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PRODUZENTEN-TALK
PRODUZENTEN-TALK PRODUZENT Andrea Occhipinti
„Die Kinos werden nicht nur überleben – sie werden aufblühen.“
Interview mit Andrea Occhipinti
Interview
ALESSANDRA DE LUCA
Einen ehrgeizigen Plan hatte Andrea Occhipinti: eine digitale Streamingplattform für Qualitätsfilme zu entwickeln, die keine Alternative zum Kino darstellen, sondern es vielmehr ergänzen sollte. Es sollte eine Anlaufstelle für Filmbegeisterte sein und die wichtige Rolle des Kinos als gesellschaftlicher und kultureller Treffpunkt unterstreichen. Mit diesem Ziel vor Augen gründete Occhipinti, Geschäftsführer des italienischen Arthouse-Filmvertriebs Lucky Red, die Plattform MioCinema. Am 18. Mai 2020 war es so weit: Mit der Premiere von Ladj Lys Die Wütenden, Wettbewerbsfilm in Cannes 2019, machte sich das Projekt daran, Publikum, Kinos und digitale Welt näher zusammenrücken zu lassen. User, die sich auf der MioCinema-Website kostenlos registrieren, können „ihr“ lokales Kino (aus 150 teilnehmenden Häusern) auswählen und ein Ticket für den gewünschten Film kaufen. Ein Teil des Umsatzes geht an das entsprechende Kino. Andrea Occhipinti war als Teilnehmer des Panels „Epic Battle or Sweet Romance? – How cinema and streaming can coexist and prosper“ einer der Hauptakteure der zehnten Ausgabe der Filmkonferenz INCONTRI, die in diesem Jahr ausschließlich online stattfand (►Dossier S. 34). Dort hatte er Gelegenheit, dieses innovative Projekt vorzustellen, das just in einer Zeit ins Leben gerufen wurde, als die Covid-Pandemie die Kinowelt bedrohte. Ist es Ihnen gelungen, mithilfe der Plattform den Dialog zwischen Film und Publikum wiederherzustellen, der durch die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung so abrupt zum Stillstand gekommen ist? ANDREA OCCHIPINTI Es ist nicht unsere Absicht, das Publikum von den Kinos auf die Plattform zu locken, ganz im Gegenteil: Die Leute sollen wieder ins Kino gehen. Aber als alle Kinos monatelang geschlossen waren, haben wir Filmfans die Möglichkeit gegeben, sich die großartigen Filme, die in dieser Zeit in die Kinos hätten kommen sollen, über eine digitale Plattform nach Hause zu holen. Unsere Plattform wurde unter anderem dafür entwickelt, das Programmkino zu stärken, das Publikum zu informieren und Kontakte zu Filmemachern, Schauspielerinnen und Kritikern herzustellen. Sie bietet Filme in Originalsprache, zeigt Retrospektiven und ermöglicht auch Festivals, Exklusivevents oder Masterclasses. So werden Titel gestärkt, die in klassischen Kinos kaum Erfolgschancen haben und die, selbst wenn sie es auf die Leinwand schaffen, nach wenigen Tagen wieder aus dem Programm verschwinden.
Welche Filme wurden am häufigsten gestreamt? AO Die Wütenden von Ladj Ly, Bad Tales der Brüder D’Innocenzo und Matthias & Maxime von Xavier Dolan, gefolgt von Nach der Hochzeit von Bart Freundlich, Everything’s
PRODUZENTEN-TALK PRODUZENT Andrea Occhipinti
Lucky Red „Unsere Plattform bewirbt die Filme der teilnehmenden Kinos, und die Kinos bewerben die Plattform.“ Produzent und Distributor Andrea Occhipinti hat eine Arthouse-Streamingplattform gegründet
ANDREA OCCHIPINTI ist Mitbegründer und Vorstandsvorsitzender von Lucky Red, einem Produktions- und Filmvertriebsunternehmen, das seit 1987 besteht. Er holte international renommierte Filmschaffende nach Italien und übernahm den Vertrieb für zahlreiche zeitgenössische Kinogrößen wie Paolo Sorrentino oder Wes Anderson. Seit 2016 tritt Lucky Red vermehrt als Produktionsfirma auf und verzeichnete einige Erfolge, vor allem mit On My Skin, der 2019 den David di Donatello für die beste Produktion erhielt. Gemeinsam mit Indigo Film gründete Lucky Red den internationalen Filmvertrieb True Colours. Im Jahr 2020 gründete Occhipinti die digitale Filmplattform MioCinema.
PRODUZENTEN-TALK PRODUZENT Andrea Occhipinti
Micro Film/Silviu Ghetie
Lucky Red
Berlinale-Sieger Bad Luck Banging or Loony Porn (o.), Doku The Dissident über die Ermordung von Jamal Khashoggi: Streaming für Arthouse-Fans
Gonna Be Alright von Francesco Bruni, Misbehaviour von Philippa Lowthorpe, The Specials – Alles außer gewöhnlich von Olivier Nakache und Eric Toledano, Undine von Christian Petzold und Ema von Pablo Larraín. Kürzlich boomte auch The Dissident unter der Regie des Oscarpreisträgers Bryan Fogel, der mit Mitteln der Human Rights Foundation finanziert wurde. Er handelt von der Ermordung des saudischen „Washington Post“-Journalisten Jamal Khashoggi. Oder der Berlinale-Sieger Bad Luck Banging or Loony Porn des Rumänen Radu Jude. Alles in allem zeigt diese Rangliste eines: Wer gern ins Kino geht, nutzt auch Streamingplattformen und konsumiert verschiedene Filme einfach auf unterschiedliche Art – eines schließt das andere nicht aus. Unser Dienst bewirbt die Filme der teilnehmenden Kinos, und die Kinos bewerben die Plattform. Uns ist damit gelungen, was wir erreichen wollten: ein Netzwerk für Arthouse-Fans.
Die Filmauswahl zeigt auch, dass Previews bei den Usern gut ankommen. AO Das stimmt. Seit vergangenem Februar bieten wir jeden Monat einige Exklusivtitel an, „Originals“, die es nur auf MioCinema gibt. Das sind Spielfilme und Dokus, die von den wichtigen internationalen Festivals zu uns kommen, wie etwa Listen der Portugiesin Ana Rocha de Sousa, Preisträgerin des Leone del Futuro und des Jurypreises in der Sektion Orizzonti bei den 77. Filmfestspielen von Venedig, oder Apples, das Regiedebüt des Griechen Christos Nikou und – ebenfalls bei der 77. Biennale – Eröffnungsfilm der Orizzonti. Bei der Auswahl der Filme stehen die Entdeckung neuer Regietalente und die Relevanz der Themen im Vordergrund.
In MioCinema findet auch das dokumentarische Kino seinen Platz. AO Die Tatsache, dass uns der Dokumentarfilm sehr am Herzen liegt, zeigt sich an unserer neuen Zusammenarbeit mit der Organisation ZaLab, die sich für die Produktion und den Vertrieb freier, unabhängiger und sozialer Kinofilme einsetzt. Wir sind überzeugt: Ein Kinogenre, das seit jeher Nährboden für Neues und Experimentelles ist, verdient mehr Wertschätzung. Daher muss es auf einer Plattform für Autorenkino unbedingt vertreten sein.
Wie viele User hat MioCinema? AO Bei Live-Events mit Regisseurinnen und Schauspielern erreichen wir bis zu 50.000 Besucherinnen und Besucher. Unsere Zahlen sind natürlich nicht mit jenen der großen Streamingdienste vergleichbar, aber wenn wir starke Arthouse-Titel wie The Dissident im Programm haben, ist der Zustrom wirklich groß.
Nach einer langen Durststrecke stehen die Kinos heute vor völlig neuen Voraussetzungen. Ist von der Filmindustrie nun mehr Flexibilität gefordert? AO Eine maximale Auswertung von Filmen ist heute wichtiger denn je. Dabei sollten wir in verschiedenen Richtungen flexibler werden. Jeder Film nimmt seinen eigenen Weg, hat seine eigene Geschichte und sein spezifisches Potenzial. Manche Titel haben auf einem immer dichter gedrängten Markt kaum Möglichkeiten, sich durchzusetzen. Auf den verschiedenen Plattformen bekommen sie aber eine gute Chance. Manche Filme, die im Kino gezeigt werden, könnten davon profitieren, vorab über Streamingplattformen sichtbarer zu werden. Der Weg könnte aber auch umgekehrt funktionieren. Im vergangenen Jahr machten sich die Vertriebe große Sorgen über die Verkürzung des Auswertungsfensters nach dem Kinostart; aber man muss hier klar unterschieden zwischen Produktionen, die für mehrere Wochen in den Programmen bleiben – das sind