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SPOTLIGHT

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DIGITALISIERUNG Technologische Innovation in der Filmproduktion

Der Siegeszug des Streamings ist nur die Spitze des Eisbergs: Auf der Produktionsseite sorgen neue Technologien für große Veränderungen. Und wir stehen erst am Anfang

Schwerpunkt Technologie

Text FLORIAN KRAUTKRÄMER

Illustrationen

OSCAR DIODORO

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,

vor einigen Jahrzehnten bestand die Vision der Zukunft aus fliegenden Autos und der Möglichkeit, schnell und komfortabel von einem Kontinent zum anderen zu reisen. Computer, die alles steuern, gehörten eher in Filme wie 2001: Odyssee im Weltraum und waren nicht so positiv gesehen. Heute spricht niemand mehr von fliegenden Autos – aber es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis selbstfahrende, computergesteuerte Fahrzeuge auf den Straßen unterwegs sind. Im Jahr 2020 wurde das persönliche Reisen coronabedingt durch Videokonferenzen ersetzt und inzwischen hat die Digitalisierung auch den letzten Winkel unseres Alltags erfasst. In der Filmbranche ist das schon länger einer der bestimmenden Diskurse. Die Umstellung von analoger Produktions- und Projektionstechnik auf digitale Möglichkeiten ist zwar weitgehend abgeschlossen, aber die Transformation geht durch stetige Innovation immer weiter. Grund genug, um einen eingehenderen Blick auf Veränderungen und Vorstellungen zu werfen, die Filmproduktion, Postproduktion und Ausbildung beschäftigen. Vorneweg: Lokale Filmstandorte und reale Begegnungen sind nach wie vor wichtige Faktoren.

Florian Krautkrämer Chefredakteur TAKE #12

DIGITALISIERUNG Technologische Innovation in der Filmproduktion

DIGITALISIERUNG Technologische Innovation in der Filmproduktion

Film is Technology.

Die digitale Revolution hinter der Kamera

Der Gründungsmythos des Films erzählt von

einer handbetriebenen Kamera, die zugleich auch Projektor war: Sie projizierte die aufgenommenen Bilder eines einfahrenden Zuges – und das Publikum sprang erschrocken von den Sitzen. Wir wissen heute, dass diese Geschichte ebenso übertrieben ist, wie die Annahme falsch ist, dass von dort an die Entwicklung der Filmtechnik in einer geraden Linie auf die heutigen Standards zulief. Film war von Beginn an eine Kunst für Bastler, Tüftler und Erfinder. Mit jeder Produktion wurde die Technik weiterentwickelt – auch beim Abspiel. Ton, Farbe und Filmlänge waren dabei keine Attribute, die man den bewegten Bildern hinzufügte, sondern immer auch Teil eines Verdrängungsprozesses: Produktionen mussten neues Equipment und passendes Personal mieten, Kinos mussten aufrüsten. Gleichzeitig ermöglichte die Modifikation der Technik aber auch eine neue Ästhetik und andere Geschichten. Dank tragbarer Soundrecording-Systeme wie der Nagra konnte man ab den 1950er-Jahren schnelle Produktionen auf der Straße drehen, ohne erst mit viel Aufwand das Gebiet abzusperren. Digitale Technik ermöglicht noch kleinere Kameras sowie stundenlange Aufnahmen. Für High Flying Bird (2019) zog Steven Soderbergh mit dem iPhone los – und veröffentlichte seinen Film auch nicht mehr im traditionellen Kino, sondern auf Netflix. Im Abspiel ist der Wandel von analoger auf digitale Projektion – sowie die grundlegende Neustrukturierung, bei der die Streamingplattformen zunehmend wichtiger werden – schon länger ein Thema, wie aber sehen die Auswirkungen auf die Produktion aus?

HARDWARE Ausdifferenzierung und Pluralität sind Merkmale, die mit der digitalen Transformation einhergehen. Auch in der Produktion merkt man das. Niels Maier hat vor über 30 Jahren den Geräteverleih Maier Bros. gegründet, der auch in Meran eine Dependance betreibt. Maier beschreibt die Schnelllebigkeit der Entwicklungen und die damit einhergehende Diversität des Marktes als die größte Veränderung der Branche: „Deutlich mehr Anbieter stellen ähnliche Produkte her, die zum Teil auch noch schneller altern als früher. Sich auf ein, zwei Anbieter von Lampen zu verlassen, reicht nicht mehr aus“, so Maier. Sein Unternehmen verleiht die großen Sachen, Kräne, Trucks, Lampen aller Art. Das ist nichts, was man sich auf gut Glück anschafft und in mehrfacher Ausfertigung in der Garage unterbringen kann. Wie kann man aber Entwicklungen antizipieren,

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Marktbeobachtung, eigene Forschung und Entwicklung: Filmrentals müssen heute mit extrem schnellen technischen Entwicklungen mithalten.

um die richtigen Geräte im Verleih zu haben, die dann auch nachgefragt werden? Wie kann man Fehlinvestitionen gering halten? Eine Strategie ist, erklärt mir Maier, möglichst spät zu entscheiden und zu warten, bis die Geräte auf Bestelllisten von Filmproduktionen auftauchen. Auch selbst nahe an Forschung und Entwicklung zu sein, ist hilfreich: Neue Produkte lernen die Maier-Brüder auf Messen und durch die Hersteller kennen, sie testen sie oft selbst und können so auch für den Erfolg am Markt sorgen. „Das ist allerdings schon immer so gewesen“, sagt Maier. Nur eben nicht in dieser Geschwindigkeit und Vielfalt. Der Beratung und Wissensvermittlung kommt da ebenfalls eine große Wichtigkeit bei – ein Thema, das vor allem im Zusammenhang mit dem Green Film Shooting und nachhaltiger Filmproduktion nicht zu unterschätzen ist. Denn zum einen ist es eben nicht damit getan, nur die energiesparenden LEDs auszuleihen, man muss auch wissen, wie man sie richtig einsetzt, sonst kann sich ihr Effekt schnell ins Gegenteil verkehren. Zum anderen – so hat es Philip Gassmann im Interview in TAKE #11 beschrieben – fehlt Erfahrung im Umgang mit Geräten wie beispielsweise Solargeneratoren, die bereits energiesparend in anderen Bereichen eingesetzt werden, aber noch nicht für die Anforderungen einer Filmproduktion getestet wurden.

SOFTWARE Beratung und Weiterbildung ist auch in der Postproduktion ein nicht zu unterschätzendes Thema. Cine Chromatix, ein Postproduktionshaus mit mehreren Standorten in Deutschland, setzt in Meran, wo es mit Cine Chromatix Italy einen großen Ableger betreibt, besonders auf die Kooperation mit der Filmschule ZeLIG in Bozen sowie lokalen Produzentinnen und Produzenten. „Die Möglichkeiten der Postproduktion kann man nur wirklich ausschöpfen, wenn man sie von Beginn an in die Produktion mit einbezieht“, sagt Studiomanager Florian Geiser. Deswegen knüpft Cine Chromatix Italy (► Studiobesuch S. 50) durch die Teilnahme an Produzentenworkshops schon früh Kontakte. Durch die stetig wachsenden Möglichkeiten der digitalen Nachbearbeitung und Effekte wird es immer wichtiger, Produzentinnen und Produzenten dafür zu sensibilisieren, schon bei der Arbeit am Drehbuch Postproduktion und VFX-Supervisoren mit einzubeziehen. Damit Dreh und Nachbearbeitung gut aufeinander abgestimmt sind und die Kosten am Ende nicht aus dem Ruder laufen.

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Durch das zunehmende remote working und den Ausbau schneller Internetverbindungen sollte man meinen, dass gerade in diesem Bereich der persönliche Kontakt gar nicht mehr so wichtig ist. Und während der coronabedingten Einschränkungen war das Arbeiten an weit voneinander entfernten Orten eine gute – wenn auch leider die einzige – Möglichkeit, um Projekte voranzutreiben. Aber als alleiniges Zukunftsszenario sieht Geiser das nicht. „Wenn zwei Menschen direkt im Raum miteinander am Bild oder Ton arbeiten, lassen sich Entscheidungen doch schneller treffen“, sagt er. Deswegen hat sein Unternehmen vor wenigen Jahren in Meran ein Arbeitskino errichtet – nicht ganz ohne Risiko. „Natürlich haben wir uns 2018 gefragt, ob das jetzt die richtige Entscheidung ist, ein Kino zu bauen“, erzählt Geiser. Wer weiß schon, wie lange die große Leinwand noch tatsächlich der Standard sein wird, für den man produziert. Bislang habe sich die Investition aber doch gelohnt, so Geiser. Und: „Das Erweitern des VFX- und Postproduktionsangebots ist auch eine Möglichkeit, um Talente wieder zurückzuholen, die nach der Ausbildung mangels Jobs beispielsweise nach England, Kanada oder Neuseeland auswandern mussten“, sagt der Studiomanager. Auch hier stellt sich allerdings die Frage, wie sich zukünftige Entwicklungen rechtzeitig erahnen lassen, denn auch die Möglichkeiten und Technologien der Postproduktion nehmen stetig zu und entwickeln sich immer schneller.

INNOVATION Für einen so innovationsgetriebenen Bereich sind vor allem privatwirtschaftliche Investitionen für Entwicklung und Ausbau vielversprechender, zukünftiger Technologien notwendig – und damit auch Forschung, die zu neuen Anwendungen führt. Öffentliche Gelder und Förderungen können das nicht unbedingt leisten. Hinzu kommt, dass Produktionsförderung projektgebunden ist und Entwicklungsförderung zum einen beschränkt und zum anderen meist eher für Inhalte vergeben wird, nicht für Infrastruktur. Wie kann man also bei der Entwicklung neuer Techniken und Bildwelten Trends setzen? Ein befreundeter Produzent stellt mir dazu folgende hypothetische Frage: Nehmen wir

Um die stetig wachsenden VFX-Möglichkeiten optimal nutzen zu können, sollten Produzenten von Anfang an mit der Postproduktion zusammenarbeiten – vor Ort oder remote.

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an, wir befinden uns im Jahr 1995 und jemand hat hier in Europa die Idee zum Film The Matrix. Könnte man auch hier den Bullet-Time-Effekt entwickeln und mit dem Film zur Marktreife bringen? Ich muss nicht lange nachdenken: Es erscheint mir unwahrscheinlich. Die französische Filmförderung CNC hat daher das Förderinstrument „Aides aux industries techniques, innovation et relief“ ins Leben gerufen, mit dem u. a. gezielt die digitale Bearbeitung von (interaktiven) Filmen gefördert werden kann, die aber auch Investitionen in die Infrastruktur begünstigt. Sogar Investitionen in ökologische Unternehmungen können gezielt bezuschusst werden. Aber es ist nicht nur eine Zeit- und Geldfrage, auch eine Kultur des Austausches und des Diskurses ist wichtig. Wer die monatlich erscheinende Zeitschrift American Cinematographer durchblättert, stellt schnell fest, dass es hier neben der Präsentation von Talenten vor allem um die Betonung des Erfindergeistes geht. Minutiös werden die Anstrengungen beschrieben, um etwa spezielle Halterungen zu entwickeln, die das Filmen eines Fallschirmsprungs in bisher nicht gesehener Art und Weise ermöglichen. Neben Geld und Interesse am Entwickeln von Prototypen braucht es auch eine Plattform, auf der man sich prominent darüber austauschen kann.

AUSBILDUNG Auch in der Ausbildung setzt man darauf, eher Methodenkompetenz zu vermitteln, als mit den Studierenden Programme einzuüben, die möglicherweise schon wieder veraltet sind, sobald sie ihr Studium abgeschlossen haben. „Es ist weniger entscheidend, welche Software ich lerne, als zu lernen, wie ich eine Software erlerne“, bestätigt mir Professor Jürgen Haas, der den Studiengang Animation an der Hochschule Luzern Design & Kunst leitet. Die zunehmende Qualität und Wichtigkeit von Open-Source-Programmen verändert auch die Ausbildung, da Studierende sich inzwischen schon mit sehr weit fortgeschrittenen Arbeiten bewerben – teilweise mit einer technischen Qualität, die man früher erst am Ende eines Studiums erwarten konnte. Damit wird auch im Technikbereich an Hochschulen eine Art von Forschung wichtig. Nicht nur, um neue Technologien zu vermitteln und einsetzen zu können, sondern auch, um eine Kultur zu vermitteln, die sich nicht mit der Beschaffung hochwertigen Equipments zufrieden gibt, sondern darüber hinausgehen kann. Das Besondere und auch Herausfordernde am Film ist, dass man ihn nicht nur auf die Technik und die damit einhergehenden Sachzwänge reduzieren kann, aber seine Möglichkeiten zum inhaltlichen Ausdruck sind davon auch nicht zu trennen. Ja, Geld und Ausstattung sind wichtig,

STIPENDIUM

Jährlich vergibt IDM ein Stipendium für einen 12-monatigen Lehrgang im Bereich Licht- und Kamerabühne am Hauptsitz von Maier Bros. in Köln. IDM übernimmt die gesamten Kursgebühren, der Stipendiat oder die Stipendiatin aus Südtirol wird mit einer Teilzeitanstellung bei Maier Bros. vergütet. Infos: film.idm-suedtirol.com

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genauso wie das richtige Bedienen neuer Geräte, aber im Film zählt letztendlich die Arbeit am Inhalt und der Dramaturgie. Heidi Gronauer, Leiterin der ZeLIG in Bozen, erzählt mir, dass die Dokumentarfilmschule auf den Lockdown in Italien von März bis Juni letzten Jahres mit Onlinekursen gut reagieren konnte – zumal Zoom-Unterricht schon seit mehreren Jahren in ihrem Europäischen Programm ESoDoc eingesetzt wird. Natürlich könne man die Handhabung und Bedienung von Kameras nicht in Onlinekursen lernen, sehr wohl aber Montage und das Verständnis von Bilddramaturgie. Und – das ist Heidi Gronauer besonders wichtig – das kollaborative Arbeiten: „Egal ob online oder im Präsenzunterricht, die Studierenden müssen lernen, im Team zu arbeiten, sich aufeinander verlassen zu können – und sie müssen lernen, wie man voneinander lernt.“ Das kann keine neue Erfindung und technologische Lösung ersetzen. Vielmehr ist es so, dass man sich auf den Wandel, den die Digitalisierung mit sich bringt, auch besser einstellen kann, wenn man gelernt hat zusammenzuarbeiten. Ob sie zuversichtlich in die technologiegeprägte Zukunft ihrer Absolventinnen und Absolventen schaue, frage ich Heidi Gronauer zum Schluss. Und da das keine Frage ist, die man einfach mit Ja oder Nein beantworten kann, tut sie das auch nicht. Für sie liegt eine der gegenwärtigen Herausforderungen darin – egal ob vor Ort oder online –, die Studierenden darin zu unterstützen, ihren eigenen, einzigartigen Blick auf die Realität zu entwickeln. Und sie darin zu stärken, aktiv die neuen Entwicklungen im audiovisuellen Sektor gestalten zu können. Gerade die Covid-Krise hat für eine weitere Zuspitzung gesorgt. Services wie Netflix legen zwar an Marktanteilen zu und sorgen damit für ausreichend Beschäftigung, aber bleibt dabei auch die Vielfalt erhalten, um die Komplexität der Welt abzubilden? Bei all den Veränderungen, die die Branche durchlebt, ist es wichtig, die Einzigartigkeit der verschiedenen Stimmen zu erhalten. „Wenn nicht klar ist, wo der Markt hingeht“, so Gronauer, „ist es um so wichtiger, nicht bloß auf Moden zu achten, sondern das Fundament für eine eigene Stimme zu legen.“ T#12

In der Filmausbildung gelernte Software ist heute schnell veraltet, wichtiger ist kollaboratives Arbeiten und eine ständige Bereitschaft, Neues zu lernen.

RENTALS, TECHNIK, POSTPRODUKTION: EINIGE ANSPRECHPARTNER IN SÜDTIROL

► CINE CHROMATIX ITALY VFX und Postproduktion, Meran www.cine-chromatix.it

► JENNESSEN MOTION PICTURES Kamerabühneverleih, Meran www.m-p-j.eu

► MAIER BROS. Filmgeräteverleih, Meran www.maierbros.it

► PANALIGHT SÜDTIROL Filmgeräteverleih, Bozen www.panalight.it

► REC SÜDTIROL Kameraverleih, Bozen www.rec-roma.com

► ZELIG SCHOOL FOR DOCUMENTARY,

TELEVISION AND NEW MEDIA

Filmschule mit den technischen Schwerpunktfächern Kamera/Licht sowie Schnitt/Postproduktion, Bozen www.zeligfilm.it

FILM Hochwald (2020)

DIRECTOR Evi Romen

»Diese Verlorenheit junger Menschen berührt mich.«

Regisseurin Evi Romen über Religion und Männlichkeit, das enge Leben in kleinen Dörfern und ihr Spielfilmdebüt Hochwald

Interview

DORIS POSCH

Fotos

ANDREAS JAKWERTH

SCRIPT Evi Romen

PRODUCTION Amour Fou Vienna

„Je älter ich wurde, desto stärker wurde dieser Drang, selbst etwas zu machen.“ Evi Romen hat vor ihrem Regiedebüt Hochwald lange als Cutterin gearbeitet.

FILM Hochwald (2020)

DIRECTOR Evi Romen

„Ich fand es immer sehr beeindruckend, dass dich Glück oder Reichtum nicht vor dem Schicksal schützen können.“ Evi Romen beim Interview im Filmcasino Wien Das Leben im Dorf hinter sich lassen und Tän-

zer werden: Das ist der sehnlichste Wunsch des 20-jährigen Mario (Thomas Prenn). An Weihnachten begegnet er seinem Jugendfreund Lenz (Noah Saavedra), der als Winzersohn vergleichsweise bessere Perspektiven hat und vom Schauspielen träumt. Nach einem kurzentschlossenen Ausflug der beiden nach Rom wird Marios Zukunftsvision jäh zerrüttet, als Lenz bei einem Attentat stirbt und Mario sich mit der Berg- und Talfahrt eines aus den Fugen geratenen Lebens konfrontiert sieht. Evi Romen hat nach langjähriger Karriere als Filmeditorin ihr Spielfilmdebüt Hochwald realisiert. Im Mikrokosmos eines Südtiroler Alpendorfes erzählt die Regisseurin eine Geschichte der Vision und der Unmöglichkeit, der dörflichen Enge zu entkommen. Wir treffen Evi Romen zum Interview im Filmcasino in Wien. Mit TAKE spricht sie über das ideologisch motivierte Attentat im Bataclan in Paris 2015 als Ausgangspunkt zu ihrem Film, über den Umgang mit Tod, die Wirkkraft katholischer Glaubenssätze durch Schuldzuweisung und Homophobie sowie über die Angst, das Schicksal zu benennen.

Wie ging es Ihnen nach langjähriger Erfahrung als Cutterin mit der neuen Rolle als Regisseurin? EVI ROMEN Die Schnittkarriere war nur ein Aufschub für das andere: Ich habe an der Wiener Filmakademie studiert und wollte ursprünglich Filmemacherin werden. Die Zufallsbegabung Schnitt hat sich schnell herausgestellt – und Schnitt ist einfach auch der schönste Beruf beim Film! Je älter ich wurde, desto stärker wurde dieser Drang, selbst etwas zu machen. Regie ist mir relativ leicht gefallen, das Einzige, vor dem ich mich gefürchtet hatte, war die Schauspielführung. Selbst da hat mir der Schnittberuf geholfen, weil ich sehr gut beobachten kann. In den Szenen konnte ich Ruhe bewahren, weil ich wusste, dass es sich schnittmäßig immer ausgeht – nur die Emotion muss stimmen.

Hochwald ist in einem dörflichen Setting angelegt, das Ihnen sehr vertraut ist. Wie kam es zum Aufeinandertreffen der verschiedenen Themen, die Sie in diesem Südtiroler Dorf zusammenbringen? ER Die Ursprungsidee war gar nicht, dass ich einen Film in Südtirol drehe. Als die Attentate im Bataclan in Paris geschahen, war ich zufällig in Südtirol. Durch die regionalen Nachrichten erreichte mich dieses globale Ereignis mit dem Nebensatz, dass auch ein junger Südtiroler unter den Opfern sei. Da Südtirol eine relativ kleine Region ist, wo man einander kennt, fragte ich mich, ob ich das Opfer kenne.

SCRIPT Evi Romen

PRODUCTION Amour Fou Vienna

EVI ROMEN wurde 1967 in Bozen geboren, sie lebt in Wien. Seit über 20 Jahren arbeitet sie als Editorin zahlreicher Serien, Kino- und Fernsehfilme, u. a. Der Knochenmann, Silentium, Braunschlag. In der Kategorie Bester Schnitt erhielt sie für Mein bester Feind 2011 den Diagonale Preis sowie 2016 den Österreichischen Filmpreis für Casanova Variations. 2017 gewann sie für ihr Drehbuch zu Hochwald den Carl-Mayer-Preis. Hochwald ist Evi Romens Spielfilmdebüt als Regisseurin, sie gewann dafür beim Zürich Film Festival 2020 das „Goldene Auge“ im Fokus-Wettbewerb.

Das Attentat vom 13. November 2015 im Bataclan dient als Grundlage für den Film. Aufbauend dazu verweben Sie mehrere Ebenen, wie etwa jene der Homophobie. ER Das Spiel mit der homoerotischen Ebene war ganz bewusst gesetzt. Ich habe versucht, das Thema aus dem Altbackenen herauszunehmen. Homophobe Gedanken sind heute noch da, aber junge Menschen betrachten die Grenzen als fließend, es ist nicht mehr so wichtig, zugeordnet zu werden.

Das fiktive Attentat in Hochwald ist aus der Innenperspektive Marios dargestellt, Sie geben dem Attentat aber auch eine sichtbare Bühne durch das Mikrofon, über das sich ein Attentäter verbal äußert. Warum diese Inszenierung? ER Es war mir klar, dass das Attentat im Film fiktiv sein muss. Ein homoerotischer Ort ist da ein ganz wesentlicher Angriffspunkt – erstaunlicherweise, denn wir leben in einer Männerwelt und es überrascht, dass diese so homophob ist. Es gab verschiedene Phasen: Einmal habe ich das Attentat komplett aus dem Drehbuch genommen, dann wieder ganz groß erzählt. Keiner rechnet doch damit, dass einem so etwas passiert – und filmisch interessant war die Überlegung, was passiert, wenn man in dem Moment gar nicht bemerkt, was da eigentlich vor sich geht, und mitten im Begreifen stirbt.

In den letzten Jahren sind etliche Filme entstanden, die das Thema Radikalisierung aufgreifen, vorrangig mit weißen, jungen Männern als Protagonisten, in Vorstadtsettings und an der unteren sozialen Schicht angesiedelt. Hochwald zeigt zum einen ein ideologisch motiviertes Attentat, zum anderen muslimische Religionspraxis. Was in medialer Rezeption oft gemeinsam gelesen wird, lassen Sie nebeneinander stehen. ER Der Film ist ein Zeitdokument, ich wollte zeigen, was heutzutage eine mögliche Todesursache ist. Ich wollte keinen Film über ein Attentat oder über Radikalisierung machen. Für mich war es mehr eine Beobachtung der Bedrohung.

FILM Hochwald (2020)

DIRECTOR Evi Romen

„Niemand entkommt seiner Herkunft.“ In ihrem Film thematisiert Evi Romen durch ein tragisches Ereignis die Zwänge von kleinen Dörfern, Geschlechterrollen und Religionen.

War es von Anfang an klar, dass Sie die Figur des Imams Mami, der auch eine Form der Zugehörigkeit für Mario bietet, mit dem deutschen Schauspieler Kida Khodr Ramadan besetzen werden? ER Für meine Geschichte war es mir wichtig, common people zu zeigen und niemanden mit einem Star-Background zu haben. Aber diese Rolle wollte ich mit einem Star besetzen. Kida Khodr Ramadan hatte zunächst abgesagt, da er nicht die Rolle eines Imams spielen wollte. Dann habe ich ihm einen Brief geschrieben und ihm erklärt, dass ich etwas ganz anderes suche, als er bis jetzt gespielt hatte. Und er sagte zu – zum Glück. Ich brauchte einen Rattenfänger, jemanden, den die Jungs mögen.

Was hat Sie dazu bewegt, das Thema des Katholizismus so präsent anzulegen? ER Der Katholizismus ist nach wie vor sehr präsent. Es ist zwar nicht mehr so, dass alle in die Kirche gehen und beten, aber diese über die Jahrhunderte in unsere Gene eingestampften Glaubenssätze kriegen wir nicht so leicht los. Immer, wenn Schicksal im Spiel ist, bemüht man auch Religion und Rituale, die man gewohnt ist und gelernt hat. In der heutigen Zeit, durch den islamistischen Terror, wird man ständig mit Religion konfrontiert. Ihre Beobachtungsgabe wirkt mitunter verstörend im Film; im Dorfsetting herrscht viel Oberflächlichkeit, man bewertet Äußerlichkeiten. Dennoch blickt man in die Tiefe, weil die Figuren in so vielen Abhängigkeitsverhältnissen zueinander stehen. ER Die Oberflächlichkeit im Dorf schützt dich vor der Tiefe, vor einem tiefen Gespräch. Es ist eine Art Sprache, die man entwickelt, um miteinander auszukommen. In einer kleinen dörflichen Gemeinschaft ist es schwierig, jedem seine Meinung zu sagen. Dadurch entwickelt sich über viele Jahrhunderte eine Form der Kommunikation, die auf den ersten Blick oberflächlich wirkt, aber trotzdem viel Information transportiert, zum Beispiel über die Beobachtung, was im Gesicht passiert. Die Rettung in die Oberflächlichkeit ist auch hilfreich, denn in Momenten, wo es einem die Sprache verschlägt, sind Floskeln angenehm zu bedienen. Denn was soll man auch sagen, wenn jemand gestorben ist?

Neben den Vaterfiguren von Mario und seinem Freund Lenz sind auch die Mutterfiguren unterschiedlich angelegt: Marios Mutter lebt im Zwang der vorherrschenden Strukturen; nach Marios Äußerung, er sei vom Metzger sexuell missbraucht worden, solidarisiert sie sich mit diesem, anstatt sich hinter ihren Sohn zu stellen. Während Lenz’ Mutter Mario beschuldigt und sagt, er hätte anstelle von Lenz sterben sollen. Wie kam es zu dieser Figurenzeichnung? ER Ich kenne beide dieser Figuren. Jede Mutter will das Beste für ihr Kind, aber jede hat andere Möglichkeiten und Lebensumstände. Für eine Frau wie die Mutter von Lenz ist es unvorstellbar, dass ein Mensch, der in Glück getränkt scheint, Unglück hat. Deshalb auch der Satz in meinem Film: „Besser eine Hütte, in der man lacht, als ein Palast, in dem man weint.“ Ich fand es immer sehr beeindruckend, dass dich Glück oder Reichtum nicht vor dem Schicksal schützen können. Mit Lenz’ Mutter wollte ich auch Homophobie thematisieren: Was passiert, wenn der Verdacht auftritt, dass beim eigenen Sohn das zutrifft, was man nicht vermuten würde?

Die Figur des Mario spinnt sich in Uneindeutigkeiten weiter, durch Andeutungen hinsichtlich Vaterschaft, Freundschaft, Sehnsüchten und Grenzen seiner Visionen. ER Die meisten jungen Menschen, die ich kenne, sind in dieser Uneindeutigkeit gefangen. Mit zwanzig stehen sie an einem Punkt im Leben, wo sie das Ruder nochmal rumreißen könnten. Das ist auch ein Moment, wo man sich als absolut einzigartig wahrnimmt, aber dann kommt der Moment der

SCRIPT Evi Romen

PRODUCTION Amour Fou Vienna

Uneindeutigkeit. Gleichzeitig liegt in dieser Herumprobiererei so viel Verlorenheit. Diese Brüche finde ich filmisch interessant. Diese Verlorenheit junger Menschen berührt mich, auch wenn sie sich noch so selbstbewusst geben.

Sie setzen eine Perücke ein, die sich durch den gesamten Film zieht. Die Perücke stiehlt Mario die Show, Lenz steht damit noch mehr im Rampenlicht, als er dies ohnehin schon tut, gleichzeitig ermöglicht sie Mario Wandlungsmomente. ER Noch bevor die Story da war, war die Perücke da! Wenn du eine Perücke aufsetzt, bist du ganz anders, sie ist ein Narrenhut. Gleichzeitig bietet sie durch ihre Auffälligkeit weniger Schutz. Die Perücke zeichnet einen Weg nach: vom „Ich möchte beeindrucken, ich möchte anders sein“, sich aber nicht trauen über den besten Freund, der sich traut, einfach die Show zu stehlen, zum Wiederabnehmen der Perücke bis hin zum Trauersouvenir. Schlussendlich macht Mario das, was er sich zu Beginn nicht traute: Er geht mit der Perücke durch die Dorfgemeinde – eigentlich das Mutigste, was er im ganzen Film macht. Der Wald ist im Film sehr präsent: Zum einen bietet er Zuflucht aus der Enge des Dörflichen, zum anderen symbolisiert er die Welt als Gefahr. Zeigt die Endszene im Wald, dass es Mario verwehrt bleibt, seine Visionen zu verwirklichen? ER Es gibt viele Interpretationsmöglichkeiten dafür, was weiter mit Mario geschehen wird. Diese Baumstämme sind auch wie ein Gefängnis: Es ist vollkommen klar, dass er der dörflichen Gemeinschaft auch dann nicht entfliehen wird, wenn er weggeht. Ich habe selber lange versucht, meine Wurzeln zu leugnen. Du entkommst dem nicht, niemand entkommt seiner Herkunft. Das – und dass Heimkehr nicht unbedingt etwas Negatives sein muss – schwingt in meinem Film mit. Aber es gibt auch Dinge, die akzeptiert werden. Deshalb lasse ich ihn nackt und mit Perücke als Hofnarr durch dieses Dorffest schreiten, diese Stimmung wollte ich mit dem Ende einfangen: Er ist einer von uns. Einer, der weder physisch noch psychisch entkommen kann. T#12

HOCHWALD (WHY NOT YOU) von Evi Romen ist eine Produktion der Amour Fou Vienna (Alexander Dumreicher-Ivanceanu, Bady Minck) in Koproduktion mit der belgischen Take Five und wird von True Colours international vertrieben. Die Hauptrolle des Mario spielt der Südtiroler Schauspieler Thomas Prenn (r.), Lenz wird von Noah Saavedra verkörpert. Zum Cast gehören auch die Südtiroler Darsteller Katja Lechthaler, Lissy Pernthaler und Andreas Hartner. Die Dreharbeiten fanden an mehreren Locations in Südtirol und Österreich statt. IDM Film Fund gewährte eine Förderung für die Produktionsvorbereitung in Höhe von 45.000 Euro und eine Produktionsförderung von 650.000 Euro.

Flo Rainer/Amour Fou

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