie einen Soldaten, ob er eine Powerbank hat. „Nur damit wir das Bild zeigen können“, erklären sie. Der Soldat holt die Powerbank bei einem Kameraden. Kurz darauf leuchtet der Bildschirm des Smartphones auf. Das Bild ist grausam. Es schmerzt, es sich nur anzusehen. Jelena gibt dem Nachbarn das Smartphone zurück, ihr Gesicht ist versteinert. Zurück auf der Dorfstraße treibt gerade ein anderer Dorfbewohner seine Ziegen vorbei.
Jelena hat ihren Sohn verloren, Volodymyr sein gesamtes Hab und Gut. Hinter ihm steht, was von seinem zweistöckigen Haus übrig ist, von seinem Auto und den Gerätschaften. Kurz, von dem kleinen Wohlstand, den er sich aufgebaut hatte. An leeren Fensterhöhlen zieht sich Ruß am Mauerwerk nach oben. Vom Dach ragen nur noch verkohlte Balken in den Himmel. „Jetzt bin ich 67 Jahre alt. Alles ist verloren. Ich kann betteln gehen“, sagt er verbittert. Dann treibt er seine Ziegen Richtung einer Wiese. Das ist gefährlich genug, auf das Dorf wurde mutmaßlich mit Streumunition geschossen. Keine Seltenheit, folgt man den Vorwürfen von Human Rights Watch. Die Organisation beschuldigt vor allem die russische Seite, die international von
vielen Staaten geächtete Waffe zu verwenden. Diese hat eine hohe Blindgängerquote, die nicht detonierten Sprengsätze können überall in den Ruinen liegen. „Sei vorsichtig!“, warnt ein ukrainischer Soldat. Er hat an diesem Tag mit Kameraden eine Sprengfalle entschärft. Ein dünner Draht über den Boden gespannt hätte eine Granate zünden sollen, die an nahen Ästen befestigt war. Ein tödlicher Gruß der fliehenden russischen Truppen. Wer weiß, wie viele solcher Fallen sie noch legten. Kupjansk erscheint an diesem Tag in den ukrainischen Medien. Sie berichten, dass russische Streitkräfte eine zivile Autokolonne beschossen
haben. 24 Tote, davon 13 Kinder, heißt es. Wie so oft übernimmt Russlands Führung dafür keine Verantwortung. Für Jelena muss das unerträglich sein. Darum hat sie all ihre Kraft gesammelt, um die Geschichte von der Ermordung ihres Sohns zu erzählen. Bis Anfang September starben nach offiziellen ukrainischen Angaben 7000 Zivilisten, 5500 sind verwundet oder versehrt. Fast 400 Kinder zählen zu den Getöteten. Die Menschen kamen bei Raketenangriffen, Folterungen, Vergewaltigungen, Minen- und Sprengfallenexplosionen oder, wie Anatoli, durch gezielten Beschuss ums Leben.
EIN GRAB IM KRATER
Durch die Fenster des betagten Nissan sieht man Decken und Kleidung. In der Windschutzscheibe ist ein Einschussloch in Kopfhöhe des Fahrers zu sehen. Der Sitzboden ist dunkel eingefärbt. Vermutlich getrocknetes Blut und Leichenflüssigkeit. „Das war ein russischer Sniper. Mein Gott, am Schluss haben sie auf alles geschossen, was sich bewegt hat. Ich hatte den Fahrer gesehen, sein Gesicht war völlig entstellt. Ukrainische Behörden haben seinen Leichnam schon geborgen“, sagt Jelena leise. Nahe dem Transporter von Anatoli steht ein ausgebrannter Lada.
nere. Was sich darin befand, ist zum größten Teil zu Asche verbrannt. Bis auf die Kochtöpfe, die Felge des Ersatzrads und eine Tasse, die Jelena aus den verkohlten Überresten zieht. „Als mein Sohn nicht zurückkam, bin ich geblieben. Vielleicht wartete er ja nur, bis es sicherer war. Bis weniger geschossen wird. Ich hatte den Panzer feuern hören. Aber gehofft habe ich noch die ganze Zeit auf seine Rückkehr“, berichtet sie. Anrufen kann sie ihn nicht, Mobilfunk und Festnetz sind schon lang tot. Bis zum 18. September harrt sie im Haus aus. Die Kämpfe nehmen zu. Dann flieht sie durch den Wald nach Kupjansk, das von den ukrainischen Truppen zurückerobert ist.
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EIN GRAB IM KRATER
zerstörte Häuser. Die 57-Jährige läuft auf einem Feldweg rechts leicht nach oben. 300 Meter etwa. Dort steht der Transporter, besser, was von ihm übrig ist. Alles ist verbrannt, der Stahl der Fahrerkabine deformiert. Es war ein glatter Treffer aus Richtung des Flusses, der russischen Positionen. Auf dem Weg steht noch ein anderes ziviles Auto quer zur Fahrbahn. Die Farbe ist silber-metallic.
WIDERSTAND MIT HUNDEPULLI
mit Hundepulli In Cherson feiern die Menschen ihre Befreiung auf dem „Platz der Freiheit“. In der Ferne sind Explosionen zu hören. Doch an Gefahren will an diesem Tag niemand denken.
Nastya, Hund Ritschi und ein patriotischer Hundepulli: Nastya hatte am Tag der Invasion angefangen, den Pulli in den ukrainischen Farben zu stricken.
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WIDERSTAND MIT HUNDEPULLI
Widerstand
Cherson Mitte November 2022
Jetzt am Wochenende dominieren die ukrainischen Farben auf dem Hauptplatz. Ritschi mit seinem blau-gelben Hundepullover ist hier und jetzt genau am richtigen Ort: auf dem „Platz der Freiheit“. Er blinzelt ein wenig auf dem Arm von
Ab und an hält ein Militärfahrzeug. Was dann passiert, vergessen die Soldaten wohl ein Leben lang nicht. Weinende Großmütterchen umarmen sie. Teenager wollen Selfies mit ihnen. Andere drücken den Kämpfern Blumen in die Hand. Auf der Ladefläche des Pickups von Soldat Andrii liegen gleich mehrere Sträuße und das symbolische Willkommensbrot. Der 35-Jährige hat mit seinen Kameraden einen Starlink zu einem Satelliten aufgebaut. „Damit die Leute mit ihren Smartphones online gehen
können, sie Freunden und Verwandten ein Lebenszeichen geben können“, sagt er. Das Angebot wird umfassend genutzt, eine Menschentraube hat ihre Smartphones gezückt. Derweil gibt der Soldat im Akkord Autogramme meist auf kleine Ukraine-Fähnchen, die ihm von allen Seiten entgegengestreckt werden. „Das ist ja völlig verrückt.“ Ein Lächeln zieht sich über das bärtige Gesicht des 35-Jährigen. Andrii hatte ein herzliches Willkommen erwartet. „Aber nicht, dass wir Soldaten hier fast wie Rockstars empfangen werden“, sagt er lachend. Aber es tut ihm gut. Viele der Soldaten, die mit Geländewagen und Trucks vorbeirauschen, erlebten in den vergangenen Monaten als Frontkämpfer harte Zeiten. Es ist keine Parade, die an den Feiernden vorbeifährt, sondern Pickups, in denen Maschinengewehre und Panzerfäuste liegen. Kampfbereite Soldaten sitzen am Steuer. Die ukrainische Armee beeilt sich, die strategisch wichtigen Punkte abzusichern. Nicht wenige wittern eine Falle, etwas Schlimmes, das noch passieren kann. Hupende Autos, singende Frauen, „Putin Buuuhh“ und „Slava Ukraini“-Rufe hallen über den Platz
und die angrenzende Straße. Stille ist keine angesagt bei der Freude über die Befreiung. Oder doch? Wer den Menschen in die Gesichter sieht, blickt nicht selten in Augen, in denen die Tränen stehen. Eine ältere Frau hält ihre Freundin fest im Arm, als deren Schultern zu zucken beginnen. Der „Platz der Freiheit“ hat seinem Namen schon zu Beginn der Invasion Ehre gemacht. Bereits am 27. Februar drangen russische Truppen in Cherson ein, am 2. März hatten die Besatzer die Stadt de facto unter Kontrolle. Die Südfront entwickelte sich schnell zum Problemfall der ukrainischen Verteidiger. Doch auch wenn
Cherson schnell fiel, die Menschen der Stadt zeigten viel Mut.
und Oleksandr auf dem Platz steht. Alle drei haben sie ukrainische Fahnen um ihre Schultern gelegt.
Mascha ist erst 19 Jahre alt, dreimal war sie Anfang März auf dem „Platz der Freiheit“, um gegen die Besatzung zu demonstrieren, berichtet sie. „Es sah ähnlich aus wie jetzt, viele hatten ukrainische Fahnen mitgebracht.“ Doch die Situation war gefährlich. „Wir standen für unsere Freiheit auf“, sagt sie. Bis die russischen Soldaten sie mit Tränengas-Granaten auseinandertrieben. „Mein Gott, hat das in den Augen gebrannt. Zwei Tage lang hat es danach noch höllisch geschmerzt“, sagt die junge Frau, die mit ihren Freunden Oleksiy
Dann fügt die 19-Jährige hinzu: „Das hier ist Ukraine. Punkt.“ Die Scheinreferenden der russischen Besatzer, deren Werbeplakate gerade Stück für Stück von den Billboards gerissen werden, für Mascha und ihre Freunde waren sie ein schlechter Witz. „Aber umso besser, dass Putin jetzt sein Gesicht doppelt verliert“, wirft eine Dame mit Strickmütze ein. Mascha ist eine junge Frau, die sagt, was sie denkt. „Das hat mich bei den Russen drei Tage
WIDERSTAND MIT HUNDEPULLI
„Der Hund lief natürlich in ukrainischen Farben los. So haben die Russen gemerkt, dass wir beide sie hier nicht haben wollen“, sagt Frauchen voller Stolz. Sie lacht leise. Dann kommen ihr die Tränen: „Die langen Monate der Besatzung waren furchtbar. Es ist nicht so, dass ich keine Angst hatte.“ Vielleicht wussten die russischen Besatzer nicht so recht, wie sie es mit einem Hund in ukrainischpatriotischem Pullover halten sollten. Ritschi und sein Frauchen blieben unbehelligt, andere hatten weniger Glück.
Nastya. Der Hund wird sich wohl freuen, dass er es im feucht-kalten Herbst draußen schön warm hat. Menschenmassen kommen zusammen, schwenken Fahnen, um den Abzug der Besatzer zu feiern. Diese haben laut russischen Angaben die Stadt in den frühen Morgenstunden des Freitags verlassen. Vor allem auf dem Hauptplatz strömen die Menschen zusammen. Frauen stimmen das patriotische Lied über die „rote Kalyna“ an. Am Rand der nahen Straße jubeln die Menschen jedem ukrainischen Militärfahrzeug zu, das vorbeirattert. Andere halten aus Autofenstern wehende Fahnen heraus.
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WIDERSTAND MIT HUNDEPULLI
Ritschi ist ein außerordentlich subversiver Hund. Zumindest aus Sicht russischer Truppen. Ein kleiner Widerstandskämpfer auf vier Pfoten. Sein Frauchen hatte dem Vierbeiner einen Pullover gestrickt, gelb-blau geringelt. „Am ersten Tag der Invasion habe ich damit angefangen“, sagt Nastya voller Stolz. Als der Pullover fertig war, schnappte sie sich die Leine und ging mit Ritschi spazieren.
Das haben die ukrainischen Soldaten noch nicht erlebt. Die Menschen begrüßen sie wie Rockstars. Kinder wollen Selfies, andere bitten um Autogramme auf ihren Fahnen und Fähnchen. Soldat Andrii findet keine ruhige Minute, er ist dauernd umringt.
Gelb und Blau, die Farben der Ukraine, dominieren den Platz der Freiheit. Als riesige Banner und kleine Fähnchen. Sie werden aus Autos gehalten und um Schultern getragen. Frauen und Männer schwenken sie am Straßenrand und Kinder halten sie stolz in die Höhe.
Dann spielt Mascha noch ganz stolz einen kleinen Clip auf ihrem Smartphone ab: „Mit Rubel-Scheinen haben wir die russische Fahne angezündet. Freiheit ist unbezahlbar.“ Doch es
Mascha verabschiedet sich. „Vielleicht trifft man noch gute Freunde. Und das endlich wieder in Freiheit“, sagt Mascha. Sie ist bereit, dafür einen hohen Preis zu bezahlen. Noch während die Menschen den Abzug der russischen Armee aus ihrer Stadt feiern, hört sie in der Ferne dumpfe Explosionen. Putin traut man hier auf dem Platz so ziemlich alles zu. Städte wie Mariupol oder Charkiw zeigen seine rücksichtslose Kriegsführung. Vor den Folgen fürchten sich auch die rund 80.000 Menschen, die in der Stadt geblieben sind. Vor der Invasion lebten in Cherson knapp 300.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Aber heute wollen sie daran nicht denken, sondern die zurückgewonnene Freiheit feiern, die dem Platz den Namen gegeben hat.
WIDERSTAND MIT HUNDEPULLI
Wenig später wurde Mascha verhaftet. „Drei Tage lang haben sie mich in einer Polizeiwache eingesperrt. Ich bekam nichts zu essen, nur etwas zu trinken. Und jede Menge Drohungen“, so Mascha. „Mein Vater war auch im Gefängnis, weil er angeblich einen Treffpunkt für den ukrainischen Widerstand betrieben haben soll. Wie zu Stalins Zeiten hat ihn die Lüge eines Nachbarn in die Situation gebracht. Es war wieder Spitzelei angesagt, als uns die Russen besetzten. Mein Vater hat eine schlimme Zeit erlebt“, sagt der 18-jährige Oleksiy.
wird kaum einen auf dem Platz geben, der nicht davon überzeugt ist, dass sie bald von neuen Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen hören werden. Wie aus all den anderen Gebieten, die unter russischer Besatzung standen und befreit wurden. Organisationen wie Human Rights Watch oder Amnesty International bestätigen Kriegsverbrechen in zahlreichen Berichten.
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WIDERSTAND MIT HUNDEPULLI
ins Gefängnis gebracht“, informiert Mascha. Die 19-Jährige hatte in einem kleinen Restaurant gearbeitet. Eines Tages saßen dort tschetschenische Kämpfer. „Denen habe ich erzählt, was ich von ihnen halte“, erinnert sich die junge Frau. Kadyrows Einheiten sind berüchtigt für ihre Grausamkeit. Ihnen werden zahlreiche Kriegsverbrechen zulasten gelegt.
PUTINS WUT UND ELENAS MUT
Militärisch läuft es für die Invasoren in der Ukraine nicht gut. Der russische Diktator schickt vermehrt Raketen und Kamikaze-Drohnen auf zivile Ziele. Er will die Menschen mürbe machen. Ein Besuch bei Betroffenen.
Ein Bild der Zerstörung: Ein Häuserblock in Mykolajiw nach einem russischen Raketenangriff. Putin lässt vermehrt zivile Ziele angreifen, die Infrastruktur für die Wasser- und Energieversorgung zerstören.
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PUTINS WUT UND ELENAS MUT
Putins Wut und Elenas Mut
Ein Kran hebt eine schwere Betonplatte in die Luft. Abseits, hinter der Absperrung, steht ein Mann in Uniform und blickt mit versteinertem Gesicht auf das Geschehen. Unter den Trümmern wird der Leichnam seines Schwagers vermutet. Im Gras, neben verstreuten Ziegeln, liegt eine tote Katze. Auch ihr Besitzer zählt zu den sieben Toten des russischen Angriffs. Raketeneinschläge sind zum Alltag in der Ukraine geworden. Auch in Mykolajiw, das bis zur jüngsten Einnahme von Cherson nahe der Front lag. Der
Angriff kam, als die russischen Truppen aus Cherson abzogen. Wie so oft reagiert Putins Armee auf Misserfolge auf dem Schlachtfeld mit Terror gegenüber der Zivilbevölkerung, mit gezielten Angriffen auf zivile Ziele. Das sind Wohnhäuser oder die Infrastruktur zur Versorgung der Menschen mit Energie und sauberem Wasser. Dank der aus dem Westen gelieferten Flugabwehrsysteme können immer mehr Raketen abgefangen werden. Doch das Flugabwehr-Netz ist noch nicht dicht genug. Die Helfer haben sich auf den Wahnsinn eingestellt. In Mykolajiw folgt nach dem Angriff eine traurige Routine. Die Feuerwehr rückt an. Das Rote Kreuz, der Zivilschutz. Krankenwagen sausen heran. Zelte werden am Rand der Unglücksstelle aufgestellt. In einem gibt es direkte Informationen und Zuspruch für die Betroffenen und Angehörigen. Die Helfer befragen Nachbarn und Überlebende, wer sich im zerstörten Teil des Hauses befunden hat. Weiter entfernt sägen Handwerker schon Pressspanplatten für die gesprungenen Fenster. Die Druckwelle hat auch in den Nachbargebäuden die Fenster bersten lassen. Jetzt wird es drinnen erst einmal
dunkel sein, wenn die Platten davor genagelt werden. Aber es gibt keine Alternative für das Provisorium. Die Feuerwehrleute und RotkreuzHelfer sind zu diesem Zeitpunkt schon seit Stunden im Einsatz. Es sind oft müde Gesichter, die unter den Schutzhelmen hervorblicken.
meine Erfahrung, und ich darf darüber auch nicht mehr erzählen“, sagt der ältere Herr nicht ohne Stolz. Dann ist da die 77-jährige Alla, die traurig über die Nachbarn berichtet, die bei dem Angriff ums Leben kamen. „Zehn Menschen, darunter ein Junge“, sagt sie leise. Dann blickt sie auf den Boden.
Die alten Menschen, die in wenigen Kilometern Entfernung in einem anderen Wohnblock lebten, haben Mitte Oktober Ähnliches erlebt. Tatjana ist mit ihren 61 Jahren die Jüngste unter ihnen, die für den Journalisten aus Deutschland extra zu der Ruine gekommen sind. Vor Kurzem war hier ihr Zuhause. Jetzt sind sie bei Angehörigen und in der Nachbarschaft untergekommen. Tatjana ist zwar die Jüngste, aber sie lebt am längsten im Haus. Seit dem Tag, als es fertiggestellt wurde. „Das war im August 1971. Es war ein ganz heißer Tag. Ich war so glücklich, dass wir in dieses schöne und neue Haus ziehen konnten“, erinnert sich die 61-Jährige an Kindheitstage.
„Die Russen wollen unser Leben zerstören, uns mürbe machen. Was haben wir ihnen getan? Nichts. Sie sollen unser Land in Ruhe lassen“, fordert Juliana. Die 71-Jährige arbeitete als Ingenieurin für Schiffsbau. Zu Sowjetzeiten hat sie einmal ein Forschungsschiff mit entwickelt. „Da bin ich schon stolz darauf. Es war auf vielen Meeren unterwegs. Hier in Mykolajiw sind gute Schiffsbauer zu finden. Die Ukraine hat viele kluge Köpfe zu bieten“, fügt sie hinzu.
„Das war zu Sowjetzeiten schon ein sehr, sehr schönes und modernes Haus“, pflichtet Mykola bei. Mit seinen 74 Jahren arbeitet er immer noch in einem Betrieb. „Da brauchen sie gerade jetzt
oben: Kindheit im Krieg: Ein Mädchen schließt beim Schaukeln die Augen, um wenigstens für einen Moment die Welt um sich herum vergessen zu können. unten: Alte Menschen bei einer Trinkwasserverteilung in Mykolajiw. Derzeit kommt seit April Flusswasser aus den Wasserhähnen der Wohnungen.
„Wir waren schon eine sehr gute Hausgemeinschaft. Nein, wir sind es noch“, meint die 71-Jährige. Die Seniorinnen und Senioren rund herum nicken zustimmend. Und dann erzählt sie von der großen Creme-Torte, die es für die 86-jährige Elena im Mai zum Geburtstag gab. „Da standen die Tische, und wir saßen alle darum herum. Gemeinsam haben wir gefeiert. Es war so schön.
PUTINS WUT UND ELENAS MUT
Der Raketen-Einschlag kam in den frühen Morgenstunden. Als alle im Haus schliefen. Ein gewaltiger Schlag, ein Feuerball. Die Explosion brachte den Mittelteil des Gebäudes zum Einsturz. Fünf Stockwerke klappten einfach zusammen wie ein Kartenhaus. Die Zimmerwände stürzten ein, tonnenschwerer Schutt begrub die Menschen unter sich. Nun klafft eine Lücke in dem Wohnblock aus Sowjetzeiten. Ein Bogen spannt sich noch über die Zerstörung. Auf dem Trümmerberg darunter steht verloren ein Feuerwehrmann. Er dirigiert eine Baggerschaufel, die sich langsam durch den Schuttberg gräbt.
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Mykolajiw Mitte November 2022
Trotzdem schleppt er sich mit seiner Frau täglich zur Wasserausgabestelle, um Trinkwasser zu holen. Aus der Leitung in der Wohnung kommt seit April nur Flusswasser. „Eine stinkende Brühe“, seufzt der alte Mann. „Aber das wird sich bald ändern. Jetzt, wo Cherson erobert ist und die Front weit genug weg, können die Leitungen vor Mykolajiw wieder alle repariert werden und die Quellen gutes Wasser liefern. Wenn die Russen nicht wieder alles kaputt bombardieren“, führt der 81-Jährige aus. „Gas haben wir noch keines. Es soll bald kommen. Deswegen heizen wir mit Strom“, fügt er hinzu. Doch der kann ausfallen. Davor hat die ganze Hausgemeinschaft Angst: Vor weiteren Treffern, die die Infrastruktur der Energie-Versor-
gung treffen. Darunter leiden die Menschen in der ganzen Ukraine, nicht selten gibt es flächendeckend nur stundenweise Strom und Wasser. „Furchtbar ist das. Aber unsere Elektriker arbeiten tapfer. Uns bekommt niemand klein“, sagt die 86-Jährige. Und es gibt niemanden in der alten Hausgemeinschaft, der das anders sieht. Trotz der Furcht, dass sie noch einmal einen Raketeneinschlag erleben. Wieder die Feuerwehr anrückt. Angehörige und Nachbarn mit versteinerten Mienen neben der Ruine stehen.
Bis auf Elena (li.) kann keiner der alten Menschen noch in dem schwer beschädigten Hausblock wohnen.
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Elena ist mit 86 Jahren die Älteste der Gruppe. Trotz hohen Alters leuchten ihre Augen lebhaft, als sie erzählt. Davon, wie sie den Zweiten Weltkrieg überlebt hat, Stalinismus und Hungerjahre. „Jetzt, im hohen Alter, wieder ein Krieg“, sagt sie kopfschüttelnd. Sie ist die Einzige, die noch im Haus bleiben konnte. „Kommen Sie, kommen Sie“, sagt sie und führt zu ihrer Wohnung im ersten Stock. „Entschuldigen Sie, mein Mann schläft. Es geht ihm nicht so gut“, flüstert sie. Der
81-Jährige wacht dann doch gleich aus seinem Nachmittagsschläfchen auf. „Ich habe einen Glassplitter ins Bein abbekommen, als das Fenster zerbarst“, sagt der alte Mann und deutet auf die Sperrholzplatten, die in die Fensterrahmen genagelt sind. „Weil ich Diabetes habe, will es nicht so recht verheilen“, erklärt er, während er sich ächzend aufrichtet.
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PUTINS WUT UND ELENAS MUT
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Den Krieg, den haben wir einfach kurz vergessen“, erzählt sie. Es klingt wie eine Geschichte aus einer anderen Zeit. Jetzt liegen auf dem Asphalt Trümmerbrocken. Das Gebäude ist in diesem Abschnitt eine Ruine. Die Außenmauern stehen zum Großteil noch, doch dahinter gibt es in den Fensterhöhlen die herabgestürzten Zimmerdecken zu sehen. Das Treppenhaus ist stückweise in sich zusammengebrochen. Ein Dach hat das Haus nicht mehr. „Das war eine russische Luftabwehrrakete, die hier eingeschlagen ist“, erklärt Mykola und zieht ein Stück Aluminium aus dem Schutt: „Hier sehen Sie, das ist ein Teil der Rakete.“ Die kleine Gedankenreise in bessere Tage ist abrupt beendet.
Eisiger Tod
EISIGER TOD
Ukrainische Soldaten in Bachmut: Jederzeit kann ein Einschlag den Tod bedeuten.
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EISIGER TOD
In Bachmut kommt für die Menschen die Gefahr Einschlag um Einschlag näher. Ganze Stadtviertel sind zerstört. Am Stadtrand kämpfen die ukrainischen Verteidiger in klirrender Winterkälte verbissen um jeden Meter. Sie fragen sich, wann endlich die letzten Zivilisten die Stadt verlassen.
Bachmut Anfang Januar 2023
Die Soldaten haben gerade eine Explosion überlebt, drei ihrer Kameraden liegen unter Trümmern begraben.
Olegs Atem bildet Wölkchen, wenn er spricht. „Das war der Einschlag in der Nachbarschaft. Er
Oleg packt sich einen kleinen Holzstoß unter den Arm und geht mit bedächtigen Schritten die Treppen nach oben. „In Deutschland war ich als junger Marinesoldat“, erzählt er dabei. Auch davon, wie er stets ein wenig über der Sache schwebte. „Als Kranfahrer hab’ ich in Bachmut von oben so manchen Wohnblock wachsen sehen“, fügt er hinzu. Oleg ist in Bachmut geboren. Bis auf seine Zeit bei der Marine hat er nicht viel von der übrigen Welt gesehen. Vielleicht ist es gut, dass er heute keinen Rundblick von einem Kranführerhaus mehr hat. Was er jetzt sieht und hört, ist schon deprimierend genug: All die Zerstörung, die der Krieg in die Nachbarschaft und selbst in das eigene Haus gebracht hat. Der
Donner der Artillerie und der Einschläge, der nicht abreißen will. Die verlassenen Straßen, die sich durch eine weitgehend tote Stadt ziehen. Das alles noch in Vogelperspektive sehen zu müssen, es würde den alten Mann schmerzen. Oleg zieht seine Wohnungstür auf. Dahinter ist es stockdunkel, in die Fensterrahmen sind Spanholzplatten genagelt. Im Kerzenschein am Tisch sitzt Luba. Neben ihr wummert ein kleiner Holzofen. „Danke dir, mein Oleg“, sagt sie, als er das Holz ablädt. „Was für ein Elend“, schüttelt die alte Frau den Kopf. „Selbst Wasser zum Trinken ist ein Schatz geworden. Wir bekommen es von den Helfern, aus der Leitung kommt schon lange kein Tropfen mehr. Wasser zum Waschen? Davon rede ich schon gar nicht mehr“, meint Luba traurig. Derweil ist ihr Mann schon wieder auf dem Weg, um noch einmal Holz zu holen. „Wir bleiben, weil das unsere Stadt ist. Ich bin hier geboren, war fast mein ganzes Leben in Bachmut. Jetzt mit 81 werde ich nicht gehen. Wohin auch, und was erwartet uns dort? Wir haben hier unsere kleine Wohnung. Irgendwie wird es gehen. Ich laufe nicht vor den Russen davon. Egal, wie viele Bomben sie noch auf uns werfen“, sagt er zum
EISIGER TOD
hat die Fenster in unserem Haus eingedrückt. Der Schlag war gewaltig“, erklärt der Mann mit dem schlohweißen Bart. Er deutet mit seinem dicken Handschuh in die gegenüberliegende Richtung. Dort gab es einen Volltreffer. Als hätte ein Riese mit einem überdimensionalen Beil ausgeholt und mit voller Wucht tief in die Mitte des Wohnhauses geschlagen. Drei Stockwerke hindurch bis zur Mitte des zweiten Geschosses ist alles eingestürzt.
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EISIGER TOD
Oleg hat seine Hände in gewaltige Fäustlinge gesteckt. Es ist bitterkalt. Unter den Füßen knirscht leise eine dünne Lage Schnee. Um seinen schmächtigen Oberkörper schlottert eine ausgewaschene Winterjacke. Der 81-Jährige hat seine schwarze Pelzmütze tief ins Gesicht gezogen. „Was für eine Kälte. Das ist alles, was ich noch an Holz habe“, sagt der alte Mann. Er deutet auf eine alte Sitzbank vor dem mehrstöckigen Ziegelbau. Darunter sind Äste aufgeschichtet, die er in der Umgebung zusammengetragen hat. Explosionen haben auch Bäume geknickt. Ganze Baumkronen liegen auf dem Boden. Äste, Zweige – Oleg holt in der Umgebung, was er findet. Hackt und sägt mühsam, bis er es nach Hause schleppen kann. Manchmal bekommt er auch von freiwilligen Helfern ein paar Holzscheite. Auf der Sitzfläche der Bank neben dem Hauseingang liegen drei, vier Holzstücke. Mit einer Säge bringt Oleg sie gerade auf die passende Ofengröße. Es ist ein trauriges, verlorenes Bild. In die Fensterrahmen hinter ihm sind Spanholzplatten und graue Plastikplanen genagelt – oder der eisige Wind pfeift ungehemmt durch zerborstenes Glas.
Laut der Militärverwaltung des Donezker Oblasts lebten Mitte Dezember noch fast 12.000 Menschen in Bachmut. Vor der Invasion zählte die Stadt rund 74.000-Einwohner. Die ukrainischen Behörden hatten schon vor Monaten zur Evakuierung aufgerufen. Für betagte, kranke und beeinträchtige Menschen boten unter anderem das Rote Kreuz und andere Hilfsorganisationen
spezielle Transporte aus der umkämpften Stadt an. Wie viele tausende Zivilistinnen und Zivilisten derzeit noch in Bachmut ausharren, ist schwer zu sagen. Auf den Straßen sieht man kaum Menschen, alles wirkt wie leergefegt. Doch wer geht bei Eiseskälte und unter Dauerbeschuss schon auf die Straße? Ab und an rattert ein Pickup oder ein gepanzertes Fahrzeug der Armee über den Asphalt, vorbei an dunklen Fenstern mit zersplittertem Glas. Vorbei an Häusern, denen Explosionen das Dach wegge-
rissen und in deren Fassaden sich Splitter gefressen haben. Ganze Stadtteile von Bachmut sind zu Ruinenfeldern geworden. Die Schäden sind flächendeckend groß. Viele von denen, die geblieben sind, sind alte Menschen wie Luba und Oleg, die in anderen Orten keine Zukunft mehr sehen. Doch auch Kinder sind darunter, wie die von Olga. Spricht die 43-Jährige von Bachmut, ist es die Stadt vor der Bombardierung durch die russischen
Oleg ist in Bachmut aufgewachsen. „Wo soll ich denn in meinem Alter noch hin? Das hier ist meine Heimatstadt“, sagt der 81-Jährige.
Truppen. „Wie schön war unser Bachmut“, sagt sie. Sie erzählt von Rosenrabatten, einer Wasser-Fontäne, der berühmten Sektkelterei und den Salzstollen. Für einen kurzen Augenblick vergisst man wirklich gerade, wo man steht. Mitten in einer Wärmestube in der Stadt. Sie liegt etwas mehr als einen Kilometer von Oleg entfernt. Auf Bänken sitzen hier Menschen dicht an dicht, aus ihren Plastikbechern dampft Tee oder Kaffee. Es sind reihum müde Gesichter, in die man blickt. An einem Tisch stehen Steckdosen zum Aufladen
Soldatenleben im Bunker: In den Außenbezirken der Stadt wird verbissen um jeden Meter gekämpft. Die Verluste auf beiden Seiten sind immens.
von Handys bereit. Zuhause gibt es keinen Strom mehr. Dank einer kleinen Satellitenschüssel können die Stubenbesucher sogar online gehen, Nachrichten an Freunde und Verwandte senden. Olga schenkt Kaffee und Tee als Freiwillige für die kleine Hilfsorganisation „Unity of People“ aus. Die Helfer verteilen kostenlose Lebensmittel, Medikamente und das knappe Wasser. „Es ist gut, etwas machen zu können in dieser schlimmen Zeit.“ Die Stadt zu verlassen, das kommt für
sie nicht in Frage. „Eine Rakete, die kann meine Familie auch treffen, wenn wir zum Beispiel in Dnipro (zentralöstliche Ukraine) sind“, meint die 43-Jährige. Sie gibt zu, dass da die Chancen ungleich geringer sind. Aber es ändert nichts an ihrer Entscheidung. „Weglaufen, wenn es schwierig wird, das bringt nichts. Das hier ist unser Bachmut, wir lassen es uns nicht nehmen“, sagt sie. Olgas Kinder sind sieben und zehn Jahre alt. Es gab auch einen Einschlag nahe ihres Wohnhauses. „Das war furchtbar für die Kinder.
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Abschied und schiebt sich wieder ein paar Äste unter den Arm.
Luba im Kerzenschein: Druckwellen einer Explosion haben die Fenster splittern lassen. Sperrholzplatten haben das Glas ersetzt. Die Wohnung ist auch tagsüber stockfinster.
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In einer der Wärmestuben in Bachmut.
Der 33-jährige Mykyta steht in einer Küche, die von einem anderen Leben erzählt. Eine Katze aus Ton grinst in einem Regal neben Pfeffer- und Salzstreuer. Die Kochtöpfe stehen noch in Reih und Glied. Sie erinnern an eine Zeit, die vergangen ist. Teile der Deckenverkleidung hat eine Druckwelle heruntergerissen. Die Fenster sind zersplittert. Tausende von Glasteilen liegen über den Boden verstreut. Ein Blick aus dem Fenster zeigt Zerstörung, ausgebrannte Wohnungen. Ruß, der den Beton schwarz gefärbt hat. Trümmerteile, die über den Innenhof verteilt liegen. „Ja, es ist gut, wenn Menschen ihre Heimat lieben. Aber es ist ein Fehler, jetzt in dieser Stadt zu bleiben. Noch dazu mit Kindern, das ist unglaublich verantwortungslos. Für uns Soldaten machen Zivilisten die schwere Situation noch komplizierter, wenn wir
sie auch noch schützen müssen. Jeder in Bachmut muss doch verstanden haben, dass es hier schnell um Leben und Tod gehen kann.“ Mykyta ist verärgert. Am Block pfeift gerade eine Granate vorbei. Scccchsschhttt. Die Einschläge sind scharf zu hören. Wie einige andere zuvor sind sie nah. Wenig später gibt es über Funk aufgeregte Stimmen zu hören. Eine Explosion hat in einer nahen Stellung drei Soldaten unter Trümmern begraben. Die sechs Überlebenden machen sich auf den Weg zum Block, von dem aus Mykyta die Drohne fliegen lässt. Im Keller finden sie ersten Unterschlupf. Einen der Kämpfer hat die Explosion besonders erwischt, zwei Kameraden haben ihn in die Mitte genommen und schleppen ihn in den spärlich erleuchteten Raum. Der Mann ringt auf einer Pritsche nach Luft. „Gleich kommt die Evakuierung, haltet euch bereit!“, sagt ihnen ein Soldat. Noch einmal nehmen sie alle Kraft zusammen und hoffen, bei der Evakuierung nicht unter Beschuss zu geraten. Wie Mykyta gesagt hat: In Bachmut geht es in Sekundenschnelle um Leben und Tod.
EISIGER TOD
Auch der Vormarsch der Russen in das zehn Kilometer entfernte Soledar kann ihre Meinung nicht ändern, und dass die Invasoren schon in den Außenbezirken der Stadt kämpfen. Dort steht Mykyta in einem grauen Wohnblock aus Sowjetzeiten und steuert auf einem Pad einen Drohnenflug. In diesem Teil der Stadt sind keine Zivilisten mehr. Er ist hart umkämpft. Es wütet ein Straßenkampf, der an Stalingrad erinnert. Block um Block wird gekämpft. 300 Meter entfernt haben sich russische Soldaten verschanzt. Sie schicken ebenfalls Drohnen in den Himmel. Panzer, Artillerie, Grad-Raketenwerfer, alles feuert in das umkämpfte Viertel. Immer wieder hört man Maschinengewehre bellen. Seit gut einem halben Jahr versuchen die russischen Truppen Bachmut einzunehmen. Sie rücken Stück für Stück vor, versuchen die Stadt einzukesseln. Es ist ein brutales Ringen um jeden Meter, das von Angreifern und
Verteidigern schwerste Verluste fordert. Dabei hat Bachmut militär-strategisch seit der ukrainischen Rückeroberung von Liman und Isjum an Bedeutung eingebüßt. Von diesen Städten und von Bachmut aus wollten die russischen Verbände Richtung der Ballungsräume Kramatorsk und Slowjansk vorrücken.
In einem beschädigten Wohnblock haben ukrainische Soldaten Stellung bezogen. In Fenstern hängen teilweise Decken als Sichtschutz vor feindlichen Scharfschützen.
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Ich habe mit ihnen gesprochen. Ihnen die Lage erklärt. In gefährlichen Situationen soll man Angst haben, aber nicht in Panik geraten“, erklärt sie. Dann fügt sie hinzu, dass sie sich auch noch um alte Menschen aus der Verwandtschaft kümmert, die ebenfalls geblieben sind.
LIEBE, KRIEG UND DUNKELHEIT
Russlands Angriffe aus der Luft ergreifen das ganze Land. Die Energieversorgung in Odesa ist durch die gezielten Angriffe aus der Luft schwer getroffen. Doch die Menschen geben nicht klein bei. Elena freut sich über ihren neugeborenen Erast. Derweil gibt ihr Mann Oleksii ein wenig Hoffnung. Als Tänzer im Dunklen.
Sieht romantisch aus: Elena, Oleksii und ihr Erast im Kerzenschein bei Stromrationierung. Ein wenig mehr elektrisches Licht und eine funktionierende Heizung würden dem Trio gut tun.
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LIEBE, KRIEG UND DUNKELHEIT
Liebe, Krieg und Dunkelheit
Odesa Ende Januar 2023
„Eine halbe Stunde am Tag soll der kleine Erast im Freien ein wenig frische Luft atmen. Das ist gut für seine Lunge“, erklärt die Mutter. Dann muss
„Die Sandsäcke links und rechts des Eingangs haben sie mittlerweile entfernt“, sagt die 37-Jährige an der Oper. Sie wurde 1887 eröffnet und gilt als ein Wahrzeichen der Stadt. Die Architekten stammten aus Wien. Der Stil steht ganz in der Tradition des Historismus. Elena übertreibt nicht, Odesa ist eine durch und durch edle Stadt. „Hoffentlich war das mit den Sandsäcken nicht voreilig“, sagt Elena. Der Krieg hat ihr einiges abverlangt. „Zu Beginn der Invasion saß ich mit meinem Mann im nasskalten Luftschutzkeller. Ich
war völlig verstört. Luftangriffe, so etwas hatte ich nie erlebt. Die Angst war furchtbar.“ Um dem feuchten Kellerloch zu entkommen, weicht Elena mit ihrem Mann zu den Schwiegereltern am Stadtrand aus. Ausgerechnet dort schlägt in der Nachbarschaft eine Rakete ein. „Ich habe einen großen Feuerball gesehen, die Fenster haben wegen der Explosion gezittert.“ Elena klingt angespannt, als sie erzählt. Dann im Frühjahr und Sommer normalisiert sich die Lage in Odesa etwas. Vor allem nachts heulen weiter die Sirenen und Warn-Apps. Immer wieder kommt es zu Einschlägen, meist im Umfeld der Stadt. Auf dem Schlachtfeld läuft es zunehmend schlechter für die russische Armee. Sie erfährt schwere Niederlagen. Zu einer Invasion auf Odesa ist sie derzeit nicht mehr in der Lage. „Aber wir alle in der Stadt wissen, unser Odesa steht auf Putins Eroberungsliste. Der Mann hört nicht auf, wenn er nicht besiegt wird“, meint die junge Mutter mit ärgerlicher Stimme, als sie den Kinderwagen dreht und Richtung eines nahen Parks läuft. Die nächste Phase des Kriegs kommt für Elena im
Oktober vergangenen Jahres. „Da begannen die gezielten Bombardierungen auf unsere Energieversorgung. Überall in der Ukraine sollten im Winter die Lichter und Heizungen ausgehen. Das ist noch immer der Plan der Russen. Aber sie kriegen uns nicht klein. Unsere Luftabwehr holt die meisten der Drohnen vom Himmel, und wir stellen uns auf Stromrationierungen ein.“ Elena schüttelt wütend den Kopf und fügt hinzu: „Als die ganzen Angriffe mit den Kamikaze-Drohnen mehr und mehr wurden, ausgerechnet da kam mein Erast auf die Welt.“ Das war am 4. Dezember. „Erast konnte es ganz offensichtlich nicht erwarten, auf die Welt zu kommen. Drei Wochen zu früh“, berichtet die Jungmutter. Russischer Beschuss ließ am Tag der Geburt auch nicht auf sich warten. „Erast war noch nicht lange auf der Welt, da musste ich mit meinem Mann schon in den Luftschutzkeller des Krankenhauses. Es war furchtbar. Wir hörten Explosionen. Wie aufgereiht saßen wir jungen Mütter da. Mein kleiner Erast musste da ja auch regelmäßig mit Infrarot-Licht bestrahlt werden. Plötzlich war für kurze Zeit sogar der Strom weg. Die Lichter im Luftschutzkeller gingen aus“, erklärt Elena die
Lage. „Der Strom war zum Glück schnell wieder da, mit der Wasserversorgung im Krankenhaus sah es leider anders aus. Das dauerte. Als wir wieder auf den Zimmern waren, bekamen wir Plastiktüten in die Hand gedrückt. Sozusagen für die große Toilette. Es war ja kein Wasser für die Spülung da“, Elena erzählt und scheint sich selber zu wundern, was sie alles erlebt hat. Dann schweigt sie, schiebt den Wagen durch die angenehme Stille des Parks. Kein GeneratorenGeratter ist zu hören. Es geht vorbei an einer Hauswand. Dort blickt als Pop-Art-Kunst ein Kämpfer mit tragbarem Raketenwerfer von der Fassade. Der Krieg hat in der Ukraine überall Einzug gehalten, in der Street-Art bis zur Geburtsstation. Elena schaut nachdenklich auf den Soldaten. „Ja, wir müssen uns wehren. Trotzdem hoffe ich, dass sie meinen Oleksii nicht einziehen. Er wäre kein guter Soldat. Er ist Tänzer und nicht für den Krieg gemacht. Ich habe oft große Angst, wie es wohl jede Frau hat, die ihren Mann liebt. Aber er würde nicht weglaufen. Das ist ein sehr, sehr schwieriges Thema für uns“, sagt die 37-Jährige nachdenklich. „Auch dass der Krieg so lange dauert. Zuerst dachten wir, nach wenigen Wochen geben
die Russen auf, weil sie ihre Ziele nicht erreichen. Dann wurden es Monate. Jetzt haben wir schon ein Jahr Krieg. Manchmal muss ich stark sein, um die Hoffnung nicht zu verlieren. Aber eigentlich bin ich mir sicher. Wir werden gewinnen.“ Für die anstehende Frühjahrsoffensive braucht die ukrainische Armee mehr Personal. Und auch für die laufenden schweren Abwehrkämpfe. Viele Kämpferinnen und Kämpfer stehen nun schon seit einem Jahr an der Front. Sie brauchen Entlastung, die Truppenstärke muss erhöht werden. Elena weiß das. Sie verfolgt in den Nachrichten den Verlauf des Krieges: die Befreiung von Cherson und der Region Charkiw, die grausamen Kämpfe um Bachmut. Das Schlachten im Donbas schmerzt sie: „So viele müssen sterben, verlieren ihr Zuhause. Niemand in der Ukraine wollte diesen Krieg. Er wurde uns aufgezwungen. Wir lassen uns unsere Freiheit und unser Land nicht nehmen. Mein Erast wird in einer freien und gerechten Ukraine aufwachsen. So ist das.“ Dann fügt sie hinzu: „Es ist traurig, dass ich das als eine Frau sagen muss, die gerade Leben geschenkt hat. Aber wir brauchen dazu auch die notwendigen Waffen. Eine Luftabwehr,
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„Das ging dieses Mal schnell mit der nächsten Sperre. Über 20 Stunden hatten wir keinen Strom. Jetzt, kaum eine Stunde später, geht es schon wieder los. Ganz so schlimm ist es sonst zum Glück meistens nicht mit den Stromsperren. Sie kommen meist phasenweise, und man kann sich halbwegs darauf einstellen.“ Dann öffnet sie die Haustüre und bugsiert den Kinderwagen samt Sohnemann in das dämmrige Licht eines winterlichen Spätnachmittags. Odesa ist von den russischen Angriffen auf die zivile EnergieInfrastruktur besonders betroffen.
sie deutlich lauter sprechen. Denn überall heulen jetzt die Generatoren auf. Sie stehen vor den Cafés und Geschäften und sorgen für den wichtigen Strom. Es ist eine brummende, misstönende Symphonie, die Mutter und Kind auf dem Spaziergang begleiten. „Macht nichts, mein Odesa ist trotzdem wunderschön. Weltläufig und elegant, oder nicht?“, sagt eine stolze Bewohnerin. Elena und ihr Mann Olkesii wohnen im alten Stadtzentrum der Hafenstadt. Fassaden stolzer Bürger- und Händlerhäuser bestimmen das Straßenbild. Einmal Oper und zurück, das ist für Elena und Erast exakt eine halbe Stunde.
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Das Treppenhaus hat keine Fenster. Es ist eng. Eine Holztreppe führt in den ersten Stock. „Wenn jetzt der Strom ausfällt, ist es stockdunkel“, sagt Elena und legt ihren Erast in den strahlend weißen Kinderwagen. Dann folgt ein kurzes Klack. Völlige Finsternis. Elena seufzt leise. Stromrationierung ist Alltag für die Jungmutter in Odesa. Wenige Sekunden später wirft die Taschenlampe des Smartphones einen Lichtkegel ins Dunkel.
Tanzstunde im Dunkeln: Studio-Chef Oleksii und seine Kurs-Teilnehmenden bieten bei Latino-Rhythmen den Krieg die Stirn.
Gut 25 Minuten dauert es mit dem Auto zur Tanzschule von Oleksii. In einem Hochhaus aus Sowjetzeiten hat er sich einen Saal gemietet. Die Gebäude versinken in der Dunkelheit. Die Fenster schwarz, die Straßenlaternen davor ebenfalls. Vor der Invasion brachte er vor allem Kindern und Jugendlichen das Tanzen bei. Viele seiner Schülerinnen und Schüler sind geflohen. „Dann habe ich gemerkt, dass gerade Erwachsene jetzt das Tanzen brauchen. Etwas Schönes wollen in dieser dunklen Zeit.“ Dunkle Zeit ist allzu sprichwörtlich. Auch im Tanzsaal fließt kein Strom. Ein
„Aber elektrisches Licht wäre trotzdem schon ganz gut“, lacht Oleksii. Die Tanzstunde ist um. In den Gesichtern steht Freude geschrieben. „Danke, das Tanzen hat heute wieder gut getan“, sagt eine Mittvierzigerin zum Abschied. Mit Oleksii geht es nach Hause zurück. „Entschuldige, ich bin hundemüde. Seit vier Uhr bin ich wach, der Kleine sorgt für wenig Schlaf und dann die Sache mit dem Strom.“ In Odesa haben die Menschen gelernt: Ist Strom da, schnell unter die warme Dusche, die Haare waschen, die Heizung voll aufdrehen. Smartphones und Akkus müssen geladen werden.
Oleksii ist zuhause angekommen. Elena und Erast erwarten ihn in Kerzenlicht. Auf dem Gasherd kocht das Wasser für einen warmen Tee. Dann werden sich die drei gemeinsam unter die Decke mummeln. Es ist etwas kalt geworden in der Wohnung. Das Ehepaar wird hoffen, dass nachts nicht wieder die Sirenen heulen – und vor allem Erast viele, viele Stunden durchschläft. Und vielleicht haben sie dann auch noch Strom am Morgen.
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Wieder in der Wohnung zurück, muss sie schon die Kerzen anzünden. Es ist dunkel geworden. „Das schaut jetzt sehr romantisch aus. Aber leider funktioniert ohne Strom auch unsere Gasheizung nicht. Dann kann es schon etwas unangenehm werden. Und mein kleiner Erast braucht viel Wärme. Aber jetzt schau’ doch mal bei meinem Mann vorbei, wie er im Dunklen tanzt“, fordert sie den Journalisten auf.
halbes Dutzend kleiner LED-Leuchten mit Akkubetrieb spenden ein wenig Licht. Vor allem Frauen wagen sich auf das Parkett. Das liegt teilweise fast völlig im Dunklen. Nur im Bereich der Lampen ist der Holzboden spärlich erleuchtet. Die Gruppe übt ihre Schritte. Es geht hinein ins Licht, hinaus aus dem Licht. Im riesigen Spiegel, der am Saalende die Wand bedeckt, sieht man Gesichter, die das Licht erleuchtet. Dahinter sind nur noch Konturen der Tanzenden auszumachen. Es ist eine fast mystisch wirkende Stimmung.
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die uns vor den Drohnen und Raketen schützt. Panzer, damit die russischen Soldaten endlich aus unserem Land vertrieben werden.“
Oleksandr wurde vom russischen Geheimdienst als Widerstandskämpfer brutal gefoltert. Er sammelte für die ukrainische Armee wichtige Daten über den von russischen Truppen besetzten Flughafen von Cherson. Dafür hätte er fast mit dem Leben gezahlt.
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Oleksandr schließt sich dem Widerstand gegen die russischen Truppen an. Er wird verhaftet und fast bis zum Tod geschunden. In einem der vier Foltergefängnissen der Stadt. Es sind Stätten brutaler Rechtlosigkeit, die für die Menschen in Cherson unter der Besatzung Alltag ist.
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Oleksandr hat die Kapuze seines schwarzen Hoodies tief in sein Gesicht gezogen. Er geht nur mühsam, in kleinen, eckigen Schritten. „Hätten die Russen ungestört den Flughafen nutzen können, Mykolajiw wäre gefallen. Ihr Vormarsch
wäre weiter gekommen“, sagt der 47-Jährige. Bis zur Befreiung Chersons Mitte November gab es nach ukrainischen Angaben rund 60 Angriffe auf den Flughafen, Dutzende von Kampfhubschraubern sollen dabei zerstört worden sein. Oleksandr hatte seinen Teil dazu beigetragen, dass die Invasoren den Flugplatz nur begrenzt nutzen konnten. Er sammelte Daten von Hubschrauberflügen, militärischen Fahrten, feindlichen Stellungen sowie Truppenbewegungen und -stärken. Andere Mitglieder des Widerstandes übermittelten ihm, was sie sahen und hörten. Er gab alles weiter. Schnell und direkt über sein Smartphone. Eigentlich hätte es ihm klar sein müssen, dass er dabei irgendwann entdeckt wird. Als ehemaliger parteiloser Kommunalpolitiker und Aktivist war er den Besatzern schon verdächtig genug. Die russischen Besatzer bauen in ihren kontrollierten Gebieten schnell ein Spitzelsystem auf: „Wer von deinen Nachbarn ist pro-ukrainisch? Wer ist politisch engagiert?“ Der russische Geheimdienst FSB füllt seine Listen schnell, erweitert die bestehenden. Irgendwann würden sie hinter ihm her sein, das war Oleksandr klar.
Es sind Widerstandskämpfer wie Oleksandr, die als Informanten Daten an ihre Militärs weitergeben, die Drohnen- und Satellitenbilder nicht liefern. Oleksandr zahlt für seinen Widerstand gegen die Besatzer einen hohen Preis. „Am 16. August haben sie mich verhaftet“, berichtet der 47-Jährige. Er ist vorbereitet. Sein Mitkämpfer spricht zuvor plötzlich Russisch statt Ukrainisch am Telefon. „Ich habe verstanden, Gefahr droht“, sagt der 47-Jährige. Bei einem SmartphoneTechniker will er eine neue Verschlüsselung auf sein Gerät aufspielen lassen. Kurz vor der Werkstatt fangen sie ihn ab. Zwei Soldaten und zwei FSB-Offiziere. „Leugnen war zwecklos“, meint Oleksandr. Die Soldaten warten nicht lange und schlagen schon mit ihren Gewehrkolben zu. Oleksandr geht zu Boden, versucht sich vor den Schlägen zu schützen. Ihm ist klar, was folgen wird: Folter. „Es reichte schon, am falschen Ort zur falschen Zeit schlecht über die Russen zu sprechen. Wer Pech hatte, erlebte dafür Grausames. Ich war vom Widerstand, was hätte mir anderes passieren sollen …“ Die beiden FSB-Offiziere werden ihn über zwei Wochen
lang foltern. Im Keller eines der vier Foltergefängnisse, die die russischen Besatzer in der Stadt eingerichtet haben. Geschunden wird in manchen Fällen bis zur Todesfolge. Wenige Tage nach der Befreiung finden ukrainische Behörden 63 Tote mit Folterspuren in Cherson und Umgebung. Es kommt zu mehr als 430 Untersuchungen in der Region wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen. Soweit nur die vorläufige Bilanz direkt nach der Befreiung. Ähnliches wird auch nach der vollständigen Zurückeroberung der Region Charkiw durch ukrainische Truppen gemeldet. Auch hier finden die Befreier Folterstätten sowie Massengräber. Wie zuvor im Frühjahr in Butscha und Irpin in der Region Kyjiw. „Die russischen Streitkräfte haben die besetzten Gebiete im Süden der Ukraine in einen Abgrund der Angst und der Gesetzlosigkeit verwandelt“, sagte Yulia Gorbunova, Senior-Researcherin zur Ukraine bei Human Rights Watch nach der Befreiung von Cherson. Als am 11. und 12. November 2022 die ukrainische Armee in die Stadt vorrückt, stehen die Menschen am Straßenrand und weinen vor Freude. Es ist für sie das Ende ihrer Rechtlosigkeit. Die ukrainischen
Kämpfer werden von den Bewohnerinnen und Bewohnern von Cherson empfangen, als wären sie Rockstars. Den Männern in Camouflage werden Fahnen und Fähnchen entgegengestreckt, damit sie darauf ihr Autogramm geben. Doch heute erinnert der regelmäßige Beschuss weiter an die russischen Besatzer, die ihre Stellungen auf der anderen Seite des Dnipro bezogen haben. Von dort ihre Granaten und Grad-Raketen nach Cherson abfeuern. Nur wenige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Selbst Krankenhäuser erhielten Treffer. 80 Prozent der Bevölkerung der Stadt sollen vor der russischen Armee und ihrem Bombardement geflohen sein. Auch jetzt hört man in der Ferne das Wummern der Artillerie. Braaam, braaaam, braaaaam. Dann herrscht Stille. Oleksandr ist mittlerweile nahe der Ankunftshalle angekommen. An den Sound des Kriegs hat er sich gewöhnt. Ein Blick ins Innere der Halle bietet nur Trostlosigkeit: Trümmer und verkohltes Inventar. Den Tag der Befreiung sehnt sich Oleksandr nach seiner Verhaftung im August 2022 inbrünstig herbei. Täglich wird er in den Keller geführt, nach den Misshandlungen schleifen sie ihn in die Zelle
zurück. Das provisorische Gefängnis liegt im Stadtgebiet. Ein gelb gestrichener Gebäudekomplex mit grauem Stahltor samt Stacheldraht. „Ich habe ihnen gesagt, dass ich schwer herzkrank bin“, so der 47-Jährige. Er vermutet, dass sie ihm deswegen die Elektroden für die Elektroschocks nicht an den Genitalien, sondern an den Fingern anbrachten. „Ein totes Folteropfer hat für sie keinen Nutzen“, vermutet er. Sie drehten den Strom auf, bis er sich krümmte, auf dem Boden hilflos zappelte. Seine russischen Folterknechte bringen ihn zum Sprechen. „Doch zum Glück erfuhren sie von mir nichts, was sie nicht schon wussten“, so der Widerstandskämpfer weiter. Das ist für die FSB-Offiziere alles andere als zufriedenstellend. Sie kommen jetzt mit einer Anschuldigung: „Wir sollten ein Bombenattentat geplant haben, bei dem bewusst Zivilisten das Ziel sein sollten. Das sollte ich gestehen. Es war eine Lüge. Wir hatten vor, Anschläge auf die russische Armee und den Geheimdienst zu verüben. Das stimmt. Aber bestimmt nicht auf Zivilisten. Wir sind nicht so wie sie“, sagt der 47-Jährige. Für ihn beginnt nun die schlimmste Zeit. „Sie wollten mein Geständnis
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Über die Landebahn pfeift ein eisiger Wind. Weiße Schneefelder überziehen den grauen Beton. In der angrenzenden Wiese stehen die Wracks ausgebrannter Militärfahrzeuge. Im Hintergrund ragt die Ruine des Flughafengebäudes auf. Zerschossen und zerbombt. Gewaltige Fensterrahmen hängen zwischen Mauern im Nichts, zersplittertes Glas und verrußte Wände. Kurz vor Beginn der Invasion investierte der ukrainische Staat 30 Millionen Euro in den Flughafen. Unter dem Schnee sieht man das frische Grau der erneuerten Start- und Landebahn. Zur geplanten Übergabe am 27. März 2022 kam es nicht mehr, russische Truppen hatten da schon den zivilen Flughafen und sein militärisches Pendant besetzt. Von hier aus starteten sie Angriffe auf die ukrainischen Truppen und die nahe Frontlinie. Anstatt Linienflieger nach Istanbul und in ukrainische und europäische Städte stiegen nun Kampfhubschrauber auf.
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Cherson Anfang Februar 2023
Die Offiziere merken, dass ihr Gefangener die Torturen nicht mehr lange überlebt. „Dann kam ich am 2. September ins Krankenhaus. Ich war nur ein Wrack, meine Beine nur noch schmerzende Fleischklumpen“, sagt Oleksandr. Er erhält eine Notoperation. Weitere folgen. Haut wird von anderen Körperpartien entnommen, um sie auf
„Die Ukraine, für die ich kämpfe, soll ein freies, soziales und gerechtes Land sein. Niemand soll Angst haben, wenn er seine Meinung sagt. Putins Russland ist das Gegenteil“, meint Oleksandr. Dann geht er mit kleinen Schritten Richtung Auto.
„Anfangs habe ich mir gewünscht, dass meine Folterknechte für ihre Grausamkeit sterben sollen. Heute sage ich: Nein, sie sollen einen Prozess bekommen“, sagt er. Vielleicht würde ein Stück Gerechtigkeit Oleksandr etwas Ruhe bringen. Nachts kann er kaum schlafen. Und dann findet er sich im Traum meist im Folterkeller wieder.
Mit Knüppeln schlugen die Folterknechte auf seine Beine ein, jagten ihm Elektroschocks durch den Körper. Heute sind seine Wunden noch immer nicht vollständig verheilt. Oleksandr hat Probleme beim Gehen.
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Die FSB-Offiziere kommen nicht weiter. „Sie versuchten es auf die brachiale Weise. Ich denke, sie haben Freude daran gefunden. Es hat ihnen Spaß gemacht, mich zu schinden“, fügt er hinzu. Sie schlagen mit Knüppeln auf seine Beine ein. „So lange, bis die Haut platzte, und dann immer weiter auf das offene Fleisch“, berichtet der Ukrainer. Wenn sie dabei nicht die Grenzen beachten, verliert Oleksandr die Besinnung. Kann ihnen so für eine gewisse Zeit entfliehen.
die geschundenen Beinpartien aufzubringen. Am 21. September wird er in eine andere Klinik verlegt, zur Rehabilitation. „Dann kommt am 24. Oktober ein Arzt zu mir. Er drückt mir ein Entlassungsschreiben in die Hand. Ich solle fliehen, weil der FSB mich bald holen würde. Er hat sich dafür selber in Gefahr gebracht“, erklärt der 47-Jährige. Mit dem Stadtbus schafft er es bis zu einem Freund. „Dort konnte ich untertauchen, bis die Stadt befreit wurde. Dort lebe ich noch immer. In meine Wohnung kann ich noch nicht zurück, es sind zu viele Stufen zu steigen für meine Beine.“ Auf seinem Smartphone hat Oleksandr Fotos, die im Krankenhaus von seinen offenen Verletzungen an den Beinen gemacht wurden. Es sind erschütternde Aufnahmen. Bis heute sind die Verletzungen nicht richtig verheilt, trägt Oleksandr Verbände am Bein. Andere Wunden, die die Folter geschlagen hat, sieht man mit dem Auge nicht. Doch es sind vielleicht die noch grausameren.
Nach dem Einschlag einer Granate: Ein Bewohner räumt den Schutt aus dem beschädigten Wohnhaus.
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haben, ein Terrorist zu sein. Das war ihr Ziel, uns Widerstandskämpfer in der Öffentlichkeit als Terroristen darzustellen. Vermutlich hätten sie mich dann bei einem ihrer Schauprozesse vorgeführt. Ganz im Stil von Stalin. Davon gab und gibt es genug in den besetzten Gebieten im Donbas“, führt er aus.
Am Rande
des Schlachtens AM RANDE DES SCHLACHTENS
Chirurg Dmytro bei der Versorgung der Verletzten.
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Die Artillerie donnert, während Chirurg Dmytro mit anderen Medizinern die Verwundeten für den Weitertransport ins Hinterland stabilisiert. Für das russische Militär sind er und sein Team ein Ziel.
Bachmut-Front Anfang April 2023
Hinter ihm führt ein Gang zum Operationssaal mit zwei OP-Tischen. Im Dämmerlicht des Gangs sitzen drei Sanitäterinnen. Eine noch in voller
Ein dunkler Raum schließt sich an den OP-Saal an. Das Licht ist aus, vom Nachbarraum fällt ein wenig Licht herein. Wie in allen Räumen haben Sperrholzplatten die Fenster ersetzt. Kein Glas bedeutet keine Splitter. Einschläge in der Nähe des Gebäudes hat es schon einige gegeben. Chirurg Dmytro versucht, im Halbdunkel ein wenig Ruhe zu finden. „Heute ist es zumindest ruhiger als gestern“, sagt er. 15 schwere Fälle täglich, das sei der Schnitt. Der 42-Jährige trägt einen dunkelblauen Woll-Pullover, den er in die Tarnhose gestopft hat. Der braune Ledergürtel hält alles zusammen. Irgendwie sieht er aus wie ein Skipper. Kein so unpassender Vergleich. „Vor der Invasion habe ich meinen Bootsschein gemacht“, erzählt er später. Blickt er in das Licht, das durch die Türe fällt, sieht man müde
hellblaue Augen unter seinem silber-blonden Scheitel. Dmytro versorgt mit einem Mediziner-Team Verwundete der nahen Bachmut-Front. Dort findet seit Monaten ein grausames Schlachten statt. Es ist ein unbarmherziger Kampf, Straße um Straße, Hauszeile um Hauszeile. Seit Sommer 2022 stürmen die russischen Truppen auf die Stadt. Bachmut ist in weiten Teilen ein Trümmerfeld, die Zerstörung ist allgegenwärtig. Die Artillerie feuert unablässig. Tausenden ukrainischen Soldaten und russischen Wagner-Söldnern hat das bisher das Leben gekostet, aber auch Zivilisten und ihren Helfern. Bachmut ist zum Inbegriff für die Hölle des russischen Angriffskriegs geworden. Dmytros Auftrag ist eine Erstversorgung der Verwundeten und die Stabilisierung für den Weitertransport ins Hinterland. Dort werden sie dann in Krankenhäusern und Spezialkliniken operiert. „Aufgrund der Straßenkämpfe haben wir viele Schussverletzungen“, sagt er. Durch die schweren Artilleriegefechte kommt es zu Polytraumen. Der Einschlag einer Granate kann zu
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Jetzt wummert die Artillerie. Braaaamm, braammm, in der Ferne Einschläge. Dann ein scharfer Knall, die Antwort einer ukrainischen Haubitze. Alles weit genug entfernt. Der Soldat, der hinter der Eingangstüre sitzt, blickt nicht einmal auf. Er schneidet mit seinem Kampfmesser Hartwurst und Weißbrot in Scheiben und legt Energieriegel auf ein Tischchen. „Für die Paramedics. Sie brauchen Kraft, nachdem sie es mit den Verwundeten zu uns geschafft haben“, sagt er. Auch Kaffee und Tee stehen bereit.
Einsatz-Montur mit schusssicherer Weste und dem Helm auf dem Kopf. Ihre Einheit hatte schwere Verluste. Einen Verletzten konnten sie bringen, andere ihrer Kameraden haben es nicht geschafft. Jemand legt wortlos eine Packung Taschentücher neben sie auf die Bank. Die junge Frau kämpft, nicht zu weinen. Dann legt sie kurz die Hände vor ihr Gesicht.
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Frühling. Irgendwo zwitschert ein Vogel. Sonnenstrahlen wärmen die Mauer auf. Daran lehnen Tragen. Das Blut darauf ist eingetrocknet. Die Häuser in der Nachbarschaft sind verlassen: Leere Fensterhöhlen glotzen auf grauen Asphalt. Druckwellen haben einige abgedeckt, bei anderen ist das Dachgestühl nach Treffern ausgebrannt. Einem Baum hat ein Einschlag die Krone abgerissen, die Äste werden kein Grün mehr tragen.
Mehrere Soldaten haben einen Einschlag in ihrer Stellung überstanden. Der Druck der Explosion und Splitter führen zu Verletzungen.
Der bärtige Soldat, der bäuchlings auf dem OP-Tisch liegt, ist ein vergleichsweise leichter Fall. Ein Splitter steckt im Gewebe des Rückens,
„Alles unter Kontrolle, alle versorgt“, sagt Dmytro. „Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen, wie wir hier leben“, bietet er an. Der 42-Jährige führt in den Untergrund des Hauses. Im Keller ist es kalt. Nackte Glühbirnen geben spärlich Licht. „Aber jetzt ist Frühling. Im Winter hatten wir hier unten gerade einmal plus fünf Grad. Im OP-Saal waren es plus zehn“, berichtet der Arzt. Seit Ende Januar halten die Mediziner hier die Stellung. Dann öffnet er eine Tür und steht in der „Küche“. In
Regalen sind fein säuberlich Lebensmittel eingereiht, es gibt einen kleinen Gasherd. Dmytro steht im Lichtkegel. Dahinter zieht sich der Raum im Dämmerlicht in die Länge. Hier steht Bett an Bett. „Der Keller ist ein guter und stabiler Schutzraum. Das ist wichtig bei all den Einschlägen rund herum“, erklärt der 42-Jährige. Auf dem Dach des Gebäudes ist kein Rotes Kreuz auf weißem Grund als Schutzzeichen angebracht. Dabei wäre das kleine Front-Krankenhaus durch die Genfer Konventionen besonders geschützt. Die Ambulanzen, die aus der Kampfzone kommen, rattern schnell weiter, sobald die Verwundeten im Haus sind. Damit Drohnen das Gebäude nicht lokalisieren können. „Wüssten die Russen, dass wir hier die Verletzten behandeln, sie würden uns mit ihrer Artillerie in Stücke schießen. Je weiter die Stabilisierungspunkte von der Front entfernt sind, desto mehr Verwundete sterben auf dem längeren Weg dorthin. So perfide rechnet das russische Militär“, sagt der Chirurg, als er über Betonstufen wieder nach oben geht.
vergessen, jeder russische Soldat, dem wir das Leben retten, kann später als Gefangener gegen einen ukrainischen Soldaten getauscht werden“, fügt der Mediziner hinzu. Seit Tag Eins der Invasion ist Dmytro im Einsatz. Er meldete sich bei der Territorialverteidigung als Paramedic. Dann trat er in die Armee als Chirurg ein. Vor dem 24. Februar hatte er eine eigene Firma, die medizinische Analysen erstellte. „Sie war recht erfolgreich“, sagt er.
„Dabei versorgen wir auch russische Verwundete. Ich bin Arzt, da ist es meine Pflicht. Nicht zu
Seit dem 24. Februar 2022 hatte Dmytro keinen Urlaub mehr. „Hier heißt es 24/7 einsatzbereit
Bett an Bett: Hier schläft die Mannschaft des Stabilisierungspunkts. Immer wieder gibt es Einschläge im Umfeld, der Keller soll Schutz bieten. „Im Winter sanken hier die Temperaturen auf bis plus 5 Grad Celsius“, berichtet Dmytro.
Schrapnelle, die in den Körpern der verletzten Soldaten steckten.
sein“, erklärt der Arzt. Das geht an die Substanz. Seine Partnerin sieht er seit über einem Jahr nur online. Immerhin eine Starlink-Verbindung macht das selbst an der Front möglich. „Meine beiden Kinder aus erster Ehe sind in Deutschland. Sie in Sicherheit zu wissen, das ist eine Erleichterung für mich“, sagt der 42-Jährige: „Es gab auch Augenblicke, da dachte ich, ich schaffe das alles nicht mehr. Einmal, als wir tagelang im Hinterland warteten. Nichts zu tun, mit dem Grübeln anzufangen, das ist das Schlimmste. Geliebte Menschen fehlen mir, wie
allen hier. Statt dessen gibt es nur den Krieg“, meint der Arzt. Für die Zeit nach dem Krieg hat Dmytro schon einen Plan. „Nach dem Sieg geh’ ich segeln. Ich weiß noch nicht, auf welchem Meer, vor welcher Küste. Aber davon träume ich“, sagt der Skipper lachend. An seine Kollegen in Deutschland hat er eine Nachricht. „Wir brauchen eine umfangreiche Einweisung für unser Sonographie-Gerät. Wenn da jemand kommen könnte. Nicht hier an die Front, das ist zu gefährlich. Aber nach Kramatorsk. Wir wären dankbar.“
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„Dann gibt es noch die Probleme mit Landminen und Sprengfallen“, so der Mediziner weiter. Die Explosionen enden nicht selten in Not-Operationen. „Wir müssen dann eine erste Amputation vornehmen – wenn zum Beispiel die Knochen durchtrennt sind, das Körperteil nur noch durch Haut und Fleisch verbunden am Körper hängt. Unsere Amputation ist eine Erstversorgung, der in der Regel eine weitere in einem Hospital folgt. Wir haben aufgrund einer fehlenden Kühlung auch kein Blutplasma, können nur Trockenplasma nutzen“, schildert der Chirurg in seinem Ruheraum. Dann wird er zum Einsatz gerufen.
sensible Blutgefäße scheinen nicht in Gefahr zu sein. „Das bekommen wir gut hin“, erklärt Dmytro. Der Soldat stöhnt leise vor Schmerzen und bekommt Morphium. Der zweite Chirurg Kyrill übernimmt. Dmytro untersucht die blutende Hand eines Soldaten, der mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem zweiten OP-Tisch liegt. Das Blut tropft auf den Boden. Ein Paramedic legt einen neuen Verband an. Dmytro eilt in einen Nebenraum. Dort warten drei Männer, die eine Explosion überstanden haben. Der Arzt leuchtet in die Ohren, ob die Gehörgänge unversehrt sind. Derweil legt eine Sanitäterin bei den drei Soldaten Infusions-Kanülen für den Tropf. Die Nadel sticht bei einem Hünen direkt in das Auge eines in den Oberarm tätowierten Totenkopfs.
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mehrfachen Verletzungen führen: Verbrennungen, der enorme Druck schädigt das Gehör und kann innere Blutungen verursachen. Schrapnelle fressen sich in das Gewebe. Durch die Explosion werden Körper oft durch die Luft geworfen, das endet mit Frakturen und ebenfalls inneren Verletzungen. Trümmer landen auf den Soldaten – sie führen zu Brüchen und schweren Quetschungen.
Kunst im Kampf
KUNST IM KAMPF
Sängerin Yana Zavarzina dreht in den Ruinen von Isjum einen Musik-Clip. „Die Leben der Menschen, die hier lebten, sind so zerstört wie ihre Wohnungen. Das vergesse ich für keine Sekunde“, sagt die Künstlerin.
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Musik-Clips in den Trümmern der Invasion, Rock-Musik aus dem Bunker und Skulpturen aus Granatenhülsen. Wie Kulturschaffende dem russischen Angriffskrieg die Stirn bieten.
Ganz fein erklingt eine Frauenstimme, dazu leise Musik. In der Zerstörung ein Sound wie aus einer anderen Welt, der von hoch oben kommt. In dem Teil des Gebäudes, der noch steht, fehlt eine komplette Außenwand. So endet die Rückwand eines Klaviers im vierten Stock vor dem Nichts. Hinter dem Instrument steht eine Frau mit einem silbrig glänzenden Mikro im Retro-Style. Sie singt.
Vielmehr, bewegt sie ihre Lippen zu ihrem eigenen Lied, das aus einer Lautsprecher-Box erklingt. Jetzt ist auch das Surren der Drohne zu hören. Die Band „Papa Karlo“ aus Charkiw dreht zusammen mit der Sängerin Yana Zavarzina ein neues Video. Das zerstörte Izjum ist die Kulisse. Kein Studio ist im Osten der Ukraine notwendig, um einen Hintergrund zu schaffen, der tief in das Herz greift. Die Trümmerfelder des russischen Angriffskriegs liegen für die Menschen oft geradezu vor der Haustüre. „Papa Karlo“ hätte seinen Clip auch in der nahen Heimatstadt Charkiw drehen können. Dort haben russische Raketenangriffe und Artilleriebeschuss genügend Unheil angerichtet. Aber der Blick über das zertrümmerte Klavier auf die umliegende Zerstörung ist von einer traurigen Perfektion. Dieser Part des Clips ist abgedreht. Band-Chef Vasyl Ryabko hilft der Sängerin, als sie über zerbrochenes Glas und zerborstene Balkonzwischenwände klettert. Die beiden haben nur wenig Zeit. Der andere Teil der Band wartet bereits am nächsten Drehort. „Die Leben der Menschen, die hier lebten, sind so zerstört wie ihre Wohnungen.
Das vergesse ich für keine Sekunde“, sagt Sängerin Yana. Die Band harrte in Charkiw aus, als die Stadt schwerstem Beschuss ausgesetzt war, die russischen Verbände bis an die Stadtgrenze herangekommen waren. Weltweit redeten Spezialisten und Beobachter von der baldigen Kapitulation der Metropole nahe der russischen Grenze. Doch Charkiw fiel nicht. Charkiw – Stahl – Beton. So heißt es auf einem Logo, das in Charkiw mit Stolz getragen wird. Auf T-Shirts, Hoodies und den Abzeichen der Kämpferinnen und Kämpfer. Die Stadt hielt stand, weil ukrainische Soldaten unbeirrt und tapfer kämpften, aber auch wegen Menschen wie Ryabko. Er steckt sich eine Zigarette an, bevor es zum nächsten Drehort geht. Als im März 2022 U-Bahnstationen zur letzten Zuflucht der Gebliebenen vor den ununterbrochenen Einschlägen wurden, brachte er als Helfer Menschen aus den besonders beschossenen Stadtvierteln in Sicherheit. Es war ein hohes Risiko. Ein Freund des Musikers schaffte es nicht, er wurde wenige Meter von Ryabko entfernt getötet. Yana sagt, wie schwer es ist, nahe Menschen zu verlieren. Wie es verzweifeln lässt und dann wütend macht. „Papa Karlo“ spielen Rock’n’Roll,
Country, Blues und Pop, alles in Ukrainisch. Der Krieg hat ihre Sprache härter, deftiger und zorniger gemacht und politischer. In der Kunst ist der Krieg längst angekommen, besser, er beherrscht die Szene so wie das ganze Land. Die Künstlerinnen und Künstler reagieren darauf mit einer bedrückenden Authentizität und einer faszinierenden Symbolik. Rockbands besingen den Kampf um Bachmut. Beim Clip der Band „Antytila“ wirken keine Statisten mit. Gefilmt werden die Soldaten einer Artillerie-Einheit direkt an der Front, direkt im Einsatz. Auch „Kozak System“ ist bei der Artillerie dabei. Während die Grad-Raketen abgefeuert werden, singen sie ihre Wut in die Kameras. Beim Clip „Bachmut“ von „Spiv Brativ“ sind Orginalaufnahmen aus der umkämpften Stadt zusammengeschnitten. Die Frauen-Band „Angy Kreyda“ lässt Hexen tanzen und belegt die russischen Invasoren mit einer ganzen Breitseite an Flüchen. Eurovision-Song-Contest-Gewinner „Kalush Orchestra“ brachte mit seinem Song „Stefania“ erstmals ukrainischen Kriegs-Pop auf die internationale Bühne. Es ist eine Hymne an den Mut. Mittlerweile gibt es gemeinsame Projekte mit
Oksana Kryzhanivska verwendet für ihre Skulpturen Hülsen von Artillerie-Munition. Ehrenamtlich engagiert sie sich, um verwundeten Soldaten zu helfen.
internationalen Rock-Größen wie „The Rasmus“. Banksy war schon auf Graffiti-Tour in der Ukraine. Doch längst zuvor erzählten die Graffitis der heimischen Sprayer vom Krieg. Seit dem 24. Februar 2022 ist für alle Ukrainerinnen und Ukrainer nichts mehr so, wie es einmal war. Das gilt auch für alle Kulturschaffenden. Sie haben den Kampf vom ersten Tag der Invasion an aufgenommen. In der Ukraine steht die Kunst im
Krieg. „Natürlich wollen wir mit unserer Musik auch zum Sieg beitragen, unseren Leuten beistehen“, sagt Ryabko. Die Kunst hätte auch keine Chance, dem Krieg zu entkommen. Wenn in der Oper in Kyjiw Puccinis „Tosca“ gegeben wird, wird der Saal bei Luftalarm geräumt, genauso wie beim amerikanischen Blockbuster im Kino oder bei der Vernissage einer Kunstausstellung. Das passiert nicht selten.
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Die Explosion brachte den Mittelteil des Blocks zum Einsturz. Geblieben sind nur Trümmer. Auf ihnen stehen gerahmte Fotos. Darauf blicken Menschen hinter Glas, die in den Wohnungen lebten und dann dort starben. Nachbarn, Freunde, Verwandte haben ihre Bilder auf dem Schutt aufgestellt. Über 50 Menschen verloren hier in der Pervomayskaya Straße ihr Leben. Neben den Bilderrahmen leuchten rote Plastikrosen, die zwischen zerbrochenen Ziegeln stecken. Es wirkt wie ein verstörendes Kunstwerk, das beim ersten Blick den Atem nimmt. Der Rest des Gebäudes dahinter ist schwer beschädigt und verlassen. So wie das ganze Viertel drum herum. Die Kämpfe brachten schwerste Zerstörung nach Izjum. Hier, am Eingang der Stadt, stehen nur noch menschenleere Ruinen.
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Isjum / Charkiw / Kyjiw Anfang April 2023
Heute rocken die Musiker für die 46. Brigade. „Helft, den Krieg zu gewinnen“, ruft Sänger Alexander ins Mikro. Dann ertönt ordentlich schräg: „It’s my life“. Das ist für Rock-Musiker in Zeiten von Sperrstunden und Luftalarmen derzeit eine Herausforderung. Langsam kommen für die Jungs von „Selo I Ludy“ wieder die ersten Auftritte außerhalb des Bunkers. Manche dürfen aus Sicherheitsgründen gar nicht angekündigt werden. Dann, wenn es zur Unterhaltung der Truppe Richtung Front geht.
Im Hintergrund der Bunker-Bühne hängt eine ukrainische Fahne vor groben Brettern, weiter der ukrainische Dreizack und ein Bild im langgezogenen Rechteck. Das zeigt einen Streifen tiefdunkles Blau – das Meer. Darüber zieht sich ein hellblauer Streifen: der Himmel. Das ist alles. „Die Krim-Brücke“, heißt das Bild, und sein Maler ist auch im „Selo I Ludy“-Bunker mit dabei. „Selbst im Krieg muss man seinen Humor behalten“, sagt er augenzwinkernd über eine Brücke, die es auf seinem Bild nicht mehr gibt. Doch das mit dem Humor fällt nach über einem Jahr Sterben immer schwerer. Das spürt auch Oksana Kryzhanivska. Zu viele in der Ukraine haben Angehörige, Freunde oder Bekannte im Krieg verloren. Sie und ihr Mann Oleksandr Semenik haben in ihre Zwei-ZimmerWohnung in Kyjiw eingeladen. Hier leben sie mit ihren beiden Kindern. Bis vor Kurzem hatte die 42-Jährige noch ein Atelier im Künstler- und Ausgehviertel Podil. Aber der Krieg bedeutet für Künstlerinnen und Künstler in der Ukraine enorme Einkommenseinbußen. „Wie für so viele“, sagt die Künstlerin und Familienmutter. Jetzt ist die kleine Küche oft ihr Arbeitsplatz. Im Wohnzimmer stehen an der Wand Geschosshülsen von
Artilleriegranaten. Oksana Kryzhanivska erschafft daraus Kunstwerke. Legt den Hülsen aus poliertem Kupfer Gesichter auf. Einen bärtigen Krieger, dessen Augen vor Wut zu blitzen scheinen. Oder das Gesicht einer jungen Frau. Selbstbewusst und schön. Der ukrainische Dreizack hält ein florales Band über der Stirn zusammen, die Augen sind geschlossen. Oksana Kryzhanivska setzt sich mit der Kultur der Ukraine auseinander, und ihre Reisen gehen dabei viele, viele Jahrhunderte zurück. „Ich arbeite viel mit der Symbolik, die uns unser reiches Kulturerbe geschenkt hat.“ Die drei Streifen, die sich quer und parallel durch das Gesicht der jungen Frauen ziehen, symbolisieren das Leben und die Veränderung. „Die Augen sind geschlossen, weil es schwierig für sie ist, den Schmerz und das Lied des Krieges zu ertragen. Und doch ist sie ungebrochen und selbstbewusst“, sagt Oksana Kryzhanivska über die „Betende“. „Es ist paradox. Diese Granatenhülsen stammen von der Front. Sie dienten zum Töten. Das ist schlimm. Aber sie dienten auch dazu, zu verteidigen und unser Leben zu erhalten“, fügt sie nachdenklich hinzu.
Für die 42-Jährige ist das Ziel des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine nicht nur Landgewinn. „Es geht darum, uns als Nation zu eliminieren. Und dafür müssen sie unsere Kultur zerstören“, erklärt sie. Momentan ist es manchmal schwierig für sie, das Geld für einen neuen Metall-Guss und die Polierung aufzutreiben. 350 Euro kommen da schnell zusammen. Sehr viel Geld für die Familie in dieser schweren Zeit. Leicht ist es für Künstlerinnen und Künstler finanziell selten. Doch die 42-Jährige hatte erfolgreiche Ausstellungen. In Zeiten des Kriegs können sich weniger Menschen Kunst leisten, müssen öffentliche Auftraggeber den Herausforderungen des Kriegs gerecht werden. Trotzdem und gerade deswegen arbeitet sie ehrenamtlich. Sie engagiert sich als Vorsitzende einer CharityKunstinitiative. Regelmäßig besucht sie verwundete Soldaten im Hospital zur Kunsttherapie. „Einmal war ein ganz junger Soldat darunter. Er war nicht nur am Körper verletzt. Sondern wie so viele tief in der Seele. Mit seinen Händen Ton zu formen, etwas zu erschaffen. Das hat ihm gut getan. Ich konnte das in seinen Augen lesen. Das ist so viel wertvoller als Geld“, sagt Oksana Kryzhanivska leise.
„Kunst heilt. Sie wird wichtig sein, gerade dann, wenn dieser Krieg gewonnen ist. Er verletzt uns alle so grausam. Es wird lange dauern, bis die Wunden geschlossen sind. Jetzt brauchen wir die Kunst, um in diesem Krieg zu bestehen“, sagt die Mutter, die mit ihrer Familie aus dem umkämpften Kyjiw floh, als keine 200 Meter entfernt im Funkturm eine Rakete einschlug.
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Am Vorabend des Video-Drehs rockt in Charkiw die Band „Selo I Ludy“ in ihrem Bunker irgendwo in der Unterwelt der Stadt. Seit Beginn der Invasion streamen sie von dort ihre Konzerte.
Immer weiter, selbst, als Raketen Häuser in der Nachbarschaft treffen. Sie sammeln dabei Geld für die Ausrüstung von Soldaten. Oder auch für sich, um schlicht zu überleben. „Selo I Ludy“ hat sich mit recht eigenwilligen Interpretationen von Rock-Legenden einen Namen gemacht. Vor dem russischen Angriffskrieg traten sie bei großen Konzerten auf, waren gefeierte Party-Helden. Schwer zu sagen, was sie alles sind: Folk-Rocker, Ska Punker oder einfach die Jungs, die Songs der US-Band „Nirvana“ auch mit dem Schifferklavier spielen. Vergangenes Jahr waren sie online bei Joko & Klaas zugeschaltet. Sie spielten damals in eben dem Bunker, in dem sie jetzt auftreten.
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Beim neuen Clip von „Papa Karlo“ gehe es um die Liebe und um Verlust, sagt die Sängerin. „Die Liebe brauchen wir im Krieg umso mehr“, fügt sie hinzu. Dann geht es zum nächsten Drehort: dem Kriegsdenkmal auf einer Anhöhe über Izjum. Ein gewaltiger Betonblock steht dort zur Mahnung, wo sich schon im Zweiten Weltkrieg die Menschen abschlachteten. Izjum wurde auch im russischen Angriffskrieg zu einem Ort der Zerstörung. Ein Blick vom Monument stadtauswärts zeigt nur verlassene Dörfer, Minenfelder, ausgebrannte Panzer und Ruinen. In den Trümmern unterhalb des Beton-Monuments drehen „Papa Karlo“ weiter. „In Deutschland waren wir auch auf Tour, um Geld für die Ukraine zu sammeln. Geflüchtete Landsleute kamen zu den Konzerten, aber natürlich auch viele Deutsche“, sagt Yana Zavarzina zum Abschied. Ob die Deutschen den Krieg in ihren Liedern verstanden haben? „Nein, das glaube ich nicht“, sagt die Sängerin, ohne Vorwurf, aber mit einem traurigen Blick.
In der Nachbarschaft lauert der Tod IN DER NACHBARSCHAFT LAUERT DER TOD
Vasyl in seinem schwer beschädigten Haus in Kamjanka: Russische Soldaten verrichteten ihre Notdurft in den Räumen, plünderten und zerstörten.
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Vasyl ist nach Kamjanka zurückgekehrt. Nach Kämpfen und russischer Besatzung ist es nur noch ein Ruinendorf und ein Minenfeld. Jeder Schritt abseits der Straße kann der letzte sein.
Vasyl drängt mit einer Handbewegung zwei, drei Bienen zurück, die um seinen Kopf schwirren. „Sie sind heute aufgeregt“, murmelt er und läuft in sein Haus. Vorbei an leeren Munitionskisten für Artillerie-Granaten, die er im kleinen Hof aufgestapelt hat. Daneben lehnt ein Plastikfass an der Wand, es ist mit Regenwasser gefüllt. „Im Dorf gibt es weder Strom noch Wasser“, erklärt er, als er sich am Fass vorbeischiebt. Durch die Tür geht es in das dämmrige Innere. Eine Druckwelle hat das Dach nach einer Explosion in der Nachbarschaft abgedeckt. Mit weißen Plastikplanen und Holzleisten hat der 62-Jährige
zumindest einen Schutz vor Regen auf die Dachbalken genagelt. „Wir haben Glück gehabt, unser Haus ist mit am wenigsten im ganzen Ort beschädigt“, erklärt Vasyl in der Wohnküche. An dicken Schnüren hängt die Wäsche zum Trocknen. An der Wand sind Risse zu sehen. Und ein Loch, das ein Geschoss hinterließ, das schnurstracks durch das Haus flog. „Ein Wunder, dass die Granate nicht explodiert ist“, meint Vasyl. In der Küche leben Vasyl und seine Frau Iryna. Es ist der einzige derzeit bewohnbare Raum. Könnte man durch das Küchenfenster sehen, wäre es ein Ausblick auf Ruinen. Von manchen stehen nur noch die Mauern, zerborstenes Glas hängt in den Fensterrahmen. Bei Vasyl spannt sich eine milchige Plastikplane als Scheibenersatz. In seiner Küche steht ein kleiner Kanonenofen, den er von einer Hilfsorganisation bekommen hat. „Meine Apfelbäume hat ein russischer Panzer zerstört. Das Holz habe ich im Winter verbrannt“, erklärt er. Er hat Bretter aus Schutthaufen gezogen, hölzerne Munitionskisten kleingehackt. Dass die Suche nach Brennbarem gefährlich ist, weiß der 62-Jährige zu gut.
Als die russischen Truppen vor der ukrainischen Gegenoffensive im September 2022 überstürzt aus dem Raum Isjum flohen, hinterließen sie in Kamjanka nicht nur ein völlig verlassenes Dorf in Trümmern. Sie verminten es flächendeckend. Jeder Quadratmeter abseits der Dorfstraßen gilt als ein potenzielles Minenfeld. Allein 42 Landminen hat Vasyl nach eigenen Angaben im Garten seines Anwesens entdeckt. Dort, wo gerade die Bienen summen. „Die Russen haben die Landminen scharf gemacht und ins Gras gelegt“, berichtet der 62-Jährige. Vasyl steckte Äste mit kleinen Stofffetzen zur Markierung neben die Sprengsätze. Das war im Herbst 2022. „Dann habe ich die Hotline der Armee angerufen. Sie kamen, haben sie entschärft und mitgenommen“, so der Rentner weiter. Aber mehr könnten sie im Augenblick nicht tun. „Es sind zu viele Minen, zu viele Blindgänger an so vielen Orten der Ukraine“, sagt er. „Schauen Sie sich doch um, nur Zerstörung. Überall Minen. Die russische Armee hat mit Artillerie und Fliegern das Dorf im März 2022 mit Dauerbeschuss überzogen. Überall liegen also auch Blindgänger. Dazu kommen noch die Sprengfallen, die die Besatzer selbst gebastelt
haben. Manchmal denke ich, am besten man zieht einen Zaun um unser Dorf und baut es woanders wieder auf“, sagt Vasyl leise. Der 62-Jährige floh Mitte März 2022 vor den Granaten und Bomben der heranrückenden russischen Armee zu Verwandten in den Oblast Lwiw. Seine Frau ging einige Tage vorher und fand bei Verwandten in Israel Zuflucht. Im September, nach der Befreiung, kamen sie nach Kamyanka zurück. Besser zu dem, was von der Siedlung noch übrig war. Das Dach ihres Hauses war weitgehend abgedeckt. Im Obergeschoss hatten russische Soldaten regelmäßig ihre Notdurft verrichtet. „Wie sie hier gehaust haben, unfassbar. Meine Schallplatten-Sammlung zertrümmert, die Scheiben haben sie kreuz und quer rings um das Haus geworfen. Einige habe ich auf der Straße gefunden. Es hat ihnen offensichtlich Spaß gemacht zu zerstören“, Vasyl schüttelt den Kopf. Seine Platten von Metallica, Guns’n’Roses und den Scorpions liegen jetzt im Umkreis im tiefen Gras. Zu gefährlich, sie zu holen. „Und sie werden eh kaputt sein“, fügt er hinzu. Dann führt er in den Garten. An einem Baum lehnt ein Flachbild-
fernseher. „Unseren Boiler im Bad haben sie abgeschraubt und mitgenommen. Selbst eine Kloschüssel ging als Beute mit. Aber der Fernseher war ihnen, aus welchen Gründen auch immer, wohl nicht gut genug. Dafür haben sie ihn kaputt gemacht“, Vasyl wird ärgerlich und zeigt auf die zerstörte Oberfläche des Fernsehers. Aber am meisten schmerzt Vasyl der Zustand seines Hauses. „Zehn Jahre haben meine Frau Iryna und ich an dem Haus gebaut, Zimmer für Zimmer fertig gemacht. Ein ordentliches Bad eingebaut“, schildert der 62-Jährige. All ihre Ersparnisse hat das Ehepaar in das Haus gesteckt. „Als Arbeiter in einer Fabrik muss man sehr sparsam sein, für sein Haus“, erklärt er. Jetzt hofft Vasyl, dass jemand Offizielles kommt, um den Schaden zu begutachten. Vasyl will eine Entschädigung, eine Aufbauhilfe. Er will wissen, ob es für das Dorf eine Zukunft gibt. Ob es woanders neu entsteht. „Wir werden mit Lebensmitteln und Medikamenten durch Hilfsorganisationen versorgt. Dafür bin ich dankbar. Aber wir müssen langsam wissen, wie es weitergehen soll“, findet er. „Russland muss für all das hier zur
Rechenschaft gezogen werden. Sie müssen für das bezahlen, was sie uns antun. Ihr Russki Mir (Russischer Frieden) bedeutet Ruinen und Tod“, erklärt er. Doch die Front reicht längst bis tief in die Familie hinein. Vasyls Sohn hat sich freiwillig zur ukrainischen Armee gemeldet und kämpft an der Front. Vasyls Bruder lebt in Russland. „Einmal rief er an, fragte, ob wir alle noch am Leben sind. Kurz darauf beschimpfte er uns schon als Faschisten. Meiner Frau reichte es, sie griff sich das Handy und schrie hinein: ,Sagt wenigsten nicht mehr, dass ihr uns befreit.‘“, erzählt Vasyl. Seitdem ist jeder Kontakt zur Verwandtschaft in Russland abgebrochen. So hinterlässt der Krieg überall Trümmerfelder. Die materielle Zerstörung in der Ukraine ist immens: 150.000 Wohngebäude sind laut ukrainischen Angaben beschädigt oder nur noch unbewohnbare Ruinen. Oft genug liegen sie in Minenfeldern oder bergen Blindgänger, darunter oft international geächtete Streumunition. Das Ausmaß der mit Sprengsätzen kontaminierten Flächen ist gewaltig. Anfang Juni 2023 bezifferten ukrainische Behörden sie auf 174.000 Quadrat kilometer. Das entspricht ungefähr 30 Prozent der
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Vasyl blinzelt in die Sonne und blickt über seinen Garten. Bunte Holzkisten stehen in der Wiese, Bienenstöcke mit viel Insektenflug. Es brummt und summt. Am Ende des Gartens folgen niedrige Büsche, wildes, hohes Gras. Der Panzer darin steht rostbraun im satten Grün. Ein ausgebrannter Koloss aus Stahl, seine Ketten haben sich gelöst. Hinter ihm ragt das Nachbarhaus auf. Oder besser gesagt, was davon übrig ist. Dunkle Fensterhöhlen glotzen hässlich zwischen weißen Ziegelsteinen auf die staubige Dorfstraße. Vom Dach sind nur noch Holzverstrebungen übrig.
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Kamjanka Anfang Juni 2023
Vasyl weiß, was die Daten bedeuten. Irgendwo im Ruinendorf gibt es eine dumpfe Explosion. „Vielleicht hat die Hitze eine Landmine zur Explosion gebracht“, mutmaßt der 61-Jährige. Oder ein Hund ist auf einen Sprengsatz
gelaufen. „Was für ein Wahnsinn. In einem Granatentrichter nahe meinem Haus habe ich die Überreste eines ukrainischen Soldaten gefunden, der dort verscharrt wurde. Was hat der Krieg aus meinem Kamjanka gemacht?“, fragt der 62-Jährige. Dann verabschiedet er den Gast. Auf dem Weg zur Fernstraße, die am Ort vorbei Richtung Slowjansk führt, kommt diesem eine alte Frau entgegen. Eine der wenigen, die von den einst 1500 Einwohnern zurückgekommen sind. „Bleiben Sie ja auf dem Weg, nicht ins Grüne gehen“, ruft sie schon von Weitem.
An der Fernstraße zieht sich eine Ruinenzeile längs des Asphalts entlang, eine Druckwelle hat den Schildermast eines Fußgängerüberwegs aus der Halterung gerissen und ins Gras stürzen lassen. Ein rotes Schild mit weißem Totenkopf darauf warnt vor Landminen. Das nächste Schild steht 50 Meter entfernt … Dann das nächste … Dann das nächste … Kilometer für Kilometer stehen Warnschilder am Straßenrand. In Kamjanka hängt zudem ein Banner an einer Ruinenwand am Straßenrand: „Bitte helfen Sie, das Dorf wieder aufzubauen“ steht darauf in Ukrainisch und Englisch.
Kamjanka ist ein einziges Minenfeld. Das Dorf liegt in Trümmern, auch Sprengfallen und Blindgänger stellen eine Gefahr dar.
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Staatsfläche. Auslaufende Schmier- und Kraftstoffe aus zerstörtem Kriegsmaterial sowie giftige Rückstände von Kampfmitteln, die ins Grundwasser gelangen, toxische Dämpfe bei Bränden, Waldbrände oder der zerstörte Kachowka-Staudamm zeigen, der Krieg ist längst auch zu einer ökologischen Katastrophe geworden.
Nur eine Handvoll Menschen ist nach Kamjanka zurückgekehrt. Sie wissen: „Wer die befestigten Straßen und Wege verlässt, spielt mit seinem Leben.“
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Vasyl hält die Überreste von sogenannten „Schmetterlingsminen“ in seinen Händen. Die international geächtete Streumunition wurde vermutlich mit Artilleriegranaten verschossen. Aber auch Fliegerbomben werden als Träger genutzt.
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Anita dient als Sanitäterin in der ukrainischen Armee. Für russische Soldaten ist sie ein Ziel, für ihre Kameraden eine Lebensretterin. Selbst eine Verwundung hält sie nicht zurück.
Tod, Ruinen und Zerstörung sind zum traurigen Alltag von Anita geworden. Aber sie hat geholfen, viele Leben zu retten.
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Retterin an der Front
Oblast Charkiw / Charkiw-Front nahe russischer Grenze, Mitte Juni 2023
Anita auf dem Beifahrersitz „ihres“ Rettungswagens: Die gesamte Ausstattung besteht aus ihrem gefüllten Sanitäterrucksack und einer Trage.
Der Wagen steht im Schatten eine Baums. Verdeckt, um nicht von Drohnen erkannt zu werden. Es gab
Die Bilder der Zerstörung sind für Anita zum bedrückenden Alltag geworden. Schon 2014, als Russland den Krieg in den Donbas trug, hatte sie sich als Rettungssanitäterin bei einer Freiwilligenorganisation beworben. Die ausgebildete Physiotherapeutin begleitete zwei Jahre lang die Evakuierungen der Verwundeten aus dem Kampfgebiet. 2019 trat sie in die Territorialverteidigung ein. Als am 24. Februar 2022 Putin den
Befehl zur groß angelegten Invasion auf die ganze Ukraine gab, meldete sie sich am ersten Tag zum Dienst. Die russischen Einheiten standen bald vor ihrer Heimatstadt Charkiw. 80 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner flohen, Tausende, die blieben, suchten in U-Bahn-Stationen Schutz. Die Stadt wurde mit Artillerie und Raketen beschossen. In manchen Stadtvierteln blieb kein Haus unbeschädigt. Kaum ein Beobachter gab in den ersten Tagen der Invasion den Ukrainern eine Chance, die Großstadt noch lange zu halten. Doch Charkiw fiel nicht. Auch wegen Männern und Frauen wie Anita, die ihre Stadt tapfer verteidigten. „Charkiw ist eine lebendige und offene Stadt. Wir lieben unsere Freiheit, und wir kämpfen um sie“, sagt die Soldatin. Sie erzählt von ihrem Hobby. Anita tanzt für ihr Leben gerne. „Eigentlich bin ich für alle Tänze offen, egal von welchem Erdteil“, meint sie. Sie erzählt davon, wie sie in ihrem Garten am Stadtrand von Charkiw gerne pflanzt und erntet. Von Blumen, die dort wachsen. Anitas Stimme wird weich. Inmitten des zerstörten Dorfs sind das Erzählungen aus einer fremden Welt.
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Dabei setzt sie ihr eigenes Leben aufs Spiel. Kein Rotes Kreuz auf weißem Grund kennzeichnet den Wagen als Sanitätsfahrzeug – ein Schutzzeichen für den Verwundetentransport, der mit dem betagten Wagen stattfindet. „Die russischen Soldaten scheren sich nicht um die Genfer Konventionen. Ganz im Gegenteil, wir sind sogar ausgesprochene Ziele für sie. Sie schießen zuerst auf einen Rettungswagen. Das ist bitter“, sagt die 37-Jährige. Und so unterscheidet sich die Ambulanz vom Aussehen her nicht von einem der üblichen Transporter der Armee.
an diesem Tag bereits mehrere Einschläge. Manchmal hört man auch den scharfen Knall, wenn die ukrainischen Streitkräfte eine Haubitze abfeuern. Das Dorf, irgendwo im Oblast Charkiw, nicht weit von der Front entfernt, ist verlassen. Es gibt kaum ein Haus, das nicht beschädigt ist oder in Trümmern liegt. Von der Schule ragen nur noch kahle Wände in den Himmel. Hier wartet Anita auf ihren Einsatz, wenn das Funkgerät sie zu den nahen Stellungen ruft. 43.000 Frauen dienen wie sie in der ukrainischen Armee, direkt an der Front meist als Sanitäterinnen. Seit Beginn der Invasion bis Anfang Mai 2023 fielen 107 Frauen oder wurden schwer verwundet. Die meisten von ihnen dürften Sanitäterinnen sein – oder gewesen sein.
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Der Ambulanz-Wagen hat wenig an Ausrüstung zu bieten. Ein alter VW-Transporter, der Lack hastig in oliv-grün überlackiert, der Wagen ohne jede Innenausstattung. Eine graue Trage liegt auf dem blanken Metallboden und daneben der Notfall-Rucksack. Darin sind unter anderem Verbandszeug, Gummischläuche, Tourniquet, Bandagen, ein Beatmungsbeutel, Spritzen und Trachelakanüle. Das steht Anita zur Verfügung, um Menschen zu retten.
krachten die Explosionen. Viele unserer Soldaten hatten sich in diesen kalten Wintermonaten das Covid-Virus eingefangen, kämpften geschwächt mit Fieber. Es war ein Albtraum“, berichtet die 37-Jährige. Die eigenen Truppen rücken vor, ziehen sich wieder zurück. Es gibt so viel Tote und Verwundete.
„Es war eine harte Zeit“, sagt Anita leise. Bachmut ist das Epizentrum des russischen Angriffskrieges, russische Einheiten feuern monatelang auf die Stadt, bis sie nur noch ein Trümmerhaufen ist. „Die Einschläge kamen oft ohne Unterbrechung. Wir standen unter Dauerbeschuss. Rings um uns
Ihre Aufgabe als Feldsanitäterin ist es, die Verwundeten so schnell wie möglich von der Front zum nächsten Stabilisierungspunkt zu bringen. Oft sind das Kellerräume, die Schutz vor den Einschlägen bieten. Ausgestattet sind sie mit OP-Tischen, einfachsten medizinischen Geräten.
Anita sitzt im Rettungswagen nahe der Front: Die gesamte Ausstattung besteht aus ihrem gefüllten Sanitäterrucksack und einer Trage. Die Kalaschnikow dient zur Selbstverteidigung.
Dort sind Notoperationen möglich, die die Verletzten bereit für den Transport in die Hospitäler im Hinterland machen sollen. Für Anita zählt oft jede Minute, wenn sie die Verwundeten bringt. Sie muss Blutungen bei Soldaten stoppen, denen Explosionen Gliedmaßen abgerissen haben. Versorgt Wunden, die Schrapnelle in das Fleisch gerissen haben, legt Verbände auf Einschusslöcher in menschlichen Körpern. Das alles passiert, während der VW-Bus mit höchstmöglicher Geschwindigkeit über Schlaglöcher rattert, der Fahrer ausgebrannten Wracks und Trümmern auf der Fahrbahn ausweicht. Sie selber unter
Charkiw ist die Heimatstadt von Anita. Die zweitgrößte Stadt der Ukraine liegt nahe der russischen Grenze und wurde durch den Beschuss der russischen Streitkräfte schwer beschädigt. Auch jetzt kommt es noch regelmäßig zu Angriffen aus der Luft. Anita gehört zu den Männern und Frauen, die die Stadt tapfer verteidigten. Charkiw fiel nicht.
Beschuss kommen. Nicht alle Patienten schaffen es. So sterben Männer in den Kampfanzügen unter ihren Händen. Jedes Mal reißt es dann die 37-Jährige. Es sind Bilder, die in ihr bleiben. Dann kam in einer Stellung ein Einschlag, der sie selber traf. Mit voller Wucht hatte die russische Artillerie sie unter Feuer genommen. Die Wände wackelten unter dem Druck der nahen Einschläge. „Nach der Explosion war ich kurz bewusstlos“, berichtet Anita. Sie sah dann das eigene Blut auf ihrer Hose, merkte, dass sich Schrapnelle in ihr Bein gefressen hatten. Es pfiff in ihren Ohren.
Anita begann, ihre verletzten Kameraden zu versorgen. Mit letzter Kraft. Sie wurden evakuiert. Anita kam selber ins Krankenhaus. Der Autor dieser Reportage traf sie Anfang März zum ersten Mal in der Rehabilitation. Anita hörte noch immer schlecht. Die Hölle von Bachmut stand ihr ins Gesicht geschrieben. Manchmal musste sie damals beim Interview lange überlegen, wenn sie einen Satz bildete. Anita, die Retterin, war traumatisiert. „Ich war sehr krank. Aber jetzt bin ich glücklich, wieder meine Arbeit zu machen. Hier ist mein Platz“, sagt sie heute in
einem einfachen Englisch zum Abschied beim jüngsten Treffen nahe der Front. Einen Wunsch gibt sie dann in Ukrainisch nach Deutschland mit. „Wir bräuchten mehr und besser ausgestattete Ambulanzen. Die Straßen sind oft wie hier sehr schlecht, der Verschleiß an Material ist groß.“ Dann verschwindet sie mit dem olivgrünen VW-Transporter auf einer holprigen Straße in einem verlassenen Dorf nahe der Front.
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Anitas Vater ist Kubaner. Das steht der dunkelhäutigen Sanitäterin ins Gesicht geschrieben. „100 Prozent ukrainisch mit kubanischem Blut“, sagt Anita mit einem Lächeln. „Als die Invasion begann, war es für mich sofort klar, was ich zu tun habe. Es geht um mein Land, um meine Stadt, es geht um unsere Freiheit“, sagt die 37-Jährige. Als die russischen Verbände im Herbst vergangenen Jahres aus der ganzen Region Charkiw vertrieben wurden, wurden Anita und ihre Einheit nach Bachmut verlegt.
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Stolz berichtet sie von ihrer 16-Jährigen Tochter, die Medizin studieren will. Davon, dass sie gerne noch einmal Mutter geworden wäre. Aber dann kam 2014 der Krieg. Und jetzt die Invasion. Und sie hofft, dass ihre Tochter keine Uniform mehr tragen wird. „Aber leider deutet nichts darauf hin, dass dieser Krieg schnell endet“, meint Anita.
Nach der Flut
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Fluten haben das Haus von Oleksandr und seiner Familie schwer beschädigt. In der Nachbarschaft sind Häuser, die nicht mehr zu retten sind.
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Die Sprengung des Kachowka Staudamms hat eine Schneise der Verwüstung gezogen. In den vormals überfluteten Stadtteilen von Cherson schaufeln die Menschen den Schlamm aus ihren oft schwer beschädigten Häusern. Eins ist wie vor der Flut: die Gefahr von der nahen Front.
Cherson Mitte Juli 2023
Der Korabelniy Distrikt gehört zu den am meisten betroffenen Stadtvierteln der Stadt Cherson. Hier lebt Victoriya mit ihrem Mann Oleksandr (59) und ihrer Tochter Julia (32). Beziehungsweise besser vorerst gesagt „lebten“. Das Haus ist unbewohnbar, so wie fast alle Gebäude im betroffenen Teil des Viertels. Die Familie ist bei Freunden untergekommen, die im höher gelegenen Teil Chersons leben, der den Großteil der Stadt ausmacht. Bis zu drei Meter hoch stand das Wasser am 7. Juni im Korabelniy-Distrikt. „Das ganze Erdgeschoss war geflutet“, erklärt Victoriya. Als die braunen Massen abflossen, blieben der Schlamm und feuchte Wände. Und 4210 Wohngebäude, die allein im Oblast Cherson zerstört sind.
Sobald es möglich war, begannen Victoriya, Oleksandr und Julia damit, den Dreck aus dem Haus zu schaufeln. „Das wird noch lange dauern“, stöhnt Oleksandr. Er steht im Erdgeschoss, trägt feste Schuhe, blaue Arbeitshose und gleichfarbiges T-Shirt. Der Raum wirkt mehr wie eine Höhle als wie ein Zimmer. Teile der Wand waren mit Felssteinen gemauert. Das hereinströmende Wasser hat einige von ihnen gelöst. Jetzt liegen die schweren Brocken über dem Boden verstreut. „Das wird eine Knochenarbeit“, erklärt er und stellt sich auf einen der wackeligen Felssteine. Im Nachbarzimmer gibt es nur dunkles Mauerwerk, die Tapeten haben sich gelöst. Licht spendet hier nur eine Handlampe. Victoriya steht mit kurzen Hosen und Arbeitshandschuhen in der hellen Küche, hier fällt viel Licht durch das Fenster. In der Küche hat die Familie schon den Schlamm herausgeschaufelt. „Wenigstens dieses Zimmer ist geschafft. Das ist etwas. Als die Flut kam, konnte ich 20 Tage lang keinen richtigen Schlaf finden. Der Stress war unfassbar. Die Angst, alles zu verlieren.“
Das Heim der Familie liegt nahe am Ufer des Dnipro. Ein kleiner Damm liegt noch zwischen dem Fluss und den ein- bis zweistöckigen Einfamilienhäusern, die sich dahinter längs der parallel verlaufenden Straße ziehen. Überall sind Schutthaufen, liegt ausgeschaufelter Schlamm aus den Häusern. Auch hier zieht Gestank zwischen den Häusern und über die Straße. Ufernähe bedeutet Frontnähe. Auf der anderen Seite des Dnipro beginnen die russischen Stellungen. Keine fünf Kilometer Luftlinie liegen diese von Victoriya und Oleksandr entfernt. Geschützdonner, das gehört zum Alltag. Die 55-Jährige zeigt auf den ersten Stock ihre Wohnhauses. Dort sind Spanholzplatten in die Fensterrahmen genagelt. Ein Teil des Mauerwerks fehlt. „Am 12. Februar 2023 in den Morgenstunden schlug eine Granate in unser Haus ein“, sagt sie. „Wir dachten uns, schlimmer kann es jetzt ja nicht mehr kommen“, schüttelt Oleksandr den Kopf. Oleksandr hofft, dass die Flut das Haus nicht irreparabel zerstört hat. Die Statik keinen Schaden genommen hat. So wie beim Nachbarn. Dort hat sich das ganze Haus gesenkt. Das Haus
schaut aus wie gekippt. 42.000 Menschen sollen im Oblast Cherson links und rechts des Dnipro ihr Zuhause verloren haben. Victoriya ist wieder in ihren Garten gelaufen und redet sich die Verzweiflung von der Seele. Sie erzählt von ihren Rosen, wie ihr Mann den Grill für ein leckeres Schaschlik anwarf. Vom alten Gartenglück ist nur noch wenig zu erahnen. Schlammverkrustet steht eine Hollywoodschaukel verloren in all den Trümmern, die die Flut in den Garten getragen hat. Notenblätter sind da zu finden. Holzkisten, Bretter, Kleidungsfetzen und ein Stofftier, dessen ursprüngliche Farbe nicht mehr zu identifizieren ist. Ein stinkendes, aschgraues Etwas, dessen orangefarbene Glasaugen in den blauen Sommerhimmel blicken. „Das alles hier stammt nicht von uns. Das hat die Flut gebracht“, erklärt die 55-Jährige. Und die Fluten transportierten nicht nur Schlamm. Tierkadaver, darunter 95.000 Tonnen toter Fisch, schwammen in ihnen mit, 150 Tonnen Öl, Chemikalien von Fabriken und landwirtschaftlichen Dünge-Lagern, eine gesundheitsgefährdende Brühe. Dann kommt noch eine ganz andere Gefahr
hinzu. Auch Landminenfelder wurden ausgewaschen. Die Sprengsätze sind jetzt im ganzen ehemals überfluteten Gebiet verteilt. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz warnt eindringlich vor der Gefährdung der Zivilbevölkerung. „Jahr für Jahr haben wir für unser Haus geschuftet. Es Zimmer um Zimmer schön gemacht“, seufzt Oleksandr. Er arbeitet in einer Reparaturwerkstatt für Autos. Doch in der Stadt leben vielleicht noch 20 Prozent der ursprünglichen Bevölkerung. „Viele Kunden sind es nicht mehr. Ab und an Soldaten, die ihre Fahrzeuge reparieren lassen. So können wir nicht genug verdienen, um das Haus wieder flott zu machen“, sagt Oleksandr. Er hofft auf Aufbauhilfe vom Staat. Bis jetzt, sagt er, warte er da vergeblich auf verbindliche Zusagen. Immerhin ein Helfer schaut gerade vorbei. Vlad von der lokalen Organisation „Support Cherson“ bringt einen ganzen Schwung Mineralwasser-Flaschen vorbei. „Damit lässt es sich besser arbeiten“, sagt er lachend. Vlad ist ein Bär von einem Mann. Zu seiner Sicherheit trägt er Helm und schuss sichere Weste. „Die Russen schießen auch auf Helfer“, sagt er. Mehrere derartige Fälle wurden
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Victoriya führt aus dem Haus heraus. An der Aussicht verbessert sich nichts. Der ganze Garten ist ein Trümmerfeld. „Ich habe nicht einmal mehr die Kraft, auf die Russen wütend zu sein. Den Kachowka-Damm zu sprengen, was für ein Wahnsinn“, sagt die 55-Jährige. Das geschah am 6. Juni. Russland beschuldigt die Ukraine, den Damm beschossen zu haben. Die Indizien- und Faktenlage zeichnet jedoch ein anderes Bild – den einer Sprengung durch russische Kräfte.
Fakt ist vor allem das ungeheuere Ausmaß der Zerstörung, die das Unglück nach sich zog. Der Pegelstand des Kachowka-Stausees betrug am Tag des Unglücks 18 Milliarden Kubikmeter Wasser. Die Wassermassen wälzten sich 85 Kilometer lang längs des Dnipro bis zur Einmündung ins Schwarze Meer. Laut Angaben des ukrainischen Landwirtschaftsministeriums wurden dabei allein im Oblast Cherson 10.000 Hektar Fläche überflutet.
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Im Bad kann Victoriya die Tränen nicht mehr halten. Über den Boden ziehen sich Erdschlieren. Der Waschbecken-Unterschrank mit den goldenen Zierleisten ist aus dem Leim gegangen, seine Türen hängen aufgerissen und schief. Das Möbel ragt quer an der Wand. An den Wänden ziehen sich von oben bis unten Schlammspuren. Es stinkt erbärmlich, die Luft ist abgestanden und stickig. „Was waren wir stolz auf das schöne Badezimmer. Es war noch fast neu. Schauen Sie doch die schönen Fliesen“, sagt die 55-Jährige. Dann fährt sie mit der Hand über die Wandheizung, deren Chrom mit einer bräunlichen Schicht überzogen ist.
In einer großen Halle in der Stadt Cherson liegen Hilfsgüter für die Flutopfer bereit.
Im tief liegenden Korabelniy-Distrikt der Stadt Cherson ist der Schaden durch die Fluten besonders groß.
Das Wasser holt er im Stadtzentrum ab. Dort lagern in einem großen Saal die Hilfsgüter. Altkleider, Medikamente, Nahrungsmittel und Wasser. Die Halle ist voll. Eine Handvoll Menschen sucht nach passenden Kleidungstücken, eine Frau findet ein Paar Schuhe. Scheinwerfer
tauchen alles in ein buntes unwirkliches Licht. Ein Junge hat bei den Altkleidern zwei rosafarbene Hasenohren gefunden und sich auf den Kopf gesetzt. Er springt zwischen Kartons und Kleiderhaufen herum, während seine Mutter versucht, passende Hosen und Hemden zu finden. Die Helfer lachen, als sie den Jungen sehen. Helfer gibt es zum Glück viele. Vom Roten Kreuz bis zu lokalen Initiativen. Doch die Flutopfer werden einen Aufbaufonds benötigen, um ihre
beschädigten Wohnungen und Häuser wieder herzurichten. 37 Siedlungen, davon 17 im russisch besetzten Gebiet, waren überflutet. Allein im Oblast Cherson haben bisher 1424 Familien Hilfen bei staatlichen Stellen der Ukraine für den Wiederaufbau beantragt. Der Gesamtschaden ist noch nicht in seiner vollen Tragweite absehbar und wird ermittelt. Eine weitere traurige Geschichte der Zerstörung durch den Krieg, die in der Ukraine mittlerweile gigantische Milliardensummen ausmacht.
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berichtet. Selbst als Freiwillige die Flutopfer in Booten retteten, wurden sie beschossen. Vlad verteilt regelmäßig Wasser im Korabelniy Distrikt. Dort kommt kein Tropfen mehr aus den Wasserhähnen.
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Rechts: Für Victoriya brachte die Flut auch eine schwere psychische Belastung.
Tod
TOD AUS DER LUFT
Nahe Bachmut liefern sich ukrainische Soldaten mit den russischen Invasoren schwere Artillerie-Duelle. Längs der Frontlinie reihen sich zerstörte Siedlungen. Doch auch das Hinterland ist nicht sicher.
Bachmut-Front: Ukrainische Soldaten in Gefechtssituation an einer Paladin-Panzerhaubitze.
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aus der Luft
Bachmut-Front Mitte September 2023
„Hunde sind zuverlässig und treu“, sagt Igor. Schon wieder kracht ein Schuss Richtung der
An der Front sterben die meisten Soldaten nicht durch Schüsse, sondern durch Splitter von Granaten und Raketeneinschlägen. Jeder Kämpfer und jede Kämpferin weiß das. Darum sitzen die Soldaten von Igors Einheit wann immer möglich in ihren Unterständen.
Jetzt pfeifen russische Granaten über die Bäume. Ssssst. Der Einschlag kommt rund 300 Meter entfernt. Igor zieht sich ein wenig in den Unterstand zurück. „Der Tod kann jeden Augenblick kommen. Einfach aus der Luft und zack“, sagt Igor. Vor wenigen Tagen ging eine Granate nur wenige Meter entfernt herunter. „Da hing eine Kalaschnikow. Sie hat mir vielleicht das Leben gerettet. Ein Splitter ging direkt in die Waffe. Ich war direkt dahinter“, sagt der Soldat und deutet auf einen dicken Holzstecken, der vor dem Unterstand steckt.
Einige Kilometer entfernt liegt eine weitere Artilleriestellung der ukrainischen Armee. Das nächste Waldstück mit Erdbunkern und einer Panzerhaubitze unter einem gespannten Tarnnetz. Dort hämmert eine Gvodzika Panzerhaubitze aus sowjetischer Produktion zwei Schüsse in den Himmel. Besser, sie drängt damit gerade russische Soldaten zurück, die versuchen vorzurücken. Wadym macht ein zufriedenes Gesicht, als die Rückmeldung der Feuerleitstelle kommt. „Es scheint, wir haben sie vertrieben“, sagt er.
Drohnen am Himmel sind die Augen des Todes. Sie zeigen den Feuerleitstellen die Positionen des Feindes an. Dann werden diese unter Beschuss genommen. Igors Aufgabe ist es, die Drohnen abzuschießen. „Zwei Mal haben meine Kameraden und ich das schon geschafft“, sagt der 44-Jährige stolz und klopft auf sein Maschinengewehr neben sich.
Er diente schon 1986 als junger Rekrut in der Roten Armee während der Afghanistan-Invasion. „Das war nicht mein Krieg. Dieser ist es schon“, sagt der 56-Jährige. Die Panzerhaubitze ratterte schon zu Zeiten des Afghanistan-Kriegs auf ihren Ketten. Ein Veteran des Schlachtfelds. „Die deutsche M 2000 oder die polnische Crab, das wäre etwas“, sagt der Frontkämpfer. Aber die Gvodzika sei eine zuverlässige Arbeiterin. „Wenn wir nur endlich mehr Munition hätten. Dann würde es mit der Offensive schneller vorangehen“, sagt der 56-Jährige. Dann kommt eine Drohnenwarnung und die Soldaten verschwinden im Erdbunker. Es geht in die Erde gehackte Stufen hinab. Es ist dunkel dort. Nur eine kleine LED-Leuchte wirft spärlich Licht auf die mächtigen Holzbalken, die Wände und Decke bilden. Die Gesichter der Soldaten sind angespannt. Sie sitzen auf grob gezimmerten Hochbetten, verschwinden fast vollkommen in der Dunkelheit. Der russische Gegenschlag kommt. Bam, bam, bam, bam, sind dumpfe Schläge in schneller Folge zu hören. „Kasetni“, sagt einer der Soldaten, als er die detonierende Streumunition hört. Die
Einschläge sind zu weit weg. „Nichts, um sich zu sorgen“, sagt Wadym. „Aber nicht leichtsinnig werden. Das kann tödlich sein. Immer die Ohren auf. Hören, ob das Summen einer Drohne in der Luft ist, ein Jet oder Hubschrauber fliegt. Hören, wie weit entfernt andere Einschläge sind“, sagt der 56-Jährige zum Abschied. Das Krachen der Artillerie ist an der Front ein Dauerbegleiter. Bachmut liegt nur wenige Kilometer entfernt. Bachmut steht für den Wahnsinn des russischen Angriffskrieges, für eine unbändige Zerstörungswut der Invasoren. Monatelang schossen russische Truppen die Stadt in Trümmer, bevor sie sie Ende Mai 2023 vollständig erobern konnten.
Es war der einzige Erfolg der russischen Truppen auf dem Schlachtfeld im Jahr 2023: Die rücksichtslose Eroberung einer Stadt, die am Ende nur noch aus Ruinen bestand. Vermutlich zehntausende Soldaten beider Seiten verloren bisher ihr Leben. Die Schlacht um Bachmut ist noch nicht zu Ende. Sie bleibt einer der am härtesten umkämpften Frontabschnitte. Die ukrainischen Truppen versuchen, die Stadt einzuschließen und an den Flanken vorzurücken. Zäh kämpfen sie sich vor. Die Infanterie ist auf den Feuerschutz der Artillerie angewiesen. Luftunterstützung ist kaum vorhanden. Daher braucht es strategisch gesehen die Artilleristen mit ihren Gvodzikas, Paladins,
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Igor sitzt rund 50 Meter entfernt am Eingang eines Erdbunkers. Ein kurz geschnittener Bart rahmt ein freundliches Gesicht mit hellen und traurigen Augen ein. Der Paladin ist hinter Stämmen fast verschwunden. Doch der Hall beim Abfeuern klingt, als gäbe es nur wenige Meter entfernt Explosionen. Das Augenlid des 44-Jährigen zuckt kurz bei dem scharfen Knall. Dann erzählt er schon wieder weiter von Karma und Kara. Seinen beiden Französischen Bulldoggen. Der Soldat holt extra seinen Pad aus dem Bunker, um die Fotos der beiden Hunde zu zeigen.
russischen Stellungen nahe Bachmut. Igor lässt sich nicht beirren, spricht weiter. Es tut ihm gut, einen Zuhörer zu haben. Er berichtet von seiner Mutter, die am Tag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion geboren wurde. „Am 22. Juni 1941. Ist das nicht verrückt?“, fragt Igor. Dann schweigt er kurz. Bevor er erzählt, dass nach dem Tod seiner Mutter die Familie zerfiel. Auf unschöne Weise, wie er schildert. „Das war ein Grund, mich zur Armee zu melden. Und natürlich, um die Ukraine zu verteidigen“. Andere seiner Kameraden vermissen Frau und Kind. Igor hat nur seine beiden Hunde, die auf ihn warten. „Hoffentlich vergessen sie mich nicht“, sagt Igor.
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Der Boden bebt. Braaackk. Aus dem Kanonenrohr der Panzerhaubitze schießt Qualm. Eine dunkle Wolke umschließt in Sekundenbruchteilen das Rohr, verläuft sich dann als grauer Schleier zwischen den Bäumen der Stellung. Die Panzerhaubitze Paladin ist ein über drei Meter hohes, 23,5 Tonnen schweres Stahlungetüm, hergestellt in den Vereinigten Staaten. Es speit Feuer und Tod. Durch den Wald hallen krachend die Schüsse der abgefeuerten 155-Millimeter-Granaten. Es sind gewaltige Schläge.
Der Auftrag von MG-Schütze Igor ist es, Drohnen abzuschießen. Sie sind die feindlichen „Augen des Todes“.
Eine Gvodzika der ukrainischen Armee feuert an der Bachmut-Front.
Während in der Weltöffentlichkeit das Interesse an dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine abflaut, die internationale Medienberichterstattung schwindet, nimmt die Brutalität des Krieges zu. Längs der Bachmut-Front sind die Siedlungen zu Geisterdörfern geworden. Keines, in dem der Krieg nicht Lücken in die Häuserreihen gerissen hat. Verkohlte Balken ragen nach Einschlägen in Bauernhäusern in die Höhe. Geblieben sind fast nur noch wenige, meist alte Menschen. Die Jungen haben die Gefahr nicht mehr ertragen. Jederzeit kann eine Granate einschlagen.
Aber was ist sicher? Auch hier kann der Tod aus dem Nichts kommen. In den belebten Marktplatz schlug am 6. September eine Rakete ein. 16 Menschen starben. Eine russische S 300-Rakete, so die ukrainischen Offiziellen. Die New York Times spricht von einem Unglücksfall durch eine fehlgeleitete ukrainische Luftabwehrrakete. Das weist die ukrainische Seite empört zurück. Sicher ist, die vielen anderen Einschläge in der Stadt kamen durch gezielten russischen Beschuss von der nahen Front. Irena steht auf dem Marktplatz. Hinter ihr sind noch die Folgen des Raketeneinschlags zu sehen. Bei einer Boutique hat die Druckwelle die Schaufenster zerspringen lassen. Blumen auf dem Gehsteig erinnern an die Opfer, die der Einschlag forderte. „Selbst beim
Einkaufen ist man nicht mehr sicher“, sagt die 68-Jährige. Sie schüttelt traurig den Kopf. Mit ihrer pflegebedürftigen Mutter ist sie aus dem Donezker Kampfgebiet nach Kostjantyniwka geflohen. „Jetzt holt uns der Krieg wieder ein. Wieder fliegen die Granaten und Raketen“, sagt die Frau. „Aber für meine Mutter und mich ist hier Endstation. Meine Mutter schafft es körperlich nicht, noch einmal zu fliehen. Sie würde es nicht überleben. So können wir nur hoffen und beten“, erklärt die 68-Jährige. Dann kommen die Tränen, und sie geht hastig weiter. Wenige Minuten später heult die Sirene auf: Luftalarm.
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Die ukrainische Armee meldet jüngst die Rückeroberung der Dörfer Klitschtschijiwka und Andrijiwka. Vom letzten Ort läuft viral ein Video bei den ukrainischen Soldaten. Aufgenommen mit der Body-Cam eines Soldaten sieht man eine albtraumhafte Zerstörung. Häuser, deren Ruinen nicht einmal mehr aus Grundmauern bestehen. Es sind nur noch Schutthäufen mit abgebrannten Bäumen dazwischen.
Vom russisch besetzten Bachmut nach Kostjantyniwka sind es in Friedenszeiten nur 26 Kilometer. Jetzt liegt die Frontlinie dazwischen. An manchen Streckenstücken sieht man die Krater unzähliger Einschläge links und rechts der Fahrbahn – sie gleichen tiefen Dellen im Wiesengrün. Die Stadt selber gilt als halbwegs sicheres Hinterland.
TOD AUS DER LUFT
Crabs, Grad-Raketenwerfern, HIMARS und der Panzerhaubitze 2000.
DIE GEISTERSTADT
Die Geisterstadt Ein ukrainischer Soldat vor einer zerstörten Häuserreihe. Die russische Artillerie hat die Stadt unbarmherzig unter Feuer genommen. Doch die Invasoren konnten die Linien der Verteidiger nicht durchbrechen.
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DIE GEISTERSTADT
Seit 2014 liegt Awdijiwka nahe der Front. Die ukrainischen Stellungen halten, als die Full-ScaleInvasion Ende Februar 2022 beginnt. Die russische Offensive scheitert, dafür gehen Granaten, Bomben und Raketen auf die Stadt nieder. Fast niemand bleibt in diesem Wahnsinn.
Ein Bild, das von Gemütlichkeit erzählt. Doch es ist nur ein Schlagschatten, der täuscht. Drum herum gibt es wenig zu sehen, zu dem das Wort Gemütlichkeit passen würde. Marina ist Helferin. Hier unten im Keller eines Wohnblocks, gebaut zu Zeiten von Chruschtschow, finden Menschen Zuflucht. Vor den russischen Granaten beispielsweise, die in aller Regelmäßigkeit in der Stadt einschlagen. Im schützenden Keller einer ukrainischen Hilfsorganisation gibt es das, was in den Wohnungen und anderen Kellern fehlt. Elektrischen Strom, ein WLAN für das Internet und Hilfsgüter. Und wenn die Temperaturen weiter sinken: Wärme. „Wir haben Medikamente, Wasser,
Lebensmittel, Waschmaschinen und natürlich immer heißen Tee, Kaffee und Kekse“, zählt die 53-Jährige auf. Marina hat eine warme Stimme, ein gütiges und freundliches Gesicht. Ein Blick auf den Kellerraum hinter ihr wirkt ernüchternd. Gut 20 Menschen sitzen hier auf Stühlen mit schwarzem Kunststoffbezug. Kaum eine laute Stimme ist zu hören, es herrscht eine bedrückende Stille. Drei, vier Männer lehnen sich an Pfeiler aus Stahl, die zusätzlich die Decke abstützen. Falls das Haus einen Treffer bekommen sollte. Der Raum ist notdürftig eingerichtet. Es gibt noch drei weiße Tische sowie eine Theke für die Hilfsgüterausgabe. Draußen scheint die Sonne. Doch kein natürliches Licht fällt in den Raum. Die Kellerfenster sind zur Sicherheit mit schweren Holzplatten vernagelt, davor hängen eine ukrainische Fahne und eine weitere mit dem Wappen von Irpin, die Unterstützer mitgebracht hatten. „Die Zeit schleicht zäh dahin“, sagt ein Mann, der sich die Mütze tief in die Stirn gezogen hat. Nur das Zeitgefühl geht im künstlichen Licht des Schutzraums schnell verloren.
Der Krieg hat die Anwesenden ausgezehrt. Hagere Gesichter, traurige und müde Augen blicken den ungewohnten Besucher an. Ein Rentner ist mit seinem Smartphone online gegangen und tippt mühsam Nachrichten an seine Verwandten hinein. Langsam kreist sein Finger suchend über dem Display. Es sind kaum Junge, die hier zu sehen sind, deutlich mehr Männer als Frauen. 1800 Menschen leben noch offiziell in der Stadt, die 2019 rund 35.000 Einwohner zählte. Eltern ist es per Gesetz verboten, ihre Kinder in dieser gefährlichen Situation in der Stadt zu lassen. „Wir haben schwere Zeiten hinter uns. Einen kalten Winter in Kellern, die Einschläge von Bomben, Raketen, Granaten“, sagt die 53-Jährige. „Aber was soll’s, wir versuchen zu lächeln“, schiebt sie hinterher. Dann stellt sie den Kater auf seine vier Pfoten, läuft zur Theke und gibt weiter Kaffee und Tee aus. Die Menschen hier im Stich zu lassen, für Marina ist das keine Überlegung wert. Geht man über glatte Betonstufen wieder ans Tageslicht, ist schnell verständlich, was Marina mit schweren Zeiten meint. Kaum ein Haus im
Umfeld, das nicht beschädigt oder zerstört ist. Gleich ums Eck glotzen leere Fensterhöhlen auf die Straßen. Ragen Balken eines ausgebrannten Dachs in den Himmel. Keine 500 Meter weiter rauchen noch die Trümmer nach einem Einschlag in einem Hochhaus. Ganze Stockwerke sind nach unten gebrochen. Jetzt steht es da wie ein verkohltes Puppenhaus, völlig offen auf einer Seite. Ein gewaltiger Schutthaufen türmt sich im Bereich des Erdgeschosses auf. Darüber wie ein grauer Schleier der Rauch. Nicht weit entfernt ein Supermarkt. Ein Blick durch ein zerbrochenes Schaufenster fällt auf leere Regale im Halbdunkel, Kassen stehen wie im Nichts. Der große Kindergarten in 300 Meter Entfernung: zerstört. Eine Puppe mit blondem Haar und ein pinkfarbenes Stofftier liegen nahe dem Eingang. Sie erzählen davon, dass hier einmal Kinder gespielt haben. Die Puppe hat die Beine verdreht, ein groteskes Bild vor einer Ruine. Ein Schulgebäude: zerstört. Der Basar: zerstört. Die Metallverkleidung der Buden nach einem Treffen zusammengeknüllt wie Papier. Die nächste Häuserzeile an der Straße verrußtes Mauerwerk, eingefallen: Alles ist zerstört, zerstört, zerstört.
Die Abwesenheit der Menschen, die hier lebten, macht sich bemerkbar. Ein Radler fährt einsam auf der leeren Straße an den Fassaden von ausgebrannten Häusern vorbei. An den Rändern der Gehsteige links und rechts wuchert schon das Unkraut in die Höhe. Es herrscht eine beklemmende Stille. Keine Autos sind zu hören. Keine Passanten zu sehen. Keine Kinder, die lärmen. Nur ab und an dumpf in der Ferne Schüsse der Artillerie.
ukrainischen Verteidigern gelang es, die Linie zu halten, als Russland am 24. Februar 2022 die Panzer zur großen Invasion rollen ließ. Eine Schmach für die Aggressoren, Donezk, seit 2014 unter russischer Kontrolle, liegt keine 17 Kilometer entfernt. Awdijiwka blieb unter Kontrolle der ukrainischen Verteidiger. Doch die Menschen, die dort lebten, sind fast alle verschwunden. Vor dem Wahnsinn des Beschusses geflohen.
Die Menschen von Awdijiwka mussten seit Kriegsbeginn im Jahr 2014 einiges ertragen. Die Stadt mit ihrer großen Kokerei war immer wieder umkämpft. Die Frontlinie im ehemaligen Industriegebiet galt für viele Ukrainerinnen und Ukrainer seit Jahren als ein Begriff für den Krieg im eigenen Land: Promka. Hier wurde jahrelang in einem von Europa vergessenen Krieg gekämpft und gestorben. Die Kinder in Awdijiwka wussten schon vor der Invasion 2022, wie sich das Bellen eines Maschinengewehrs anhört. Wie es klingt, wenn eine Granate abgefeuert wird oder sie einschlägt.
Die russische Invasion scheiterte in diesem Frontabschnitt von Anfang an. Putins Soldaten ließen die Stadt und ihre Bewohner dafür bitter bezahlen. Immer wieder gerät die Stadt unter Beschuss. Am schlimmsten kommt es im März 2023. Danach sind endgültig große Teile der Innenstadt zerstört. Awdijiwka haben da schon über 90 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner verlassen. Wie es in so vielen anderen Dörfern und Städten im Donbas geschehen ist. In Frontnähe haben sich Leere und Zerstörung ihren Raum erobert. Millionen Menschen sind vor den Kämpfen geflohen. Städte wie Bachmut bestehen nur noch aus Trümmerfeldern. Ganze Siedlungen sind nur noch Schutthaufen.
Die Schützengräben sind die gleichen geblieben. Sie ziehen sich auch heute durch die Ruinen von Hallen und Fabrikgebäuden der Promka. Den
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Marina hat eine ausgesprochen beruhigende Ausstrahlung. Selbst Hund und Katz kommen bei ihr miteinander klar. „Na ja, etwas misstrauisch schauen die Katzen dann doch bei den anderen Vierpfotern“, sagt die 53-Jährige. Sie knuddelt zwei Hunde, die auf sie zutraben. Zaghaft mit dem Schwanz wedeln, die Köpfe an ihre Knie drücken. Hinter ihnen tappt ein Kater. Marina nimmt ihn hoch, das Tier schnurrt bald in ihrem Arm.
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Awdijiwka Ende September 2023
Eine Handvoll geöffneter Läden, das ist noch das Wenige an Normalität, das in Awdijiwka geblieben
ist. Von Hilfsorganisationen erhalten die Menschen Grundnahrungsmittel. Wenn es um zusätzliches Obst, Dosenfleisch und frisches Gemüse geht, ist man bei Ina genau richtig. Die 50-Jährige arbeitet in einem kleinen Tante-Emma-Laden. Hinter ihrem Rücken reihen sich die Regale bestückt mit Dosen, Nudel-Tüten, Kaffee-Packungen und Einmach-Gläsern. „Seit 2014 kennen wir in Awdijiwka den Krieg nur zu gut. Aber dass es so schlimm wird, ich hätte es nie gedacht. Der Winter
wird hart werden. Trotzdem will ich die Menschen hier nicht im Stich lassen.“ Dann kommt ein Mann aufgeregt in den Laden. Nicht weit entfernt würde nach einem Einschlag eine Tote liegen, erzählt er. „Vermutlich schon seit zwei, drei Tagen. Kann irgendjemand hier die Polizei anrufen, damit sie geborgen wird?“, fragt der hagere Mann. Bevor er mit seinem Fahrrad weiterfährt.
Nach einem Einschlag rauchen noch die Trümmer in einem Haus.
Ein Soldat im Laden verspricht, sich zu kümmern. Ina blickt erschüttert. Was für eine schlimme Nachricht. Dabei hatte der Tag so gut begonnen. Ein Kunde hatte Ina und ihrer Kollegin Rosen vorbeigebracht. Gefreut hatten sich die beiden Verkäuferinnen riesig über das Dankeschön. Die Rosen stehen mitten auf der Verkaufstheke. Trauer, Angst und Hoffnung liegen oft nahe beieinander in Awdijiwka.
Das Ausmaß der Zerstörung in Awdijiwka ist enorm. Kein fließendes Wasser, kein Strom. Schutzräume in Kellern sind Zufluchtsorte. Es wird ein harter Winter werden für die, die geblieben sind.
DIE GEISTERSTADT
Der Krieg nimmt in den Frontgebieten an Härte zu. Zugleich schwindet seine Bedeutung in der öffentlichen Wahrnehmung in Deutschland und vielen europäischen Ländern. Das kann verhängnisvoll sein. In Awdijiwka kann man an den Ruinen ablesen, wie die Folgen aussehen, einen Krieg mitten in Europa acht Jahre lang zu verdrängen.
Ina arbeitet in einem Lebensmittel-Laden. Dass er noch geöffnet hat, gibt den Menschen ein wenig Normalität im Wahnsinn des Krieges. Ein Kunde hat ihr und einer Kollegin sogar Rosen als Dankeschön gebracht.
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Marina arbeitet als Helferin in einem Schutzraum. Den Menschen gibt sie ein Stück Hoffnung und Zuflucht, Hunde und Katzen erhalten garantiert eine Streicheleinheit von ihr.
und ein Baum
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Svitlana hat ihren Mann im Krieg verloren, ihr Heimatort steht unter Besatzung. Russische Soldaten quälten sie dort über Monate. Mit ihren zwei Kindern ist sie nach Kyjiw geflohen. Dort will sie einen Ort für Trauernde schaffen.
Soldatengräber in einem Außenbezirk von Kyjiw.
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1000 Tulpen
Kyjiw / Oblast Luhansk Anfang Oktober 2023
Svitlana spielt mit ihrer Tochter Polina. Sohn Igor liest. „Er ist so still geworden. Meine Kinder müssen so tapfer sein“, sagt die Mutter.
Bald kommt die erste Hausdurchsuchung. „Sie haben alles von unten nach oben gedreht. Ich
Dreimal in der Woche wird Svitlana von den russischen Besatzern abgeholt und zum örtlichen Hauptquartier gebracht. Woche für Woche geschieht das. Es folgen sinnlose Befragungen und dann Schläge, Tritte, Misshandlungen, Demütigungen. „Sie haben alles mit mir gemacht, was noch keine Vergewaltigung ist“, beschreibt die Witwe. Im Ort steht ihr niemand bei. Svitlana züchtete Blumen und verkaufte sie. Ihre ehemaligen Kunden, die einst ihre Blumenbouquets lobten, sie schwei-
gen. „Vermutlich hatten sie Angst, dass sie dann mit den Russen Probleme bekommen. Andere fanden sich schnell in ihre Rolle als Kollaborateure“, fügt sie hinzu. Vom Tod ihres Mannes erfährt sie durch einen Anruf von dessen Kommandanten. Für Svitlana bricht endgültig eine Welt zusammen. „Er wird in Dnipro beigesetzt“, sagt der ukrainische Offizier. Die Ehefrau will Abschied von ihrem Mann nehmen. Die russischen Besatzer erlauben ihr die Ausreise aus dem Ort nicht. Zwei Tage später holen sie sie wieder ab. „Es war ein junger Soldat dabei. Er klingelte an meiner Türe. Er konnte mir nicht in die Augen sehen. ,Mein Beileid‘, stammelte er. Dann ging er zum Wagen zurück. Ich habe ihn weinen gesehen. Seine Kameraden waren aus einem anderen Holz. Sie haben mich dann geholt. Ich wurde dann misshandelt wie immer.“ Svitlana findet die Kraft nicht, der Tochter vom Tod ihres Vaters zu erzählen. Ihr Sohn Igor hört das Gespräch mit dem Kommandanten seines Vaters. Seine Mutter bittet ihn, der Schwester nichts zu erzählen. Polina erfährt erst Monate später, dass ihr Vater tot ist.
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Der russische Großangriff auf die Ukraine dauerte seit 50 Tagen an, als Volodymyr, Svitlanas Mann, fiel. „Er diente als Grenzschützer, 2014 hatte er schon im Donbas gekämpft“, sagt Svitlana am Küchentisch. Dann beginnt sie zu berichten. Als ihr Mann ums Leben kommt, erlebt Svitlana schon seit Wochen einen Albtraum. Zuhause ist sie in einem kleinen Grenzort im Oblast Luhansk. Er wird schon im März 2022 von russischen Truppen eingenommen. „Sie wussten, dass mein Mann Grenzschützer war“, sagt sie.
weiß nicht, was sie gesucht haben. Mein Mann war Unteroffizier, kein hoher Militär“, erklärt sie. Sie finden das grüne Barett von Volodymyr. „Meine kleine Polina war da gerade vier Jahre alt. ,Das gehört doch Papa, lasst es liegen‘, hat sie gerufen“, sagt Svitlana. Die russischen Soldaten schieben das Kind beiseite. Tragen alles zusammen, was Bezug zur Ukraine hat. Bücher in ukrainischer Sprache, eine Fahne, Bilder, das Barett, Uniformteile. Dann haben sie es vor dem Haus angezündet“, sagt Svitlana. Die Nachbarn sahen zu. 20 Gaffer standen herum. „Einer von ihnen kam dann auf mich zu, schlug meinen Kopf gegen eine Wand. Beschimpfte mich als Nazi“, schildert die 36-Jährige, was geschah.
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Svitlana hat Kuchen mit Zuckerguss gekauft. Sie schneidet ihn, brüht frischen Tee auf. Das Gebäck schmeckt zu süß für die bittere Geschichte, die folgt. Svitlana sitzt am Tisch in ihrer schlichten Küche in einem Hochhaus in den Außenbezirken von Kyjiw. Die 36-Jährige trägt Schwarz. Nebenan, im Wohnzimmer, hängen die Fotos ihres Mannes. Er trägt Uniform und blickt ernst aus dem Bild. Neben einem Rahmen liegt ein Orden. Auf dem Board an der Seite sind die Stofftiere der Tochter Polina zu sehen. Ein schmerzhafter Hintergrund für die Fotos eines Toten.
Oben: Witwe Svitlana in der Küche ihrer Mietswohnung. Unten: Kriegerwitwe Svitlana und ihre Kinder Igor und Polina. Das Erlebte brachte eine schwere Stille in die Familie.
Ein Kamerad ihres Mannes rät ihr, nach Kyjiw zu kommen. Monatelang ist ihr Zuhause ein Zimmer in einer Einrichtung für Menschen mit Autismus. „Wir hatten keine Betten, nur Matratzen. Aber wir
„Die ersten Monate hat uns die Caritas die Miete für diese Wohnung bezahlt. Wir waren praktisch völlig mittellos“, sagt Svitlana. Mittlerweile hat die 36-Jährige in der Einrichtung für Autisten eine Festanstellung bekommen. „Nachdem wir alles verloren haben, tut es gut, stark zu sein, helfen zu können“, sagt die Witwe. Lebensunterhalt und Miete kann sie für sich und ihre Kinder bestreiten. Eigentlich steht ihr eine Witwenrente, eine Zahlung, zu. „Doch bis das Geld bewilligt wird, kann es noch dauern. Es gibt so viele Witwen“, sagt die Mutter. Und alles Geld dieser Welt könnte den Verlust nicht auffangen. Svitlana muss den eigenen Schmerz ertragen und sich zuerst um ihre Kinder kümmern. Vor allem Igor macht ihr Sorgen. „Er zieht sich in sich zurück. Ich hatte gehofft, vielleicht findet er durch Judo oder einen anderen Sport Kraft. Aber es ist wohl noch zu früh dafür“, sagt die Mutter leise. Igor sitzt dann oft in sich gekehrt in seinem Sessel neben dem Fenster. „Er
ist so still geworden. Meine Kinder müssen so tapfer sein“, sagt die Mutter. Die kleine Polina hat von den Grenztruppen ein Barett bekommen. Eines, wie es ihr Vater trug. „Für Polina ist es das Barett ihres Vaters. Sie ist so stolz darauf. Es gibt ihr Mut“, meint Svitlana. Sie geht ins Wohnzimmer zu ihren Kindern und den Bildern ihre Mannes. Igor und Polina sind still. Der Junge liest und Polina spielt mit einem Einhorn-Kuscheltier. Nicht weit entfernt liegt das Barett auf einem Kissen. „Polina liebt Einhörner“, erklärt die 36-Jährige lächelnd und spielt ein wenig mit ihrer Tochter. Die beiden reden dabei leise miteinander, flüstern fast. Im Raum ist noch ein anderes Bild. Svitlana hat es mit Acryl auf Leinwand gebracht. „Es war ein Malprojekt mit anderen Witwen. Das Malen hat mir gut getan, aber auch, mit Frauen zusammen zu sein, die die gleiche Trauer wie ich zu bewältigen haben. Letztendlich können nur sie verstehen, was der Verlust für mich bedeutet. Das können alle Therapiestunden nicht ändern.“ Svitlana will verarbeiten, indem sie anderen hilft.
„Ich belege gerade einen Kurs, um später mit Gesprächstherapien helfen zu können. Ehrenamtlich engagiere ich mich ebenfalls bei einer Hilfsorganisation.“ Hat Svitlana ein freies Wochenende, fährt sie oft nach Dnipro zum Grab von Volodymyr. „Es ist schwer, hier in Kyjiw keinen Ort zum Trauern für ihn zu haben“, erklärt die 36-Jährige. Sie träumt von einem Projekt. Sie will einen Baum für ihren Mann pflanzen mit 1000 weißen Tulpen. Einen Ort hat sie schon gefunden: im Botanischen Garten von Kyjiw. „Ich habe die Erlaubnis bekommen und einen Platz zugewiesen bekommen. Sobald ich das Geld zusammen habe, beginne ich mit dem Pflanzen.“ Der Baum und die Blumen, sagt sie, sollen auch anderen Witwen Mut machen. Sie sollen die Menschen daran erinnern, welche Opfer für diesen Krieg gebracht werden. Es sind schon so viele Trauernde.
1000 TULPEN UND EIN BAUM
Es ist Sommer, als Svitlana mit ihren beiden Kindern am Grab von Volodymyr steht. Sie nehmen an seinem Soldatengrab Abschied. Neben dem Holzkreuz weht die aufgepflanzte ukrainische Flagge. Es sind so viele Flaggen, die hier wehen. Jede Fahne im Wind bedeutet einen Gefallenen, meist eine Witwe wie Svitlana und Halbwaisen wie Igor und Polina.
waren froh, ein Zimmer, ein Dach über dem Kopf zu haben. Die Leiterin der Einrichtung ist ebenfalls Witwe.“
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1000 TULPEN UND EIN BAUM
Die 36-Jährige weiß, dass sie die Misshandlungen nicht mehr lange erträgt. „Zudem hat nichts geklappt unter der Besatzung. An allen Ecken standen Soldaten, aber Brot gab es keines im Laden“, erklärt Svitlana. Sie verkauft ein Auto – deutlich unter seinem Wert. Mit dem Geld zahlt sie Schlepper aus dem Ort. Sie versprechen ihr, sie durch die russischen Check-Points bis nahe zur ukrainisch gehaltenen Seite zu bringen. „Die letzten Kilometer mussten wir dann laufen. Zwei Koffer schleppte ich mit. Unser ganzes altes Leben war darin verstaut“, sagt die Mutter.
GAMER-LOOK IM ERDBUNKER
Wolodymr ist Prothesenträger. Eine Landmine riss ihm einen Teil des Beins weg. Wird im Laufe des Herbstes der Boden in den Stellungen zum Schlamm, kann er seinen Dienst als Drohnen-Spezialist vor Ort nicht mehr versehen.
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GAMER-LOOK IM ERDBUNKER
Drohnen spielen im russischen Angriffskrieg auf beiden Seiten eine wichtige Rolle. Über den Köpfen der Soldaten im Donbas findet eine todbringende Evolution statt. An der Bachmut-Front unterwegs mit Piloten der Kamikaze-Version.
Gamer-Look im Erdbunker
Das Endresultat seiner Arbeit ist eine einsatzbereite Kamikaze-Drohne, Marke Eigenbau. Die Drohne selbst war von den Entwicklern als Fluggerät für sportliche Wettbewerbe gedacht. Sie fliegt über 100 Stundenkilometer schnell. Ein schönes Hobby-Spielzeug für Turniere in friedlichen Zeiten. Jetzt ist sie der fliegende Tod. In
1,5 Kilometern Entfernung ziehen sich die Gräben und Stellungen der russischen Armee an der Bachmut-Front. Vor Wolodymr liegen auch ein Erdbunker und einige Meter Schützengraben, die vermutlich noch russische Soldaten in den Boden gehackt haben. Bevor sie zurückgedrängt wurden. „Ich denke, das hier war eine russische Stellung. Genau weiß ich es nicht, wir haben den Ort zugewiesen bekommen. Deswegen vorsichtig sein. Alles drum herum ist vermutlich vermint“, sagt Wolodymir. Der Posten liegt in einem kleinen Waldstück. Unter Bäumen und von einem Tarnnetz bedeckt steht ein Geländewagen in tief-dunklem mattem Grün. Die Satellitenschüssel von Starlink ist aufgeklappt. Alles ist bereit für den Einsatzbefehl. Der kommt keine Viertelstunde später. Wolodymr nimmt die Drohne und geht zum Startpunkt auf einer nahen Wiese. „Die Zeit immer kurz halten, wenn man keine Bäume zur Deckung hat. Auch die Russen senden Drohnen und nicht zu wenige“, sagt der 47-Jährige und geht los. Im Wiesengrün steht kniehoch ein schwarzes Metallgestell. Wolodymr legt das Fluggerät auf zwei Eisenstangen auf. Dann kommt
er zurück. Seine Schritte auf dem unebenen Boden wirken steif. Der Soldat ist Prothesenträger. Die Explosion einer Landmine riss am 18. Oktober 2022 einen Teil des Beins ab. „Die Prothese habe ich in Deutschland bekommen. Sie ist absolut top. Deutsche Unterstützer wurden zu guten Freunden. Ich bin ihnen sehr dankbar“, sagt er, als er die Stufen zum Bunker herabsteigt. Wolodymr schiebt die dunkle Decke beiseite, die im Eingang hängt. Dahinter sitzen in der Dunkelheit zwei Drohnen-Spezialisten. Im Eck brennt und qualmt eine Funzel und wirft flackerndes Licht auf die Erdwände. „Die Drohne ist bereit“, ruft der 47-Jährige den Männern zu. Beide ziehen ihre Virtual-RealityBrillen über. Der Linke, quasi ein Art „Commander“, ist im Zoom-Chat mit anderen Drohnen-Einheiten, der Rechte wird gleich die Drohne steuern. Das Ziel für einen Angriff der Kamikaze-Drohne steht fest. Dafür haben Aufklärungsdrohnen gesorgt, die Daten kommen im Zoom-Chat. „Beim Start müssen alle im Bunker sein. Die Kamikaze-Drohne ist Eigenbau, wenn etwas schief geht: Bummm“, Wolodymr lacht trocken in der Dunkelheit. Vor den beiden Drohnen-Spezialisten
steht ein offener Metallkoffer. Das High-Tech-Herz im Raum: Das Endstück zur Starlink-Verbindung ist darin zu finden und ein blau leuchtender Monitor wirft sein Licht. Nach dem Einsatz werden darin zusätzlich zwei Pads, die Virtual-Reality-Brillen und Steuereinheiten verpackt. Auf einem der Pads leuchtet jetzt Kartenmaterial. Mit dem zweiten ist der „Commander“ in der Zoom-Konferenz mit anderen Teams. Der Drohnenpilot navigiert mit einer Steuerungskonsole die Kamikaze-Drohne zum Ziel: eine Stellung der russischen Armee. Der Start klappt. Die beiden Drohnen-Männer wirken wie Gamer in dem Blaulicht, das der Bildschirm auf sie wirft. Um sie herum Dämmerlicht, schwarze Erdwände. Es ist ein unwirkliches Bild. Aber es ist kein Spiel. Die beiden tragen nicht ohne Grund Camouflage und Schutzweste. Von draußen ist immer wieder der Klang der nahen Artillerie zu hören. Das Krachen der abgefeuerten Schüsse aus benachbarten ukrainischen Stellungen. Der dumpfe Ton der russischen Einschläge im Umfeld. Der Drohnenflug hat das Ziel, Tod und Zerstörung zu bringen. „Es ist unsere Arbeit, dem Feind zu
schaden. Mit unseren Drohnen greifen wir Versorgungsfahrzeuge für Munition und Kraftstoffe an, Panzer oder wie jetzt direkt die Stellungen. Sind wir erfolgreich, habe ich ein gutes Gefühl. Treffen wir unser Ziel jetzt nicht, sterben Kameraden, die vorrücken“, sagt Wolodymr. „Ein Ziel zu finden, das braucht oft viel Aufklärung. Es bedeutet geduldige Vorarbeit. Mitunter mehrere Teams helfen dabei zusammen. Ein Drohnenpilot arbeitet nicht alleine“, fügt der 47-Jährige hinzu. Er erzählt, wie er in Bachmut eine Stellung russischer Drohnenpiloten zerstörte. Besser die Granate der Kamikaze-Drohne, die er flog. „Die Stellung befand sich in dem oberen Stockwerk einer Ruine eines großen Wohnkomplexes. Die feindlichen Drohnen hatten uns herbe Verluste zugefügt. Meine Kameraden hatten mit ihren Aufklärungsdrohnen den Ausgangspunkt gefunden. Das genaue Fenster, hinter dem sich die Drohnen-Piloten verbargen. Dann war ich an der Reihe.“ Dann war da noch eine mobile TorFlugabwehreinheit, die er mit seiner Drohne traf. Kostenpunkt: 2,5 Millionen Euro. Oft steuert Wolodymr selbst eine Drohne, manchmal ist es seine Aufgabe, sie vorzubereiten. Heute steuert ein junger, bärtiger Mann mit
Kampfnamen „Valencia“ das Fluggerät. Den Mund leicht geöffnet, lehnt er sich mit dem Rücken an die Wand hinter ihm zurück. In seinen Gesichtszügen steht völlige Konzentration. Dann legt er nach wenigen Minuten plötzlich den Joystick zur Seite, zieht die Brille herunter. „Erledigt. Jetzt eine Zigarette“, sagt er kurz. Als das Team vor dem Erdbunker steht, ist in der Ferne ein Hubschrauber zu hören. Ein Maschinengewehr rattert. Zur Sicherheit geht es in den Bunker zurück. Valencia reicht eine Brille weiter. „Das zeigt die letzte Minute vom Flug der Drohne“, sagt er. Der Journalist sieht, wie sich die Drohne einem Schützengraben nähert. Die Spitze der Granate ist immer im Bild. Der Graben ist menschenleer. Die Drohne verharrt kurz, richtet sich aus. Dann fliegt sie auf den Eingang eines Erdbunkers zu, in den sich vermutlich russische Soldaten zurückgezogen haben. Die Drohne fliegt zielgenau in den Eingang. Das Bild ist kurz schwarz, die Explosion, ein Flimmern und Rauschen. Ende der Übertragung. Der getroffene Erdbunker der russischen Armee sah aus wie der Erdbunker, in dem Wolodymr und
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Wolodymr macht die Drohne bereit. Die Panzerfaust-Granate glänzt grün und wie poliert. Der 47-Jährige zieht sie vorsichtig durch weiße Kabelbinder-Schlaufen. „Immer mit der Ruhe“, brummelt er zu sich. Zurrt die Schlaufen zu. Die Granate ist fixiert. Dann greift er nach einem blauen Päckchen. Die Batterien werden oben auf die Drohne gepackt, die Granate hängt unten, dazwischen liegt die Kamera. Dann die Kabelbinder mit viel Fingerspitzengefühl, aber fest angezogen. „Und fertig“, sagt der 47-Jährige nach einigen Minuten, hebt die Drohne in die Luft. Wolodymr blickt zufrieden unter seiner Schutzbrille. Ein grauer Kinnbart umspielt sein Lächeln. Der Mann steht da in voller Kampfmontur. Die schwere Schutzweste, Knieschutz, Stiefel, Helm, Fingerkuppen-freie Kampfhandschuhe. Wie ein Ritter, aber in einem Hightech-Krieg.
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Bachmut-Front Ende Oktober 2023
Wolodymr bereitet die Kamikaze-Drohne für den Einsatz vor.
„Diese digitale Zeit ist verrückt. Selbst als ich mein Bein verloren habe, ein Kamerad hat es mit seiner Bodycam gefilmt“, sagt der Soldat mit Prothese. Er hat sich den Clip auf das Smartphone geladen. Da sieht man ihn, wie er in einem Waldstück nahe einem Weg im Unterholz liegt. „Zum Glück habe ich das Bewusstsein behalten. Keiner konnte zu
Dann geht es für das Drohnen-Team zurück ins Hinterland. Der Geländewagen rattert über Feldwege. Nicht weit entfernt klingt das Knarzen von Abwehrfeuer. Irgendwo muss eine russische Drohne in der Luft sein. Dann kommen verlassene und zerstörte Dörfer. Ein Schützenpanzer mit einem halben Dutzend Soldaten auf dem „Rücken“ verschwindet in einer Staubwolke zwischen Ruinen. In der Kleinstadt Kostjantyniwka angekommen, geht es zu der kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung, die Wolodymr mit zwei weiteren Soldaten bewohnt. Der 47-Jährige nimmt im engen Flur seine Prothese ab. Es ist ein Hightech Modell, das mit einer regelrechten „Schwungfeder“ im Fußteil endet.
„Ich kann gar nicht sagen, wie dankbar ich für diese moderne Prothese bin. Für die Behandlung im Bundeswehrkrankenhaus in Berlin“, erklärt er. Sechs Monate brauchte es nach der Verwundung, bis er wieder in den Einsatz ging. Es waren heute lange und körperlich anstrengende Stunden für ihn. Trotz seines durchtrainierten Körpers. Mit seinem Stumpf gleitet er in seine Ersatzprothese. Es ist Zeit, sich eine kleine Pause zu gönnen. Das Smartphone brummt. Seine 15-jährige Tochter schickt eine Nachricht. Der Teenager macht sich jeden Tag Sorgen um den Vater im Einsatz. Die beiden führen ein kurzes Video-Gespräch, anschließend begleicht Wolodymr noch eine Rechnung online. Später wird er in einer nahen Wohnung noch Drohnen für den morgigen Tag vorbereiten. Am frühen nächsten Morgen geht es wieder in den Einsatz. Vielleicht wird er dann die Drohne steuern. „So lange es für mich vom Wetter möglich ist, gehe ich an die Front. Zu viel Schlamm im Herbst, dann muss ich mit meiner Prothese hier zurückbleiben. Sie würde regelrecht stecken bleiben. Da hilft alle digitale Technik nicht“, sagt der 47-Jährige zum Abschied.
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Beide Seiten versuchen, mit Störsendern die Flüge des Feinds zum Absturz zu bringen. Über den Köpfen der Soldaten in den Gräben und Stellungen des Donbas findet längst eine Evolution des Drohnen-Kriegs statt. Wie bei den brachialen Artilleriegefechten stehen als Ziel Tod und Zerstörung.
mir. Es lagen ja vermutlich weitere Minen im Umkreis“, berichtet er. So sieht man im Clip, wie ihm die Kameraden ein Seil zuwerfen. Er sich daran festklammert, die Kämpfer ziehen ihn auf den sicheren Weg. Sie binden ihm das Bein ab. Die Kamera fängt betroffene Gesichter ein. „Ich habe wegen des Schocks gar keine Schmerzen gehabt. Und später … Ich kann es gar nicht mehr sagen“, sagt Wolodymr.
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seine Kameraden Schutz suchen. „Eine russische Drohne kann auch uns jederzeit treffen. Jetzt und hier. Sie schicken immer mehr und mehr“, sagt der 47-Jährige. Es ist ein tödlicher Wettlauf der Drohnen-Kämpfer an der Front nahe Bachmut. Drohnen sind effektiv. In der Aufklärung unverzichtbar. Einfache, aber effektive Kamikaze-Modelle kosten kaum mehr als 600 Euro. Sie töten und können Kriegsgerät zerstören, das hunderttausende und mehr Euro kostet.
Kameraden auf vier Pfoten KAMERADEN AUF VIER PFOTEN
Stas hält seinen Kameraden Buddy im Arm.
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In den Bunkern an der Front im Donbas halten nicht nur Menschen die Stellung. Katzen und Hunde stehen ihnen zur Seite. Streicheleinheiten helfen, dem Wahnsinn des Kriegs die Stirn zu bieten. Denn der geht immer mehr an die Substanz.
Bachmut-Front Anfang November 2023
Die Sanitäterin hat Dienst im Abschnitt. Sie hat Mona mitgebracht und eine lange Umarmung für
Doch der Feind ist nicht weit entfernt. Ein scharfes „Brack“. Der Knall einer abgefeuerten Mörsergranate ist aus der Ferne zu hören. Vermutlich ist das Herrchen von Buddy im Einsatz. Er bedient gerade den Granatwerfer, der 200 bis 300 Meter entfernt auf die nahen russischen Stellungen feuert. Zwischen Granatwerfer und Bunker liegt ein kleines Waldstück. In sicherer Entfernung ist dann ein Einschlag einer russischen Granate zu hören. „Er hat seinem Hund sein Leben zu verdanken“, sagt Stas über seinen Kameraden. Der 36-Jährige erzählt, wie Buddy eines Nachts wieder einmal richtig Remmidemmi im Bunker macht. „Uns wurde es zu bunt, und wir haben Buddys ,Chef‘ gerufen. Er stand oben nahe dem Eingang und rauchte eine Zigarette. Dann kam er nach unten. Zack, schlug eine Granate ein. Genau dort, wo er
zuvor stand“, berichtet Stas. Buddy ist also ein echter Glückshund. Dem Tod waren sie alle im Bunker schon nahe. Jeder hier hat Kampferfahrung, alle drei Soldaten sind seit Beginn der groß angelegten Invasion im Einsatz. „Wir haben Mykolajiw verteidigt, an der Cherson-Front gekämpft. Es war die Hölle. Uns sind die Geschosse um die Ohren geflogen. Aber auch hier ist es hart“, meint Stas. Immer wieder schlagen Granaten in ihrer Nähe ein. Dann geht ein Zittern durch die Wände, durch die zusammengefügten Holzbretter und Platten, auf denen die Soldaten schlafen. „Vor allem Drohnen sind eine Gefahr. Da sind die Kamikaze-Drohnen, die uns jagen. Oder Aufklärungsdrohnen, die das Artilleriefeuer der Russen auf uns lenken, wenn sie uns entdecken“, erklärt Stas. Die Hunde dürfen deswegen nur aus dem Bunker, wenn die Soldaten ebenfalls an der frischen Luft sind. „Die Hunde könnten unsere Position verraten, wenn sie von der Kamera einer Drohne erfasst werden“, erklärt der Soldat. Die Welt an der Front ist eng, gefährlich und eingegrenzt. Dass Buddy ein weißes Fell hat, macht die Sache
nicht leichter. „Zumindest nicht, bis der Schnee kommt“, sagt Stas augenzwinkernd. Buddy drückt im Dämmerlicht des Bunkers seinen Kopf fest an die Brust von Stas. Das Tier schließt die Augen, als der Mann im Kampfanzug ihm den Kopf krault. „Die Hunde tun uns allen gut. Sie sind etwas Friedliches in all dem Wahnsinn. Tosha und Buddy zu streicheln, das gibt ein wenig Ruhe. Dann haben wir ja noch eine Katze“, sagt der 36-Jährige. Letztere streift gerade durch das Gelände. „Sie ist zu klein, um von Drohnen entdeckt zu werden“, meint der Frontkämpfer. Im Bunker hat die Katze zudem eine Mission.
„Die Mäuse werden immer frecher“, sagt Stas und läuft die Stufen in den Bunker herab. „Hören Sie“, sagt er. Die Wände sind mit silbernen Folien und durchsichtigen Plastikplanen überspannt. Zwischen den mächtigen Stämmen, die die Decke absichern, und der Folie hört man Trappeln. „Die Mäuse sind unterwegs“, ärgert sich Stas. „Sie verlieren jede Scheu. Gestern Nacht ist mir eine quer über das Gesicht gelaufen“, fügt der 36-Jährige hinzu. So hadern die Soldaten im Bunker mit der MäuseFangquote ihrer Katze. Mit den Wächter-Qualitäten von Tosha ist es auch nicht weit her. „Er ist
einfach zu jedem freundlich. Schnuppert ein wenig und wedelt mit dem Schwanz. Vermutlich auch, wenn die Russen stürmen würden“, sagt Stas und lacht. Tosha ist den Soldaten zugelaufen. „Eines Tages war er plötzlich da. Wenn er einen so treu anblickt, was sollten wir machen“, sagt Dima, der mit seiner Frau Jasmin gerade einen Tee trinkt. Die 22-Jährige fügt hinzu: „Hier in der Ukraine lieben die Menschen Tiere. Deswegen sind auch an der Front viele Hunde und Katzen zu finden.“ Mona bekam sie von ihrem Mann zum ersten Jahrestag ihrer Hochzeit geschenkt. „Er hätte mir kein schöneres Geschenk machen können“, sagt sie und lächelt Dima an. Jasmins Schilderungen kommen nicht von ungefähr. Als die großangelegte Invasion am 24. Februar 2022 begann, waren Millionen Menschen über Nacht auf der Flucht. Oft mit ihnen ihre Haustiere: Katzen, Hunde und Vögel flohen mit ihren Besitzern. „Die Hunde helfen auch meinem achtjährigen Jungen zu Hause in Odesa“, erklärt Stas. In der Stellung haben sie dank Starlink eine InternetVerbindung. Dann gibt es Video-Schalten zur Familie. „Mein Sohn hat viel Angst um mich. Aber
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Mona, das Geschwisterchen, ist nur zu Besuch da und wackelt weiter um Tosha herum. Die beiden Labrador-Welpen leuchten mit ihrem weißen Fell regelrecht. Die Köpfchen sind rund, stupsschnauzig und süß. „Ich könnte meine Mona andauernd knuddeln“, sagt Jasmin, die Frau von Dima, der auch die Stellung im Bunker hält. Weil sie heute ihren Mann sieht, hat sich Jasmin, so gut es im Kampfanzug möglich ist, herausgeputzt. Das Make-Up sitzt, die Augen leuchten unter langen Wimpern.
ihren Mann. Der Besuch wird nicht lange dauern. Dann geht es im Geländewagen weiter. So gibt es ein klein wenig Idylle zu sehen. Mit zwei Welpen, die um den überforderten Tosha springen und gelegentlich auch auf ihn. Einem jungen Paar, das glücklich ist, sich für einen Moment zu haben.
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Tosha blickt hilfesuchend zu Stas. Der Soldat lacht. „Na, Tosha, machen dir die beiden zu viel Wirbel?“ Vor dem Rüden balgen sich zwei Welpen. Mona und Buddy. Hinter ihnen überspannt ein Tarnnetz den Bunkereingang. In die Erde gehackte Stufen führen in die Tiefe. Tosha hat sich an Buddy gewöhnt. Daran, dass nicht an Ruhe zu denken ist, wenn der Junghund in Aktion ist. Buddy plötzlich mitten in der Nacht im engen Bunker zu kläffen beginnt. Herumtappt, kratzt und schnüffelt, bis auch wirklich niemand mehr ein Auge zudrücken kann. Stas schnappt ihn sich und nimmt ihn auf den Arm.
Dima ist vernarrt in Hunde. Seiner Frau Jasmin, sie dient als Sanitäterin in der gleichen Einheit, hat er den Welpen Mona geschenkt.
Dann muss Jasmin schon wieder weiter, sie nimmt sich Mona mit, die mittlerweile das Herz von Tosha erobert hat. Jasmin steigt mit zwei weiteren Soldaten in den Wagen ein. Das Team der Stellung verabschiedet sich. Das Fahrzeug rumpelt davon.
Wenig später kracht laut die Artillerie. Tosha blickt erschreckt auf, zieht den Schwanz zwischen seine Beine und läuft die Treppe in den Bunker herunter. „Der Krieg zehrt an allen, Mensch und Tier“, sagt Stas, der seit Ende Februar 2022 kämpft. Das ist eine unendlich lange und kräftefressende Zeit für die Soldaten in ihren Gräben und Stellungen. Der Herbst und der kommende Winter bedeuten für Stas und seine Kameraden neben den Gefechten eine regelrechte Schlammschlacht und eine gnadenlos schneidende Kälte im Gelände. Buddy
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wenn er mich mit Tosha sieht, ich Buddy direkt vor die Kamera des Smartphones halte, dann beruhigt ihn das. Er lacht, wenn er die beiden Hunde sieht“, erklärt der Soldat.
Eine Streicheleinheit von einem Soldaten für Tosha: Der Hund hat ein ausgesprochen freundliches Gemüt, ist aber nicht unbedingt ein pflichtbewusster Wächter.
wird bis zum kalten Winter ein ordentliches Stück gewachsen sein. Jetzt macht er ein friedliches Nickerchen auf dem Arm von Stas. Als würde über seinem Kopf kein Krieg stattfinden.
Dima mit seiner Frau Jasmin: Sie dient als Sanitäterin in der gleichen Einheit. Dima hat ihr den Welpen Mona geschenkt. Die Besuche seiner Frau in der Stellung sind selten, aber sehr willkommen.
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Zweimal Wirbelwind am Bunkereingang: Die Welpen Mona und Buddy sind schwer zu bändigen.
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Hoffen Vitaliy zeigt sein Lieblingsfoto auf dem Smartphone: Sohn und Ehefrau haben für ihn ein Selfie geschossen.
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WARTEN UND HOFFEN
Frontsoldat Vitaliy sieht seine Familie das zweite Weihnachten nicht. Der 33-Jährige weiß genau, wofür er kämpft. Seine Frau Marianna sieht das auch so. Doch sie will die Last gerecht verteilt sehen.
Kreminna Front / Kyjiw Mitte Dezember 2023
Weil Vitaliys Arm nicht völlig funktionsfähig ist, will sein Kommandant Dymtro den Soldaten nicht in den Schützengraben lassen. So bewacht Vitaliy im Wald dahinter einen Kommandobunker, der ebenfalls ins Erdreich gegraben ist. Vier Stunden Wache, acht Stunden Ruhezeit, vier Stunden Wache… So geht es seit Monaten sieben Tage in der Woche rund um die Uhr. Bei Wind, Regen, im Winter bei Schnee und einer Kälte, die oft ins Gesicht schneidet. Der Stellungskrieg ist schon lange Alltag, hier im Osten der Ukraine, irgendwo nahe Kreminna. Vitaliys Aufgabe ist gefährlich genug. Selbst russische Mörsergranaten erreichen seine Stellung im Wald. Ganz zu schweigen von den
Granaten der Panzer und der schweren Artillerie. Ein Blick in die Bäume rund um Vitaliys Bunker erzählt vom Beschuss. Kiefern, die die Einschläge umgerissen haben, liegen keine 20 Meter entfernt auf dem schneebedeckten Waldboden. Zersplitterte Stämme ragen direkt neben dem Bunker auf. Der Tod kann jederzeit kommen. Schnell, ohne Vorwarnung. Vitaliy weiß das bestens, davon erzählt die Haut auf seinem Arm. „Hier ist unser Weihnachtsbaum“, sagt er mit Grinsen im bärtigen Gesicht. Vor dem benachbarten Erdbunker haben Soldaten eine Tanne nahe dem Eingang in den Boden gerammt. Nicht in besinnlicher Stimmung, sondern um den Eingang zu tarnen. „Drohnen sind ein Problem. Wir müssen für sie unsichtbar sein“, sagt der 33-Jährige. Vitaliy hat sich eine Aufgabe zu Weihnachten gesetzt. Er will seinen Kameraden etwas ganz Besonderes kochen. „Jetzt sammle ich ihre Wünsche ein. Aber wir erwarten alle eine Zunahme des Beschusses in den kommenden Tagen. Also vielleicht wird es nichts mit dem WeihnachtsMenü“, erklärt der 33-Jährige. Vergangenes Jahr
habe es ebenfalls nicht geklappt, berichtet er: „Wir waren im Norden und unsere Einheit hat ununterbrochen Schützengräben ausgehoben.“ Dieses Jahr wollen sie am 24. Dezember feiern und dann noch ein bisschen aus alter Gewohnheit am 6. Januar. So wie früher, bevor Russland die Ukraine angriff. Der Krieg macht auch Weihnachten zum Politikum. Mit Russlands Orthodoxie, die den Krieg gegen die Ukraine unterstützt, ja, regelrecht feiert, will die Mehrheit der Ukrainerinnen und Ukrainer so wenig Gemeinsamkeit wie möglich teilen. Kochen ist Vitaliys Berufung. Er war in leitender Position in einer Restaurant-Küche. „Ukrainische und italienische Küche, quasi Pizza und Borscht“, erzählt er lachend. Dann half er als Experte bei Restaurant-Gründungen. „Es lief gut, bis die Invasion der Russen begann. Ich meldete mich bei der Armee“, sagt er. Dann hält er kurz inne, bevor er von seinem sechsjährigen Sohn Tykhon erzählt. Holt sein Smartphone heraus, zoomt mit den Fingern das Foto von Frau Marianna und seinem Sohn auf. Ein Selfie, das die beiden ihm geschickt haben. „Wie sie mir fehlen. Das zweite Weihnachten, das wir nicht zusammen feiern“, sagt
der Familienvater in Kampfmontur leise. Viermal für je zwei Wochen hat Vitaliy seit März 2022 insgesamt seine Familie bei Heimaturlauben gesehen. „Das ist bitter. Mir fehlt meine Familie. Mir fehlt es, meinem Sohn das Kochen zu zeigen. Mit ihm Gerichte auszuprobieren. Er hat schon sein Lieblingsgericht: Spaghetti Carbonara. Wenn wir zusammen sind, machen wir gemeinsam die Nudeln selbst. Mir fehlt es, mit ihm Kyjiw zu erkunden, in den Zoo zu gehen … All das, was Vater und Sohn gemeinsam unternehmen. Und mir fehlt meine Marianna“, sagt Vitaliy. Trotzdem würde er sich wieder freiwillig zur Armee melden, wie er es kurz nach Beginn der groß angelegten Invasion 2022 tat. „Die russischen Verbände hatten Kyjiw schon in die Zange genommen. Was blüht, wenn Russland uns besetzt?! Das sahen wir in Butscha, Irpin, Izjum, Cherson – überall wurden nach der Befreiung Massengräber gefunden. In den besetzten Gebieten wird gefoltert und gemordet. Die Menschen sind rechtlos. Ich liebe die Freiheit. Darum kämpfe ich. Ich kämpfe für die Ukraine, ich kämpfe für die Zukunft meiner Familie“, erklärt
der gelernte Koch, der warnt: „Putins Hunger würde nicht mit der Ukraine gestillt sein.“ Dann ist es Zeit für einen kurzen Anruf bei seiner Frau. Er hat gerade Ruhezeit. Das Online-Signal von der nächsten Starlink-Schüssel ist gut genug für eine Audio-Übertragung. Vitaliy nutzt das. „Vielleicht wird es Weihnachten ja sogar etwas mit einem Video-Chat“, sagt Vitaliy. Dann lauscht er angestrengt in sein Smartphone. Als er die Stimme seiner Frau hört, spielt ein Lächeln um sein Gesicht: „Marianna …“ Marianna wohnt mit ihrem Sohn und der Mutter in einer Wohnung im Osten von Kyjiw. Es ist ein gigantisches Meer aus Hochhäusern, das man aus dem Fenster ihrer Wohnung sieht. „Dass mein Mann an der Front steht, ich habe da natürlich zwiespältige Gefühle. Ich weiß, es ist gut und richtig, dass er uns verteidigt. Ich bin stolz auf ihn. Aber als seine Frau habe ich Angst um sein Leben. Er fehlt meinem Tykhon so sehr. Und mir natürlich auch.“ Dann herrscht kurz Stille. Dass die großen Erfolge bei der Offensive ausblieben, dass die russische Armee mit aller Brutalität wieder zur Gegenoffensive ansetzt, trifft die
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Der 33-Jährige zieht sich etwas steif seinen Wintermantel an, wirft den Träger mit den schusssicheren Platten über und setzt seinen Helm auf. Der Bunker ist ein schmaler Raum, in den Boden gegraben. An den Seiten trennen Holzplatten das Erdreich von den drei Hochbetten. Zwischen den Betten ist gerade Platz für einen Mann zum Stehen. Über die Balken der Decke des Bunkers zieht sich eine weiße Plastikplane, die herabfallende Erdbrocken auffängt. Ein kleiner Bullerofen spendet Wärme für die sechs Soldaten, die hier leben. „Holz zum Heizen haben wir ja zum Glück genug“, meint der junge Soldat.
Dann geht es aus dem Erdbunker an die frische Luft mitten in einem Kiefernwald. Der Schnee knirscht unter den Stiefeln. Aus der Ferne hört man die Einschläge von Granaten. Einige Kilometer entfernt. Dort, wo sich die Schützengräben ziehen, dort, wo die Linie Null ist. Dann das Hämmern eines Maschinengewehrs. Schon näher, aber weit genug entfernt. Vitaliy lauscht nur kurz. Vermutlich gilt es einer Drohne.
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Der Krieg hat seine Spuren auf dem Körper von Vitaliy hinterlassen. Im linken Unterarm haben die Splitter Zacken aus dem Fleisch gerissen. Jetzt zieht sich die Haut über Wellen in der Muskulatur. Auf dem Oberarm erinnert die ehemalige Wunde an ein dreidimensional eingeprägtes Tattoo einer Landkarte. Vitaliy hat nach seiner Verwundung wieder Muskeln aufgebaut, doch der Arm bleibt etwas ungelenk. Nicht einmal die Reha-Zeit wollte er nach seiner Verwundung ganz nutzen und meldete sich schnell wieder an die Front zur 63. Brigade zurück.
Ehefrau Marianna und Sohn Tykhon vermissen Vitaliy. Es ist das zweite Weihnachten ohne ihn.
„Uns ist nicht festlich zumute“, sagt sie. Sie verzichtet deshalb auf Weihnachtsdekoration. Ihrem Sohn hat sie dennoch ein 30-ZentimeterMini-Bäumchen geschenkt. Tykhon ist ein Junge mit ernsten Augen. Stolz zeigt er das Foto, das im kleinen Magnetrahmen auf dem Kühlschrank hängt. Vater und Sohn strahlen da bei einem Zoo-Besuch um die Wette. „An der Schule gab es kürzlich eine kleine Weihnachtsfeier mit Kindern und Eltern. Da standen all die großen und gesunden Väter. Von den 29 Kindern ist Tykhon der Einzige, dessen Vater kämpft. Das ist keine Gerechtigkeit“, klagt sie.
Nach fast zwei Jahren Krieg fordern unter anderem Frauen der aktiven Soldaten, dass der Dienst zeitlich begrenzt sein sollte und auf mehr Schultern verteilt wird. Laut Selenskyi bittet die Armeeführung zudem um 450.000 bis 500.000 neue Soldaten bei einer derzeitigen Truppenstärke von 820.000. Neben der Herausforderung der Finanzierung von bis zu 500.000 neuen Soldaten würde das neue und nicht populäre Rekrutierungswellen bedeuten. Der neue Verteidigungsminister Rustem Umjerow würde zudem kommendes Jahr gerne
auch im Ausland lebende Ukrainer zum Wehrdienst heranziehen. Selenskyi hat mittlerweile eine Reform der Einberufungsgesetze in Aussicht gestellt. Es wird ein schwieriges Unterfangen werden. Vor allem in Zeiten, in denen Republikaner in den USA und Orbán in der Europäischen Union Mittel für die Ukraine blockieren. Zugesagte Lieferungen des Westens schon zuvor nur teilweise erfolgten. Von der von der EU schon im Frühjahr versprochenen eine Million Schuss Artillerie-Munition erhielt die Ukraine bisher nur einen Teil. Munition, die derzeit dringend an der Front benötigt wird. Für Marianna ist Selenskyis Ankündigung immerhin ein gutes Zeichen. „Ja, wir müssen unser Land verteidigen. Aber der Einsatz dafür muss gerecht verteilt sein“, sagt sie. „Drei Tage hatte ich nichts von Vitaliy gehört, als er damals verwundet wurde. Dann eine Männerstimme am Telefon. ,Vitaliy ist außer Lebensgefahr. Kommen Sie in die Klinik nach Dnipro.‘ Mehr wusste ich nicht auf dem ganzen Weg von Kyjiw nach Dnipro. Warten und Hoffen, das ist das Schicksal einer Soldatenfrau. Zu Weihnachten schmerzt es leider besonders.“
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„Schon fast zwei Jahre verzichten wir auf unseren Vitaliy. Wenn alles gut geht, reicht die Qualität der Verbindung, dass wir uns einmal am Tag kurz sprechen können. Klappt ein Video-Chat, ist das wie ein Geschenk. Aber eher kommt es vor, dass nicht mehr als Textnachrichten möglich sind“, erklärt Marianna.
In der Ukraine läuft nach nunmehr bald zwei Jahren seit Beginn der groß angelegten russischen Invasion eine schmerzhafte gesellschaftliche Diskussion. Die Notwendigkeit der Kämpfe stellt praktisch niemand in Frage. „Ein möglicher Waffenstillstand würde nur Putin in die Karten spielen“, das ist breiter gesellschaftlicher Konsens. Doch bei aller Wut auf Russland, Patriotismus sowie Freiheitsliebe: Es ist ein großer Schritt, dafür sein Leben zu riskieren. Das womöglich für Jahre. Es melden sich nicht mehr ausreichend Freiwillige für die Front. Also muss verstärkt die Einberufung greifen.
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Menschen in der Ukraine hart. „Uns allen ist klar, das bedeutet wohl, dass der Krieg noch lange weitergeht“, erklärt sie. Darauf bereitet auch Präsident Wolodymyr Selenskyi das Volk vor.
Die russische Armee versucht seit Monaten, Kupjansk wieder zurückzuerobern. Die Front ist keine zehn Kilometer entfernt. Die örtlichen Ärztinnen und Ärzte bieten dem Beschuss die Stirn und behandeln weiter. Dabei begeben sie sich selbst in Gefahr.
Fachärztin Tetjana kümmert sich aufopferungsvoll um ihre Patientinnen und Patienten. Doch auch für sie ist die Situation nur schwer zu ertragen.
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WENN DER KRIEG DROHT, DAS HERZ ZU BRECHEN
WENN DER KRIEG DROHT, DAS HERZ ZU BRECHEN
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Wenn der Krieg droht, das Herz zu brechen
Verrückt geworden. Das sind die richtigen Worte für das, was mit Kupjansk geschehen ist. Für das, was mit Kupjansk gerade weiter geschieht. Kaum zehn Kilometer sind es zur Front. Dort machen die russischen Truppen Druck. Seit Monaten versuchen sie, die Stadt wieder zurückzugewinnen. Sie schicken immer neue Angriffswellen gegen die ukrainischen Verteidigungslinien. Sie hatten Kupjansk zu Beginn der Invasion schnell erobert, und dann konnten die ukrainischen Truppen die Stadt im September 2022 wieder befreien. Die überraschende ukrainische Offensive endete mit einem Erfolg. Die russische Besatzung bedeutete
in Kupjansk und Umgebung Verhaftungen, Folter und Entrechtung durch die Invasoren. Der Großteil der 30.000 Einwohner der Stadt floh davor in ukrainisch gehaltene Gebiete. Die Versorgung der Menschen selbst mit Grundnahrungsmitteln war völlig unzureichend. Viele fürchten, dass Kupjansk wie zuvor Bachmut, Mariupol oder Awdijiwka als eine Stadt in Trümmern endet. Jetzt stürmen die russischen Truppen wieder an. Braamm, Braam, Braam. So geht es die ganze Zeit. Die Artillerie grollt fast ununterbrochen. Auf dem Weg vom Hauptplatz der Stadt bis zum Krankenhaus sieht man, was Raketen- und Granatenbeschuss anrichtet. Häuser stehen da, in denen ganze Stockwerke in sich zusammengebrochen sind. Bei anderen haben die Explosionen die Dächer einfach fortgerissen. In Wänden stecken Splitter. Leere Fensterhöhlen blicken auf leere Straßen. So geht das in einem fort. Am Krankenhaus macht es nicht Halt. 120.000 Menschen aus der Stadt und der Umgebung versorgte es vor der Invasion am 24. Februar 2022. Es wurde viel investiert. Die Gebäude erhielten vor wenigen Jahren eine Generalsanierung, neue Geräte wurden angeschafft.
Der Haupttrakt hat Raketentreffer abbekommen. Kein Einzelfall: Laut Weltgesundheitsorganisation gab es seit Beginn der groß angelegten russischen Invasion 1552 Angriffe auf ukrainische Gesundheitseinrichtungen. Fast 200 der Einrichtungen wurden dabei durch die russische Invasion völlig zerstört. Laut Weltgesundheitsorganisation kosteten die Angriffe bisher 121 Patienten und medizinischem Personal das Leben.
Zugige Gänge dienen als Wartezimmer.
Als Taissa an dem Gebäude zu ihrem Termin vorbeilief, konnte sie in die Patientenzimmer wie in ein Puppenhaus blicken. Fenster, Rahmen und Teile des Mauerwerks fehlen. Das Krankenhaus liefert jetzt noch den Service einer Poliklinik. Über 90 Prozent der Bevölkerung hat Kupjansk verlassen. Staatliche Stellen hatten schon im August 2023 zur Evakuierung aufgerufen. Zu häufig ist der Beschuss durch die russischen Streitkräfte, zu nahe die Front, zu vehement die Angriffe. Einige der Menschen sind trotzdem geblieben. Oft Seniorinnen und Senioren wie Taissa. Oder Mitarbeiter der Kommune, die versuchen, die Versorgung mit Wasser und Strom zu gewährleisten.
kommen soll“, sagte Taissa. Für Gebliebene wie die alte Frau begibt sich Tetjana selbst jeden Tag in Gefahr. Die 63-Jährige ist Herzspezialistin und stellvertretende Klinikleiterin. Sie bittet Taissa ins Behandlungszimmer. Das ist ein schmaler Raum. Gerade noch breit genug, dass der Schreibtisch der Ärztin quer stehen kann und ein Patient samt Stuhl daneben Platz findet. Ein anderer Schreibtisch ist an die Wand gerückt. Hier nimmt die Verwaltungskraft die Daten auf. „Schmerzt das Herz wieder?“, sagt Tetjana. Taissa nickt traurig. Die 63-Jährige untersucht sie mit dem Stethoskop.
„Wo soll ich denn in meinem Alter noch hin? Ich bin hier geboren. Es wird so kommen, wie es
„Mir wird selbst das Herz schwer, wenn ich unsere Situation sehe“, sagt die Ärztin leise. „Am 27. Februar
Das Krankenhaus wurde durch russische Raketen-Angriffe schwer beschädigt. 2022 ratterten die russischen Panzer durch unsere Stadt. Die Invasion hatte seit drei Tagen begonnen. Seitdem ist nichts mehr so, wie es einmal war“, fügt sie hinzu. „So viel Zerstörung, so viele Tote. Jetzt sind wir in Kupjansk froh, wenn uns keine Granaten und Raketen treffen, wir Strom und Wasser haben“, nickt die 86-Jährige. Es ist nicht der erste Krieg, den sie erlebt. Im Zweiten Weltkrieg hatten deutsche Truppen die Stadt besetzt. Taissa lebte da schon in Kupjansk. „Im Elternhaus hatten sich deutsche Soldaten einquartiert. Mein Bruder und ich hatten immer Hunger. Die Versorgung war schlecht. Manchmal schmerzte der Magen, so wenig hatten wir. Mit großen Augen sahen wir einem Soldaten beim
Essen zu. Zuerst hat er uns wütend angefahren. Am Ende hat er sich dafür geschämt und uns ein großes Butterbrot gegeben. Das werde ich nie vergessen“, sagt die Seniorin zum Abschied. Tetjana gibt ihr Herztropfen mit. „Sie bräuchte vor allem Ruhe, aber wie kann sie sie in dieser Zeit finden?“ Die Ärztin schüttelt den Kopf. Taissa macht sich mit ihrer Begleitung auf den Heimweg. Die Herzspezialistin führt durch das Gebäude. „Wir können noch den Service einer Poliklinik bieten, immerhin. Schwere Fälle werden nach Charkiw überstellt. Weiter stehen unsere Ambulanz-Fahrzeuge bereit. Wenn Patienten es nicht zu uns schaffen, kommen wir zu ihnen“, erklärt
WENN DER KRIEG DROHT, DAS HERZ ZU BRECHEN
Der Krieg droht Taissa das Herz zu brechen. Die 86-Jährige sitzt im dämmrigen Flur und wartet auf ihren Behandlungstermin. Es ist ein wenig zugig, draußen hat es bittere Minus-Grade. Mildes Winterlicht fällt durch die Fenster auf die PVC-Versatzstücke, die den Boden bedecken. An einem Rohr hat jemand ein Ukraine-Fähnchen befestigt. Der Flur als Wartezimmer, ein Provisorium. „Dieser Krieg macht mir wirklich das Herz schwer. Es schmerzt. Aber wen wundert es, alles ist verrückt geworden“, sagt die Seniorin und versucht ein tapferes Lächeln.
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Kupjansk Ende Januar 2024
Platz ist wenig in dem einstöckigen Haus. Die Behandlungszimmer sind Provisorien. Von den Wänden bröckeln Putz und Farbe. Wie in dem Zimmer, in dem kleine ambulante Operationen vorgenommen werden. Die stellvertretende Leiterin führt durch einen dämmrigen Saal, in dem die Geräte stehen, die aus dem bombardierten Hauptgebäude gerettet wurden. Dahinter befindet sich das nächste Zimmer für die augenärztliche Behandlung. Ein schmaler schlauchartiger Raum. Die Buchstaben-Tafel leuchtet am Ende des Kämmerchens. Ein älterer Herr wird gerade untersucht. Er blickt unendlich traurig in die Kamera.
Dann ein kurzes Treffen mit dem Ärzte-Team. Die Mediziner haben einen Ruheraum mit einer Couch, einem Bett und allerlei abgestellten Kartons und medizinischen Geräten darin. Da ist Juri, der 55-jährige Anästhesist. Neben ihm sitzt auf dem Sofa Oleg, der Onkologe. Chirurg Andrii berichtet von den zwei russischen Raketen, die ins Krankenhaus einschlugen. Von dem Kollegen, der das nicht überlebte. Von den zwei Kindern, die sie gleich zu Beginn der Invasion notoperierten, bevor sie nach Charkiw gebracht wurden. „Eines starb, und es tut mir immer noch weh“, sagt der Mediziner. „Dem anderen Mädchen wurde ein Bein abgenommen“, fügt Oleg an. Zwei Jahre Invasion, davon mehr als ein halbes Jahr unter Besatzung, das hat auch bei den Helferinnen und Helfern Spuren hinterlassen. Juri spricht von dem andauernden Beschuss, den die Menschen von Kupjansk über sich ergehen lassen müssen. „Wir wissen nicht, trifft es wieder unser Krankenhaus? Trifft es die Patienten auf dem Weg zu uns? Trifft es uns selber? Die Situation macht die Menschen natürlich depressiv. Alles ist schwer zu ertragen“, sagt er. „Trotzdem war es für uns alle hier klar, wir bleiben. Das ist einfach unsere Pflicht“, sagt Andrii. „Keiner
von uns hätte sich vorstellen können, dass das passiert. Im 21. Jahrhundert, mitten in Europa, mitten in Kupjansk“, sagt Tetjana. Das Krankenhaus-Team weiß, dass ihre Klinik für die Verbliebenen eine der wenigen Einrichtungen ist, die noch ein wenig Sicherheit im Wahnsinn des Kriegs gibt. Eine schwere Verantwortung. So werden sie weiter ausharren. In den Nachmittagsstunden schließt die Poliklinik gegen 16 Uhr. „Doch wir schicken niemanden unbehandelt nach Hause. Eine Notschicht steht ebenfalls bereit“, informiert Andrii. Tetjana wird sich auf den Heimweg machen. Zu Hause wartet ihre hochbetagte Mutter auf sie, um die sie sich kümmert. „Wenigstens meine Tochter ist in Charkiw halbwegs in Sicherheit“, sagt sie. Charkiw steht regelmäßig unter russischem Raketen- und Drohnenbeschuss. Dort arbeitet die Tochter als Ärztin. „Ich bin stolz auf sie. Darauf, wie sie in dieser schweren Zeit ihre Pflicht erfüllt“, so die 63-Jährige. Nicht weit von ihrem Haus hat eine Rakete ein Gebäude in ein Trümmerfeld verwandelt. Tetjana weiß, dass weitere Ruinen in Kupjansk hinzukommen werden. Der Lärm des Krieges lässt es sie an keinem Tag vergessen.
WENN DER KRIEG DROHT, DAS HERZ ZU BRECHEN
sie und auch, dass Behandlung und Medikamente kostenlos sind. „Mit Medikamenten sind wir ausreichend ausgestattet. Unter der Besatzung war das anders. Es fehlte an allem. Unser Gehalt bezogen wir damals online von den ukrainischen Behörden“, erklärt die Ärztin. „Bevor die Invasion begann, waren wir stolz, als unser Krankenhaus endlich saniert war. Jetzt ist so viel zerstört oder beschädigt. Nun müssen wir unsere Patientinnen und Patienten in diesem über 100 Jahre alten Nebengebäude behandeln, das zuvor als ein besseres Lagerhaus diente“, seufzt sie.
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Graffiti in Kupjansk: Der Wunsch nach Frieden. Doch für die klare Mehrheit der Ukrainerinnen und Ukrainer bedeutet unter Besatzung und in einer Diktatur wie in Russland zu leben, kein Frieden. In den russisch besetzten Gebieten wird gefoltert, verfolgt und getötet.
VOR NEW YORK STEHEN DIE RUSSEN
Seit fast zehn Jahren verläuft die Front vor der ukrainischen Kleinstadt. Die Ausweitung der Kämpfe seit der groß angelegten Invasion vor zwei Jahren hat selbst die Standfestesten vertrieben. Fast nur alte Menschen harren aus. Manchmal im Streit miteinander.
Alles verlassen, New York ist eine Geisterstadt. Davon erzählt auch die Tankstelle.
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VOR NEW YORK STEHEN DIE RUSSEN
Vor New York stehen die Russen
Eine russische Besatzung, für Victoria wäre das die Katastrophe. „New York ist ukrainisch“, sagt sie. Im Hintergrund wummert die Artillerie. Setzt sie für längere Zeit aus, dann hört Victoria erst recht genau hin. Es muss nicht unbedingt ein gutes Zeichen sein für das, was dann folgen kann. Erst vor gut zwei Wochen schlug wieder eine russische Rakete ein, ein Flugzeug warf Bomben. Unter anderem ein dreistöckiges Wohnhaus bestand danach nur noch aus Trümmern. Eine Ruine mehr in der Kleinstadt. Seit 2014 ist New York Frontstadt. Für kurze Zeit, von Mai bis Juli 2014, stand die Siedlung unter der Kontrolle russischer und pro-russischer
Verbände. Der Krieg vor der Stadt wurde in den fast zehn Jahren für die Bewohnerinnen und Bewohner zum Alltag. Rund 10.000 Menschen mussten lernen, mit ihm zu leben. So wie mit dem neuen beziehungsweise alten Namen. New York erhielt 2021 seine ursprüngliche Benennung zurück. Die Sowjets hatten „New York“ 1951 in Novhorodske (Neue Stadt) umgetauft. „New York“, das klang allzu sehr nach Klassenfeind. Woher der Name „New York“ stammt, weiß keiner so recht. Waren es Verbindungen eines Geschäftsmanns nach New York? Oder kommt der Name von den deutschstämmigen Mennoniten: „Neu Jork“? Ging beim Übertrag vom Lateinischen ins kyrillische Alphabet etwas schief? „Die deutschen Siedler hatten hier Ende des 19. Jahrhunderts eine Fabrik gegründet, eine Ziegelbrennerei und eine Mühle“, sagt Victoria. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es elektrischen Strom, ein Hotel, ein Buchgeschäft, eine Bank, ein Telegraphenamt und je eine Schule für Jungen und Mädchen. „New York“ boomte mit der Industrialisierung. Während des Zweiten Weltkriegs wurden die deutschstämmigen Bewohner unter Stalin deportiert: Die meisten weit in den
Osten der Sowjetunion, in den Oblast Amur, tausende Kilometer entfernt. An die deutschen Siedler erinnert das Haus, in dem Victoria wohnt. „Sehr solide gebaut. Für mich ein wichtiges Stück Geschichte unserer Stadt. Ich denke oft an die Menschen, die hier einmal gelebt haben“, sagt die 65-Jährige. Sie steht am Gartenzaun. Im Hintergrund das einfache und einstöckige Haus aus roten Vollziegeln. Drum herum viel Wiese und kahle Obstbäume, deren schwarze Äste in den klaren Winterhimmel ragen. Daneben die Reste einer Mauer, Trümmer eines ehemaligen Stalls, und verkohlte Holzbalken. Das Nachbarhaus wurde ebenfalls von Deutschstämmigen errichtet. Als am 9. Mai 2022 auf dem Roten Platz in Moskau die obligatorischen Panzer über Pflaster und Asphalt zur Siegesparade ratterten, schlug eine russische Granate dort ein. „Die Nachbarn waren zum Glück nicht im Haus. Aber dem Hund hat die Explosion den Kopf abgerissen. Es war furchtbar. Der Beschuss war bei Weitem nicht der einzige“, berichtet Victoria. Sie erzählt davon, wie Wände wackelten und
Fenster vibrierten, als Granaten im Umkreis einschlugen. Wie sie einmal auf allen Vieren kroch, als sie unter Beschuss waren. Victoria liebt Hunde, sie hat zwei. Bijm ist ein mittelgroßer weißer Mischlingshund, der gerne die dunkle Gartenerde auf Hosen verteilt, wenn er Menschen freudig anspringt. Susha ist der ruhige Gegenpol mit Schäferhund-Genen. „Kommen Sie“, bittet Victoria. Die Hunde freuen sich über den Auslauf. Es dauert ein paar Minuten. Vorbei an zwei weiteren Ruinen, an Hauswänden, die Schrapnelle gezeichnet haben, bis zu einem vergleichbar imposanten Gebäude, in dunklem Weinrot gestrichen. Das „deutsche Haus“ nennt es Victoria. Aaron Thiessen hat es 1910 als Konsumgebäude erbauen lassen, heißt es auf einer schwarzen Granitplatte neben den beiden Flügeln einer grauen Stahltüre. Die hängen verriegelt, aber nicht mehr so ganz gerade im Rahmen. Daneben, links und rechts, und im Stockwerk darüber blicken Fensterhöhlen mit zersplittertem Fensterglas auf die Straße. Gegenüber stehen ein altes Fabrikgebäude und die ehemalige Mühle. Sie haben Treffer abbe-
kommen, die Druckwelle ließ die Fenster im „deutschen Haus“ bersten. „Es war 2019 so schön zum Kulturzentrum umgebaut worden, dann begann die Invasion“, berichtet Victoria. Das Gebäude hätte für Leben stehen sollen. Leuchtend frisch gestrichen in einer grauen Zone zwischen Frieden und Krieg. Zwischen 2014 und 2021 starben 16 Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt durch Beschuss, über 100 Häuser wurden schon vor der großen Invasion 2022 beschädigt. „Trotzdem sind die meisten Menschen geblieben“, sagt Victoria. 2021 machte das ukrainische New York von sich reden. „Es gab ein großes Literaturfestival“, erzählt Victoria. Schriftstellerin Victoria Amelia hatte es ins Leben gerufen. Sie starb am 27. Juli 2023 in Kramatorsk durch den Einschlag einer russischen Iskender-Rakete. Das Zentrum des Festivals in New York ist durch Beschuss heute schwer beschädigt. „So schnell wird es wohl kein Festival mehr geben“, seufzt Victoria. Heute ist New York eine gespenstisch leere Stadt. Fast 90 Prozent der Menschen dürften ab Ende Februar 2022
Richtung westlicher ukrainischer Gebiete oder ins Ausland geflohen sein. Die Versorgung mit Strom und Wasser, das ist nicht immer eine Selbstverständlichkeit. Ein Sohn von Victoria lebt seit Jahren in Schweden. „Zum Glück, das hier ist nichts mehr für die Jugend“, seufzt die Rentnerin. Sie ist froh, dass er die mageren Renten von ihr und ihrem Mann mit Überweisungen ein wenig aufbessert. „Mit dem, was wir im Garten anpflanzen, kommen wir dann klar. Ich will bleiben. Hier ist mein Haus und meine Heimat“, so die Rentnerin. New York könnte auch nach dem Krieg als Filmkulisse für die Sowjet-Zeit dienen. Kaum Reklame, graue, gemauerte Wohnblocks, mindestens 60 oder 70 Jahre alt. Bis auf die Geräusche des Kriegs herrscht eine bedrückende Stille. Es gibt noch Lebensmittel-Läden in der Stadt. Auch Victoria hat früher in einem Geschäft gearbeitet. „Es gab alles, vom Fahrrad bis zum Fernseher“, sagt sie lachend. Das Geschäft ist schon lange Vergangenheit. Jetzt kann ein Einkauf Victorias im Tante-Emma-Laden im oberen Teil der Stadt mit einem handfesten Streit enden. „Einige sind immer noch für die Russen.
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Die russische Armee steht schon kurz vor New York. Keine vier Kilometer sind es vom Stadtrand zur Front. Doch die gegnerischen Schützengräben sind unüberwunden. So bleibt New York, Kleinstadt in der Region Donezk, in ukrainischer Hand. Seit 2014 wird vor New York gekämpft. Der groß angelegte Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat die „Siedlung mit städtischem Charakter“, so die offizielle Bezeichnung, in eine Geisterstadt verwandelt.
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New York (Nju-Jork) Ende Januar 2024
Andere Seite: Die Front ist nicht weit entfernt von New York. Das Wummern der Artillerie ist zum Alltagssound geworden.
Galina hätte vermutlich wenig Lust auf Streitgespräche. Ihr fehlt die Kraft dazu. Der Weg zu ihr führt an einer verlassenen Tankstelle vorbei, dann an der ebenfalls verlassenen Ethanol-Fabrik, über eine Brücke. Irgendwo steht dann ein kleines, windschiefes Häuschen. Hier lebt die 73-Jährige. Das Leben hat es nie allzu gut mit ihr gemeint. Sie arbeitete zu Sowjetzeiten in einem ChemieKombinat. Die Dämpfe fraßen sich in ihre Lunge, mit 45 war sie schon nicht mehr arbeitsfähig und Frührentnerin. Sie muss schnell nach Luft ringen, wenn sie ihrem Körper zu viel zumutet.
17 Katzen pflegt Galina. „Das sind so gute und unschuldige Wesen“, meint sie.
Ein Blick von ihrem Häuschen führt direkt zu einer Anhöhe mit dem alten Friedhof. Ein Grabdenkmal aus Granit erinnert dort zwischen halb überwachsenen Gräbern an Maria Janzen, die dort 1905 beerdigt wurde. In der Nachbarschaft hält ein
schimmernder Rotarmist Wacht auf dem Kriegerdenkmal. Der Ausblick reicht über New York bis nach Horliwka, das unter russischer Kontrolle ist, und nach Torezk, dass die Ukrainer halten. Dann die Geräusche eines Jets. Der Flieger wirft ab. Eine schwarze Rauchwolke steigt von der Front her auf. Der Pilot nimmt Kurs auf das nahe Torezk. Ein gewaltiger Schlag, als in der nahen Stadt ein Wohnblock getroffen wird. Von vier Verletzten wird später berichtet. Eine riesige braune Rauchwolke steigt auf. Vermutlich werden Victoria und Galina kurz gelauscht haben, als die Bomben detonierten. In New York, Oblast Donezk, keine vier Kilometer von der Front, ein Tag wie jeder andere.
Das Nachbarhaus von Victoria haben Granateneinschläge in einen Trümmerhaufen verwandelt. Überall im Ort ist Zerstörung zu sehen, selbst das historische Konsumgebäude ist beschädigt. Es war gerade als Kulturzentrum eingerichtet worden.
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Mit den wenigen Ersparnissen kaufte sie sich die kleine Ein-Zimmer-Kate in New York. „Ich stamme aus Russland. Aber von meiner Familie lebt niemand mehr. Kinder habe ich keine. Hier in New York ging es mir gut, auch wenn ich nicht viel hatte“, sagt die Rentnerin. „Manchmal kann ich gar nicht
glauben, dass es diesen furchtbaren Krieg gibt“, fügt sie hinzu. Vielleicht hat sie sich deswegen gerade dem Glauben in einer protestantischen Kirche zugewandt. „Es ist nicht Gottes Wille, dass so viele unschuldige Menschen sterben müssen. Ich bete jeden Tag, dass es damit vorbei ist. Dass endlich Frieden kommt“, sagt sie. Dann füttert sie ihre Katzen. 17 Tiere versorgt sie. „Das sind so gute und unschuldige Wesen“, meint sie und nimmt gleich zwei Vierbeiner in den Arm.
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Ich sage ihnen, ,Seid ihr denn verrückt? Sie beschießen uns jetzt schon seit zehn Jahren‘“, Victoria schüttelt ärgerlich den Kopf. „Aber immerhin können wir uns gegenseitig sagen, was wir wollen. Das ist Freiheit, die es in Russland nicht gibt“, sagt Victoria und verabschiedet sich.
DIE DROHNENJÄGER VON TSCHERKASSY
Nicht nur mit High-Tech-Flugabwehr gehen die ukrainischen Verteidiger gegen Angriffe aus der Luft vor. 175 Kilometer vor Kyjiw schießen MG-Schützen auf Shaheds. Und das nicht ohne Erfolg.
Scheinwerfer durchstreifen die Nacht, Laser suchen nach dem Ziel, dann bellen die Maschinen-Gewehre. Drohnenjäger-Einheiten können durchaus Erfolge vorweisen.
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DIE DROHNENJÄGER VON TSCHERKASSY
Die Drohnenjäger von Tscherkassy
Tscherkassy / Kyjiw Anfang Februar 2024
Der Einschlag von Raketen-Trümmern in der Nachbarschaft war für Yulia und ihre Kinder ein Schock. „Noch mehr als Angst empfinden wir Wut auf die, die uns das antun“, sagt sie.
Oder direkt an der Front. Der russische Angriffskrieg hat sich zu einem tödlichen Drohnenkrieg entwickelt. Hier einen Vorsprung zu haben, kann mit kriegsentscheidend sein. So töten und zerstören von der Eigenbau-Kamikaze-Drohne, auf der Kabelbinder eine Granate halten, bis zur Shahed die unterschiedlichsten Varianten in allen Größen. Die Entwicklung der tödlichen Geräte schreitet rasant voran. Shaheds gibt es jetzt mit Düsen als Antrieb. Kamikaze-Drohnen mit Nachtsicht-Kamera sind ein Albtraum der Soldaten in den Gräben, denen jetzt nicht einmal mehr die Dunkelheit Schutz bieten kann. Aufklärungsdrohnen wiederum sind das Auge der Artillerie. Vor allem der Wettlauf bei der Entwicklung von Störsendern, die Drohnen des jeweiligen Feinds zum Absturz bringen, ist entscheidend. Josya und sein Team wirken mit ihren Maschinengewehren antiquiert in der digitalen Droh-
nen-Welt. Doch sie leisten ihren Beitrag bei der Verteidigung für Kyjiw und der nahen Stadt Tscherkassy. Vor allem die Propeller-angetriebenen Shaheds geben für den 26-Jährigen ein Ziel ab. Diese Drohnen sind vergleichbar langsam, tragen eine Sprengladung bis zu 60 Kilogramm. Der Deltaflügler fliegt autonom. Nach dem Start ist keine Steuerung mehr möglich. Keine 200 Stundenkilometer schaffen die Shaheds. Raketen sind gut viermal so schnell. 36 Shaheds will die Einheit zwischen Oktober und Dezember 2023 getroffen haben, dazu 15 Raketen. Mehr aktuelle Zahlen verrät das Bataillon nicht. „Der Feind soll sich kein Bild machen, wie effektiv die mobilen Einheiten sind“, sagt Josyas Kommandant Volodymyr in seinem Büro, bevor es für den Journalisten zur Übung geht. An der Wand hängen Fahnen. Und das Trümmerstück einer Rakete, auf dem die Drohnenjäger ihre Abschüsse als kleine Icons aufsprühen. Hinter einem aufziehbaren Vorhang hängen die Portraits der Gefallenen des Bataillons. „Wenn ich mir ihre Portraits ansehe, bin ich ihnen dankbar für das, was sie geleistet haben. Ihre Tapferkeit ist mein Ansporn“, sagt der Offizier.
DIE DROHNENJÄGER VON TSCHERKASSY
Heute ist nur Übung, aber sie entspricht einer Gefechtssituation. Josya ist ein Drohnenjäger. Mit drei weiteren Soldaten bildet er eine Einheit. „Ich bin Schütze am Maschinengewehr, ein Kamerad sorgt für die Munitionsversorgung, einer hat den Laser und der Vierte ist am Scheinwerfer“, erklärt der Soldat mit Kinnbart. Es sind nicht nur die großen Hightech-Flugabwehrsysteme wie Patriot oder der satellitengestützte Gepard-Flugabwehrpanzer, die die Shahed-Drohnen und Raketen
vom Himmel holen. Im Hinterland der großen Städte, wie hier rund 175 Kilometer von Kyjiw entfernt, sind kleine mobile Einheiten wie die von Josya unterwegs.
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Die Scheinwerferkegel leuchten wie Finger in das Dunkel. Dann ein blauer Laser-Strahl, der die Drohne anvisiert. Ziel erfasst. Jetzt rattern die Maschinengewehre... Brack, brack, brack, brack. Sie speien die Kugeln mit Feuerstößen aus. Das Ziel verschwindet aus dem Kegel, aus dem Schussbereich, in die Dunkelheit. „Verfehlt“, knirscht Josya mit den Zähnen. Der 26-Jährige bedient das schwere Browning-MG, das auf einen Pick-Up geschraubt ist. Es ragt aus einer Metallplatte hervor, die im Gefecht Schutz vor Splittern und Kugeln geben soll. Drei Meter entfernt steht ein betagtes Sowjet-Maschinengewehr auf einem Dreibein. Die Patronenhülsen fallen im Stakkato auf den Boden.
das gewaltige Explosionen, deren Knall den Kindern Angst macht. Nebenbei sind die Abwehrraketen teuer. Teurer als die Produktion einer Shahed, die zirka 20.000 Dollar kostet. Der Abschuss durch ein Maschinengewehr kommt da wesentlich billiger. Ein wichtiger Aspekt, seitdem die Republikaner in den USA weitere Hilfsleistungen für die Ukraine blockieren. Aber ohne eine funktionierende Flugabwehr hätte Putin sein Ziel erreicht. 2022 terrorisierten im ersten Kriegswinter dauernde Angriffe auf die Energie-Infrastruktur die Menschen in der ganzen Ukraine. Stromrationierungen waren die Folge. Dank westlicher Lieferungen von Flugabwehrsystemen scheiterte diesen Winter Putins Plan. Doch noch immer zerstören und töten russische Drohnen und Raketen.
„Das macht mich so wütend. Dieser Terror gegen die Zivilbevölkerung. Deswegen müssen wir gut sein, so viel wie möglich von den Drohnen und Raketen vor den Städten abfangen. Auch wenn wir nur ein Zusatz zu Patriot und Co. sein können“, erklärt der Soldat. Denn selbst abgeschossene Flugkörper können noch Wohnblocks in Brand stecken. Feuert ein Patriot-Abwehrsystem, sind
Yulia ist für jede Drohne und jede Rakete, die vor Kyjiw abgefangen wird, dankbar. Sie steht vor einem Wohnblock im Kyjiwer Stadtteil Holossijiw. Ein grauer Betongigant aus Sowjetzeiten, der vor ihr aufragt. Im Kinderwagen schlummert das Jüngste. Der elfjährige Bruder sieht erschrocken aus, als er die Zerstörung sieht. Am Tag zuvor schlugen dort die Trümmer einer abgeschossenen
Rakete ein. Jetzt blickt die 33-Jährige zu den ausgebrannten Wohnungen empor. Julia lebt mit ihrer Familie im Nachbarblock. „Es hat einen gewaltigen Schlag getan“, sagt die Mutter. Aufgrund des Luftalarms hatte die Familie auf dem Flur zwischen den Wohnungen Matratzen ausgelegt und dort Zuflucht gesucht. „Im Keller des Hauses steht das Wasser, und bis zur Metro ist es ein guter Kilometer“, erklärt die junge Frau. Der Flur ist fensterlos. Das ist wichtig. Eine Druckwelle kann Glasscheiben in tausend fliegende und messerscharfe Splitter verwandeln. „Manchmal haben wir es zu leicht genommen und sind bei Alarm in der Wohnung geblieben. Der Flur ist kalt und zugig. Das ist schlecht für das Baby. Es gibt doch so viele Alarme. Vor allem nachts. Ab jetzt gehen wir aber immer auf den Flur“, sagt die Mutter. Nicht weit vom Viertel steht auch ein Flugabwehrsystem. „Wir sind froh, dass es da ist. Aber für meinen Sohn wirkt der Lärm beim Abfeuern bedrohlich. Ich erkläre ihm, dass das gute Explosionen sind. Weil sie die eingehenden Raketen abschießen.“ Dann
Drohnenjäger Josya in einer Übung. Er will Zivilisten vor dem russischen Drohnen-Terror schützen.
deutet sie auf den ausgebrannten Teil des mächtigen Sowjetblocks. In einer der Wohnungen habe eine Bekannte gewohnt. „Sie war gerade mit ihren zwei Kindern im Bad. Das hat ihnen das Leben gerettet. Sie wären sonst wohl verbrannt. Was für uns bleibt, ist Angst. Aber noch mehr als Angst empfinden wir Wut auf die, die uns das antun“, sagt sie. 77 Prozent der russischen Bevölkerung stehen hinter dem Angriffskrieg auf das Nachbarland, verkündete das als unabhängig geltende Lewada-Zentrum (Moskau) am 6. Februar 2024 nach einer Umfrage. Das zu hören, schmerzt Yulia.
Ein alter Mann schiebt ein wackeliges Fahrrad an ihr vorbei. Er hat von Helfern Plastikplanen bekommen. Sein Wohnzimmerfenster ist durch die Druckwelle bei den Einschlägen im Nachbargebäude geborsten. Die Planen will er in den Fensterrahmen nageln. „Dann schneit es wenigsten nicht mehr hinein“, sagt er. Und trippelt weiter Richtung einer Hauswand, in der Scherben in Fensterrahmen hängen. Seit zwei Jahren ist das Alltag im russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Es gibt kaum noch eine Stadt, deren Menschen nicht schon Ziel waren.
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Der 26-Jährige hat an der Front gekämpft. In Bachmut hat eine Kugel einen guten Freund
getroffen. Er starb nur drei Meter entfernt von ihm. Er selber fing sich einen Splitter bei russischen Beschuss ein. Bachmut ist ein Begriff in der ukrainischen Armee für Kämpfen und Sterben. So gesehen ist seine jetzige Aufgabe als Drohnenjäger im Hinterland sicher. Aber auch eine Herausforderung. In Charkiw tötete am 10. Februar ein russischer Drohnen-Angriff eine fünfköpfige Familie, darunter ein sechs Monate altes Baby. Im Bericht der regionalen Polizeibehörde steht in knappen Worten zu dem Säugling: „Die Temperatur des Brandes war so hoch, dass Knochen und der Körper des Kindes zu Asche wurden. Wir gehen davon aus, dass die Mutter ihr Kind im Arm hielt.“ Laut den Vereinten Nationen starben bisher rund 10.000 Zivilisten im russischen Angriffskrieg. Fast 20.000 wurden verwundet.
DIE DROHNENJÄGER VON TSCHERKASSY
DIE DROHNENJÄGER VON TSCHERKASSY
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Die Standorte, zu denen die Drohnenjäger ausrücken, sind vorgegeben und innerhalb von 18 Minuten nach Alarmierung für die Teams erreichbar. Ihre Position ist geheim. Wüssten die russischen Streitkräfte, wo die Maschinengewehre auf Drohnen warten, würden sie die Flugrouten entsprechend ändern. Die Angriffe erfolgen meist nachts, wenn die Drohnen für die Flugabwehr schlechter zu erkennen sind. Wichtig für die Drohnenjäger ist es, dass eine möglichst weitreichende Schussbahn gewährleistet ist. Da die Flugroute oft auch direkt über einem Flussbett verläuft, gilt auch hierauf ein Augenmerk der Drohnenjäger. In diesem Fall ist es der Dnipro, der seit der Sprengung des Kachowka-Staudamms in der Breite geschrumpft ist, dafür aber ein großes, flaches Sandmeer hinterlassen hat. Das frühere Flussbett. „Über 1,5 Kilometer ist die effektive Reichweite meines Maschinengewehrs. Andere Modelle können über zwei Kilometer erreichen“, erklärt Josya. Wie viele Einheiten in der ganzen Ukraine im Einsatz sind, ist Geheimsache. Geschickt verteilt, können sie jedoch durchaus Erfolge erzielen.
ÜBER DEN AUTOR & FOTOGRAFEN UND IMPRESSUM
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Über den Autor & Fotografen Die Langzeitfolgen von Konflikten und Kriegen hält Till Mayer seit vielen Jahren in seinen Fotos und Reportagen fest. Den Krieg in der Ukraine dokumentiert er bereits seit 2017 und warnte kontinuierlich vor der Gefahr einer Ausweitung der Kampfhandlungen. Seine Ukraine-Berichterstattung intensiviert sich seit dem Beginn der russischen Invasion am 24. Februar 2022. Er berichtet nun im monatlichen Rhythmus als freier (Foto-)Journalist für die Augsburger Allgemeine, Main-Post, Badische Zeitung, Südkurier, Tagesspiegel, Rheinische Post, Aachener Zeitung, Stuttgarter Zeitung, Stuttgarter Nachrichten, General-Anzeiger, Mediengruppe Attenkofer, Ärzte-Zeitung und weitere Redaktionen großer Regionalzeitungen und Magazine. Schon 2007 führte den Bamberger ein Buch- und Ausstellungsprojekt über KZ-Überlebende („roter Winkel, hartes Leben“, Verlag Herder) erstmals in die Ukraine. Seitdem folgten viele Reportagen aus dem osteuropäischen Land. Der Journalist und Fotograf erhielt für seine Arbeit mehrfach Preise und Auszeichnungen. In seiner Heimat hat er die Leseraktion „Helfen macht Spaß“ aufgebaut, die in Zusammenarbeit mit dem Roten Kreuz und
anderen Wohlfahrtsverbänden Bedürftige unterstützt. Seit über einem Jahrzehnt engagiert er sich für verarmte und chronisch kranke Senioren in Lwiw (Ukraine). Bei der Tageszeitung „ObermainTagblatt“ ist er als Redakteur angestellt. Seine Fotos werden weltweit in Ausstellungen gezeigt. Er ist Filmemacher sowie Autor von mehreren Reportage- und Bildbänden.
Impressum © 2024 ibidem-Verlag www.ibidem.eu Alle Rechte vorbehalten Texte und Fotos: Till Mayer, www.tillmayer.de
Lektorat: Gabriele Görlich, Annette Körber und Kerstin Zethner Gestaltung: Christian Seuling Druck: AALEXX Druck Produktion, Großburgwedel ISBN: 9783838219394
Im Internet: www.tillmayer.de www.erschuettert.org, www.barriere-zonen.org, www.winter-in-lviv.org, www.fuer-ein-laecheln.org
Für Spenden Till Mayer hat zusammen mit dem Roten Kreuz ein Hilfsprojekt für Rentner in Not in Lwiw aufgebaut. DRK-Landesverband Badisches Rotes Kreuz Sparkasse Freiburg Nördlicher Breisgau IBAN: DE04 6805 0101 0012 3876 49 SWIFT-BIC: FRSPDE66XXX Stichwort: Ukraine
Danksagung des Autors Dank gilt den Interviewten und Porträtierten, den ukrainischen Soldatinnen und Soldaten an der Front für ihre Geduld und ihre Gastfreundschaft sowie Prof. Dr. Markus Behmer, Prof. Johannes Grotzky und Dmytro Shevchenko für ihre freundschaftlich-kritische Begleitung. Besonders möchte ich die jahrelange Zusammenarbeit mit meinem Fotografen-Kollegen Oles Kromplias hervorheben. Mit ihm bereiste ich die Ukraine für dieses Buch. Dank gilt dem Ukrainischen Verein Augsburg sowie Gabriele Görlich, Annette Körber und Kerstin Zethner für das Lektorat. Ohne all die vielen Unterstützer wären meine Reisen nicht möglich.
Foto: Hendrik Steffens
Dieses Buch wurde mit Mitteln der Ludwig-DelpStiftung gefördert.