INDIEKINO MAG #18 , April 2022

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D WAS SEHEN WIR, WENN WIR ZUM HIMMEL SCHAUEN? Georgische Poetik D WO IN PARIS DIE SONNE AUFGEHT Schöne, nackte Menschen D LUZIFER Vernebelte Alpen D IN DEN BESTEN HÄNDEN Nachtschicht D LOVING HIGHSMITH­ Intime Einblicke D DEATH OF A LADIES‘ MAN Hübsche Halluzinationen D DAS EREIGNIS So nah am Leben D VORTEX A dream within a dream D RABIYE KURNAZ GEGEN GEORGE W. BUSH Dilemma D RED ROCKET Ohne Rücksicht auf Verluste D DIE ODYSSEE Reise in Öl D DER WALDMACHER Wüste rekultivieren D FINAL ACCOUNT Das Achselzucken der Täter D THE INNOCENTS Telekinetische Kinder D EINGESCHLOSSENE GESELLSCHAFT Showdown im Lehrerzimmer

Magazin FÜR unabhängigeS KINO

D 18 D APRIL 2022

indiekinoMAG

DIE ODYSSEE – START AM 28.4.2022



Editorial Der Frühling bringt eine frankophile Ausgabe des INDIEKINO Magazins. Mit VORTEX hat Gaspar Noé seinen erschütterndsten Film bis dato vorgelegt – und das will etwas heißen bei einem Regisseur, der immer darauf abzielt, sein Publikum in einen genau kalkulierten Strudel zu reißen. Auch Audrey Diwans zweiter Spielfilm DAS EREIGNIS, der in Venedig letztes Jahr mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde, setzt auf maximale Emotionalität. Die Kamera bleibt immer dicht an der Protagonistin und holt das Drama einer jungen Frau, die in den 1960er Jahren am Beginn ihres Berufslebens feststellt, dass sie schwanger ist, in die Gegenwart. Kühl und klug wie immer erzählt François Ozon in seiner jüngsten Arbeit ALLES IST GUT GEGANGEN über einen patriarchalen Verleger, der seinen Tod genauso unter Kontrolle haben will wie sein bisheriges Leben. IN DEN BESTEN HÄNDEN von Catherine Corsini entwirft einen Mikrokosmos eines in sich zerrissenen Landes: In der Notaufnahme treffen das Bürgertum (Valeria Bruni Tedeschi als Illustratorin) und die Arbeiterschaft (Pio Marmaï als Lastwagenfahrer) auf eine Belegschaft kurz vorm Kipppunkt. HAUTE COUTURE von Sylvie Ohayon erzählt eine weibliche Variante von ZIEMLICH BESTE FREUNDE, und Jacques Audiard folgt im schwarz-weißen WO IN PARIS DIE SONNE AUFGEHT planlosen, verliebten, befreundeten jungen Leuten durch die Großstadt. DIE ODYSSEE von Florence Miailhe erzählt aus der Perspektive von zwei Kindern die Geschichte einer Flucht. An dem Animationsfilm, der in Öl auf Glas gemalt ist und die Unwägbarkeiten der Reise in Bildern einfängt, die ständig im Fluss sind, hat Miailhe zehn Jahre lang gearbeitet. Viel Spaß beim Leben und viel Spaß im Kino Eure INDIEKINO Redaktion

AB 28.4.2022 IM KINO

WWW.RAPIDEYEMOVIES.DE


INDIEINHALT

06 Magazin 10 „ES WIRD SCHNELL VERDRÄNGT, WAS ALS ZU FANTASTISCH ODER ALBERN EMPFUNDEN WIRD“ INTERVIEW MIT ALEXANDRE KOBERIDZE ÜBER WAS SEHEN WIR, WENN WIR zum HIMMEL SCHAUEN? 14 SCHÖNE, NACKTE MENSCHEN WO IN PARIS DIE SONNE AUFGEHT 20 A DREAM WITHIN A DREAM VORTEX

29 DILEMMA RABIYE KURNAZ GEGEN GEORGE W. BUSH 40 Kinohighlights 42 „ES WAR MIR WICHTIG, DASS DER FILM BUCHSTÄBLICH UNTER DIE HAUT GEHT“ INTERVIEW MIT AUDREY DIWAN ÜBER DAS EREIGNIS 46 Nachbild 47 KinoS, Impressum, Abonnement

Neu im APRIL 34 22 22 26 19 18 36 30 38

Alles ist gut gegangen Alles, was man braucht Chumm mit Death of a Ladies’ Man Eingeschlossene Gesellschaft Das Ereignis Everything Everywhere All at Once Final Account Geschichten vom Franz

31 19 23 36 16 28 26 32 17 16 37

Das Glaszimmer Haute Couture I am the Tigress Im Nachtlicht In den besten Händen The Innocents Köy Lingui Loving Highsmith Luzifer Der Mann, der die Welt ass

37 37 27 29 36 35 24 34 32 20

Massive Talent The Northman Die Odyssee Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush This Rain Will Never Stop Red Rocket River Die Saat The Second Life Vortex

28 Der Waldmacher 10 Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen? 14 Wo in Paris die Sonne aufgeht 37 Wolke unterm Dach 23 Wood – Der geraubte Wald 33 Die wundersame Welt des Louis Wain

Starts der Woche 36 This Rain Will Never Stop 23 Wood – Der geraubte Wald

31.3. 18 Das Ereignis

7.4. 22 26 36 17 28

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Chumm mit Death of a Ladies’ Man Im Nachtlicht Loving Highsmith Der Waldmacher

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10 Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen? 14 Wo in Paris die Sonne aufgeht

14.4. 34 Alles ist gut gegangen 19 Eingeschlossene Gesellschaft 38 Geschichten vom Franz 23 I am the Tigress 28 The Innocents 32 Lingui 35 Red Rocket

21.4.

28.4.

19 16 26 37 37 24 32 33

22 Alles, was man braucht 36 Everything Everywhere All at Once 30 Final Account 31 Das Glaszimmer 16 Luzifer 37 Der Mann, der die Welt ass 27 Die Odyssee 29 Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush 34 Die Saat 20 Vortex 37 Wolke unterm Dach

Haute Couture In den besten Händen Köy Massive Talent The Northman River The Second Life Die wundersame Welt des Louis Wain


„TAU S E N D E HAB E N O H N E LI E B E G E LE BT, N I CHT E I N E R O H N E WA S S E R .“ W. H . AU D E N

MELBOURNE INTERNATIONAL FILM FESTIVAL Official Selection

SYDNEY FILM FESTIVAL Official Selection

SHERPA UND MOUNTAIN MIT DEM AUSTRALIAN CHAMBER ORCHESTRA VON DER REGISSEURIN VON

RIVER M I T D E R M U S I K VO N

J O HAN N S E BA STIAN BACH , R ADI O H E AD, J O N N Y G R E E NWOO D, R I CHAR D TOG N E T TI U N D WI LLIAM BARTO N E R Z Ä H LT VO N

WI LLE M DAFO E

AB 21 . AP R I L I M KI N O W W W. R I V E R - D E R - FI LM . D E


INDIEMAGAZIN

Sonne

DIAGONALE

Seit 1998 präsentiert die Diagonale, das Festival des österreichischen Films, einmal im Jahr aktuelles österreichisches Filmschaffen in Graz. Die diesjährige Ausgabe findet vom 5.–10.4. statt und eröffnet mit SONNE von Kurdwyn Ayub. Das Spielfilmdebüt der Regisseurin lief erstmals auf der Berlinale und feiert nun in der Helmut-List-Halle, auf der temporär größten Leinwand des Landes, seine österreichische Uraufführung. Der Film erzählt von drei rebellischen Teenagern, die im Hijab twerkend zu Tiktok-Stars werden. Zwischen Social-Media-Rummel und Kulturclash sind die Mädchen auf der Suche nach der eigenen Identität. Ayubs intime und selbstbewusste Filmsprache spielt geschickt mit der Ästhetik der sozialen Medien. Verantwortet wird SONNE von Ulrich Seidls Filmproduktionsfirma – Seidls eigener neuer Film RIMINI hat tags darauf am selben Ort Österreichpremiere. diagonale.at

FiSH – FILMFESTIVAL IM STADTHAFEN Das FiSH Festival in Rostock findet seit 2005 statt und hat sich dem Nachwuchskino verschrieben. Im Wettbewerb „Junger Film“ werden aktuelle Filme von Filmschaffenden bis 26 Jahren gezeigt. Aus jährlich über 500 Einreichungen wählt eine Jury zwischen 30 und 40 Kurzfilme aus. Das Programm „OFFShore“ präsentiert junge Kurzfilme aus dem Baltikum, und mit dem PopFiSH-Preis werden Musikvideos ausgezeichnet. Außerdem: Workshops und Mitmachevents rund um den Hafen. Termin: 28.4.–1.5. fish-festival.de

SEHSÜCHTE Vom 20.-24.4. findet in Potsdam wieder das größte europäische Studierenden-Filmfestival Sehsüchte statt. Zum Programm ist noch nichts bekannt, aber das Motto steht bereits fest. Unter der Überschrift „Radiance“ setzen die Macher*innen auf die „unbändige Strahlkraft einer neuen Generation Filmschaffender“. sehsuechte.de

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Hilfe für die Ukraine Unterkunft zur Verfügung stellen: unterkunft-ukraine.de Die Tafel (Versorgung Geflüchteter): tafel.de Caritas International (Versorgung vor Ort): caritas.org Rotes Kreuz der Ukraine (humanitäre Hilfe): redcross.org.ua/en/donate Ärzte ohne Grenzen (medizinische Versorgung): aerzte-ohne-grenzen.de/online-spenden Mission Lifeline (Versorgung, Fluchthilfe): mission-lifeline.de/ukraine Spenden für kleinere NGOs: betterplace.org Infos für Geflüchtete aus der Ukraine in Deutsch, Ukrainisch, Russisch und Englisch: germany4ukraine.de Umfangreiche Liste mit Organisationen, die Ukraine-Hilfe betreiben: taz.de/Hilfe-und-Spenden-fuer-die-Ukraine/!5838914


INDIEMAGAZIN

BEST OF CINEMA: GRÜNE TOMATEN Am 5. April geht es bei „Best Of Cine-

Dokfilmwoche Hamburg Die Dokumentarfilmwoche Hamburg, die vom 20.–24.4. wieder im Metropolis, Lichtmess und B-Movie stattfindet, will Filme zeigen, die die Wirklichkeit nicht einfach abbilden, sondern die Art, wie sie repräsentiert wird, hinterfragen und dekonstruieren. Das Programm reicht von kleinen experimentellen Produktionen bis hin zu internationalen Projekten. Neben der Gesprächsveranstaltung „Positionen“ und einer Reihe, die sich speziell mit Hamburg beschäftiget, ist dieses Jahr die bereits für 2020 geplante Retrospektive der interdisziplinären Künstlerin Trinh T. Minh-Ha vorgesehen. Das komplette Programm wird ab Ende März auf dokfilmwoche.com veröffentlicht.

ma“-Klassiker-Reihe um Frauenfreundschaften. In GRÜNE TOMATEN findet Evelyn (Kathy Bates) in den Geschichten der alten Ninny (Jessica Tandy) aus dem Alabama der 1930er neue Anstöße, um ihre in Routine und Frustration versackende Ehe wiederzubeleben. In Ninnys Geschichten halten die Frauen zusammen gegen gewalttätige Ehemänner und Rassismus, schaffen sich eine eigenständige Zukunft, indem sie ein Café eröffnen, und drücken ihre Liebe, aber auch ihre Wut, kulinarisch aus. 31 Jahre nach der Premiere kann frau nun wieder ins „Whistle Stop Cafe“ einkehren. bestofcinema.de


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GO EAST

This Rain Will Never Stop

Das diesjährige goEast-Festival (19.-25.4.) in Wiesbaden steht unter dem Eindruck des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Das Festival für mittel- und osteuropäischen Film widmet einige Programmpunkte den Werken ukrainischer Filmschaffender. So zeigen die Veranstalter*innen in einer Matineevorstellung den goEast-Gewinnerfilm 2021, THIS RAIN WILL NEVER STOP, der bisher nur online zu sehen war, in Anwesenheit der Regisseurin Alina Gorlova. In ihrem Dokumentarfilm begleitet Gorlova den 20-jährigen Andriy Suleyman, der sich als Freiwilliger für das Rote Kreuz in ostukrainischen Kriegsgebieten engagiert (Filmbesprechung S. 36). goEast hat die Zusammenarbeit mit staatlichen und staatsnahen russischen Filmeinrichtungen ausgesetzt, zeigt aber auch in diesem Jahr wieder Produktionen unabhängiger, regimekritischer Filmemacher*innen aus Russland. fimfestival-goeast.de

Seeing in the Dark

KURZFILMTAGE OBERHAUSEN Die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen (30.4.-9.5.) gehören zu den wichtigsten Kurzfilmfestivals weltweit. Besondere politische Brisanz haben in diesem Jahr ein russischer und ein ukrainischer Beitrag: BODOK von Alexandra Karelina und Ivan Yakushev, basierend auf einer Kurzgeschichte Dostojewskis, und THE WIND PROBABLY von Yuri Yefanov. Der ukrainische Künstler zeichnet darin ein apokalyptisches Szenario, in dem ein schwarzes Loch alles zu verschlingen droht, und fragt sich, was im Angesicht der Katastrophe von der Realität überhaupt noch bleibt. Filme aus Afrika und Asien sind im Internationalen Wettbewerb 2022 ungewöhnlich stark vertreten. Viele der Beiträge befassen sich mit aktuellen politischen Themen: In SEEING IN THE DARK etwa blickt Regisseur Taiki Sakpisit auf die Proteste in Thailand, die von der chinesischen Regierung gewaltsam unterdrückt wurden. kurzfilmtage.de D8

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Ladies of Steel

FILMFEST BREMEN Das Filmfest Bremen wird 2022 vor Ort und online stattfinden, und neben dem Theater Bremen und den Kinos Schauburg, Atlantis, Cinema im Ostertor und City46 ist erstmals auch die Kunsthalle mit im Boot und zeigt Videokunst, Virtual Reality Screenings und Ausstellungen. Neben den Wettbewerbs-Kategorien „Bremer Film“ und „Innovation“ zeichnet das Festival vor allem das Programm „Humor/Satire“ aus, in dem beispielsweise die deutsche Beziehungskomödie SWEET DISASTER von Laura Lehmus als Preview und der finnische Roadtrip dreier Seniorinnen LADIES OF STEEL (R: Pamela Tol) zu sehen sein werden. Übrigens: alle Festivalpassnutzer*innen können auch das Online-Angebot nutzen und haben im Zeitraum des Festivals freien Eintritt zur Kunsthalle Bremen. filmfestbremen.com


INDIEKINO CLUB IM APRIL

INDIEMAGAZIN

Im April begleitet der Indiekino-Club wieder das reguläre Filmprogramm mit sehenswerten Ergänzungen. Besonders freuen wir uns über die ebenso sonnige wie kühle Patricia Highsmith-Verfilmung NUR DIE SONNE WAR ZEUGE (1960) von René Clement mit Alain Delon als Mr. Ripley, die wir in Kombi mit dem Kino-Dokumentarfilm LOVING HIGHSMITH (Besprechung S. 17) empfehlen. Zum Kinostart von RED ROCKET (Besprechung S. 35) haben wir Bakers f­rühes Werk STARLET (2012) über die Freundschaft der jungen Porno­darstellerin Jane mit der ruppigen alten Sadie nochmal ins Programm genommen. Den Start von Gaspar Noés herzzerreißendem Split Screen-Experiment VORTEX (Besprechung S. 20) ergänzen wir online mit Noés rückwärts erzähltem Rachethriller IRRÈVERSIBLE (2002). indiekino-club.de

VERLOSUNG FÜR KINDER: MADISON Wie ihr Vater ist die 12-jährige Madison ist begeisterte Radrennfahrerin, und wenn alles gut geht bald die Jüngste im Jugendkader der deutschen Nationalmannschaft. Doch der Druck ist zu groß – Madison fängt Streit an und hat einen Unfall, und der Trainer verordnet eine Auszeit. Madison hat überhaupt keine Lust auf Ferien in Tirol, doch dann lernt sie die Mountain-Bikerin Vicky kennen. Wir verlosen zwei DVDs. Bei Interesse schreibt uns bis zum 15.4. an info@ indiekino.de, Stichwort: Madison

Nur die Sonne war Zeuge

VERLOSUNG: TRANS – I GOT LIFE I GOT LIFE heißt der Untertitel des Dokumentarfilms TRANS von Doris Metz und Imogen Kimmel, benannt nach dem Lied aus dem Musical „Hair“. Der Song feiert den Körper, den niemand dir nehmen kann: Von den Haaren bis zu den Zehen, vom Gehirn bis zum Geschlecht. Der Dokfilm zeigt, wie unter anderem die plastische Chirurgie Patient*innen heute helfen kann, sich in ihm wohlzufühlen. Porträtiert werden trans Männer und Frauen in unterschiedlichsten Lebens- und Transitionsphasen, ebenso ihre Ärzt*innen und deren Arbeit. Wir verlosen zwei DVDs. Bei Interesse schreibt uns bis zum 15.4. an info@indiekino.de, Stichwort: Trans – I Got Life


INDIEFEATURE

„Es wird schnell verdrängt, was als zu fantastisch oder albern empfunden wird“

Alexandre Koberidze studierte in Tiflis Mikroökonomie und Filmproduktion, bevor er nach Berlin zog und an der dffb (Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin) Regie studierte. Sein Debüt LASS DEN SOMMER NIE WIEDER KOMMEN (2017) über einen jungen, verliebten Tänzer in den Großstadtstraßen von Tiflis, drehte Koberidze bewusst in niedriger Auflösung, so dass fast experimentelle Farbflächen entstanden. Sein zweiter Film, die verträumte Flaneur-Erzählung WAS SEHEN WIR, WENN WIR IN DEN HIMMEL SCHAUEN? war auf der Lockdown/Sommer-Berlinale 2021 der Kritiker- und Publikumsliebling. Als Darsteller ist Alexandre Koberidze regelmäßig in den Filmen seines Kollegen Julian Radlmaier zu sehen. Thomas Abeltshauser hat sich mit Alexandre Koberidze über WAS SEHEN WIR, WENN WIR ZUM HIMMEL SCHAUEN? unterhalten. D 10

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INDIEFEATURE

INDIEKINO: Herr Koberidze, wie entstand für Ihren Film Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen? die Idee eines Paares, das sich kurz begegnet und dann durch einen Fluch nicht mehr zueinanderfindet? Alexandre Koberidze: Am Anfang stand der Wunsch, ein Ereignis zu erzählen, das nicht in die alltägliche Wirklichkeit passt, etwas Raum geben, das so unwahrscheinlich ist, dass es eigentlich nicht sein kann. Weil das Kino ein guter Ort für diesen magischen Realismus ist? Weil auch unsere Welt ein Ort dafür ist. Es wird schnell verdrängt, was als zu fantastisch oder albern empfunden wird. In unserer technokratischen Gesellschaft wird versucht, für alles eine erklärbare Antwort zu finden. Aber Manches entzieht sich Wissenschaft und Logik. Ist diese Weltsicht in Georgien ausgeprägter als in Deutschland? Es ist schwer für mich zu vergleichen. Ich kam vor 12 Jahren nach Berlin, aber mein Blick ist noch immer begrenzt, weil meine Bubble sehr auf die Stadt und den Freundeskreis um die dffb bezogen ist. Deswegen wollte ich auch in Georgien drehen, weil ich besser spüren und beurteilen kann, welche Stimmung dort herrscht. Sie selbst stammen aus der Hauptstadt Tbilissi, der Film spielt im westgeorgischen Kutaissi. Warum dort?

Kutaissi ist auf eine Art das Herz Georgiens. Es ist die älteste Stadt, sie war schon im 8. Jahrhundert vor Christus Hauptstadt der Kolchis und hat im Laufe der Geschichte viele wichtige Persönlichkeiten hervorgebracht, Künstler und Politiker, die das Land sehr geprägt haben. Und auch wenn es eine relativ kleine Stadt ist, hat sich hier in den 80er und 90er Jahren zum Beispiel eine sehr kreative Musikszene entwickelt, vor allem HipHop. Inwiefern schwingt das mit in Ihrem Film? Wenn man durch die Stadt läuft, erinnern viele Ecken an die Vergangenheit dieser Stadt. Das ist spannend, aber man muss auch aufpassen, dass es auf der Leinwand nicht zum Zitat wird. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat Kutaissi etwas seine Funktion verloren, erst in den letzten Jahren findet sich die Stadt langsam wieder, es entsteht etwa eine neue Universität. Vorher war es für Leute aus Tbilissi oft nur ein Ort, den man auf dem Weg zum Meer durchfährt und allenfalls anhält, um etwas zu essen. Auch ich kannte die Stadt eher aus der Geschichte und vom Hörensagen als aus eigener Erfahrung. Ich hatte zwar Freunde, die dort lebten, aber ich war nie länger als zwei Tage dort. Wie haben Sie dann die Stadt und die passenden Orte für sich entdeckt, die nun so eine wichtige Rolle im Film spielen, die Brücke über den Fluss etwa?

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INDIEFEATURE

Meine Produzentin, der Kameramann und ich haben vor dem Dreh fast ein Jahr dort verbracht, um Kutaissi zu verstehen und das Drehbuch zu entwickeln. Bei den langen Spaziergängen ist mir diese Brücke früh aufgefallen, ich wollte sie und das Café dort als Schauplatz unbedingt in meinem Film haben. Und dann waren der Kameramann und ich oft so begeistert von Orten, die wir unbedingt auch verwenden wollten. Also habe ich das Drehbuch umgeschrieben und die Geschichte um diese Orte herumgebaut. Sind aus dieser Herangehensweise auch der besondere Erzählrhythmus und die Ästhetik des Films entstanden? Das war sehr intuitiv. Wir hatten zwar ein Storyboard, aber die Form änderte sich stark im Arbeitsprozess. Als wir die Orte festgelegt hatten, haben wir zunächst alles mit den passenden Optiken fotografiert, um sehr genau zu wissen, mit wie vielen und welchen Einstellungen wir die Szenen später drehen. In dieser Auflösung ist dann im Grunde auch schon der Schnittrhythmus vorgegeben, wenn wir etwa Details assoziativ aneinanderreihen. Das alles entsprang der Idee, den Film wie einen Stummfilm zu drehen, fast wie Eisenstein, Dinge nicht über Dialoge zu erklären und mit Bildern zu arbeiten, die durch den Schnitt und die Reihung eine Bedeutung bekommen. Wir haben aber auch Teile dokumentarisch gedreht. 2018 während der Fußball-WM haben wir abends die Menschen dabei beobachtet, wie sie zusammen die Spiele schauen und tagsüber den Alltag in der Stadt eingefangen. Als wir dann ein Jahr später die Spielszenen drehten, hatte ich dieses Dokumaterial immer im Hinterkopf, und überlegte, wie ich es später im Schnitt einbauen könnte, auch um den Erzählfluss zu brechen, vom Plan abzukommen. Das gab mir eine große Freiheit. Warum Fußball? Für mich ist Fußball eine große Leidenschaft und ich hatte die Hoffnung, dass sie im Film spürbar ist, sich auf das Publikum überträgt. Aber wir konnten natürlich nicht vorhersehen, wie die Leute vor Ort bei den Liveübertragungen reagieren. Wir haben dann weniger die Gesichter gefilmt, eher andere Körperdetails, durch die aber starke Emotionen sichtbar werden. Diese Momente, auch die mit den begeistert fußballkickenden Kindern in Zeitlupe, bilden nun einen Kontrast zu den sehr zurückgenommen gespielten Szenen der Darsteller. Wie lange haben Sie am Schnitt gearbeitet? Länger als geplant. Als ich den ersten Rohschnitt hatte, fing die Pandemie an. Ich war drei, vier Monate zuvor im Schnittraum an der dffb, quasi schon in Isolation. Als dann der allgemeine Lockdown kam, durfte ich den Schnittcomputer zum Glück zu mir nach Hause nehmen und habe dann bis in den Sommer weiter daran gearbeitet. D 12

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Was war oder ist für Sie das Wichtige an der dffb? Sie ist der Grund, warum ich 2008 nach Berlin gekommen bin. Ich hatte dort viele Möglichkeiten und Freiräume, konnte an meinem ersten Langfilm alleine 2,5 Jahre lang arbeiten. Fast noch wichtiger aber waren die Leute, die ich dort in dieser Zeit kennengelernt habe und die mich stark geprägt haben als Filmemacher und als Mensch. Da gehört vor allem Julian Radlmaier dazu, für den ich auch in seinem neuen Film Blutsauger, der im Mai ins Kino kommt, als Darsteller vor der Kamera stand. Schon seine Übungen an der dffb fand ich damals sehr besonders und ich habe viel von ihm gelernt. Wie sieht die Filmszene in Georgien aus? Gibt es staatliche Unterstützung oder wie herausfordernd ist es, dort zu drehen? Es gibt eine große Tradition, während der Sowjetzeit sind viele Filme in Georgien entstanden. Doch durch den Zusammenbruch und die anhaltende Krise konnte viele Jahre nur sehr wenig produziert werden, erst langsam wächst wieder eine Filmindustrie heran. Es gibt internationale Produktionen, die hier drehen, Bollywood und auch aus arabischen Ländern, weil auf relativ kleinem Raum sehr unterschiedliche Landschaften zur Verfügung stehen. Es ist immer noch günstig und es gibt viele gut ausgebildete Leute. Aber die Infrastruktur befindet sich noch im Wiederaufbau. Sie sind 1984 geboren. Wie haben Sie in Georgien das Kino für sich entdeckt? Das war in meiner Jugend schwierig, Filme waren oft nur auf VHS verfügbar, mit furchtbar schlechter Bild- und Tonqualität, eine russische Synchronstimme hat alle Dialoge gesprochen. Das war noch sehr lange so, auch bei DVDs, und änderte sich erst durch das Internet. Ich glaube, meine Vorliebe in meinen eigenen Filmen eine Erzählstimme zu haben, hat hier ihren Ursprung. Ich mag dieses Artifizielle des Kinos und musste mich erst daran gewöhnen, dass jede Figur einen eigenen Sound hat. Ihr Film hat nicht nur eine erzählende Stimme, bisweilen spricht sie auch das Publikum direkt an. Eine durchaus gewagte Gratwanderung, die einen bezaubernden Reiz hat, aber leicht peinlich hätte werden können. Ich finde es schwierig, völlig ernste und in sich geschlossen Geschichten zu erzählen. Wenn ich mit diesen Elementen spiele, stelle ich auch meine Rolle als Filmemacher infrage und was Kino heute ist. Wie funktioniert Filmsprache, was bedeutet etwa eine Kamerafahrt heute? Ich muss das für mich ausprobieren und verstehen, in dem ich es in einem Film benutze. Und diese Kamerafahrt bedeutet dann in dem Moment nichts anderes, sondern steht ganz für sich. D Das Gespräch führte Thomas Abeltshauser


INDIEFEATURE

Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen? Georgische Poetik

Vor einer Schule in der georgischen Stadt Kutaissi begegnen sich Lisa und Georgi zufällig auf der Straße und verlieben sich auf den ersten Blick. Als sie sich am gleichen Abend noch einmal begegnen, lädt der wortkarge Fußballer die ebenso zurückhaltende Apothekerin auf ein Date ein. Doch genau in diesem Moment werden die beiden verflucht. Der kleine Baum, der Wind und die Regenrinne versuchen, Lisa noch zu warnen, aber am nächsten Morgen ist es geschehen. Lisa und Georgi wachen in anderen Körpern auf. Obwohl beide am verabredeten Treffpunkt auftauchen, können sie sich in ihrer neuen Erscheinung nicht erkennen. Die Verwandlung ist aber nicht nur ein echter Liebeskiller, sondern bringt auch sonst einige Veränderungen mit sich. Lisa kann nicht mehr in der Apotheke arbeiten und Georgi nicht zu seinen Fußballkumpels. Verändert durchwandeln sie ihre alte Welt und versuchen, sich darin neu einzurichten. Währenddessen liegt die Stadt im WM-Fieber, und ein Filmteam sucht für sein Projekt „Straßenhunde, die vom Wind gestreichelt werden“ sechs perfekte Liebespaare. Alexandre Koberidzes zweiter Spielfilm entführt in eine magische und komische Realität. Die Farbgestaltung bewegt sich in ein Sepia. Die Szenen sind oft wie Wimmelbilder aufgebaut. Jedes Detail kann hier eine neue Geschichte eröffnen, die dank des Erzählers (übrigens Koberidze selbst) aber immer wieder zu den zwei getrennten Liebenden zurückfindet. Dialoge gibt es wenige. Aber Spiel umso mehr. Die Einfälle sind dabei so charmant wie skurril. Während die erste Begegnung Lisas und Georgis in einer Nahaufnahme ihrer Beine erzählt wird, zeigt sich die zweite Begegnung aus der Vogelperspektive, und die beiden Liebenden sind nur noch als Silhouetten zu erkennen. Die schrullige Poetik entsteht nicht nur in den fantastischen Momenten und der Bildgestaltung, sondern auch immer wieder aus den Alltagselementen heraus. Bilder werden früher eingeleitet oder ausgeschwenkt in kleine Szenerien. Kurze Impressionen von Gegenständen, einer Termine unter www.indiekino.de

Originaltitel: Ras vkhedavt, rodesac cas vukurebt? D Deutschland/Georgien 2021 D 150 min D R: Alexandre Koberidze D B: Alexandre Koberidze D K: Faraz Fesharaki D S: Alexandre Koberidze D M: Giorgi Koberidze D D: Ani Karseladze, Giorgi Bochorishvili, Oliko Barbakadze, Giorgi Ambroladze, Vakhtang Panchulidze D V: Grandfilm

Gruppe Jugendlicher, die durch die Stadt zieht, oder die chaotische Tonspur in einer Musikschule führen in die Mini-Welten, die sich parallel zur Haupthandlung abspielen. Neben der Liebe ist die Fußball-WM das große Thema: Bolzende Kinder, über die hinweg Gianna Nannini ihren legendären WM-Hit schmettert, fußballschauende Straßenhunde und historische Public-Viewing-Lokalitäten Kutaissis ergeben einen Strauß absurd komischer Ausflüge. Aber die WM steht auch als Brücke zur Realität. Während der Erzähler die Geschichte in eine wage Zeit unheimlicher Brutalität versetzt, die sich aber im ruhigen Treiben der Stadt nicht zeigt, wird mit der Verlautbarung der Gegnerteams im Endspiel klar, es ist das Jahr 2014. Das Jahr des Politischen Novembers in Georgien und des Ukraine-Konflikts in der geografischen Nachbarschaft. Koberidze lässt es hinter Georgiens Bergen donnern. Die Aktualität darin ist bedrückend. Aber die märchenhafte Erzählung des Films hat dem etwas Tröstliches entgegenzusetzen: So grausam und willkürlich unsere Welt ist, es gibt auch das Gute darin und die Resilienz der Menschen ist unermesslich. WAS SEHEN WIR, WENN WIR ZUM HIMMEL SCHAUEN? erhielt 2021 den FIPRESCI-Preis der Filmkritiker*innen auf der Berlinale. Es ist nicht nur ein poetischer Film über die Liebe und den Fußball. Es ist auch eine Liebeserklärung an Kutaissi, vielleicht auch ein wenig an das Filmemachen selbst und mit Sicherheit an die Menschen und die Menschlichkeit. D Clarissa Lempp ¢ Start am 7.4.2022

WAS SEHEN WIR… is a poetic film about love and soccer. It‘s a love declaration to the Georgian city of Kutaissi, filmmaking, strolling and humanity.

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INDIEFEATURE

Wo in Paris die Sonne aufgeht Olymp, auf die Erde gefallen

Originaltitel: Les Olympiades D Frankreich 2021 D 105 min D R: Jacques ­Audiard D B: Jacques Audiard, Léa Mysius, Céline Sciamma D K: Paul ­Guilhaume D S: Juliette Welfling D M: Rone D D: Noémie Merlant, Lucie Zhang, Makita Samba, Lily Rubens D V: Neue Visionen Filmverleih

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INDIEFEATURE

WO IN PARIS DIE SONNE AUFGEHT hat den Originaltitel LES OLYMPIADES: eine Hochhaussiedlung in Paris. Der Film Un prophète, 2009 von Jacques Audiard gedreht, heißt wie eine Bushaltestelle in Marseille. Dieser neue Film des Regisseurs entfaltet seine Geschichte mit Verweisen auf LES ENFANTS DU PARADIS, einem Schlüsselwerk der französischen Filmgeschichte. Konventionell und neu gleichzeitig, verwebt Audiard die Orte und ihre Geschichten. Ein Sieb, an dem die Löcher das Wichtigste sind, wie der Ausblick aus der Wohnung eines Betonklotzes. Das schöne, junge Paar darin ist schwarzweiß und geschmeidig. Ein Götterpaar im Olymp, nackt, zart, verletzlich und stark. Später latscht die Göttin im Supermarkt herum und verkauft Filme im Callcenter. Unterschiedliche Lebensräume der Stadt Paris entfalten und durchkreuzen sich präzise an den Personen entlang. Es geht um Bildung, Gerechtigkeit, Immobilien. Immer wieder gibt Architektur Statik vor und begleitet so die Geschichte. Eine Göttin studiert nach jahrelangem Missbrauch Jura. Unten, Oben, Sex, Welt, Geld: Das Klischee der Figuren ist es, in verschiedene Richtungen ihr Klischee zu wechseln. Kurz in Farbe, wie eine Störung,

hält uns ein Mädchen Flammen entgegen. Sie gratuliert „Baptiste“, (aus LES ENFANTS DU PARADIS). Das Mädchen bleibt erst einmal auf ihrer Sexseite, aber gibt der Sehnsucht einen Namen. Klar, es ist lustvoll, schöne, nackte Menschen in ihrer Verletzlichkeit zu sehen. Zwischen Mauern, durchwoben von Lichtstrahlen. Dies komplexe Gebilde wirkt ausgedacht und realistisch zugleich. Wie ein gelungenes Skatspiel, ein Film, Architektur als Gesellschaft. Der Olymp ist auf die Erde gefallen und wir wohnen in ihm. Der letzte gesprochene Satz ist ein Liebesgeständnis durch eine Gegensprechanlage auf dem Weg zum Friedhof. D Katrin Eissig ¢ Start am 7.4.2022

Based on the short stories of American comic illustrator Adrian Tomine, Jacque Audiard‘s film is about four young people in Paris, about sex, love, friendship, life plans and aimlessness.

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INDIEKRITIKEN Österreich 2021 D 103 min D R: Peter Brunner D B: Peter Brunner D K: Peter Flinckenberg D S: Peter Brunner D M: Tim Hecker D D: Franz Rogowski, Susanne Jensen D V: drop-out Cinema

Luzifer

Vernebelte Alpen, flüsternde Gebete LUZIFER ist der vierte Spielfilm des österreichischen Regisseurs Peter Brunner und basiert auf einer nicht näher spezifizierten wahren Geschichte. Um eine realgetreue Schilderung von Ereignissen geht es in LUZIFER nicht, stattdessen liefert Brunner, der Film bei Michael Haneke studiert hat, eine krude und quälende, aber auch zutiefst eindrückliche Mischung aus FUNNY GAMES, DER EXORZIST und HEIDI. In den Tiroler Bergen leben die ehemalige Alkoholikerin und nun okkulte Christin Maria (Susanne Jensen) und ihr erwachsener Sohn Johannes (Franz Rogowski). Ihre Tage bestehen aus Kühe melken, Sünden abwaschen und Metal hören. Der durch eine vermutlich isolierte und gewaltvolle Kindheit in seiner Entwicklung stark gehemmte Johannes hält in einem selbstgebauten Verschlag außerdem verschiedene Vögel, die mit ihren durchdringenden, doch undurchdringlichen Blicken den Film symbolhaft begleiten. Ihre abgeschlossene Welt – ländliche Idylle kann man es kaum nennen – wird eines Tages von der mafiös agierenden Tourismusindustrie aufgebrochen. Statt dem heiligen Geist fliegen nun Drohnen und Helikopter über die Berge, und die Standhaftigkeit von Maria und Johannes wird zunehmend auf die Probe gestellt. Erwartbare Narrative über die Prüfung der Gläubigen oder über den Einfall des Kapitals und die Rache der Natur entspinnen sich jedoch nicht, stattdessen verlieren sich Maria und Johannes immer mehr in ihrer tröstlichen und unerbittlichen Welt fanatischen Glaubens, in der Gott und Teufel, Prüfung und Rettung ununterscheidbar werden. Getragen wird LUZIFER nicht von seiner Handlung, sondern von den impressionistischen Aufnahmen vernebelter Alpen, flatternder Vögel und flüsternder Gebete sowie von Rogowskis überragender Darstellung. D Yorick Berta ¢ Start am 28.4.2022

Tourism invades the remote Tyrolean mountain world of an occult Christian and her disturbed son. The film of Haneke student Peter Brunner is crude and distressing, but also a deeply impressive mixture of FUNNY GAMES, THE EXORCIST and HEIDI.

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Originaltitel: La Fracture D Frankreich 2021 D 98 min D R: Catherine Corsini D B: Catherine Corsini, Agnès Feuvre, Laurette Polmanss D K: Jeanne Lapoirie D S: Frédéric Baillehaiche D D: Valeria Bruni Tedeschi, Jean-Louis Coulloc’h, Marina Foïs, Pio Marmaï D V: Alamode Film

In den besten Händen Erschöpfende Nachtschicht

IN DEN BESTEN HÄNDEN ist nicht so sehr ein Ensemble-Film als eine Choreografie. Die Handlung des Films trägt sich im Verlauf einer Nacht und fast durchgängig an einem einzigen Ort zu. In der Notaufnahme eines Pariser Krankenhauses treffen private Notfälle und die Teilnehmer*innen einer Gelbwesten-Demonstration auf überarbeitetes Personal. Die Kamera ist ständig unterwegs in den unübersichtlichen Gängen und Nischen des Krankenhauses, und ständig verschiebt sich dabei der Fokus. Zu Beginn ist die Erzählung ganz bei Raf (Valeria Bruni Tedeschi in einer ihrer neurotischsten Rollen), die sich – mehr oder weniger als Folge eines Beziehungsstreits – den Arm gebrochen hat. Sie medikamentiert sich großzügig selbst und schwankt zwischen Wehleidigkeit und Aggression, während ihre Freundin Julie (Marina Foïs), versucht, eine Balance zwischen Sich-Kümmern und Distanzhalten zu finden und sich um den Sohn sorgt, der zur Demo wollte. Im Kampf um die Aufmerksamkeit des medizinischen Personals gerät Raf dann mit dem Fernfahrer Yann (Pio Marmaï) aneinander, der von Polizeigeschossen am Bein verletzt wurde und sich um seinen Job sorgt. Heimliche Hauptfigur aber ist die Pflegerin Kim (Aïssatou Diallo Sagna), die beruhigt, ermahnt, die Nerven behält und dabei selbst ein krankes Kind zu Hause hat. Der Film folgt ihr auf ihrer erschöpfenden Schicht von Baustelle zu Baustelle und nimmt dabei weitere Personen in den Blick: den Suchtkranken, der am Rande des Wartezimmers in Paranoia abzugleiten droht, die Demonstrierenden, die sich vor der Polizei in die Notaufnahme geflüchtet haben. Während sich drinnen die Lage immer weiter zuspitzt, brennen draußen die Barrikaden, und am nächsten Morgen geht die Sonne über einer geschundenen Nation auf. Im Original lautet der doppeldeutige Titel des Films „La fracture“ – Der Bruch. D Hendrike Bake ¢ Start am 21.4.2022 The plot of the ensemble film takes place over one night and almost exclusively in one place: in the emergency room of a Parisian hospital private emergencies and the participants of a Yellow Vest protest encounter the overworked staff.

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Familie und Freundschaft sind wichtiger als jegliche Ideologie Schweiz/Deutschland 2021 D 83 min D R: Eva Vitija D B: Eva Vitija D K: Siri Klug D S: Rebecca Trösch, Fabian Kaiser D M: Noël Akchoté D V: Edition Salzgeber

Loving Highsmith Intime Einblicke

Eine Frau aus Texas wird zur Krimi-Autorin ihrer Zeit, gefeiert in den Metropolen der Welt. Ihre Liebe zu Frauen hält sie fast bis zu ihrem Lebensende geheim. Im Dokumentarfilm LOVING HIGHSMITH steht die private Seite der Patricia Highsmith im Mittelpunkt: Die zu ihrem 100. Geburtstag veröffentlichten Tagebücher geben intime Einblicke, vor der Kamera kommen vor allem ehemalige Liebhaberinnen zu Wort (u.a. die queere Berliner Künstlerin Tabea Blumenstein). Der Film ergründet die Frage: Was wissen wir über die Meisterin des psychologischen Thrillers – und was nicht? 1921 geboren, schafft Highsmith bereits mit ihrem ersten Roman den Durchbruch, Alfred Hitchcock adaptiert “Zwei Fremde im Zug”. Verfilmungen der Ripley-Romane von René Clement und Wim Wenders folgen. Posthum gibt es Hollywoodproduktionen von “Der talentierte Mr. Ripley” und “Carol”. Letzteres erscheint als ein Schlüsselwerk: Highsmith veröffentlichte diese – wegen ihres Happy Ends ikonische – lesbische Liebesgeschichte unter einem Pseudonym und outete sich erst kurz vor ihrem Tod als Autorin. Neben ihren Tagebuchaufzeichnungen zeigen stimmungsvolle Schwarzweiß-Fotografien und Interview-Aufnahmen retrospektiv ihre Willensstärke, aber auch ihre Angreifbarkeit. “Schreiben ist natürlich ein Ersatz für das Leben, das ich nicht leben kann”, notiert Highsmith einmal. In einem Interview sagt sie, sie fühle sich im Krimi-Genre missverstanden – es gehe ihr nicht so sehr um Mord als um Schuld. Da stellt sich die Frage, wie Highsmith selbst ihr Doppelleben bewertete: Der konservativen Mutter will sie gefallen und gleichzeitig die weltweit öffnenden Gay Clubs erobern. Dieses Porträt einer resilienten Frau, die mit zunehmendem Alter verbittert und selbst diskriminiert, ist keine einfache Liebeserklärung – sondern vor allem eine Hommage an ein selbstbestimmtes Leben. D Anna Hantelmann ¢ Start am 7.4.2022 In the documentary LOVING HIGHSMITH, Patricia Highsmith’s private life is at the center: the diaries that were published in honor of her 100th birthday give intimate insights, former lovers appear in front of the camera and get a chance to speak.

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INDIEKRITIKEN

Das Ereignis So nah am Leben

Originaltitel: L’événement D Frankreich 2021 D 100 min D R: Audrey Diwan D B: Marcia Romano, Audrey Diwan D K: Laurent Tangy D D: Anamaria Vartolomei, Kacey Mottet Klein, Luàna Bajrami, Louise Orry-Diquero, Pio Marmaï, Sandrine Bonnaire D V: STUDIOCANAL

Anne weiß, was sie will. Ein Kind ist es nicht. Und genau das ist ihr Problem. Sie ist gerade Anfang zwanzig, eine begabte Studentin, die darauf hinarbeitet, einmal Lehrerin zu werden. Vielleicht sogar mehr. Aber dann wird sie unerwartet schwanger und sämtliche Türen, die ihr gerade noch offenstanden, schließen sich. Denn der Schauplatz von DAS EREIGNIS ist Frankreich zu Beginn der Sechzigerjahre, als Schwangerschaftsabbrüche auch dort noch illegal sind. Dem Arzt, der die Diagnose stellt, tut es leid. Aufrichtig. Er weiß, was jetzt auf die junge Frau zukommt. Nur helfen kann er ihr nicht, wenn er sich nicht selbst strafbar machen will. In den Wochen danach, in denen wir Anne auf Schritt und Tritt begleiten, kämpft sie trotz der Risiken mit sämtlichen nur erdenklichen Mitteln. Gegen ihr Schicksal. Gegen das System. Gegen sich selbst. Die Schauspielerin Anamaria Vartolomei gibt ihr die nötige Ausdauer, zwei große Augen voller Angst und einen

France in the 1960s. Anne is in her early 20s, a gifted student who is working towards becoming a teacher. But then she gets unexpectedly pregnant and all of the doors that were open to her are now closing.

eisernen Willen, der Staunen lässt. Doch die Zeit wird knapp. In den fast quadratischen Bildern, gedreht im gestauchten 4:3-Format, engt sich Annes Bewegungsspielraum zunehmend ein. Ihre Optionen schwinden, nur die Not wird immer größer. Ihr Körper wächst. Die Einsamkeit auch. DAS EREIGNIS, basierend auf dem gleichnamigen Buch von Annie Ernaux, ist ein fast unmerklich bestürzendes Werk, das seine Wucht einerseits aus der persönlichen Erfahrung der Schriftstellerin gewinnt und andererseits von der Feinheit der Inszenierung profitiert, mit der die französische Regisseurin und Drehbuchautorin Audrey Diwan sich der Vorlage angenommen hat. Auch Diwan hat ihre eigenen Erfahrungen mit dem Thema gemacht und sorgt nun dafür, dass im Film jeder Schritt, jeder Atemzug, jede Emotion ihrer Protagonistin erfahrbar wird. Ob frontal, von der Seite oder im Nacken, die Kamera von Laurent Tangy hat Anne stets im Visier. Und so wie Anne scheut auch sie nicht zurück, wenn es brenzlig wird oder weh tun. Erst recht dann nicht. DAS EREIGNIS ist ein Film, der so nah am Leben ist, wie es das Kino nur sein kann. Mit jeder Einstellung, jedem Bild. In jedem noch so flüchtigen Augenblick. D Pamela Jahn ¢ Start am 31.3.2022

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INDIEKRITIKEN Deutschland 2022 D 97 min D R: Sönke Wortmann D B: Jan Weiler D K: Jo Heim D S: Andrea Mertens D D: Anke Engelke, Nilam Farooq, Justus von Dohnanyi, Thorsten Merten, Florian David Fitz, Thomas Loibl D V: Sony Pictures

Eingeschlossene Gesellschaft

Originaltitel: La beauté du geste D Frankreich 2020 D 100 min D R: Sylvie Ohayon D B: Sylvie Ohayon, Sylvie Verheyde D K: Georges Lechaptois D S: Mike Fromentin D D: Nathalie Baye, Lyna Khoudri, Pascale Arbillot D V: Happy Entertainment

Haute Couture Ziemlich beste Freundinnen

Showdown im Lehrerzimmer

Es ist Freitagnachmittag 14.30 Uhr. Es klopft an der Tür des Leh­ rerzimmers, und Empörung macht sich breit. Bloß kein Schüler! Am Freitagnachmittag! Die Wahrheit ist schlimmer: In der Tür steht Herr Prohaska, dessen Sohn Fabian nur ein Punkt zur Abiturzulassung fehlt, und er hat eine Pistole. Prohaska zwingt die versammelten Kolleg*innen dazu, ad hoc eine Zeugniskonferenz abzuhalten. Er wartet derweil im Nebenzimmer. Im Lehrerzimmer entspannt sich eine kontroverse Debatte – in der es allerdings zu keinem Zeitpunkt um den Schüler geht, sondern ausschließlich um die Animositäten des Lehrkörpers. Der besteht aus wohlbekannten Pauker-Stereotypen. Da ist der Lateinlehrer und Regelfanatiker Engelhardt (Justus von Dohnányi), dessen ausgefeiltes Punktesystem für die Misere verantwortlich ist. Anke Engelke ist Musiklehrerin Heidi Lohmann. Schüler*innen sind ihr egal, Schubert ist ihr wichtig. Dem sich selbst dynamisch findenden Sportlehrer Peter Mertens (Florian Fitz) wiederum ist Schubert herzlich egal, dafür ist er gerne der gute Kumpel. Dann sind da noch der unbeholfene Chemie-Nerd in Sandalen (Torben Kessler), die junge, übermotivierte Referendarin (Nilam Farooq) und der um Ausgleich bemühte Herr Arndt (Thomas Loibl). In jeder Diskussionsrunde bröckeln die Fassaden ein Stück weiter und kommen neue Abgründe ans Licht, die die Autorität dieser Autoritätspersonen untergraben. Das Ensemble nimmt sich der Figuren liebevoll an, kann aber nicht verhindern, dass Sönke Wortmanns Komödie nach einem Hörspiel von Jan Weiler wie aus der Zeit gefallen wirkt. Gerade nach den letzten zwei Jahren, in denen sich Schule täglich neu orientieren musste, erscheinen die „alte Jungfer“ Frau Lohmann oder der Neuerungsverweigerer Engelhardt wie aus den 50er Jahren entlehnt. D Hendrike Bake ¢ Start am 14.4.2022

Sönke Wortmann’s comedy based on a radio play by Jan Weiler gathers teacher stereotypes in the faculty room where they are hold hostage by a desperate father.

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Esther (Nathalie Baye) leitet als Direktrice ein Dior-Atelier und bereitet ihre letzte Kollektion vor. Jade (Lyna Khoudri) und ihre beste Freundin Souad (Soumaye Bocoum) leben in Saint-Denis, der bekannten Banlieue vor den Toren von Paris. Eines Morgens treffen die Frauen aufeinander. Nachdem Jade und Souad einem schlafenden Musiker in der Metro die Gitarre abgenommen haben, spielt Jade darauf und singt dazu. Esther hört auf dem Weg zur Arbeit nur einen Moment gebannt zu, da reißt ihr Souad die Handtasche weg – und Jade rennt ihrer Freundin nach. Zuerst freuen sich beide über ihre Beute, doch schon bald plagt Jade, die mit ihrer – klischeehaft dargestellten – depressiven Mutter zusammenlebt, das schlechte Gewissen. Sie bringt Esther die Tasche zurück – und bekommt kurzerhand ein Praktikum in Esthers Atelier angeboten. Dort beginnt Jade, nähen zu lernen. Doch als sie ein Dior-Parfüm für Souad mitgehen lässt, die sich von ihr vernachlässigt fühlt, kommt es zum Streit. In HAUTE COUTURE lässt Regisseurin und Autorin Sylvie Ohayon zwei Pariser Welten aufeinanderprallen: das elegante Paris der Luxus-Designer*innen und die Banlieues, die nicht selten durch Gewalttaten in den Schlagzeilen landen. Die Eckpfeiler der märchenhaften Tragikomödie erinnern an ZIEMLICH BESTE FREUNDE, einen der größten französischen Kinoerfolge. Die einsame Esther und die junge Jade werden schnell ziemlich beste Freundinnen, doch Esther sieht in Jade noch mehr: eine Ersatztochter – und die letzte Chance, ihren erfüllenden Beruf, von dem Ohayon einen Eindruck vermittelt, an die nächste Generation weiterzugeben. Trotz teils wenig glaubwürdiger Wendungen tragen Nathalie Baye und Lyna Khoudri (PAPICHA, THE FRENCH DISPATCH) die Geschichte zweier ungleicher Frauen. D Stefanie Borowsky ¢ Start am 21.4.2022 Esther, the head seamstress at Dior, meets young Jade by accident and decide to take her under her wings and teach her how to tailor.

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INDIEFEATURE

Vortex, das ist ein Wasserstrudel, im übertragenen Sinne aber auch eine Situation, die außer Kontrolle geraten ist. Von solchen Situationen handeln alle Filme von Gaspar Noé, aber Noé sagt von VORTEX, seine anderen Filme – außer SEUL CONTRE TOUS (Der Menschenfeind) – habe er für Teenager gemacht. In IRRÉVERSIBLE, ENTER THE VOID, LOVE und CLIMAX geht es um Momente, in denen junge Leute Katastrophen heraufbeschwören, aber es geht auch um Intimität, Rausch und Lust, um Glück und den Verlust von Glück. Alle Filme von Noé lassen einen mehr oder weniger verwüstet zurück. VORTEX handelt von einem Paar um die achtzig, gespielt von Dario Argento, dem legendären Horror- und Giallo-Regisseur und Françoise Lebrun, der Darstellerin der sexuell unabhängigen Veronika in Jean Eustaches Nouvelle Vague-Meisterwerk LA MAMAN ET LA PUTAIN (Die Mama und die Hure, 1973). Der Film beginnt mit dem Abspann: Noé nennt alle Beteiligten, die Hauptdarsteller mit ihrem Geburtsdatum: Argento 1940, Lebrun 1944. Er gönnt ihnen einen letzten Moment des Glücks. Aus dem Fenster ihrer großen Bohème-Wohnung winkt sie ihm über den Hinterhof zu: „Es ist alles fertig“. Ein Glas Wein auf dem Balkon, sie stoßen an, sie sagt: „Ist das Leben nicht ein Traum“. D 20

D APRIL 2022

Er: „Ein Traum in einem Traum“. Die Kamera zeigt die Lage der Wohnung wie in einer Escher-Zeichnung: Das Gebäude links neben der Dachwohnung ist höher, ach, die ganze Stadt scheint höher zu liegen. Auf dem Gebäude nebenan befindet sich ein riesiges Wasserreservoir, das die Menschen auf dem Balkon zu verschlingen drohen scheint. Die junge Françoise Hardy, einst die schönste Frau der Welt, singt „Mon ami la rose“, ein Lied darüber, „la plus belle“ gewesen zu sein, und alt zu erwachen. So schön, so traurig. Das Wasser verschlingt das Paar nicht. Der Film ist allen gewidmet, deren Gehirn vor dem Herzen stirbt. In VORTEX verliert die Frau die Erinnerung und fast vollständig die Sprache. Noé filmt das Erwachen des Paares im Ehebett. Sobald sie den Schlaf abgeschüttelt haben, teilt sich das Bild: Eine Hälfte zeigt sie, die andere ihn. Später wird auch gelegentlich der Sohn Stéphane eine Hälfte des Bildes einnehmen, der sich um seine Eltern sorgt, mit seiner Heroinsucht und der psychischen Erkrankung seiner Partnerin kämpft und seinen kleinen Sohn Kiki versorgt. Als sie aufgestanden ist, kocht sie Kaffee in der Bialetti-Kanne, auf dem Gasherd. Es sieht aus, als hätte sie kein Wasser eingefüllt.


Vortex A dream within a dream

Die Flamme des Gasherds ist zu hoch. Wenn nicht Traurigkeit herrscht, regiert die Angst, es könnte etwas passieren. Sie war Psychiaterin, er schreibt über Film und Traum, oder versucht zumindest, die Illusion, ein Buch zu schreiben, am Leben zu erhalten. Die Bohème-Wohnung ist ein lebendiges Museum ihres Lebens, überall liegen Bücher, jeder Zentimeter Wand ist mit Politund Filmpostern, Zetteln, Erinnerungen, Fotografien beklebt. Seine Simulation eines wahrgenommenen Lebens wirkt angestrengt. Seit Jahrzehnten hat er eine Affäre, aber sie antwortet nicht mehr auf seine Anrufe. Er hält das berühmteste Zitat von Edgar Allen Poe, „is all we see and scheme just a dream within a dream“ für eine originelle Entdeckung. Er hatte einen Herzinfarkt, aber er muss die Schreib- und Rauch-Maschine weiterlaufen lassen. Während er noch tut, was er tut, ist sie allein und verloren. Sie bringt den Müll herunter, vielleicht will sie einkaufen gehen, aber sie bleibt vor dem Spielzeug im Fenster eines Ladens in der Nachbarschaft hängen, in dem sie sich dann verirrt. Er merkt, dass sie fehlt, spät, aber früher, als man erwartet. Sein Leben und ihr Leben sind getrennt, und er scheint darauf zu beharren, sein Leben zu retten, auch wenn sie mit jedem Moment

der Einsamkeit ihres verliert. Vielleicht war das ihr Modus Operandi über die Jahre: Jeder macht seins/ihres, dann kommt man für die gemeinsamen Momente zusammen. Aber es geht nicht mehr. Sie ist allein und verloren. Aber er ist immer noch der Einzige, der sie beruhigen kann, wenn sie weint. Noés Film ist eine emotionale Tour de force, die sich nicht so leicht abschütteln lässt wie seine streng konstruierten früheren Filme, die, so intensiv sie inszeniert waren, auch immer etwas zu ausgedacht wirkten. Hier gibt es kaum ein Drehbuch, die wenigen Dialoge sind größtenteils improvisiert. VORTEX zieht mit in seinen Strudel, und ohne Tränen lässt er einen nicht wieder frei. Altwerden ist nichts für Feiglinge. D Tom Dorow ¢ Start am 28.4.2022 Frankreich 2021 D 142 min D R: Gaspar Noé D K: Benoît Debie D S: Denis Bedlow, Gaspar Noé D D: Francoise Lebrun, Dario Argento, Alex Lutz, Kylian Dheret D V: rapid eye movies

VORTEX is about a couple in their 80s, played by Dario Argento and Françoise Lebrun. He tries to maintain the illusion of routine and work, she keeps getting lonelier in her dementia. Gaspar Noé follows the two of them with separate cameras in their worlds at the same time using a split screen.

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INDIEKRITIKEN Schweiz 2022 D 118 min D R: Daniel Felix D B: Daniel Felix D K: Daniel Felix, Max Iseli, Christian Löpfe D M: Severo Marchionne D V: Lakeside Film

Deutschland 2021 D 98 min D R: Antje Hubert D V: die thede

Chumm mit – Der Schweizer Alles, was man braucht Kaffee & Klönschnack Wanderfilm Prestigeprojekt Schweizer Wanderwege

Daniel Felix und seine Freund*innen haben sich viel vorgenommen: Sie wollen in jedem der 26 Schweizer Kantone eine Wanderung machen und über diese Wanderungen einen Film drehen. Sie alle sind auf die eine oder andere Art medienerfahren oder arbeiten beim Film, und wanderlustig sind sie alle. Die Erlaubnis des Stadtpräsidenten ihres Heimatortes Weinfelden haben sie schon, und er gibt ihnen auch gleich den traditionellen Wanderleiterwagen mit, auf den sie versprechen müssen, gut aufzupassen. Letzteres ist natürlich totaler Humbug, und ein Spiel für die Kamera. Die Wandergruppe begegnet auf ihrer Tour immer wieder „zufällig“ Leuten, die ausführlich über das Schweizer System der Wanderwege oder die Geschichte der Schweizer Kartografie referieren können, ähnlich wie es Peter Lustig in „Löwenzahn“ ständig passierte. Dabei ist der Off-Kommentar von Daniel Felix‘ CHUMM MIT ungeheuer charmant und die Kameraschwenks über Bergpanoramen und grüne Auen sind idyllisch und wunderschön, selbst im strömenden Regen. Bei 26 Touren in zwei Stunden bleibt nicht viel Zeit, auf die Eigenarten und Unterschiede der Regionen einzugehen, so dass es bei einigen nur für sich ähnelnde schnelle Abfolgen von Landschaftsbildern, Menschen auf Pfaden und Großaufnahmen von Pflanzen reicht. Die Spielszenen brechen diese Aneinanderreihung von Wanderbildern auf, und die Exkursionen über Spezialgebiete vermitteln Hintergrundinformationen über das Prestigeprojekt Schweizer Wanderwege, so dass CHUMM MIT nie zum reinen Werbefilm der Schweizer Touristikvereinigung verkommt. Mit mehr Zeit würde der Stoff für einen Fernsehmehrteiler reichen, so ist CHUMM MIT ein Appetithappen, der Lust darauf macht, die gezeigten Landschaften selbst abzulaufen. D Christian Klose ¢ Start am 7.4.2022 Daniel Felix and his friends are hiking across all 26 Swiss cantons and keep “accidentally” meeting people who can extensively report on the Swiss stystem of the hiking trails or the history of Swiss cartography.

D 22

D APRIL 2022

Über zwei Jahre, von 2018 bis 2020, zog Antje Hubert mit dem Kameramann Henning Brümmer durch den Norden Deutschlands und besuchte Dörfer und ihre Einkaufsmöglichkeiten. Discounter haben die kleinen Lebensmittelgeschäfte vielerorts verdrängt. Wer bestehen will, muss mehr als Lebensmittel bieten. Zum Beispiel einen Ort, an dem die Dorfbewohner*innen zusammenkommen können. Wie in Dithmarschen im Dorfladen des Ehepaares Thomsen, das neben den alltäglichen Dingen auch Kaffee, Kuchen und Klönschnack bietet. Berit Thomsen benennt auch gleich ein Problem der aussterbenden Dorfläden: Discounter haben die besseren Preise beim Einkauf im Großmarkt, weil sie größere Mengen abnehmen. Trotzdem bleiben die beiden dran. Denn was man braucht, sagt Knut Thomsen, sei ja nicht viel. Etwas zu Essen, zu Trinken und die Freiheit, sich Zeit für die schönen Dinge nehmen zu können. Das weniger genug ist, findet auch die Höfe-Gemeinschaft in der Uckermark. Junge Menschen, die auch aus Berlin herflüchten, haben hier neben einer ökologischen Bewirtschaftung der ehemaligen LPG Flächen auch einen florierenden Bio-Laden in Angriff genommen. Auch hier ist das Erfolgsgeheimnis der Faktor soziales Miteinander mit den Dorfbewohner*innen. Das geht bis zum genossenschaftlichen Betrieb der Dorf-Supermärkte, wie dem neu gegründeten „Tante Hanna“-Laden. In andere Dörfer kommt der mobile Supermarkt, und ein Bürgermeister setzt auf einen Lebensmittelautomaten. Mit schönen Bildern der Regionen und einem unaufgeregten Erzählton zeigt Antje Hubert, wie die Lebensmittelversorgung im ländlichen Raum durch neue Ideen und vor allem durch den Zusammenhalt der Dorfgemeinschaft auch im Discounter-Zeitalter überleben bzw. wiederbelebt werden kann. D Clarissa Lempp ¢ Start am 28.4.2022 Antje Hubert went to northern Germany with her cameraman Henning Brümmer and visited people in the countryside who maintain the village shop tradition or are reviving it.

Termine unter www.indiekino.de


I am the Tigress Tischa „The Tigress“ Thomas ist Mutter und Großmutter, Afro-Amerikanerin und Body-Builderin. Ihr Erscheinungsbild ist das Produkt von harter Arbeit, Diät und Verzicht. Sie bereitet sich auf ihren letzten großen Wettbewerb in Rumänien vor. Auch wenn hier spektakuläre Körper im Rampenlicht stehen, hat die internationale Bodybuilding-Szene nur wenig Glamour hinter den Kulissen zu bieten. Die Dokumentarfilmer Philipp Fussenegger und Dino Osmanovic begleiteten „die Tigerin“ über zweieinhalb Jahre auf Wettkämpfe, im Alltag und im Zweifel.

ein Film von Eva Vitija

¢ Start am 14.4.2022

Ab 7. April im Kino!

Deutschland/USA/Österreich 2021 D 80 min D R: Philipp Fussenegger, Dino Osmanoviç

Arabisches Filmfestival Berlin

‫ﻣﻬﺮﺟﺎن اﻟﻔﻴﻠﻢ اﻟﻌﺮﺑﻲ ﺑﺮﻟﻴﻦ‬

salzgeber.de/highsmith

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Wood – Der geraubte Wald Alle zwei Sekunden vernichten illegale Holzfällungen weltweit eine Waldfläche von der Größe eines Fußballfeldes. In ihrem Dokumentarfilm begleitet Michaela Kirst Alexander von Bismarck, Chef der Environmental Investigation Agency in Washington, dabei, wie er den verschlungenen Wegen und Machenschaften der globalen Holzmafia mit Undercover-Methoden – komplett mit Fake-Frisur und versteckter Kamera – auf der Spur ist. Sein Ziel: die Durchsetzung internationaler Regeln im Holzhandel und ein Bewusstseinswandel bei den Konsument*innen. ¢ Start am 7.4.2022 Österreich/Deutschland 2020 D 97 min D R: Michaela Kirst

Termine unter www.indiekino.de

www.alfilm.berlin 22.03.22

13. ALFILM 20. — 26. April 2022

11:29


INDIEFEATURE

River

Schön und erhaben

RIVER ist purer Luxus. Ein eigens angeheuertes Orchester, Willem Dafoe als Erzähler und Aufnahmen von Flüssen, die – ohne jede Übertreibung – zum Schönsten und Erhabensten gehören, das ein Dokumentarfilm je gezeigt hat. Die Kamera führt Yann Arthus-Bertrand, der mit Filmen wie PLANET ERDE und TERRA seit vielen Jahren das Genre dominiert und sich hier selbst noch einmal übertrifft. Mit einem sicheren Gefühl für Farbkontraste, Formenspiel und Rahmung erschafft er Bilder, die vom mikroskopischen bis zum planetarischen Maßstab ähnlich D 24

D APRIL 2022

atemraubende Effekte der Verfremdung und Harmonie erzeugen. Bei manchen Einstellungen ist lange nicht klar, in welcher Größenordnung sie sich abspielen, was zum zurückhaltend-kraftvollen Narrativ des Films passt. Dieses nimmt den Fluss als Metapher, um über Ausdehnung und Verbundenheit nachzudenken, räumlich, aber vor allem auch zeitlich: Wie ein Fluss fließen die Traditionen der Vergangenheit und die Handlungen der Gegenwart in die Zukunft und münden in der pointierten Frage „Sind wir gute Vorfahren?“ Angesichts von Umweltzerstörung und -verschmutzung, besonders von Flüssen, lässt sich diese Frage nur mit einem klaren


INDIEFEATURE

„Nein“ beantworten. Ähnlich wie in Edward Burtynskis filmischen Reflexionen des Anthropozäns (MANUFACTURED LANDSCAPES, 2006; WATERMARK, 2013; ANTHROPOCENE, 2018) wird also in einer monumentalen Bildsprache ein moralischer Inhalt vermittelt. Es ist das vielseitig und produktiv eingesetzte Bild des Flusses, was RIVER von Vorwürfen befreit, die Burtynskys Filmen gemacht werden: dass ihre Schönheit die gezeigte Zerstörung mehr verherrlicht als kritisiert. Und auch wenn die Antwort auf „Sind wir gute Vorfahren?“ bereits klar ist – eine Frage, die Willem Dafoe stellt, lässt sich schlecht abwinken. D Yorick Berta ¢ Start am 21.4.2022

Australien 2021 D 75 min D R: Jennifer Peedom D B: Robert Macfarlane, Joseph Nizeti, Jennifer Peedom D K: Yann Arthus-Bertrand, Sherpas Cinema, Ben Knight, Peter McBride, Renan Ozturk D S: Simon Njoo D M: William ­Barton, Piers Burbrook de Vere, Richard Tognetti D D: Willem Dafoe D V: Film Kino Text

RIVER is pure luxury. A hired orchestra, Willem Dafoe as the narrator and footage of rivers that – without exaggeration – are some of the most beautiful and sublime images that a documentary has ever shown.

APRIL 2022 D

25 D


INDIEKRITIKEN Deutschland 2021 D 88 min D R: Serpil Turhan D B: Eva Hartmann, Serpil Turhan D K: Ute Freund D S: Simon Quack, Eva Hartmann D V: Edition Salzgeber

Köy

Drei Kurdinnen in Berlin Neno erinnert sich, wie es war, als kurdisches Mädchen in der Türkei zu leben: „Da war nichts, nur ein trockener Berg“, sagt sie über das Dorf, in dem sie aufwuchs. In den Bergen und der Natur Ostanatoliens finden die in der Türkei unterdrückten Kurd*innen Zuflucht vor Krieg und Verfolgung, aber auch ein hartes Leben in Armut. Heute ist sie Urgroßmutter, lebt seit Jahrzehnten mit vielen Kindern und Enkelkindern wohlbehütet in Berlin und fühlt trotz allem manchmal die Sehnsucht – nach einer Heimat, die ihr immer wieder das Herz bricht. Diese Sehnsucht ist das Leitmotiv im Dokumentarfilm KÖY (dt. Dorf) der deutsch-kurdischen Regisseurin Serpil Turhan. Er widmet sich dem Leben dreier in Berlin lebender Kurdinnen: der Cafébetreiberin Saniye, der jungen Aktivistin Hêvîn und eben Neno, Turhans eigener Großmutter. Obwohl die Frauen einander nicht kennen und verschiedenen Generationen angehören, haben sie die Wehmut nach der Heimat gemeinsam. Saniye wünscht sich, irgendwann ins Dorf zurückzukehren und dort ein paar Jahre zu leben. Hêvîn, die in Berlin geboren ist, sieht sich als Teil der Opposition in der Türkei und will dorthin als Wahlbeobachterin reisen, um gegen die Diktatur zu kämpfen: „Wer soll das machen, wenn nicht ich?“ Regisseurin Turhan ist in den intimen, vertrauensvollen Gesprächen selbst sehr präsent und fordert ihre Gegenüber oft heraus: Gerade als Feministin hadert sie mit der Türkei und möchte von ihr eigentlich nichts mehr wissen, nicht mal als Projektionsfläche. Wenn sie die anderen auch nicht immer versteht, spürt man in der sanften, nahbaren Bildsprache (Kamera: Ute Freund) doch stets ein grenzenloses Mitgefühl. KÖY begleitet die Frauen über längere Zeit hinweg durch einschneidende Veränderungen, Abschiede und Neuanfänge und entfaltet dabei eine familiäre Atmosphäre, die unbedingt zum Ein- und Mitfühlen einlädt. D Eva Szulkowski ¢ Start am 21.4.2022 Yearning is the leitmotif of the documentary KÖY, in which German-Kurdish director Serpil Turhan portrays three Kurds living in Berlin: cafe owner Saniye, young activist Hêvîn, and Neno, Turhan‘s own grandmother.

D 26

D APRIL 2022

Kanada/Irland 2020 D 100 min D R: Matt Bissonnette D B: Matt Bissonnette D K: Jonathon Cliff D S: Matt Lyon D M: Stephen Rennicks D D: Gabriel Byrne, Jessica Paré, Brian Gleeson, Suzanne Clément D V: MFA

Death of a Ladies’ Man Hübsche Halluzinationen

Death of a Ladies’ Man von 1977 zählt nicht zu Leonard Cohens erfolgreichsten Platten. Phil-Spectors Produktion überzieht die Songs mit einem Zuckerguss aus Teenybopper-Schmalz der fünfziger Jahre, was nur bei dem nostalgischen Sexpop-Song „Memories“ und dem zynischen „Don’t Go Home with Your Hard-On“ als sarkastischer Effekt funktioniert. Mit „Memories“ beginnt denn auch der Film DEATH OF A LADIES’ MAN, in dem Gabriel Byrne als Leonard Cohen-Ersatz Sam O’Shea so stirbt, wie sich das der kanadische Autor und Regisseur Matt Bissonnette erträumt. Sam ist Alkoholiker und Uni-Prof, der bereits in den ersten Szenen erfährt, dass sein Typ abgemeldet ist. Während sein Sohn ihm erzählt, dass er schwul ist, wirft Sam einer Kellnerin flirtende Blicke zu, auf die sie nur mit dem Mittelfinger reagiert. Auch sonst läuft es eher schlecht für Sam. Seine jüngere Frau hat Sex mit einem jüngeren Mann, und er selbst hat – sehr literarische – Halluzinationen: Seine Studenten haben plötzlich Partyhüte auf den Köpfen, und einer sagt Cohens Gedicht „The Music Crept By Us“ auf; die Eishockey-Mannschaft seines Sohnes führt ein Kunstlauf-Ballett auf; eine Kellnerin trägt einen Tigerkopf. Eine Ärztin diagnostiziert eine typische Form von Kino-Krebs: Sam hat nicht mehr lange zu leben, aber es bleibt noch Zeit für eine (imaginäre?) Reise nach Irland, die (imaginäre?) Rettung der Tochter aus den Klauen eines Heroin-Fuzzis, und für allgemeine Wiedergutmachung mit Sohn und Ex-Frau. Der Ladies’ Man muss auf jeden Fall domestiziert werden, weil, Herrschaften, so geht es ja nun nicht, dass man zufrieden vor sich hin säuft und dauernd an Sex denkt. Die halluzinatorischen Szenen sind hübsch, es gibt viele wenig bekannte Fundstücke aus Cohens umfangreicher Text- und Musikproduktion (und den unvermeidlichen Begräbnishit). Aber die Story ist doch ein bisschen brav. D Tom Dorow ¢ Start am 7.4.2022 Sam (Gabriel Byrne) is an alcoholic and a university professor and an old charmer, even if that doesn’t totally work anymore. Recently, he’s been having strange hallucinations and is haunted by memories of his father.

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Originaltitel: La traversée D Frankreich/Tschechische Republik/Deutschland 2021 D 84 min D R: Florence Miailhe D K: Guillaume Hoenig D S: Julie Dupré, Nassim Gordji Tehrani D M: Philipp E. Kümpel, Andreas Moisa D V: Grandfilm

Die Odyssee Reise in Öl auf Glas

Als eines Nachts das Heimatdorf ihrer Familie in Flammen steht, müssen die 13-jährige Kyona und ihr 12-jähriger Bruder Adriel fliehen. Für die Geschwister beginnt eine lange Reise, die ihnen beinah alles abverlangt. Zum Glück geschieht hin und wieder, wenn alles verloren scheint, ein kleines Wunder. Zehn Jahre lang hat die französische Malerin Florence Miailhe an ihrem Regiedebüt gearbeitet und eine einzigartige Seherfahrung geschaffen: DIE ODYSSEE ist der weltweit erste Animationsfilm in Spielfilmlänge in Ölmalerei auf Glas. Durch diese Technik sind die Bilder ständig in Bewegung, mit jedem Pinselstrich kann sich alles verändern. In Miailhes Glasgemälden vergeht die Zeit: Rauchschwaden steigen auf, Nacht wird zu Tag, ein Schneesturm vernebelt die Sicht. Dadurch entsteht eine mitreißende Dynamik, die perfekt zur Reise der Geschwister passt. Chaos, Bewegung, Wandel sind für die beiden nun an der Tagesordnung. Auch Kyona ist eine Künstlerin: Sie hat ihr Zeichenbuch im Gepäck und hält darin die Gesichter der Menschen fest, die sie unterwegs trifft. Sie hat keine Zeit, stundenlang an ihren Bildern zu feilen, und sie hat bloß Stift und Papier – ein spannender Gegensatz zu der gemalten Welt, in der sie lebt. Die ist voller satter, wunderbarer Farben, die oft für das Gute im Menschen stehen, aber auch erschrecken und verstören können. Durch Einsatz von Lichtquellen hinter dem Glas erzielt Miailhe tolle Effekte, etwa wenn kunterbunte Kleidung in der Dunkelheit strahlt oder aus einer geöffneten Tür warmer Kerzenschein in die Nacht schimmert. So sucht und findet auch Kyona immer wieder die lichten Momente in der Finsternis und weigert sich, ihre Menschlichkeit und ihre Träume aufzugeben. DIE ODYSSEE ist ein sensibler und spannend erzählter Film für Jugendliche und Erwachsene und ein Must-See für alle, die sich für Animationsfilme begeistern. D Eva Szulkowski ¢ Start am 28.4.2022 French painter Florence Miailhe worked on THE ODYSSEY for 10 years. The first animated film using oil paintings on glass tells the flight story of sisters Kyona and Ariel while also always looking for the bright moments in the darkness.

Termine unter www.indiekino.de


INDIEKRITIKEN Deutschland 2022 D 87 min D R: Volker Schlöndorff D K: Michael Kern D S: Anette Fleming D V: Weltkino

Der Waldmacher Wüsten rekultivieren

Originaltitel: De uskyldige D Norwegen/Schweden/Dänemark/Finnland/ Frankreich 2021 D 117 min D R: Eskil Vogt D B: Eskil Vogt D K: Sturla Brandth Grøvlen D D: Rakel Lenora Fløttum, Alva Brynsmo Ramstad, Mina Yasmin Bremseth Asheim D V: Capelight Pictures

The Innocents Telekinetische Kinder

Es ist ja nicht so, dass es der Gegenwart an Krisen mangeln würde: Seit ein paar Wochen tobt im östlichen Europa ein Krieg, immer neue Corona-Wellen schwappen durchs Land, da kann man glatt vergessen, dass eine seit langem existierende Krise weit größere Konsequenzen hat und für Jahrzehnte haben wird: Die Klimakrise. Besonders betroffen ist vor allem der afrikanische Kontinent mit seinen über eine Milliarde Einwohner*innen. Quer durch Afrika zieht sich die Sahara, die größte Wüste der Welt, die sich scheinbar unaufhaltsam ausdehnt und Ackerbau und Viehzucht immer schwieriger macht. Wissenschaftler*innen in aller Welt fragen sich, wie diese Erosion aufgehalten werden kann. Vorschläge gibt es viele, doch ein Mann scheint eine Lösung gefunden zu haben: Der Australier Tony Rinaudo, der 1981 als junger Agrarwissenschaftler in den Niger reiste und eine Methode fand, um den scheinbar toten Wüstenboden wiederzubeleben: Er ahnte, das vereinzelt wachsende Büsche unter der Erde ein riesiges Wurzelgeflecht entwickeln, um aus den Tiefen der Erde Nährstoffe zu ziehen. Wenn es nun gelingen würde, diese kleinen Büsche zu hegen und pflegen, könnten sich aus ihnen Bäume entwickeln. Erstaunlicherweise gelang das auch. In vielen afrikanischen Ländern haben Rinaudos Methoden inzwischen Anwendung gefunden. 2018 wurde er für seine Arbeit mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. Nun steht er im Mittelpunkt von DER WALDMACHER, einem Dokumentarfilm von Volker Schlöndorff, der in seiner Karriere vor allem Literaturverfilmungen gedreht hat, aber stets auch politisch engagiert war. Schlöndorffs Blick ist weit gefasst und lässt viele einheimische Stimmen zu Wort kommen, die ein vielschichtiges, interessantes Bild vom Kampf gegen den Klimawandel zeigen. D

Kinder mit supernatürlichen Kräften sind guter Stoff für Horror, von unheimlichen Blondschöpfen bis Satansbraten. Auch im zweiten Spielfilm des norwegischen Regisseurs Eskil Vogt werden Kinder zu einer sinisteren Macht. Aber nicht trotz, sondern weil sie Kinder sind: impulsiv, Grenzen testend und noch nicht fähig, die Folgen ihres Handels zu bedenken. Die paranormalen Kids begegnen sich, als Ida mit ihrer Familie in die namenlose Plattenbau-Siedlung zieht. Eingebettet in einen Wald verbindet sich hier die Natur mit den Betongängen und Treppenstufen zu einer gigantischen Abenteuerwelt. Anfangs scheint Ida der Keim des Bösen zu sein. Sie kneift und quält ihre autistische Schwester Anna, die das Zentrum der elterlichen Fürsorge ist. Mit ihrem neuen Buddy Ben schreckt Ida selbst vor der Tötung einer Katze nicht zurück. Während Anna, Ben und das Nachbarskind Aischa telekinetische Fähigkeiten entwickeln, bleibt Ida aber ohne Superkräfte, und in der kindlichen Lebenswelt verschieben sich permanent die Zuweisungen von Gut und Böse. Ida und ihre Freunde sind weder gewissenlose Psychopathinnen noch unschuldig. Ihre Frustration durch Vernachlässigung, Ablehnung und prekäre Lebensumstände wird zur gewaltigen Kraft, deren Konsequenzen sie überfordern. In einem Moment bricht Ben noch telepathisch einem Bully das Schienbein, Zuhause angekommen, weint er bitterlich. THE INNOCENTS ist eine fein gezeichnete Lektion über die dünne Linie zwischen Gut und Böse. Die filmisch dichte Atmosphäre und das überzeugende Spiel des Sozial-Dramas mit Horror-Elementen stehen für Vogts erzählerisches Talent. Das bewies er schon in seinem Erstling BLIND und auch als Autor. Für sein Drehbuch zu Joachim Triers DER SCHLIMMSTE MENSCH DER WELT erhielt er gerade den Europäischen Filmpreis und eine Oscar-Nominierung.

Michael Meyns ¢ Start am 7.4.2022

D Clarissa Lempp ¢ Start am 14.4.2022

Tony Rinaudo has found a simple method to revive the desert soil of the Sahara. Small bushes build a huge root network underground and grow into trees when they are cut. A documentary by Volker Schlöndorff.

D 28

D APRIL 2022

The kids in a building block starts to develop telecinetic faculties.

Termine unter www.indiekino.de


INDIEKRITIKEN

Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush Dilemma

Wenn die Geschichte nicht nachprüfbar wäre, würde man den Plot von Andreas Dresens neuem Film für zu schön um wahr zu sein halten. Rabiye Kurnaz, türkische Hausfrau und Mutter und in juristischen und politischen Dingen ahnungslos, kämpft fünf Jahre lang mit Hilfe eines deutschen Menschenrechtsanwalts um die Freilassung ihres Sohns aus dem Gefangenenlager Guantánamo, zieht bis vor den Supreme Court der USA und ist schließlich erfolgreich. Murat Kurnaz wird entlassen, von allen Vorwürfen freigesprochen und lebt seitdem unbehelligt als Sozialarbeiter in Bremen. Das ist ein Stoff für Hollywood, die klassische Geschichte vom scheinbar chancenlosen Underdog, der am Ende gegen alle Widerstände triumphiert. Andreas Dresen und Drehbuchautorin Laila Stieler erzählen die Geschichte aus der Perspektive von Murats Mutter Rabiye und Anwalt Bernhard Docke, ihren unermüdlichen Kampf gegen Unrecht, juristische Fallstricke und die Ignoranz deutscher Behörden. Vor allem aber erzählen sie eine herrliche Komödie über die unverhoffte Freundschaft der beiden, wunderbar gespielt von Meltem Kaptan und Alexander Scheer. Ich wollte ja sehr kritisch sein, weil mir das schon in der Vorberichterstattung alles viel zu schön vorkam. Und dann hat mich der Film doch gewonnen, ich habe mich doch etwas verliebt in die fulminante türkische Löwenmutter und ihren stieseligen deutschen Anwalt, es ging nicht anders. Der Berlinale-Preis für die beste Hauptdarstellerin an Meltem Kaptan ist mehr als verdient, sie gibt dem Film sein Energiezentrum und haut Pointen raus, dass es eine Freude ist. Man hätte auch Alexander Scheer den Nebenrollen-Preis geben können, die Sache lebt von ihrem Zusammenspiel, ihrer Power, seiner Präzision, ihrer Naivität, seiner aufopfernden Beharrlichkeit. Dresens Film ist herzerwärmend, witzig und es tut gut, auch mal eine so gekonnt gemachte Geschichte über gute Menschen zu sehen. RABIYE KURNAZ GEGEN GEORGE W. BUSH ist kein Film über Guantánamo, es ist die Geschichte Rabiye Kumas, a Turkish housewife and mother who is clueless about legal and political matters, has been fighting for the release of her son from Guantánamo prison for five years with the help of a German human rights lawyer.

Termine unter www.indiekino.de

Deutschland/Frankreich 2022 D 100 min D R: Andreas Dresen D B: Laila Stieler D K: Andreas Höfer D M: Johannes Repka D D: Meltem Kaptan, Alexander Scheer, Cornell Adams, Anthony Cook, Henry Appiah D V: Pandora Film

einer wunderbaren Freundschaft. Das ist das Schöne und das ist das Problem und die Kritik daran. Man fühlt sich so überaus wohl im Kino, dass das Thema seinen Schrecken verliert. Das Grauen, das Guantánamo bedeutete, die Entrechtung, Folter und sadistische Quälerei bleiben durch die gewählte Erzählperspektive draußen, dringen nicht ein in den Kosmos dieses Films. Ein einziges Mal gibt es einen kurzen Ansatz in die Richtung, da läuft in Washington im Hotelfernseher die Enthüllungsnachricht über Folter in Guantánamo und den Protagonisten dämmert, dass es Murat dort noch schlechter geht als sowieso schon angenommen. Und was macht das Drehbuch mit diesem Moment? Es nimmt ihn zum Anlass für einen der witzigsten Dialoge des Films, ein Meisterstück der Situationskomik, wieder muss man lachen und wieder muss man sich keine echten Sorgen machen, denn man ist ja bei Rabiye und Bernhard, und bestimmt wird am Ende alles gut. Das grundsätzliche Problem ist ein ähnliches wie bei PERSISCHSTUNDEN, wo ein KZ-Häftling überlebt, indem er sich als Perser ausgibt, eine Sprache erfindet und schlauer ist als die blöden Nazis. Indem man einer Figur beim Überleben zuschaut, wird das Massensterben drumherum erträglich und der Film trotz des Holocaust-Themas ein befriedigendes, gut unterhaltendes Kinoerlebnis. Auch Roberto Benignis DAS LEBEN IST SCHÖN kommt einem in den Sinn, auch so ein „schöner KZ-Film“, den man wegen seiner Komik und Wärme genießen kann. So groß ist das Gefälle zwischen Gegenstand und Machart bei Dresen nicht. Trotzdem ist die Frage, ob man dem Thema gerecht wird mit einem so wohltuenden, tröstlichen Film, ob das nicht eine unfassbare Verharmlosung ist, ob man in einem Film über Guantánamo nicht zumindest in ein paar Momenten mal das Grauen spüren müsste. Ein Film wie dieser wird viel mehr Publikum finden und vielleicht dadurch mehr Bewusstsein schaffen, kann man dagegen wieder argumentieren, auf einen schlimmen Film über Guantánamo hat gerade niemand Lust. Das stimmt. Und Filmen vorschreiben, was sie dürfen und was nicht, das darf man schon mal gar nicht. Trotzdem bleibt es ein moralisches Dilemma. Und ich kriege es nicht gelöst. D Susanne Stern ¢ Start am 28.4.2022 APRIL 2022 D

29 D


INDIEKRITIKEN

Final Account

Das Achselzucken der Täter*innen „Es gibt Monster, aber es sind zu wenige, um wirklich gefährlich zu werden. Gefährlicher sind die Durchschnittsmenschen, die Funktionäre, die bereit sind, ohne Fragen zu stellen, zu glauben und zu handeln.“ Der Satz des Holocaust-Überlebenden und Schriftstellers Primo Levi steht dem Dokumentarfilm FINAL ACCOUNT des Briten Luke Holland voran. Der britische Dokumentarfilmemacher hat seit 2008 zahlreiche Gespräche mit den letzten Überlebenden der Nazi-Täter-Generation geführt. Sie waren 1933 noch Kinder, alle durchliefen die Stationen der Nazi-Erziehungsorganisationen. Zur „Reichskristallnacht“ schlossen die Schulen, weil die Kinder sich das ansehen sollten. Die Männer wurden später Mitglieder der SS, einige dienten als KZ-Wächter. Die Frauen durchliefen die Mädchenorganisationen, eine arbeitete als Buchhalterin in einem Zwangsarbeiterlager. Sie singen, getrennt, aber alle mit dem gleichen Achselzucken, das alte Lied „Wetzt die langen Messer, das sie gehen besser in den Judenleib hinein“. Das Achselzucken ist die typische Geste dieser Generation. Sie alle behaupten, sie hätten nichts gewusst, sich nichts gedacht, sie hätten ja nichts machen können. Der SS-Mann Karl Hollander ehrt bis heute Hitler, für den SS-Mann Herman Knoth war die SS die Elite der Gesellschaft, „nicht nur physisch, auch geistig“. Die Frauen winken ab, sie haben damit nichts zu tun gehabt, nichts gewusst. Die Nachbarin im Altersheim sagt: Natürlich haben sie alles gewusst, die sind doch durchs Dorf zur Arbeit gelaufen, wenn sie noch laufen konnten. Es hat doch gestunken, wenn sie die Leichen verbrannt haben. Nur wenige, wie Hans Wierck, schämen sich aufrichtig und geben zu, dass alle Bescheid gewusst hätten, D 30

D APRIL 2022

USA/Großbritannien 2020 D 94 min D R: Luke Holland D K: Luke Holland D S: Stefan Ronowicz D V: Universal Pictures

was in den Lagern geschah, was mit den Nachbarn geschah. Die Beiläufigkeit, mit der die Männer und Frauen über gesehene und eigene Verbrechen berichten, ist zum Verzweifeln. Heinrich Schulze zeigt, wo sich die aus dem KZ Entflohenen auf seinem Hof versteckt hatten, die er selbst an die SS ausgeliefert hatte, als sie aus Hunger das Versteck verließen. Was mit ihnen geschehen sei: „Das weiß man nicht.“ Achselzucken. Die Verrohung in der Gleichgültigkeit. Hans Wierk spricht gegen Ende des Films im Haus der Wannseekonferenz mit einer Schulklasse und wird von einem jungen Neonazi, der sein Gesicht nicht zeigen will, beschimpft, weil Wierk sagt, er habe einer Verbrecherorganisation angehört. Ihm stehen die Tränen in den Augen, er bettelt fast: „Lasst euch nicht verführen!“. Es scheint bei seinen Zuhörer*innen zu verhallen. Die Unmenschlichkeit gedeiht in Deutschland weiter prächtig. Während es in den achtziger Jahren auch einige deutsche Filme über die deutschen Täter gab – vor allem Thomas Harlans WUNDKANAL und UNSER NAZI – scheint das Interesse deutscher Filmemacher am Thema erschöpft zu sein. Im Rest der Welt hat FINAL ACCOUNT ziemliche Wogen geschlagen. Der Filmemacher Luke Holland ist 2021 gestorben. Der Film ist seinen ermordeten Großeltern gewidmet. D Tom Dorow ¢ Start am 28.4.2022 Luke Holland asked the perpetrator generation about their memories of the Nazi regime, their involvement and guilt for over 10 years.

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www.achtungberlin.de

Deutschland 2020 D 93 min D R: Christian Lerch D B: Christian Lerch, Joseph Einwanger D K: Tim Kuhn D S: Valesca Peters D M: Martin Probst D D: Lisa Wagner, Xari Wimbauer, Philipp Hochmair, Luis Vorbach, Hans Löw D V: farbfilm Verleih

Das Glaszimmer Kein Nazi werden

Bilder von verzweifelten Müttern mit ihren Kindern, die vor dem Krieg flüchten, sind im Frühjahr 2022 erschreckend aktuell. In DAS GLASZIMMER flüchten Anna (Lisa Wagner) und ihr elfjähriger Sohn Felix (Xari Wimbauer) 1945 kurz vor Kriegsende vor den Bombenangriffen auf München nach Niederbayern in Annas Heimatdorf. Dort müssen sich Mutter und Sohn mit Feik (Philipp Hochmair), einem überzeugten Nazi und alten Schulfreund von Anna, und dessen gewaltbereitem Sohn Karri (Luis Vorbach) auseinandersetzen. Während Anna längst ahnt, dass der Krieg verloren ist, und auf die Rückkehr ihres Mannes, eines Musikers, hofft, versucht Felix, im Dorf Anschluss zu finden. Karri, der von seinem Vater in die Naziideologie hineingedrängt wird, richtet seinen Hass auf den aus Siebenbürgen geflüchteten Jungen Tofan. Als Karri mitbekommt, wie gut Felix schießen kann, will er ihn als Freund gewinnen, doch Felix mag Martha, die auf das Kriegsende hofft. Hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, zur Dorfgemeinschaft zu gehören, und den eigenen Werten muss Felix entscheiden, auf wessen Seite er steht. Das Glaszimmer, ein geheimnisvoller Raum voller funkelnder Glasscherben, bildet dabei seinen Zufluchtsort. Das Drehbuch zu DAS GLASZIMMER schrieb Regisseur Christian Lerch gemeinsam mit dem Zeitzeugen und Autoren Josef Einwanger für ein junges Publikum. Im Laufe des Films durchlebt nicht nur Felix, der seinen eigenen moralischen Kompass hintenanstellt, um Freund*innen zu finden, sondern auch Karri eine Wandlung: Es geht um Freundschaft und Zusammenhalt, um Mut und Verrat. DAS GLASZIMMER zeigt die Mechanismen der Instrumentalisierung für politische Ideologien auf und bietet Stoff für in Zeiten des erstarkenden Rechtsextremismus immer relevantere Diskussionen mit Kindern und Jugendlichen. D Stefanie Borowsky ¢ Start am 28.4.2022

Anna and her 11 year old son Felix flee from Munich to the countryside in the spring of 1945. In the Bavarian village, Felix is looking for friends and meets Karri, the son of a staunch Nazi.

Termine unter www.indiekino.de

20. – 27. April 2022 im Kino Förderer

SOPHIE

MARCEAU

ANDRÉ

DUSSOLLIER

EIN FILM VON

GÉRALDINE

PAILHAS

FRANÇOIS OZON

ALLES IST GUTGEGANGEN CHARLOTTE RAMPLING

HANNA SCHYGULLA

ÉRIC CARAVACA

GRÉGORY GADEBOIS

AB 14. APRIL IM KINO


INDIEKRITIKEN Deutschland/Belgien/Italien 2020 D 90 min D R: Davide Gambino D B: Davide Gambino D K: Dieter Stürmer D S: Simon Arazi, Christelle Berry D M: Jan Swerts D V: Real Fiction

The Second Life Drei Tierpräparatoren

Der Titel THE SECOND LIFE erscheint etwas makaber – immerhin geht es in Davide Gambinos Dokumentarfilm um Tierpräparate, also tote Tiere, deren Häute über eigens angefertigte Plastiken gestülpt werden. Ihr zweites Leben fristen die so präparierten Tiere also als Objekte. Doch wie Gambino zeigt, können diese lebenden Objekte durchaus noch sprechen – und THE SECOND LIFE will ihnen Gehör verschaffen. Die Struktur des Dokumentarfilms ist vertraut, schlüssig und unterhaltsam: Das Filmteam begleitet drei Tierpräparatoren, die sich auf eine Meisterschaft der Taxidermie in Salzburg vorbereiten. Robert Stein, angestellt am Berliner Naturkundemuseum, ist von Vögeln fasziniert. Seine Gedanken und Präparate sind am nüchternsten, doch stark von Naturschutzgedanken motiviert. Maurizio Gattabria am Naturhistorischen Museum in Rom hat ähnliche Ambitionen, aber eine poetische Ader und nutzt die Ausstellung direkt, um über das Medium der Taxidermie Aufmerksamkeit für das gegenwärtig sechste Massenaussterben zu generieren – wozu er einen Orang Utan die Erschaffung Adams nachstellen lässt. Die wichtige ökologische Botschaft der Taxidermie wird von Gambinos Erzähler jedoch bis zur Erschöpfung und darüber hinaus wiederholt. Das Riechsalz für diese moralininduzierte Ohnmacht ist der dritte Protagonist, Christophe de Mey vom Naturhistorischen Museum Brüssel. Sein Auftritt als Tiger-Queen bei einer Dragshow und die Recherchen in einem Zoo, in dem er die Bewegungen der Raubkatzen mit Leichtigkeit und Hingabe nachvollzieht, gehören zu den besten Szenen des Films. Die Skurrilität der Taxidermie spielt THE SECOND LIFE nicht aus, aber wer sich an den als Fragen verpackten Klagen über die Entfremdung der Menschen von der „Natur“ nicht stört, wird gut informiert und unterhalten. D Yorick Berta ¢ Start am 21.4.2022 The film team follows three taxidermists as they prepare for the taxidermy championship in Salzburg.

D 32

D APRIL 2022

Originaltitel: Lingui D Belgien/Deutschland/Frankreich 2022 D 87 min D R: Mahamat-Saleh Haroun D B: Mahamat-Saleh Haroun D K: Mathieu Giombini D S: Marie-Hélène Dozo D M: Wasis Diop D D: Mounira Michala, Rihane Khalil Alio, Youssouf Djaoro D V: déjà-vu film UG

Lingui – The Sacred Bonds Unbedingte Solidarität

Weil sie ein uneheliches Kind bekam, wurde Amina (Achouackh Abakar Souleymane) von ihrer Familie verstoßen und lebt mit ihrer 15-jährigen Tochter Maria (Rihane Khalil Alio) in sozialer Ächtung und Armut. Mit Handarbeit und Verkaufsgeschick bringt sie sich und ihr Kind über die Runden. Doch dann bricht die größtmögliche Katastrophe über beide herein: Maria ist nach einer Vergewaltigung schwanger. Sie will unbedingt abtreiben, doch das ist in dem islamisch geprägten Tschad verboten. Maria ist traumatisiert und hat Angst, aber will sich auch von niemandem etwas bieten lassen. Amina macht schlimme Fehler, doch sie möchte ihrer Tochter beistehen. Anfangs werden sie von den Ereignissen nur so überrollt, aber allmählich übernehmen sie selbst das Steuer. LINGUI – HEILIGE BANDE begleitet seine Charaktere durch ihre Stadt, die mal beschaulich und verschlafen wirkt, mal voller Autos, Motorrädern und Menschen braust und summt. Vieles ist natürlich ganz anders als in Europa, und doch sind die Probleme, denen sich Amina und Maria entgegenstellen müssen, so verdammt nah. Abtreibungsverbote, Gewalt gegen Frauen, religiöse, patriarchale und faschistische Unterdrückung – all diese schweren Themen behandelt der tschadische Regisseur Mahamat-Saleh Haroun verantwortungsvoll und mit filmischer Verve. Jedes Bild ist mit Sorgfalt komponiert und erzählt viel mit nur wenigen ausdrucksstarken Elementen. Weite, epische Einstellungen, die manchmal wie einem Western entsprungen scheinen, spiegeln die Spannung zwischen den Heldinnen und ihrer Umgebung. Es ist nicht zuletzt diese betörend schöne Bildsprache, die eine*n von Anfang bis Ende mitfiebern lässt. LINGUI ist ein fesselnder Film über unbedingte Solidarität zwischen Frauen verschiedener Generationen, der nichts beschönigt und zugleich behutsam mit Figuren und Zuschauer*innen umgeht. D Eva Szulkowski ¢ Start am 14.4.2022 Amina is barely making ends meet with her 15 year old daughter Maria when a catastrophe happens: Maria is pregnant after getting raped and abortion is banned in Chad.

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INDIEKRITIKEN

Die wundersame Welt des Louis Wain Elektrische Spannung

Louis Wain (Benedict Cumberbatch) ist ein komischer Kauz. Hochbegabt zeichnet er originalgetreu Mensch und Tier nur aus seiner Erinnerung, schreibt Opern und geht danach Boxen – beides eher schlecht als recht – doch wenn es um soziale Interaktion geht, ist er verloren. Die ist aber überlebenswichtig im viktorianischen London um die Jahrhundertwende und als er sich Hals über Kopf in die Gouvernante des Hauses, Emily Richardson (Claire Foy), verliebt, wird dies von seinen fünf Schwestern argwöhnisch betrachtet und von der Ältesten Caroline (Andrea Riseborough), grundsätzlich abgelehnt. Gegen alle Widerstände heiraten Emily

Cat painter Louis Wain (Benedict Cumberbatch) has a lot of talent and just as many quirks. He sees electric voltage in all living things. Images vibrate and shimmer on the canvas in this tragicomedy.

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Originaltitel: The Electrical Life Of Louis Wain D Großbritannien 2021 D 111 min D R: Will Sharpe D B: Will Sharpe, Simon Stephenson D K: Erik Wilson D S: Selina Macarthur D M: Arthur Sharpe D D: Claire Foy, Benedict Cumberbatch, Andrea Riseborough, Toby Jones, Stacy Martin, Hayley Squires, Taika Waititi, Nick Cave D V: STUDIOCANAL

und Louis, und seine Zeichnungen von Katzen ermöglichen ihnen ein Auskommen. Doch das Schicksal meint es nicht gut mit ihnen. Das Leben des Louis Wain ist der Stoff für eine Tragikomödie par excellence. Wain gehörte zu seiner Zeit zu den populärsten Malern Großbritanniens, aber reich wurde er davon nicht. Seine Psyche setzte ihm zeitlebens zu, und er starb einsam in einer Nervenheilanstalt. Regisseur Will Sharpe lässt uns die Welt durch seine Augen betrachten. Die Bilder vibrieren, elektrische Spannungen, die Wain in allen lebenden Dingen entdeckte, flirren im klassischen Format 4:3 über die Leinwand, die Benedict Cumberbatch mit Spielfreude zum Leben erweckt. Auch wenn sie hin und wieder an seine Verkörperungen von Sherlock Holmes und Doctor Strange erinnern, sind seine Marotten hier mehr als nur eine Version des gepeinigten Genies. Claire Foy ergänzt sein Spiel auf wunderbare Weise. Die elektrische Spannung zwischen ihnen ist spürbar. In satten Farben schuf Sharpe einen einzigartigen Film, der an die expressionistische Frühzeit des Kinos erinnert. Eine durch und durch tragische Komödie des Lebens, die gleichermaßen zum Lachen wie zum Heulen animiert D Lars Tunçay ¢ Start am 21.4.2022 APRIL 2022 D

33 D


INDIEKRITIKEN Originaltitel: Tout s’est bien passé D Frankreich 2021 D 113 min D R: Francois Ozon D B: Francois Ozon D K: Hichame Alaouié D D: Sophie Marceau, Charlotte Rampling, Hanna Schygulla, Géraldine Pailhas, André Dussollier D V: Alamode Film

Alles ist gut gegangen Nüchternheit und Humor

Leben und leben lassen, heißt es immer. Aber beim Sterben herrschen andere Regeln. Das bekommt der ehemalige Unternehmer André (André Dussollier) zu spüren, als er nach einem Schlaganfall nicht mehr weitermachen mag. Für ihn kommt es gar nicht in Frage, im Alter plötzlich auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Er will nicht enden wie seine verbitterte Ex-Frau (Charlotte Rampling), die einst eine angesehene Bildhauerin war und jetzt nur noch mühsam am Stock geht und in ihrem Atelier einsam auf ihre Skulpturen schaut. Also bittet der wohlhabende „Mistkerl“, wie ihn Emmanuèle (Sophie Marceau) liebevoll gegenüber ihrer Schwester Pascale (Géraldine Pailhas) bezeichnet, ausgerechnet sie, die jüngere Tochter, die nötigen Vorkehrungen zu treffen, um seinem gebrechlichen Dasein frühzeitig ein Ende zu bereiten. Widerwillig recherchiert die Schriftstellerin, denn sie weiß, sie hat keine Wahl. Ihr Vater ist hart und so hartnäckig wie eh und je. Schließlich entscheiden sich die beiden Töchter, die Mitarbeiterin einer Schweizer Sterbeklinik (Hanna Schygulla) zu treffen, die alles weitere regeln soll. Aber die Sache ist kompliziert. Denn Andrés gesundheitlicher Zustand bessert sich, nur seinen Entschluss ändert das nicht. Einundzwanzig Spielfilme hat François Ozon seit seinem Regiedebüt Sitcom (1998) mittlerweile gedreht. Es ist schon erstaunlich, mit welcher Präzision, Selbstsicherheit und Hingabe er trotz der enormen Produktionsgeschwindigkeit bei jedem Film gleichermaßen ans Werk geht. Unsentimental und wertfrei, aber nicht ohne Gefühl nimmt er sich in Alles ist gutgegangen dem Thema Sterbehilfe an. Ein anderer Regisseur hätte aus der autobiografischen Romanvorlage von Emmanuèle Bernheim vielleicht ein beklemmendes Rührstück gemacht. Ozon setzt dagegen auf sensible Nüchternheit und einen warmen Humor. D Pamela Jahn ¢ Start am 14.4.2022 When art collector André realizes he will probably never be as self-sufficient as he was after having a stroke, he decides to end his life. His daughter Emmanuèle is meant to organize the assisted suicide.

D 34

D APRIL 2022

Deutschland 2021 D 99 min D R: Mia Maariel Meyer D B: Mia Maariel Meyer, Hanno Koffler D K: Falko Lachmund D S: Gesa Jäger D D: Hanno Koffler, Dora Zygouri, Anna Blomeier, Andreas Döhler, Lilith Julie Johna, Robert Stadlober D V: missingFILMs

Die Saat

Geld regiert die Welt Wegen steigender Mieten in der Stadt wagen Rainer (Hanno Koffler), seine schwangere Frau Nadine (Anna Blomeier) und die 13-jährige Tochter Doreen (Dora Zygouri) den Neuanfang auf dem Land. Zunächst scheint sich die Familie gut in ihrer neuen Umgebung einzuleben, obwohl Doreen ihr altes Zuhause vermisst. Rainer bekommt eine Stelle als Bauleiter, Nadine schiebt Extraschichten im Krankenhaus, um den Hausumbau mitzufinanzieren, und Doreen freundet sich mit der wohlhabenden Nachbarstochter Mara an. Doch dann verliert Rainer seinen Bauleiterposten. Als seine Kollegen und er immer mehr Schikanen des nur auf Profit ausgerichteten neuen Vorgesetzten Jürgen Kleemann (Andreas Döhler) ertragen müssen und die skrupellose Mara (Lilith Julie Johna) die vernünftige Doreen zu immer neuen Bösartigkeiten anstiftet, drohen die Ereignisse in der vermeintlichen Kleinstadtidylle vollends aus dem Ruder zu laufen. Regisseurin Mia Maariel Meyer ist mit DIE SAAT, dessen Drehbuch sie gemeinsam mit ihrem Partner und Hauptdarsteller Hanno Koffler schrieb, ein packender, bedrückender 100-Minüter gelungen, den sie auf der Berlinale 2021 in der Sektion Perspektive Deutsches Kino erstmals vorstellte. In DIE SAAT zeigt sie anhand der Geschichte einer sympathischen Familie, wie sehr Geld die Welt regiert. Der eiskalte, geldgierige Firmenerbe Klose (Robert Stadlober) und sein Handlanger Kleemann könnten als bitterböse, überzogene Parodien durchgehen, gäbe es nicht zu viele reale Vorbilder. Während der verständnisvolle Rainer und seine Tochter, die gut miteinander auskommen, auf ihre jeweils eigene Art versuchen, sich gegen das kapitalistische System aufzulehnen, in dem sie gefangen sind, ahnt das Filmpublikum bereits, wie der Kampf ausgehen wird, auch wenn die Spannung bis zum Ende des Films unaufhaltsam steigt. D Stefanie Borowsky ¢ Start am 28.4.2022 Reiner has problems with unscrupulous company heir Klose, his daughter Doreen has to defend herself against the evil, wealthy neighbor Mara. A family drama filled with capitalist critique.

Termine unter www.indiekino.de


USA 2022 D 130 min D R: Sean Baker D B: Sean Baker, Chris Bergoch D K: Drew Daniels D S: Sean Baker D D: Simon Rex, Suzanna Son, Bree Elrod D V: Universal Pictures

RED ROCKET

Ohne Rücksicht auf Verluste

With no money, job, or prospects, ex-porn star Mikey returns to Texas and shows up at Lexi’s, who is still technically his wife, and begs to sleep on her couch. When he meets 17 year old donut seller Strawberry, he decides to make it big as a porn agent.

Termine unter www.indiekino.de

EIN FILM VON

MATT BISSONNETTE

ONG N S ARD I E WIE L E ON C BC " VON E N" C OH

FEMMINILE,PLURALE

Mit geschundenem Gesicht, ohne Geld, Job und Perspektive kehrt Mikey (Simon Rex) aus Los Angeles in seine Heimat Texas City zurück. Die Busfahrt ist mühsam, aber für mehr hat es nicht gereicht, denn seine Karriere als Pornostar ist in die Sackgasse geraten. Also steht er wieder bei seiner Noch-Ehefrau Lexi (Bree Elrod) vor der Tür. Früher waren sie auch vor der Kamera ein Team, aber das ist lange her, und auch sonst verbindet sie eigentlich nichts mehr. Zumindest sieht Lexi das so, die mittlerweile wieder gemeinsam mit ihrer Mutter Lil (Brenda Deiss) in dürftigen Verhältnissen am Rand der Stadt und der Gesellschaft lebt. Aber Mickey wäre nicht Mickey, wenn es ihm nicht gelingen würde, sich für ein paar Tage auf ihrer Couch einzunisten, solange er dafür zahlt. Nur will es mit einer anständigen Beschäftigung nicht klappen, also dealt er stattdessen mit Gras - bis er nicht viel später auf die 17-jährige Donut-Verkäuferin Strawberry (Suzanna Son) trifft und einen neuen Plan ausheckt: Mit ihr, einer rothaarigen, sommersprossigen, unschuldigen Schönheit will er an die Westküste zurück - diesmal als Agent und Strawberry als seinem angehenden Sex-Star. Regisseur Sean Baker kennt sich aus mit Menschen und Geschichten am Rande des amerikanischen Traums. Schon seine Filme STARLET, TANGERINE und THE FLORIDA PROJECT wurden von Charakteren belebt, die feststecken und nach einem Ausweg suchen. Dafür holt der Regisseur nicht nur aus seinen Figuren (stets gespielt von Laien und Profis) alles heraus, sondern auch aus seinen Schauplätzen. Diesmal sind es vor allem die glühenden Sonnenuntergänge vor einer riesigen Erdölraffinerie, die vermuten lassen, dass sich hinter der Oberfläche noch eine ganz andere Wirklichkeit offenbart. Dass man mit Mickey nicht warm wird und trotzdem mit ihm mitfiebert, darin liegt jedoch die eigentliche Kunst des Films. D Pamela Jahn ¢ Start am 14.4.2022

2011 - 2021 eine Dekade weiblichen Filmschaffens aus Italien 07. - 10.04.2022 Kant Kino | Klick Kino Berlin www.femminile-plurale.net


INDIEKRITIKEN Ukraine/Lettland/Deutschland/Katar 2020 D 104 min D R: Alina Gorlova D B: Alina Gorlova, Maksym Nakonechnyi D K: Vyacheslav Tsvetkov D S: Alina Gorlova, Simon Mozgovyi, Olha Zhurba D M: Goran Gora, Serge Synthkey D V: jip Film & Verleih

Im Nachtlicht

This Rain Will Never Stop Im Donbass, 2018

Alina Gorlovas Dokumentarfilm THIS RAIN WILL NEVER STOP folgt 2018 dem Alltag des jungen Andriy Suleyman, Sohn eines kurdischen Massagetherapeuten aus Nord-Syrien und einer ukrainischen Mutter. Die Kernfamilie ist aus Syrien in die Umgebung von Luhansk geflohen, wo sie der Krieg sofort wieder einholte. Wie sein Bruder in Syrien behandelt Andriys Vater vor allem Kriegsversehrte. Andriy studiert und arbeitet als Freiwilliger für das Rote Kreuz, das dörfliche Regionen mit modernen Holzöfen versorgt, aber auch erste Hilfe an der Grenze leistet. Dort stehen ältere stehen Ukrainer Schlange, vermutlich um mit einem russischen Pass auf der russischen Seite Renten zu erhalten, die im Donbass nicht mehr durch die Regierung in Kyiv ausgezahlt werden. Es hängen Propaganda-Schilder an den Wänden: „Wer einen russischen Pass beantragt, unterstützt die Eindringlinge“. Gorlovas Film enthält dem Publikum immer wieder Informationen vor. Es gibt kaum Hinweise zu Orten, Zeiten oder Personen. Selbst innerhalb von Bildern enthüllt sich der Sinn oft erst in Folge eines Schwenks. Das soll Binnenspannung aufbauen, aber auch den Blick auf die Bilder lenken, in denen Gorlova immer wieder Brüche zwischen Bildinhalt und Form inszeniert. Wenn das Sonnenlicht in eine Fabrikhalle strahlt, sieht das zunächst konventionell schön und ein bisschen kitschig aus, bevor sich enthüllt, dass hier Panzer hergestellt werden. Bilder von kargen Bergen, die zum drohenden Grollen von Post-Industrial-Synthesizern dem digitalen Verfall anheimfallen, bilden einen metaphorischen Rahmen. Das Schicksal der Familie, die Szenen aus dem bäuerlichen Donbass, die hochemotionale Reaktion von Andriys in einem irakischen Lager lebenden Verwandten auf dessen Besuch: das hätte auch ohne ästhetisierende Überformung bewegt. D Tom Dorow ¢ Start am 24.3.2022

Donbass, 2018. Andriy studies and works as a volunteer for the Red Cross, which provides the village regions with modern wood-fired ovens, but also administers first aid at the Russian border.

D 36

D APRIL 2022

Die depressive Minthe, die gerade ihre Wohnung und den Job an der Supermarktkasse verloren hat, erhält ein überraschendes Jobangebot in ihrer Heimatstadt Hellheim (!). Als Tischlerin und Ex-Architekturstudentin soll sie eine alte Mühle restaurieren. Hinter dem Angebot steckt ein finsterer Plan, denn in den dunklen Gängen unter der Mühle haust ein gestaltwandelndes Monstrum, das von einer seltsamen, vernarbten, stummen Frau gehütet wird. Vielleicht hätte Minthe auf dem Weg zur Mühle ihre Tabletten nicht wegwerfen sollen. Debütfilm von Misha L. Kreuz ¢ Start am 7.4.2022 Deutschland 2020 D 104 min D R: Misha L. Kreuz D D: Diana M. Frank, Ruby O. Fee, Ralf Drexler, David Rott, Fredderik Collins

Everything Everywhere All At Once Michelle Yeoh, die grandioseste Martial-Arts-Darstellerinnen aller Zeiten, hat einen Film mit den Daniels (SWISS ARMY MAN) gemacht, den durchgeknalltesten Komödien-Regisseuren der Gegenwart. Yeoh spielt eine leicht verstrahlte Besitzerin eines Waschsalons, die von einer boshaften Steuerprüferin (Jamie Lee Curtis) wegen einer als Betriebsausgabe abgerechneten Karaoke-Maschine in die Mangel genommen wird, als eine Doppelgängerin aus einem der zahlreiche Paralleluniversen von ihr Besitz ergreift. Nur alle Michelle Yeohs gemeinsam können die Universen retten. Müssen wir sehen. ¢ Start am 28.4.2022 USA 2022 D 132 min D R: Dan Kwan, Daniel Scheinert D D: Michelle Yeoh, Jamie Lee Curtis, Stephanie Hsu, Ke Huy Quan, James Hong

Termine unter www.indiekino.de


INDIEKRITIKEN

Massive Talent

Wolke unterm Dach

Nicolas Kim Coppola, besser bekannt als Nicolas Cage, spielt – mehr oder weniger – sich selbst in diesem Meta-Movie über den Schauspieler Nick Cage (mit „k“), der sich auf der Party eines reichen Super-Fans selbst spielen soll. Es gibt sogar eine möglicherweise bewusst schlecht digital verjüngte Version von Nicolas Cage in der Zeit seines größten WILD AT HEART-Ruhms, die dem älteren Nick Cage Warnungen einflüstert – und die goldenen Pistolen aus John Woos FACE OFF, mit denen sich einst John Travolta und Nicolas Cage duellierten. ¢ Start am 21.4.2022

Als Krankenpfleger Paul (Frederick Lau) und Stewardess Julia (Hannah Herzsprung) sich im Luftraum über Kolumbien begegnen, macht es Klick zwischen den beiden. Zurück auf dem Boden hat ihre Liebe Bestand. Der beste Beweis ist Tochter Lilly. Gemeinsam bauen sie ein Haus für ihre kleine Familie und als das Leben am besten erscheint, werden sie jäh auseinandergerissen. In Julias Kopf platzt eine Ader und für Paul der Traum der gemeinsamen Zukunft. Mit WOLKE UNTERM DACH verfilmte Regisseur Alain Gsponer (JUGEND OHNE GOTT) das Schicksal von Drehbuchautor Christoph Silber (ICH BIN DANN MAL WEG). ¢ Start am 28.4.2022

Originaltitel: The Unbearable Weight Of Massive Talent D USA 2022 D R: Tom Gormican D D: Nicolas Cage, Pedro Pascal, Neil Patrick Harris, Tiffany Haddish, Sharon Horgan, Alessandra Mastronardi

Deutschland 2022 D R: Alain Gsponer D B: Dirk Ahner D K: Daniel Gottschalk D S: Patricia Rommel D M: Niki Reiser D D: Frederick Lau, Romy Schroeder, Hannah Herzsprung, Barbara Auer, Kida Khodr Ramadan D V: Warner Bros.

The Northman

Der Mann, der die Welt ass

Robert Eggers Vikinger-Rachedrama sieht fett und blutig aus, aber gesehen hat es noch niemand, und Eggers hat seinen dritten Film nach THE VVITCH und THE LIGHTHOUSE in viel Geheimnis gehüllt. Alexander Skarsgard als „Amleth“ will seine Familie rächen, aber wir wissen auch nur, dass es ein Massaker gab und seine Mutter, Königin Gudrun verschleppt wurde. Ob es sich um eine Hamlet-Variation handelt? Auf jeden Fall wirkt der Trailer brachial und finster und die Besetzung ist erstklassig. Selbst Björk taucht als Seherin auf.

Ein Mann leidet. Regisseur und Hauptdarsteller Johannes Suhm spielt einen Mann tief in der Midlife-Crisis, der nur zwei Modi zu kennen scheint: Arschloch und Selbstmitleid. Die Familie hat er vernachlässigt und verlassen, den Job geschmissen, und die Beziehung zum Vater nie geklärt. Als sich beim Vater die Demenz verschlimmert, nimmt er ihn notgedrungen bei sich auf, und so sind nun zwei planlose, kommunikationsunfähige Männer in der trostlos weißen Wohnung. Nach dem gleichnamigen Theaterstück von Nis Momme Stockmann.

¢ Start am 21.4.2022

¢ Start am 28.4.2022

Großbritannien 2022 D R: Robert Eggers D D: Anya Taylor-Joy, Alexander Skarsgård, Nicole Kidman, Ethan Hawke, Willem Dafoe, Claes Bang, Kate Dickie, Björk

Deutschland 2021 D 80 min D R: Johannes Suhm, Lena Lessing D D: Johannes Suhm, Hannes Hellmann, Konrad Singer, Maja Schöne, Max Mauff, Michael Goldberg APRIL 2022 D

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INDIEKinder

Geschichten vom Franz Alltagsabenteuer

Der Franz ist ein Junge, der in Wien zur Volkschule (Grundschule) geht. Er wohnt mit Mutter, Vater und dem großen Bruder Josef im gleichen Haus wie die Gabi. Die ist sehr mutig und Franz‘ beste Freundin, aber manchmal ist es auch anstrengend mit ihr, weil sie immer alles besser weiß. Franz‘ bester Freund ist der Eberhard, und sein größer Feind der strenge Mathelehrer Zickzack. Der Franz hat drei Probleme: Erstens ist er immer noch sehr klein für sein Alter. Zweitens hat er blonde Locken und wird deshalb oft für ein Mädchen gehalten. Drittens – und das ist das Schlimmste – bekommt er eine ganz fiepsige Stimme, wenn er aufgeregt ist. Zum Beispiel, als er die Matheaufgaben abgeben soll und herumdruckst, weil ein Glas Wasser über das Heft gekippt ist. Franz bekommt keinen Ton heraus, und alle in der Klasse lachen. Außer Eberhard natürlich – der springt Franz zur Seite und erfindet schnell eine Erkältung, wegen der Franz seine Hausaufgaben nicht machen konnte. Puh. Franz ist noch einmal davongekommen, aber früher oder später muss er dem Zickzack die Sache mit dem Heft erklären. Und bis dahin muss er schnell die Sache mit der Stimme in den Griff bekommen. Vielleicht kann ihm der Influencer Hank Haberer helfen, der im Internet Männern Tipps gibt, wie sie Muskeln bekommen und sich besser durchsetzen können? D 38

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Österreich/Deutschland 2022 D 90 min D R: Johannes Schmid D B: Sarah Wassermair D K: Matthias Grunsky D S: Karin Hammer D M: Toni Dobrzanski D D: Jossi Jantschitsch, Nora Reidinger, Leo Wacha, Ursula Strauss, Simon Schwarz D V: Wild Bunch

Gemeinsam mit Gabi und Eberhard probiert Franz die Anregungen vom Haberer aus. Dabei erleben sie große und kleine Abenteuer, streiten sich und vertragen sich wieder. Der Film GESCHICHTEN VOM FRANZ ist frei an die Kinderbuchreihe von Christine Nöstlinger angelehnt. Einige Abenteuer von Franz, Gabi und Eberhard kommen auch in den Büchern vor, andere haben sich die Filmemacher*innen neu einfallen lassen, etwa den Super-Mann Hank Haberer. D Toni Ohms ¢ Start am 14.4.2022

Franz has three problems: firstly, he is still very small for his age, secondly he has blonde locks and is often mistaken for a girl because of it, and thirdly, he gets a really squeaky voice when he‘s excited.

Termine unter www.indiekino.de


INDIEKinder

Mein Freund der Pirat

Spatzenkino Berlin & Brandenburg

Neben einer Piratenfamilie zu wohnen, ist schon aufregend. Als das Schiff der Donnerbüchsen in Sandburghausen vor Anker geht, finden es die Nachbarn zuerst nicht so toll, morgens von Kanonen geweckt zu werden, oder dass die Familie einen Haustierhai namens Roy hat. Aber die Donnerbüchsen wollen jetzt ein ehrliches Leben anfangen und ihr Sohn Billy freundet sich schnell mit den Nachbarskindern Elizabeth und Michael an. Leider ist der Familie ihr alter Erzfeind Cornelius auf den Fersen, und wenn der ihren Schatz stiehlt, geht die ruhige Zukunft über Bord. Aber da können sie sich auf die neue Nachbarschaft verlassen.

In drei Geschichten brauchen Menschen und Tiere Hilfe: Dem kleinen Maulwurf hat jemand auf dem Kopf gemacht, und der Maulwurf will wissen, wer das war. Die Prinzessin in der DER MÄRCHENMANTEL hat ihren Schatz verloren. Natürlich machen sich die Ritter Dick und Schick sofort auf die Suche. Und in KALLE KRAN sitzt Kranfahrer Kalle hoch oben auf seinem Kran und beobachtet das bunte Treiben. Mit Feingefühl und Humor wendet er manch eine Situation zum Guten. Übrigens: Am 10.4. lädt das Kino Union zum Spatzenkino-Osterfilmfest ein, und für Kinder, die nicht in Berlin und Brandenburg sind, gibt es das Spatzekino auch online. www.spatzenkino.de

¢ Start am 7.4.2022 Niederlande 2020 D R: Pim van Hoeve D 94 min

R: Kurzfilme für Kinder ab 4 Jahren D ca. 45 min

Die Häschenschule – Der groSSe Eierklau

Der Wolf und der Löwe

Es ist kurz vor Ostern und alle bereiten sich auf das große Fest vor. Verstecken dürfen die Eier nur Meisterhasen. In diesem Jahr wählt das goldenen Ei den gewitzten Anton, die flinke Emmi und den Stadthasen Max aus. Aber Vorsicht: Familie Fuchs träumt davon, die Eier zu klauen und zu Osterfüchsen zu werden. Dabei bekommen sie unerwartete Hilfe von Leo, dem Anführer der Großstadthasen-Gang. Im Streit um die Eier sind vor allem die Häschentalente Gewitztheit und Geschicklichkeit gefragt, aber ohne Zusammenhalten nutzt das alles nichts.

Die junge Pianistin Alma kehrt auf die abgelegene kanadische Insel zurück, wo sie bei ihrem Opa aufgewachsen ist. Dort läuft ihr zuerst ein Wolfswelpe zu, und dann erweitert ein Flugzeugabsturz ihren Haushalt um ein Löwenjunges. DER WOLF UND DER LÖWE werden beste Freunde und bleiben es auch, als sie größer werden. Aber dann hat Alma einen Unfall und die Tiere werden ihr weggenommen. Um die Freund*innen wieder zu vereinen, müssen alle drei ein großes Abenteuer bestehen. Wie schon bei MIA UND DER WEISSE LÖWE hat Regisseur Gilles De Maistre mit echten Tierdarstellern gearbeitet.

¢ Start am 17.3.2022

¢ Start am 17.3.2022

Deutschland 2022 D R: Ute von Münchow-Pohl

Frankreich/Kanada 2021 D R: Gilles de Maistre D 99 min, FSK: 6

Termine unter www.indiekino.de

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Bestia

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SHORTS ATTACK: OSCAR SHORTS 2022 Im April steht bei der bundesweiten Kurzfilm-Tournee „Shorts Attack“ ein besonderes Highlight an: Gezeigt werden die für die Oscars 2022 nominierten Kurzfilme in zwei Programmen, den „Live Action“-Shorts und den „Animation“-Shorts. Zu den Nominierten auf gehören unter anderem ein dystopischer Sci-Fi mit Schauspieler und Rapper Riz Ahmed (The LONG GOODBYE), eine dänische Liebeserklärung über Karaoke (ON MY MIND) und der chilenische Mini-Politthriller BESTIA, der bereits auf dem interfilm Kurzfilmfestival den Preis für die beste Animation bekommen hat. shortsattack.com

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INDIEFEATURE

„Es war mir wichtig, dass der Film buchstäblich unter die Haut geht“ Interview mit Audrey Diwan über DAS EREIGNIS

Audrey Diwan arbeitete zunächst als Journalistin, Schriftstellerin („La fabrication d’un mensonge“) und Drehbuchautorin, bevor sie 2019 mit MAIS VOUS ÊTES FOUS ihren ersten Spielfilm drehte. Das sozialrealistische Drama handelt von einer Familie, die aufgrund der Drogensucht des Vaters das Sorgerecht verliert. Ihr Film DAS EREIGNIS, der basierend auf dem Roman von Annie Ernaux von einer jungen Frau erzählt, die Mitte der 1960er Jahre abtreibt, wurde auf den Filmfestspielen in Venedig 2021 mit dem Golden Löwen für den Besten Film ausgezeichnet. Pamela Jahn hat mit Audrey Diwan über DAS EREIGNIS gesprochen.

INDIEKINO: Die Geschichte, die Sie in DAS EREIGNIS erzählen, spielt im Jahr 1964. Aber die Bilder, die Sie dafür finden, entsprechen nicht dem typischen sechziger Jahre Flair, der uns im Kino gerne vermittelt wird.

Idee als das Stimmungsbild einer Zeit, an die wir uns gerne mit verklärtem Blick erinnern.

Audrey Diwan: Ich bin grundsätzlich kein Freund von idealisierten Bildern. Ich denke, sie verklären die Realität. Für meinen Film war es mir wichtig, dass die Zuschauer sich nicht als Beobachter fühlen, dass sie Anne nicht zuschauen, sondern dass sie sich direkt in ihre Lage versetzen. Und dazu gehört auch, dass man sich in die sechziger Jahre einfühlt. Ich wollte kein Historiendrama in dem Sinne drehen, keinen nostalgischen Film. Ich wollte die Schwierigkeiten aufzeigen, die es damals gab, als Abtreibungen in Frankreich nicht nur illegal waren, sondern die Frauen, die sich trotzdem dafür entschieden, nicht nur gegen das Gesetz verstießen, sondern gleichzeitig ihr Leben riskierten. In dem Sinne sind die sechziger Jahre in meinem Film vielmehr eine sozialpolitische

Ich bewundere Sie als Autorin schon sehr lange und habe viele ihrer Bücher gelesen. Nur „Das Ereignis“ kannte ich noch nicht, bis ich selbst eine Abtreibung erlebte. Ich wollte darüber lesen, darüber nachdenken. Daraufhin empfahl mir eine Freundin das Buch. Beim Lesen wurde mir der enorme Unterschied bewusst zwischen meiner Situation und dem, was Frauen in der Vergangenheit durchmachen mussten. Ich hatte den Prozess selbst nicht als eine derartige Tortur empfunden, habe auch nicht die Einsamkeit gespürt, die Verzweiflung, all das. Ich hatte das große Glück, in einer Zeit und in einem Land zu leben, wo eine Abtreibung unter ärztlicher Aufsicht möglich ist, ohne Nadeln auf dem Küchentisch. Ich spürte beim Lesen einerseits eine enorme Wut

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Wie sind Sie auf Annie Ernaux‘ Buch aufmerksam geworden?


INDIEFEATURE

im Bauch, habe aber gleichzeitig auch die weibliche Lust bewundert, die in dem Buch zum Ausdruck kommt. Und genau darüber wollte ich einen Film machen. Einen Film, der beide Dimensionen umfasst: Den Horror der Abtreibung ebenso wie das weibliche Begehren. Sie haben bisher vor allem für andere Leute Drehbücher geschrieben. Warum war es Ihnen so wichtig, bei diesem Film selbst Regie zu führen?

Geld. Meine Eltern dagegen schon. Ich bin quasi zwischen zwei sozialen Klassen aufgewachsen – und zwischen verschiedenen Kulturen. Ich hatte Freunde im Libanon und in Rumänien, weil meine Eltern von dort stammen. All das hat dazu geführt, dass ich sehr wachsam bin, was soziale und kulturelle Unterschiede angeht, weil es ein Teil meiner eigenen Geschichte ist. Warum ist das Thema Abtreibung Ihrer Meinung nach bis heute so aktuell?

Ich war sehr jung, als ich meine ersten Romane schrieb. Mit siebenundzwanzig habe ich aufgehört, Geschichten zu schreiben, weil ich das Gefühl hatte, dafür noch nicht wirklich reif zu sein. Ich wusste, dass ich schreiben wollte, aber ich musste mir erst mal eine Meinung bilden über die Welt, ich musste mir Zeit nehmen zu leben. Ich dachte, früher oder später würde der Moment schon kommen, wo ich bereit sein würde - wenn nicht fürs Romanschreiben, dann für etwas anderes. Und irgendwann hatte ich all diese Bilder im Kopf und eine Vorstellung davon, wie ich die Dinge auch visuell ausdrücken könnte, um die es mir ging. Ich verspürte den Drang, selber Regie führen zu wollen. Das war vor vier Jahren, damals war ich sechsunddreißig. Daraufhin ist mein erster Film entstanden, Mais vous êtes fous, und danach gab es für mich kein Zurück.

Ich denke, es ist ein ewiger Krieg und eine Machtfrage. Es geht darum, wer wen kontrolliert. Und die Seite der Frauen ist stets in Gefahr, weil die Männer Angst haben, ihre Machtposition zu verlieren. Deshalb läuft es überall immer wieder nach dem gleichen Muster ab: Wenn der Frieden in Gefahr ist, werden zuerst den Frauen ihre Rechte genommen, dann geht es an die Menschrechte. Wir leben in unruhigen Zeiten und ich würde zum Beispiel gerne etwas mehr darüber verstehen wollen, was genau gerade in Texas passiert. Denn ich glaube, auch dort zeichnet sich bereits ein ähnliches Muster ab, zuerst geht es um Abtreibung und dann greifen sie die Bürgerrechte an. Es ist kein gutes Zeichen.

Sie sagten, es ginge Ihnen darum, dass sich die Zuschauer in Annes Situation hineinversetzt fühlen. Wie sind Sie es angegangen, das zu erreichen?

Freiheit. Kino ist für mich die Freiheit, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Ich mag am liebsten die Filme, die meine eigenen Horizont erweitern, auch wenn es manchmal weh tut. Und das Kino erlaubt mir die Freiheit, mich zu verändern, mich weiterzuentwickeln, mich zu bilden. All das und noch so vieles mehr.

Ich wollte, dass der Film eine Erfahrung wird, die Empfindungen vermittelt. Und nicht nur das. Ich habe mich gefragt, wie ich die Menschen dazu bringe, sich so zu fühlen, wie ich mich beim Lesen des Romans gefühlt habe. Es war mir wichtig, dass der Film nicht nur ein Erlebnis für die Augen ist, sondern dass er buchstäblich unter die Haut geht. Und das kann man natürlich auf verschiedene Weise erreichen. Aber ich glaube, was mir als erstes in den Sinn kam, war die Zeit. Ein sehr deutlicher Unterschied zwischen einer Emotion, die man beschreiben kann, und einem Gefühl, das man tief in sich spürt, liegt meines Erachtens darin, wie lange man als Zuschauer miterlebt, was da gerade auf der Leinwand mit einer Figur geschieht. Darum war es nicht einfach, den Film zu drehen und auch nicht, zu schneiden, denn die Versuchung ist immer da, bestimmte Szenen und Einstellungen zu kürzen, weil sie zu schmerzlich sind. Aber ich denke, in der Dauer liegt das Geheimnis. Sie haben Journalismus und Politikwissenschaften studiert. Wie hat diese Ausbildung Ihre Art des Filmemachens beeinflusst? Ich möchte die Welt verstehen, in der wir leben, und dazu gehört eben auch, sie mit der Vergangenheit in Verbindung zu setzen. Ein weiterer Grund dafür, dass ich mich sehr für soziokulturelle Veränderungen interessiere, liegt in meiner eigenen Kindheit. Meine Großeltern lebten ein sehr einfaches Leben. Sie hatten nicht viel

Was ist Kino für Sie?

Glauben Sie an die Kraft des Kinos, die Welt zu verändern? Wenn nicht, würde ich keine Filme drehen. Wir alle sind Teil dieser Kraft, dieser Bewegung. Wir schaffen Ideen, Bilder, Geschichten von der Wirklichkeit, um dadurch etwas anzustoßen, um die Menschen zum Nachdenken anzuregen. Ob es funktioniert oder nicht, wir können es nur immer wieder versuchen. Was für Angebote haben Sie seit Ihrem Triumpf in Venedig erhalten? Bekommen Sie schon den Druck der Industrie zu spüren, gleich einen neuen Film nachzulegen? Nein, weil ich meine Filme selbst schreibe. Ich laufe nicht Gefahr, in irgendein ein Hamsterrad zu geraten, weil ich nicht auf die Drehbücher anderer Leute angewiesen bin. Ich wähle meine Themen selbst. Und ich fühle mich in der Hinsicht sehr geschützt. Aber Sie haben schon auch recht, der Druck ist da und auch die Versuchung, mit einem ähnlichen Film an den Erfolg von DAS EREIGNIS anknüpfen zu wollen. Aber ich arbeite an verschieden Projekten und wenn die Zeit reif ist, werde ich meinen nächsten Film drehen. Ich habe es nicht eilig. D Das Gespräch führte Pamela Jahn APRIL 2022 D

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INDIESERVICE

Über uns Das INDIEKINO MAGAZIN erscheint alle ein bis zwei Monate und bietet einen Überblick über Neustarts, Festivals und Wiederaufführungen. Unser Herz gehört dem unabhängigen Film und dem unabhängigen Kino. KINOS Das INDIEKINO MAGAZIN ist bundesweit in folgenden Kinos erhältlich: Alpirsbach: Subiaco Kino Bad Driburg: Kino Bad Driburg Bad Füssing: Filmgalerie Bamberg: Lichtspiel & Odeon Berlin: Acud Kino, b-ware!ladenkino, Bali Kino, Brotfabrik Kino, Bundesplatz Kino, City Kino Wedding, Eva-Lichtspiele, filmkunst66, Filmrauschpalast, FLB Weissensee, FLK Insel, fsk-Kino, Hackesche Höfe Kino, Hofkino, Il Kino, Intimes, Kino im Planetarium, Krokodil, Mobile Kino, Sputnik Kino, Tilsiter Lichtspiele, Union Filmtheater, Wolf Kino, Xenon Kino, Z-inema, Zukunft Bielefeld: Lichtwerk im Ravensberger Park, Kamera Filmkunsttheater Bochum: endstation.kino, Casablanca Bonn: Rex Filmtheater, Neue Filmbühne, Kino in der Brotfabrik Bremen: Atlantis Filmtheater, Gondel Filmtheater, Schauburg Brühl: ZOOM Kino Chemnitz: Kino Metropol Chemnitz Dießen am Ammersee: Kinowelt am Ammersee Dortmund: Schauburg, SweetSixteen Dresden: Filmgalerie Phase IV Enkenbach-Alsenborn: Provinz Programmkino Erfurt: Kinoclub Erfurt Erlangen: E-Werk Essen: Essener Filmkunsttheater Esslingen: Kommunales Kino Frankfurt: Mal Seh’n Kino Freudenstadt: Subiaco Kino im Kurhaus

Fellbach: Orfeo-Programmkino Fürstenfeldbruck: Lichtspielhaus Fürstenfeldbruck Fürstenwalde: Union Gießen: Kinocenter Gießen Göttingen: Lumiere, Meliès Halle: Luchs Kino am Zoo, Puschkino Hachenburg: Cinexx Hamburg: 3001 Kino, B-Movie, Elbe ­Theater, Die Koralle, Studio-Kino, Blankeneser Kino, Zeise Kinos Heidelberg: Gloria Filmtheater Heilbronn: Kinostar-Arthaus Hillesheim: Eifel-Film-Bühne Hemsbach: Brennessel Immenstadt: Union Filmtheater Kaiserslautern: Union-Studio für Filmkunst Karlsruhe: Schauburg Kassel: Bali, Gloria, Filmladen Kiel: Traumkino Kirchberg: Kino Klappe Kochel: Kino in Kochel Koblenz: Apollo & Odeon Köln: Filmpalette, Filmhaus, Lichtspiele Kalk, Odeon Kino, OFF Broadway, Weisshaus Kino Leverkusen: Scala Lich: Kino Traumstern Ludwigsburg: Caligari Kino, Luna

Ludwigslust: Luna Filmtheater Lüneburg: Scala Programmkino Mainz: Capitol & Palatin München: Arena Filmtheater, Monopol Kino, Neues Maxim, Rio Filmpalast Münster: Cinema Münster Neitersen: Wied-Scala Neuss: Hitch Nürnberg: Casablanca Filmkunsttheater Oberhausen: Kino im Walzenlager Oberstdorf: Kur-Filmtehater Ochsenfurt: Casablanca Kino Oldenburg: cine k Pforzheim: Cineplex Pforzheim, Kommunales Kino, Rex Filmpalast Ratingen: Kino 1+2 Rendsburg: Schauburg, Koki Reutlingen: Kamino Rottenburg: Kino im Waldhorn Rottweil: Central Kino Schneverdingen: Lichtspiel Schneverdingen Schramberg: Subiaco Kino Schwäbisch-Gmünd: Brazil Kino Soest: Schlachthof Kino Templin: Multikulturelles Centrum Titisee-Neustadt: Krone Theater Tübingen: Arsenal, Atelier Weimar: Kommunales Kino im Mon Ami Weinheim: Modernes Theater

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ABONNEMENT Sie können das INDIEKINO MAGAZIN per Post direkt nach Hause bekommen. Eine Bestellung ist online möglich: www.indiekino-shop.de

Impressum Herausgeber: INDIEKINO BERLIN UG (haftungsbeschränkt) Rudolfstr. 11, 10245 Berlin Telefon: 030 – 209 897 24, info@indiekino.de, www.indiekino.de Geschäftsführung: Hendrike Bake Redaktion: Hendrike Bake, Thomas Dorow redaktion@indiekino.de Filmtexte: Thomas Abeltshauser, Hendrike Bake, Yorick Berta, Stefanie Borowsky, Tom Dorow, Katrin Eissig, Anna Hantelmann, Christian Klose, Clarissa Lempp, Elinor Lewy, Michael Meyns, Pamela Jahn, Toni Ohms, Susanne Stern, Eva ­Szulkowski, Lars Tunçay

Texte Kinohighlights: INDIEKINO MAGAZIN und Kinos Bildnachweis: Filmbilder/Plakatmotive: Filmverleiher/Filmfestivals FiSH Festival (Seite): FiSH Filmfestival im StadtHafen Rostock 2021 Grafik: Michael Zettler, Nora Wiesner (Zett Media) Akquise/Marketing: Hendrike Bake, info@indiekino.de Druck: Bonifatius Druck, Paderborn Auflage: 25.000

Eine Gewähr für die Richtigkeit der Termine kann nicht übernommen werden. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Ein Nachdruck ist nur mit Genehmigung von Redaktion und Autor und mit Quellenangabe gestattet. Für unverlangt eingesandtes Textmaterial wird keine Haftung übernommen.

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Natürlich hat uns Gaspar Noés Film VORTEX dazu gebracht, in SplitScreen-Szenen der Filmgeschichte zu stöbern. Die ersten Filme mit Zwei in Einem gab es schon bei Méliès als Doppelbelichtungstrick, zwei verschiedene Handlungen in einem Bild gab es bereits in frühen Stummfilmen wie THE LIFE OF AN AMERICAN FIREMAN (1903). Am populärsten war der Split-Screen-Effekt in den sechziger und siebziger Jahren, vor allem in Thrillern von Brian de Palma oder John Frankenheimer und in den Designer-Vorspannszene von Saul Bass.

Nachbild

Das inspirierte dann wiederum Tom Tykwer in LOLA RENNT (1998) und Quentin Tarantino in KILL BILL (2003). Am meisten Spaß mit dem Split Screen hatten in jedem Fall Doris Day und Rock Hudson in Michael Gordons Film PILLOW TALK (1959), wohl auch deshalb als Split Screen inszeniert, weil ein gemeinsames Bad von Unverheirateten damals skandalös gewesen wäre. Also planschten Doris und Rock halt virtuell.

vorschau INDIEKINO im MAI

D Memoria Fremde Frequenzen D SIGMUND FREUD Analyse-­ Doku D Sechs Tage unter Strom Reparaturcrew D BLUT­­SAUGER Kapitalisten D MAIXABEL Nach dem Terror D Als Susan Sontag im Publikum SASS Re-Enactment D DIE KUNST DER STILLE Pantomime D Heinrich Vogeler Meister des Jugendstils D SUN CHILDREN Schatzgräber D DAS STARKE GESCHLECHT Männer denken nach D X Retro-Slasher D Nico Kämpferin D Alles in bester Ordnung Horten oder Minimieren D BETTINA Liedermacherin D FUCHS IM BAU Gefängnislehrer D ONE OF THESE DAYS Auto berühren D Das Licht, aus dem die Träume sind Kinoliebe D STASIKOMÖDIE Hausmannkomödie D I AM ZLATAN Fußballgenie D 46

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„EIN NIEDERSCHMETTERNDES MEISTERWERK“

„ERGREIFT DAS HERZ UND ERSCHÜTTERT DIE SEELE“

F I L M S TA RT S .de

NRK

„ELEKTRISIEREND“

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T he Play l i s t

„INTENSIV“

„ JETZT SCHON EIN KLASSIKER“

Vu lt u r e

C i neu r op a

E I N F I L M VON E SK I L VOGT

AB 14. APRIL IM KINO



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