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121. Jahrgang, Nr. 236 • Freitag, 10. 10. 2014 • 1,40 Euro
ebola-Patient wird jetzt in leiPzig behandelt
Der Ernstfall ist da: Mediziner im Klinikum St. Georg kämpfen unter höchsten Sicherheitsstandards um das Leben eines sudanesischen UN-Mitarbeiters
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leitartikel Von JAn EMEnDÖRFER
Gott sei Dank kam es anders
A
usgerechnet zu Beginn dieser Woche, die nun gestern in Leipzig im großen Festakt zum 9. Oktober kulminierte, outete der „Spiegel“ Interviewpassagen von Helmut Kohl (84), die geeignet sind, am Mythos der Heldenstadt zu kratzen. Der Sozialismus sei Ende der 80er-Jahre wirtschaftlich „am Arsch des Propheten“ gewesen, wird Kohl zitiert und: „Es ist ganz falsch, so zu tun, als wäre da plötzlich der heilige Geist über die Plätze in Leipzig gekommen und hat die Welt verändert.“ Nun, ob mit oder ohne heiligem Geist – in einem Gotteshaus, in Leipzigs Sankt Nikolai, nahm die Bewegung jedenfalls ihren Anfang, drängte von dort auf die Straße und wurde letztlich am 9. Oktober ’89 von 70 000 Menschen getragen.
Emotionaler Höhepunkt am Abend: Kerzen der Freiheit bilden eine riesige 89 auf dem Augustusplatz. Foto: Volkmar Heinz
SachSen
eva-Maria Stange: ich muss nichts mehr werden
DReSDen. Die frühere SPD-Ministerin Eva-Maria Stange befeuert die sächsischen Kabinettsspekulationen. „Mir braucht man nichts mehr anbieten. Ich muss nichts mehr werden“, sagte sie der LVZ. © Seite 5
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Franzose patrick Modiano erhält literaturnobelpreis
StockholM. Der diesjährige Nobelpreis für Literatur geht an den französischen Schriftsteller Patrick Modiano. Das Nobelpreis-Komitee würdigt die „Erinnerungskunst“ in den © Seite 11 Werken des 69-Jährigen.
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Gauck in Leipzig: Die Sehnsucht nach Freiheit war größer als die Furcht Großer Festakt zum Gedenken an den 9. Oktober 1989 / 200 000 Menschen beim Lichtfest leipzig. „Hier wurden vor 25 Jahren die Weichen gestellt für das Ende der SEDDiktatur.“ Joachim Gauck verneigte sich gestern mehrfach verbal vor Leipzig und stellte die Vorreiterrolle der Messestadt bei der Friedlichen Revolution in der DDR heraus. In seiner Festrede vor 1700 Gästen im Gewandhaus anlässlich der entscheidenden Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989 in Leipzig stellte Gauck fest: „Die Sehnsucht nach Freiheit war größer als die Furcht.“ Mit ihren friedlichen Protesten gegen das System gewannen die Demonstranten Selbstachtung und Würde zurück, sagte der Bundespräsident und hob hervor: Der damals in Leipzig kreierte Ruf „Wir sind das Volk!“ fasse auch heute das Grundprinzip der demokratischen Gesellschaft zusammen. Gauck rief zu mehr demokratischem Engagement und zum Kampf gegen Hass und Intoleranz auf. Er forderte erneut, Deutschland müsse Verantwortung auch im europäischen und globalen Rahmen übernehmen. „Wir dürfen niemals vergessen, dass unsere Demokratie nicht nur bedroht ist von Extremisten, Fanatikern und Ideologen, sondern dass sie ausgehöhlt werden und ausdörren kann, wenn die Bürger sie nicht mit Leben erfüllen.“ Als Lehre aus der Geschichte forderte Gauck mehr Einsatz für die demokratischen Werte. „Nur so finden Intoleranz, nationalistische Hybris, Hass und Gewalt keinen Nährboden.“ Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) stellte fest, dass die Zustimmung zur Demokratie heute nicht mehr so groß ist, wie sie es noch vor 25 Jahren war. Er vermisse das Engage-
ment der Menschen für Freiheit und Demokratie. Damals sei die Demokratie eine Verheißung gewesen, sagte Tillich bei dem Festakt. Heute sähen viele nur die Mühen der Ebene. „Der Geist der Gemeinschaft, die sich für ein gemeinsames Ziel einsetzt, scheint sich verflüchtigt zu haben. Viele, zu viele gehen nicht einmal zur Wahl. Leider auch hier in Sachsen, im Mutterland der Friedlichen Revolution“, sagte Tillich. Bei der Landtagswahl am 31. August waren nur 49 Prozent der Wahlberechtigten zur Stimmabgabe gegangen. Damit war die Wahlbeteiligung auf ein historisches Tief gerutscht. Tillich: „Als Demokrat und Ministerpräsident bin ich traurig darüber.“ Gauck würdigte das Engagement der vielen Bürger, das zum Sturz des DDR-Regimes geführt habe. Deshalb habe er auch die Präsidenten Ungarns, Polens, Tschechiens und der Slowakei
Wir werden bleiben und werden, was wir 1989 waren. Joachim gauck, Bundespräsident
heute „goldene-henne“ in leipzig – kohl kommt am 19. Dezember nach Dresden Die Feierlichkeiten zum 25. Jahrestag der Friedlichen Revolution gehen weiter. Schon heute Abend (20.15 Uhr, MDR) erlebt Leipzig die Verleihung der „Goldenen Henne“. 3500 Gäste in der ausverkauften Messehalle werden die Vergabe der begehrten Publikumspreise verfolgen. „Die Preisvergabe in Leipzig ist eine Hommage an die Friedliche Revolution“, sagte Superillu-Chefredakteur Robert Schneider in einem LVZ-Interview.
Dresden erlebt am 19. Dezember einen weiteren Höhepunkt. Nach LVZ-Informationen kommt Alt-Kanzler Helmut Kohl (84, CDU) an die Elbe. Genau 25 Jahre nach seiner historischen Rede vor der Dresdner Frauenkirche, die als Meilenstein auf dem Weg zur deutschen Wiedervereinigung gilt, wird der Kanzler der Einheit an einem Forum der Adenauer-Stiftung im Albertinum teilnehmen. abö
Deutsche Exporte brechen ein Wirtschaftsforscher senken Wachstumsprognose auf 1,3 Prozent BeRlin. Die führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute haben die Bundesregierung aufgefordert, mit höheren Ausgaben die Wachstumskräfte zu stärken und günstige Rahmenbedingungen für Investitionstätigkeit zu setzen. Angesichts erwarteter öffentlicher Finanzierungsüberschüsse in Höhe von sieben Milliarden Euro in diesem und von drei Milliarden Euro im nächsten Jahr wäre eine Minderung der Abgabenbelastung durchaus möglich, schrieben die Einrichtungen, darunter auch das Institut für Wirtschaftsforschung Halle, in ihrem gestern in Berlin vorgelegten Herbstgutachten. Sie reagierten mit ihrem Vorschlag auf die sich abkühlende Konjunktur. Vor
Foto: dpa
heute in der lVz
allem der Export, wichtigste Stütze der Konjunktur, bricht regelrecht ein. Im August gingen die Ausfuhren zum Vormonat drastisch um 5,8 Prozent zurück. Erste Konsequenz: Die Institute senkten ihre Prognose für das Wirtschaftswachstum 2014 von 1,9 auf 1,3 Prozent. Im nächsten Jahr erwarten sie eine Zunahme der Wirtschaftsleistung von 1,2 Prozent. Im Frühjahr waren sie noch von einem Plus von 2,0 Prozent ausgegangen. Verantwortlich für die schlechtere Lage seien in erster Linie die internationalen Krisenherde. Allerdings gebe es auch Gegenwind aus der Bundespolitik. Das Rentenpaket und die Einführung des flächendeckenden Mindestlohns wirkten wachstumshemmend. mi
genau an diesem Tag nach Leipzig eingeladen. Sichtlich bewegt betonte Gauck: „Hier und heute sagen wir es noch einmal ganz deutlich: Kein 9. November ohne den 9. Oktober. Vor der Einheit kam die Freiheit.“ Unter den Gästen in Leipzig waren auch der ehemalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher und sein früherer US-Kollege Henry Kissinger sowie zahlreiche frühere Bürgerrechtler. Ausdrücklich dankte Gauck dem damaligen sowjetischen Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow, der die Freiheitsbewegungen in Osteuropa nicht mit Truppen unterdrückt habe. Am 9. Oktober 1989 waren in Leipzig mehr als 70 000 Menschen auf die Straße gegangen, um Freiheit und Demokratie zu fordern. Unter dem Ruf „Wir sind das Volk!“ zogen sie durch die Stadt. Die Staatsmacht beugte sich den friedlichen Demonstranten. Der Einsatzbefehl wurde zurückgezogen. Sechs Persönlichkeiten, darunter Star-Dirigent Kurt Masur, hatten sich an diesem Tag vor 25 Jahren mit einem eindringlichen Appell gegen Gewalt an die Öffentlichkeit gewandt. Nur einen Monat später, am 9. November, fiel die Berliner Mauer. Teil der alljährlichen Feiern am 9. Oktober in Leipzig ist das Friedensgebet in der Nikolaikirche. Von hier waren die ersten Montagsdemos ausgegangen. Gestern sprach hier der frühere US-Außenminister James Baker. Zum Lichtfest in der Leipziger Innenstadt kamen am Abend 200 000 Menschen. Auf dem Augustusplatz bildeten sie mit Tausenden Kerzen eine © Seiten 2, 3, 15 bis 17 riesige 89.
Ganz klar: Die DDR und mit ihr der gesamte Ostblock war damals tatsächlich wirtschaftlich am Ende. Doch die ökonomische Implosion, die Mangelgesellschaft und selbst Hungersnöte reichen nicht unbedingt aus, ein totalitäres System zum Einsturz zu bringen. Das zeigt das Beispiel Nordkorea. Der Leipziger Künstler Michael Fischer-Art hat vor ein paar Tagen in dieser Zeitung aus eigenem Erleben geschildert, wie es dort aussieht: Tristesse, Beton und Polizei. Die Unfähigkeit der zentralistischen DDR-Planwirtschaft, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen, hat zweifellos dazu beigetragen, dass es zu allgemeiner Frustration, Wut und letztlich auch Widerstand kam. Aber diesen am Kneipentisch, bei Familienfeiern, im Fußballstadion, bei Rockkonzerten diffus geäußerten Frust irgendwie zu bündeln, zusammenzufassen und letztlich klar zu artikulieren, dazu bedurfte es nicht des heiligen Geistes, wohl aber mutiger Menschen, wie etwa Rolf Henrich (74) aus Eisenhüttenstadt, der im April 1989 das Buch „Der vormundschaftliche Staat“ im Westen veröffentlichte, das dann als Handabzug im Osten kursierte und wichtiger Impulsgeber für die sich formierende Bürgerbewegung war. Die 70 000 von Leipzig am 9. Oktober ’89 mussten den Mut aufbringen, auf die Straße zu gehen und zu sagen: Wir sind das Volk! Der „große Lümmel“ (Heine), der sich nicht mehr einlullen lassen wollte, und dann in Leipzig einen Proteststurm lostrat, ohne den die Mauer am 9. November nicht gefallen wäre. Und so hat Leipzig gestern völlig zu Recht mit einem großen Fest seine Vorreiterrolle bei der Überwindung der alten Ordnung vor 25 Jahren gefeiert. Mit Joachim Gauck sprach ein Mann, der mit hiesigen Verhältnissen aus eigenem Erleben vertraut war und der deshalb bei der Aufzählung der vielen Akteure von einst einen Namen nannte, der in den zurückliegenden Tagen des Erinnerns nicht gefallen war: Michail Gorbatschow (83)! „Moskau schickte keine Truppen mehr, Gorbatschow sei Dank!“, sagte Gauck und das war sehr wichtig. Wenn die Russen nicht stillgehalten hätten, wäre aus der friedlichen Erhebung eine blutige Niederschlagung geworden. Gott sei Dank kam es anders!
➦ j.emendoerfer@lvz.de
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BLICKPUNKT
FREITAG, 10. OKTOBER 2014 | NR. 236
„Die von der Stasi sind nicht mehr da“
Stimmen
9. Oktober ’89 – was prominente sagen
Über 150 000 feiern beim Lichtfest den Mut von 1989
Stanislaw Tillich (57, CDU), Ministerpräsident Sachsens, beim Festakt: Der Geist der Gemeinschaft, die sich für ein gemeinsames Ziel einsetzt, scheint sich verflüchtigt zu haben. Viele gehen nicht einmal zur Wahl. Leider auch in Sachsen, im Mutterland der Friedlichen Revolution.
gunther emmerlich (70), Opernsänger und Entertainer: Ich fand den Festakt im Gewandhaus sehr angemessen und bewegend. Heute geht es für mich in Leipzig gleich weiter – bei der Verleihung der „Goldenen Henne“ auf dem Messegelände.
Von Winfried Mahr, adeline Bruzat und andreas friedrich
Die Leipziger Nikolaikirche war Ausgangspunkt der Friedlichen Revolution: Nach dem Friedensgebet vom 4. September von 1989 entrollten Oppositionelle erstmals vor der Kirche Transparente. Stasi-Leute konnten nicht verhindern, dass die Aktion gefilmt und im Westfernsehen gezeigt wurde.
Der Geist von ’89 erfüllt noch einmal die Nikolaikirche
Angela Merkel (60, CDU), Bundeskanzlerin, zum Tag der Deutschen Einheit: Die Wiedervereinigung ist ohne die Friedliche Revolution in der DDR nicht denkbar. Heute können wir feststellen, dass sich die meisten Wünsche erfüllt haben. Alles ist möglich, dass habe ich wie Millionen DDR-Bürger am eigenen Leibe erfahren.
Bewegendes Friedensgebet mit Politprominenz und Bürgerrechtlern
Matthias Rößler (59, CDU), Landtagspräsident, erinnerte während des Festakts im Gewandhaus gestern daran, dass Sachsen durch die Friedliche Revolution seine Selbstbestimmung zurückgewann. „Am 3. Oktober 1990 konnten wir in Meißen auf der Albrechtsburg den Freistaat gründen.“
Martin Dulig (40), SPDLandeschef in Sachsen, nach dem Festakt: Nach der Friedlichen Revolution ist eine neue Generation in Deutschland herangewachsen, die die Ereignisse des Wendeherbstes nur aus den Geschichtsbüchern kennt. Umso wichtiger ist es, die Ideen und Werte der Friedlichen Revolution wachzuhalten.
Burkhard Jung (56, SPD), Leipzigs Oberbürgermeister, in seinem Grußwort zum Festakt im Gewandhaus: Die friedliche Demonstration von 70 000 Menschen in Leipzig und vielen Orten der DDR brachte die Entscheidung. In Leipzig wurde an diesem Tag Geschichte geschrieben.
peter Sodann (78), Schauspieler aus Halle, in einer Diskussion: Für mich war es keine Friedliche Revolution, sondern eine Art Gefängnisaufstand. Eine Friedliche Revolution hat Ziele, die irgendwohin führen müssen.
Jochen Bohl (64), sächsischer Landesbischof, nach dem Festakt: Die Oktobertage in Plauen, Dresden und Leipzig waren der Kernpunkt des Geschehens, das die deutsche Geschichte in dieser beglückenden Weise verändert hat.
Bis auf den letzten Platz gefüllt: die Leipziger Nikolaikirche beim gestrigen Friedensgebet. Von roland herold
Leipzig. 25 Jahre danach: Am 9. Oktober an dem Ort zu sein, wo alles begann – mehr Gänsehaut geht eigentlich nicht. Menschen wie Dietmar Glaß (63) aus Görlitz stehen dafür auch Stunden in der Nikolaistraße an. „1989 war ich zufällig in Leipzig und bin mitgelaufen“, erinnert er sich. Das lange Warten hat sich heute für ihn gelohnt. Er gehört zu den Glücklichen, die einen Platz in der Nikolaikirche ergattern. Die anderen müssen sich damit begnügen, dass der Gottesdienst auf der Videowand im Nikolaikirchhof, auf dem Augustusplatz sowie im Fernsehen übertragen wird. „Offen für alle“ – nur so ist das Kirchenwort bei so vielen interessierten Menschen umsetzbar. Die Sonne steht schon tief, doch drinnen in der Kirche leuchten warm die Kerzen. Pünktlich, 17 Uhr, begrüßt Nikolaikirchenpfarrer Bernhard Stief (45) die Gäste, darunter auch Bundespräsident Joachim Gauck (74), Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher (87), FriedensNobelpreisträger Henry Kissinger (91), die Staatspräsidenten von Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei sowie Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich (55) und Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (56). Zuerst ergreift der 84-jährige James Baker, US-Außenminister unter George Bush von 1989 bis 1992, das Wort. „Der unbeugsame Geist der hier ansässigen Bürger ist der Hauptgrund dafür, dass der Eiserne Vorhang fiel und der Kalte Krieg mit einem Wimmern und nicht mit
einem Knall endete“, sagt Baker mit runter das Recht auf freie Information. deutlich hörbarem Südstaaten-Slang. Er Er blickt Baker tief in die Augen und beschwört den Geist der Zwei-plus-Vier- sagt: „Edward Snowden sollte von der Gespräche, die deutsch-amerikanische Bundesrepublik aufgenommen werFreundschaft und spart dabei auch die den.“ jüngsten Abhöraffären nicht aus. Beide Nach Richter treten Ex-NikolaikirLänder hätten aber in der Vergangen- chenpfarrer Christoph Wonneberger (70) heit immer wieder die Herausforderun- und die Bürgerrechtlerin Kathrin Mahler gen gemeistert. Deutschland und die Walther (44) ans Mikrofon. WahrscheinVereinigten Staaten seien eben mehr als lich wäre auch Pfarrer Christian Führer Verbündete. Mit Blick auf Russland (1943–2014) gern unter ihnen gewesen, mahnt Baker die EU und der unerschrockene die USA, ihre EnergieGeistliche, der im verpolitik zu überdenken, Sommer geGott ist auf der Seite gangenen um die Abhängigkeit storben ist. Die beiden derer, die nicht mit von Moskau zu reduzieverlesen noch einmal ren. Dennoch, so Baker den Wölfen heulen. die Worte des Aufrufs am Ende, sollte das Vorvon damals: „Wir sind haben, Russland für die ein Volk! Gewalt unter Martin Henker, Nato zu gewinnen, nicht uns hinterlässt ewig bluSuperintendent aufgegeben werden. tende Wunden!“ VielDanach singt der leicht ist das der beweLeipziger Musiker Segendste Augenblick diebastian Krumbiegel (48) ses Abends. „Die Liebenden“ und Zeit für das Friedensspäter auch noch „Er wollte nach gebet. Es steht unter dem Motto „HoffDeutschland“ von Udo Lindenberg. nung fährt unter die Angst“ und wird Es wird still im Raum, nicht einmal von Martin Henker (60), Superintendent ein Knarren der Holzbänke ist zu hören. im Kirchenbezirk, gehalten. Hinter ihm Bürgerrechtler Frank Richter (48) tritt und der Kanzel steht das große Holzans Mikrofon und schildert, wie der Ap- kreuz neben dem Altar, das noch von pell vom 9. Oktober 1989 seinerzeit in den ersten Friedensgebeten 1981 kündie Welt fand. Wie Unerschrockene des det. Henkers Worte hallen klar durch Arbeitskreises Gerechtigkeit und der Ar- das Kreuzgewölbe mit den hellgrünen beitsgruppen Menschenrechte und Um- Blättern, als er Bürgerrechtler und Frieweltschutz ihn in zigtausendfacher Auf- densgebete würdigt. Er plädiert dafür, lage druckten und im Leipziger Stadt- den Verhaltensgrundsatz „Keine Gezentrum verteilten. Dann schlägt Richter walt“ in die Schulbücher aufzunehmen, den Bogen zur Gegenwart und mahnt um zu zeigen, einen Monat vor dem Fall die demokratischen Grundrechte an, da- der Berliner Mauer „gab es einen Tag
und einen Ort, wo Einmaliges in unserer Geschichte sich entschied: eine Friedliche Revolution begann.“ Dafür wird ihm Applaus zuteil. Hoffnung lasse nicht zuschanden werden, wie der Apostel Paulus einst an die christliche Gemeinde in Rom schrieb. Gott sei stets auf der Seite derer, „die nicht mit den Wölfen heulen, die ihre Verletzlichkeit wahrnehmen, die ihre Güter teilen, die Frieden schaffen ohne Waffen“. Und dann spricht Henker Worte, die klingen fast wie eine Erwiderung auf den Altkanzler Helmut Kohl (84). Der hatte vom Irrtum gesprochen, dass „da plötzlich der heilige Geist über die Plätze in Leipzig gekommen“ sei. Der Superintendent konstatiert in einem Nebensatz, dass sich die Hoffnungen auf blühende Landschaften nicht erfüllt hätten... Henker liest auch den anwesenden Politikern die Leviten: Von der „Unmasse der Rüstungsexporte“ spricht er und davon, dass militärische Gewalt als Weg zum Frieden „wieder und wieder hinterfragt werden“ müsse. Am Ende seiner Predigt fordert er, Freiheit, Demokratie, aber auch Wohlstand zu teilen und vor allem die Friedensgebete in der Nikolaikirche fortzusetzen. „Kerzen und Gebete können zu Veränderungen führen.“ Nach der Fürbitte und dem Vaterunser läuten die Glocken. Zeitgleich auch in der Thomaskirche, der Reformierten Kirche und der Michaeliskirche. 18.35 Uhr, der Zeitpunkt, an dem klar war, dass die Polizei nicht eingreifen würde. Bewegt verlassen die Menschen die Kirche. Draußen stoßen sie auf fröhliche
Leipzig. Erneut ging nichts mehr auf dem Leipziger Innenstadtring. Wie vor 25 Jahren. Damals zog eine entschlossene Masse von 70 000 bei diesigem Herbstwetter um den Ring. Gestern, zum Gedenken an die Ereignisse vom 9. Oktober 1989, gehen über 150 000 Menschen den selben Weg. Begonnen hatte das Lichtfest staatstragend auf dem Augustusplatz. Wo sich damals die Teilnehmer des Friedensgebetes aus der Nikolaikirche mit Tausenden weiteren Leipzigern vereint und ihren Protestmarsch begonnen hatten, darf Burkhard Jung (SPD) sich des proppevollen Platzes erfreuen: „Das ist ein tolles Bild. Sie machen mich zu einem sehr glücklichen Oberbürgermeister.“ Unter tosendem Beifall ergänzt er: „Keine Gewalt – das ist ein starker Ruf. Und das ist die Botschaft von Leipzig.“ Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) scheint angesichts der Besuchermassen etwas nervös: Er begrüßt Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher mit „Helmut“ und freut sich, den „5. Oktober“ zu feiern. Dafür erntet er Buhs und Pfiffe. Bundespräsident Joachim Gauck rettet die Stimmung. „Ich bin glücklich hier zu sein.“ Die Menschen sind es auch. Zum Beispiel, weil Gauck sie erreicht. „Deutsche können Freiheit“, ruft er in den Jubel. Und: „Wir gaben unserer Angst den Abschied.“ Er erinnert an die Vorarbeit der Polen. Die Gewerkschafter von Solidarnosc kämpften schon, „als wir noch im Schlaf der Anpassung weilten“, sagte Gauck. Als alle Festreden geredet und Tausende Kerzen entzündet sind, setzt sich das Meer aus Menschen in Bewegung, läuft ganz sacht vom Augustusplatz an der Oper vorbei Richtung Hauptbahnhof. Für manche ist das Lichtfest Erinnerung, für manche Geschichtsstunde. Die 17-jährige Marlene aus Leipzig ist auf Empfehlung ihres Geschichtslehrers dabei. „Meine Eltern waren bei den Montagsdemos. Wenn ich bedenke, dass Deutschland durch diese Revolution wiedervereinigt wurde, bin ich sprachlos“, sagt eine, die staatliches Unrecht nur aus Erzählungen kennt. Die Leipzigerin Christine Genest kennt es mit ihren 80 Jahren aus eigenem Erleben. Wie die Spannung und die Angst bei den Montagsdemos. „Als die Polizisten auf ihre Schilde schlugen...“, sagt sie und gruselt sich erneut. Trotzdem seien immer mehr Leute gekommen. Auch sie war regelmäßig da. Nur am 9. Oktober ’89 nicht. „An diesem Tag war ich zu Hause, weil mein Mann und meine drei Söhne bei der Demo waren und jemand musste zu Hause bleiben.“ Trotzdem trage sie seitdem ein großes Glücksgefühl in sich. „Das kann mir niemand nehmen, was auch immer in der Welt passiert.“ Wolf-Dieter Dallmann reiste mit Frau Ute aus Wolfsburg an. „Es ist beeindruckend, wie es vor 25 Jahren mit friedlichen Mitteln möglich war, den Weg in die Demokratie zu finden“, lobt er den Mut seiner ostdeutschen Landsleute. Seit 2009 bewegt das Lichtfest Zehntausende Besucher. Entlang des vier Kilometer langen Demonstrationsweges sollen Licht und Ton, Tanz und Musik Bezüge zwischen 1989 und 2014 herstellen. Häuser, Fassaden, Leinwände und Bühnen sind mit Bildern und Zitaten illuminiert. An Haltestellen tönt der einstige Stadtfunk mit dem Aufruf der sechs Prominenten zur Gewaltlosigkeit. Jutta Heinze aus der Nähe von Göttingen ist extra die 200 Kilometer angereist. „Allein schon dieser friedliche Zug der Massen macht mir Gänsehaut. Wie ergreifend muss das erst vor einem Vierteljahrhundert gewesen sein...“ Polizei ist auch heute an allen Ecken präsent – aber ohne jede Drohgebärde. „Wie kommen wir zur Runden Ecke, der Stasi-Zentrale?“, wird einer der Uniformierten von Touristen gefragt. Der lächelt und sagt: „Einfach im Strom mitschwimmen. So 300 Meter nach der Blechbüchse kommt das Museum. Aber die von der Stasi sind nicht mehr da.“
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Wiedersehen im Gewandhaus: Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher (87, FDP) begrüßt den einstigen US-Kollegen James Baker (84).
Kunst an der Blechbüchse: Beim Lichtfest erstrahlen auf der Fassade verfremdete Demonstrationsbilder aus dem Herbst 1989.
OB mit Partnerin: Burkhard Jung (56, SPD) und Ayleena Wagner (34).
Ausdrucksstark: Das Ballett der Oper tanzt – auf einer Videowand am Hauptbahnhof läuft die Sprengung der Uni-Kirche im Jahr 1968.