Einleitung - Was ist Graffiti?

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Einleitung Pierre Smolarski Wer sich heute, im 21. Jahrhundert, durch die Straßen einer Stadt bewegt, es muss nicht einmal eine Großstadt sein, im Zweifel muss es nicht einmal eine Stadt sein, es reicht das Vorhandensein einer Straße und einer Fläche, sei es Autobahnbrückenpfeiler oder Stromkasten, besonders die mit den Schildern Bekleben verboten darauf, wer also sich auf solchen Straßen bewegt, und wer tut das nicht, der kommt nicht umhin, will er sich nicht, dem MP3-Player für die Ohren vergleichbar, die Augen verstopfen, sich gleichsam abschotten, sich mit Graffiti konfrontiert zu sehen. Das begann in den 1960ern und hat Jean Baudrillard wie auch seine These, das Phänomen Graffiti könne nicht von langer Dauer sein, bei weiten überlebt. Leider, so muss man sagen, hat es damit auch seinen letzten – wie auch ersten – Theoretiker überlebt, der es in einen philosophischen Kontext stellte. Seither haben sich vor allem Juristen und in ihrem Schlepptau auch Soziologen mit Graffiti beschäftigt, hier mal Kunsthistoriker, da mal ein Germanist, doch auf weiter Flur kein Philosoph. Ist die Philosophie vielleicht die falsche Disziplin, hat sie nicht die richtigen Werkzeuge parat, empfindet sie das postmoderne Phänomen als unter ihrer über 2500 Jahre alten Würde liegend? Möglich. Doch, wenn soziologisch motivierte Graffitibände, wie der 2009 erschienene Band Graffiti Kontrovers, sich versuchen, dem Phänomen Graffiti anzunehmen, es zu erörtern, um schließlich verschiedene Präventionsmaßnahmen abzuwägen und neue bereitzustellen, so wird offensichtlich, dass sie, wenn sie vom Phänomen sprechen doch nur das Problem Graffiti meinen: ein städtisches Problem, ein Rechtsproblem, und eine soziologische Methode, um es zu lösen, nicht zu erklären. Freilich ist das eine mögliche Sichtweise, doch eben nur eine, wenn auch de facto die einzige, die derzeit mit dem Anspruch von Wissenschaftlichkeit auftreten kann und ein Potpourri aus Sozialisation gesellschaftlicher Schichten, Qualität von Wohnvierteln und nächtlicher Ausleuchtung mit einer Prise „broken window theory“ bereitstellt, um dem Graffitiproblem habhaft zu werden, ihm an den Kragen zu gehen. Einen anderen wissenschaftlichen Zugang stellt der 2008 erschienene Graffiti-Reader Norbert Siegls, Leiter des Instituts für Graffitiforschung in Wien, dar. Leider verliert sich dieser Sammelband in der Analyse zum Kulturphänomen Graffiti in Details, ohne sich der grundlegenden Frage, was Graffiti überhaupt sei, anzunehmen. Die Untersuchung setzt schon einen Begriff von Graffiti voraus, diskutiert diesen folglich nicht, kurz: Es fehlt an kategorialem Unterscheidungswissen, es fehlt an einer Grundlage. Ansonsten blühen in der Publikationslandschaft zum Thema Graffiti in schon heute unübersehbarer Menge vor allem Fotodokumentationen und Bilderbücher. Allein schon durch die einschlägigen Magazine und Foren der Szene wird die Dokumentation soweit vorangetrieben, dass sich die Frage aufdrängt, ob von einem fertigen Graffito nicht erst dann gesprochen werden kann, wenn es nicht nur den Putz an einer Wand, sondern

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