2011-08-12 Christoph Wonneberger im Interview - Freie Presse

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WOCHENENDE Käse und Bier können den Gaumen explodieren lassen. S. 2 SPANNEND

In den Nuller Jahren steht das Individuum im Mittelpunkt – oft wie im Gruselkabinett. S. 3 NACKIG

Freie Presse Freitag, 12. August 2011

Bis zu 4000 Touristen täglich machen Machu Picchu platt. S. 5 ÜBERLAUFEN

Die Freiheit des Einzelnen und die Gerechtigkeit für alle – das ist sein Thema: Der Leipziger Christoph Wonneberger, Pfarrer im Ruhestand, hat ein ganz besonderes Verhältnis zur Mauer. Ihr Bau hat den Lauf seines Lebens bestimmt und ihr Fall hat sein Leben gerettet. FOTO: STEFFEN GIERSCH

VON STEFFEN REICHERT

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as Allgäu also. Diese Landschaft, die Wiesen und Weiden, eingerahmt zwischen rauschenden Bächen. Wo sanfte Hügel zum Wandern verführen und den Blick frei geben auf die Alpen. Wo man bald schon das Gefühl von grenzenloser Freiheit genießt: Das ist das Allgäu, das Christoph Wonneberger in sich trägt. In das die Familie aus Karl-MarxStadt in jenem Sommer des Jahres 1961 für vier Wochen zum Urlaub gereist ist. Unbeschwerte Tage sollen es sein für eine Familie, in der Sohn Christoph nicht einmal die Oberschule besuchen darf, weil sein Vater Landesjugendpfarrer ist. Das allein schon reicht. Mit einer Radiomeldung ist diese Ruhe im Allgäu plötzlich vorbei: „Die Sektorengrenze nach Ostberlin wird abgeriegelt“, tönt es aus dem Empfänger. Kampfgruppen, Ziegelsteine, Stacheldraht: Zuerst wird Berlin, dann Deutschland unwiderruflich geteilt. Ein Schock – natürlich – ist das für die Wonnebergers. Sie sitzen und reden und diskutieren. Und Christoph, der damals schon 17 Jahre alt ist und das alles sehr bewusst erlebt, steht vor einer der schwersten Entscheidungen seines Lebens: „Mein Vater hat mir freigestellt, nicht mit zurückzugehen. Im Westen könnte ich studieren.“

„Es gab keinen Monat, wo ich nicht zu einer Aussprache mit meinen Vorgesetzten musste.“ Christoph Wonneberger Pfarrer im Ruhestand

Nach Tagen des Ringens entscheidet sich der Sohn, doch mit der Familie zurückzukehren in das Land, aus dem er stammt, wo ihm das Erzgebirge näher ist als Allgäu oder Loreley. „Wenn ich im Westen geboren worden wäre, wäre ich wahrscheinlich geblieben“, glaubt der heute 67-jährige Leipziger. Es ist ein Leben im Schatten der Mauer, das Christoph Wonneberger führt. Und

Entscheidungen fürs Leben Er erlebte den Mauerbau am 13. August 1961 im Westen. Er initiierte die Friedensgebete und wurde durch den Mauerfall gerettet: Christoph Wonneberger aus Sachsen. eins, das ihn prägt, auch wenn er nicht jeden Tag darüber nachdenkt. Auf der einen Seite ist diese DDR das Land, das das bessere Deutschland sein will. Auf der anderen Seite jener Staat, „in dem man immer öfter suchen musste, ob von diesem Samen der Gerechtigkeit überhaupt auch etwas aufgegangen ist“. Aber Wonneberger ist einer, und das ist er bis heute, der ändern will, der eine Vision hat. Bei ihm ist der Weg das Ziel. So lernt er bei „Diamant“ im damaligen KarlMarx-Stadt Maschinenbau – studieren kann er ohne Abitur ja nicht. Abends paukt er Griechisch, Hebräisch und Latein. Und dass es eines Tages dann doch Theologe wird, das weiß er da noch nicht: Das Studium ist schließlich auch eine Entscheidung, um sich gegen den Vater zu emanzipieren. Er nimmt mit der Ausbildung an einer Kirchlichen Hochschule zunächst den Umweg, den damals viele gehen müssen, weil ihnen das Abitur verweigert wird. Er wechselt an die Universität nach Rostock: „Ich wollte wissen, was die Welt zusammenhält.“ Wonneberger liest Hegel und Feuerbach, Karl Marx und Ernst Bloch. Er fährt nach Prag und Marienbad, wo er Gleichgesinnte trifft und mit ihnen in jenen Frühlingstagen 1968 den Traum von einer gerechten Gesellschaft träumt. Doch eines Morgens wacht er auf: „Statt des Weckers hörte ich Maschinengewehrsalven.“ Und als er, von diesem Schock innerlich tief verletzt, nach Rostock zurückkehrt und mit Kommilitonen beschließt,

bei den Theologen höchstselbst eine FDJGruppe zu gründen, da ist es vorbei: Ein paar von ihnen werden zu Haftstrafen verurteilt, er selbst muss seine Prüfungen vorzeitig abschließen und die Uni verlassen. Und doch, sagt Christoph Wonneberger, wollte er weitermachen und unbequem sein. Als Pfarrer in Dresden betreut er Wehrdienstverweigerer und Bausoldaten. Aber weil er eigentlich nicht will, dass junge Männer Straßen bauen müssen, auf denen dann doch nur Panzer fahren, hat er 1980 eine Idee: die vom „sozialen Friedensdienst“ – eine Art Zivildienst für die DDR. Er vernetzt Gruppen und Aktivisten, lässt Kettenbriefe versenden: „Ich dachte immer, dezentral können sie uns am wenigsten fassen. Selbst wenn ich verhaftet werde, geht es weiter.“ So lässt er auch den DDR-Geheimdienst, von dem er ahnt, dass der ihn überwacht, nicht an sich heran: „Mir war es egal, ob einer in der Gruppe echt geschickt oder eben nur von anderen geschickt war.“ In jenen Jahren entsteht durch Wonneberger ein Projekt, das später sein Lebensthema – die Mauer – zum Einsturz bringen wird. Der Pfarrer Christoph Wonneberger begründet in Dresden die Friedensgebete. Für etwas zu beten, für eine bessere Umwelt, für Gerechtigkeit und für gleiche Bildungschancen, ist sein Motiv. Er trägt diese Friedensgebete mit nach Leipzig an die Nikolaikirche, wo er 1985 hinwechselt. Dass er damit aneckt, hinterfragt, auch provoziert, das weiß er. „Es gab kei-

nen Monat, wo ich nicht zu einer Aussprache mit meinen Vorgesetzten musste.“ Die Stasi beschwert sich nicht bei ihm, sondern beim Bischof oder dem Landeskirchenamt. Für die Kirche ist es immer ein Spagat. Dabei ist er für diese DDR, er will sie nicht abschaffen, er will sie reformieren. Er ist auch gegen jene, die in die Kirche nur kommen, um leichter ausreisen zu können. Aber all das kann er nicht öffentlich erklären. Nur so viel ist ihm klar. Als im Sommer 1989 der Eiserne Vorhang Risse bekommt und Zehntausende, oftmals die Jungen, über Ungarn und die CSSR das Land verlassen, da weiß er, „dass wir jetzt eine deutlichere Sprache sprechen müssen“. Die Saat eines Mannes, der selber zweimal Vater ist, geht plötzlich auf. Die Bürger stehen auf, sie werden mündig. Aber noch ist nicht sicher in jenem Spätsommer 1989 in Leipzig, ob Gewalt oder Reformen den Ausgang bestimmen. „Wir hatten das ja nicht gelernt“, erinnert sich Wonneberger. Also wirbt er für Demokratie, ist tage- und nächtelang ununterbrochen auf Achse. Aber dann – auf dem Höhepunkt dieser friedlichen Revolution – ereilt den damals 45-Jährigen am 30. Oktober 1989 ein schwerer Schlaganfall. Als Christoph Wonneberger Tage später aufwacht, da gibt es die Mauer, da gibt es auch die alte DDR so nicht mehr. Er liegt auf der Intensivstation eines Leipziger Krankenhauses. Er sieht bunte Bilder, die er nicht deuten kann. Er kann nicht verarbeiten, was da

geschieht, er kann auch nicht sprechen. Ihm wird nicht geholfen, denn die einzige Logopädin an diesem Krankenhaus ist selber krankgeschrieben. So ist es auf schicksalhafte Weise jener Mauerfall, der ihm nun das Leben rettet. Freunde aus der Partnergemeinde Hannover besuchen ihn fünf Tage nach der Maueröffnung am 9. November am Krankenbett. „Die haben dann einfach gesagt: Hier tut sich ja gar nichts. Wir nehmen dich jetzt mit.“ Sie setzen ihn ins Auto, packen den Arztbrief ein und fahren los. Und so wird nun möglich, was vorher undenkbar schien: Der schwerkranke Wonneberger fährt über Marienborn und Helmstedt – das deutsch-deutsche Nadelöhr – hinüber nach Hannover.

„Vielleicht hätte man von den Idealen der Gerechtigkeit mehr mit hinübernehmen können.“ Christoph Wonneberger Pfarrer im Ruhestand

Ein Jahr bleibt er dort und lernt das Leben neu. Ganz einfache Dinge sind es oft. Er fragt, wie das Obst, wie das Gemüse heißt. Er erkundigt sich nach Namen und Funktionen. Er ist weit weg von den großen Ereignissen, die Deutschland so gründlich verändern. Er genießt mit diesem Abstand eine Normalität, die ihm hilft, den Alltag zu bewältigen. So schön das auch ist, so wehmütig ist er manchmal auch. „Natürlich“ sagt der Pensionär Wonneberger heute über jene Tage, „hätte ich den damaligen Prozess gerne selber mitbegleitet. Vielleicht hätte man von den Idealen der Gerechtigkeit mehr mit hinübernehmen können.“ Die Freiheit des Einzelnen und die Gerechtigkeit für alle – das bleibt weiter sein Thema. Und so wird er auch diesen Sommer genießen. Ganz grenzenlos, versteht sich. Wonneberger und seine Frau radeln 2000 Kilometer von Budapest ans Schwarze Meer. Es geht über Serbien und Bulgarien bis an die Küste von Rumänien. Und Christoph Wonneberger wird dabei nicht ein einziges Mal seinen Reisepass benötigen.


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