22 minute read
DIE SCHLICHTE LÖSUNG LAUTET BEUTE KEINE mENSCHEN AUS!“ INTERVIEW mIT RUBEN ÖSTLUND ÜBER TRIANGLE OF SADNESS
In seinen Filmen seziert Ruben Östlund die bürgerliche Gesellschaft. In PLAY – NUR EIN SPIEL (2011) war Alltagsrassismus Thema, in HÖHERE GEWALT (2014) die moderne Kleinfamilie und ihr möglichweise doch nicht so aufgeklärtes Rollenverständnis, und die Satire THE SQUARE, die 2017 die Goldene Palme gewann, amüsierte sich mit dem Kunstzirkus. In TRIANGLE OF SADNESS, der in diesem Jahr die Fimfestspiele in Cannes gewonnen hat, nimmt sich der Regisseur, der mit einer deutschen Modefotografin verheiratet ist, die Welt der Reichen und Schönen vor. Dieter Oßwald hat sich mit Ruben Östlund über seinen neuen Film unterhalten.
Advertisement
Interview mit Ruben Östlund
INDIEKINO: Herr Östlund, muss man sich Zyniker als glückliche Menschen vorstellen? In der Mode-Show zu Beginn von TRIANGLE OF SADNESS sagt ein Schriftzug: „Zynismus maskiert sich als Optimismus.“
Ruben Östlund: Ursprünglich hatte das Wort Zyniker eine ganz andere Bedeutung als heute. Im antiken Griechenland war das eine Bewegung, die eine kritische Haltung zur Gesellschaft hatte. Sehr beängstigend finde ich die heutige Bedeutung, die mit diesem Spruch auf der Mode-Show im Film zum Ausdruck kommt: „Zynismus maskiert sich als Optimismus“.
Wie sieht diese Maskierung aus?
Schauen Sie sich doch nur dieses ganze „Greenwashing“ an, wo sich große Unternehmen mit positiven Werten schmücken. Und die Menschen klicken dazu in sozialen Medien brav mit einem Daumen nach oben. Das ist übelste Realsatire, die Kunst gar nicht mehr steigern kann. Große gesellschaftliche Fragen, wie die Klimakrise, auf das Individuelle herunterzubrechen, ist der größte Zynismus unserer Zeit. Zu behaupten, man verzichte jetzt mehr aufs Fliegen, ist grotesk. Denn das ändert wenig, für eine Lösung braucht es Beschränkungen auf globaler Ebene.
Als Mode-Fotografin steckt Ihre Frau mitten in dieser GlamourIndustrie … Meine Frau ist keine Zynikerin, sie verdummt auch keine Menschen. Sie würde nie von nachhaltiger Mode sprechen, weil sie genau weiß, dass so eine Bezeichnung völliger Unsinn ist. Mode wird jedes Frühjahr und jeden Herbst neu in die Läden gebracht, da kann doch niemand von „nachhaltig“ sprechen!
Verstehen Sie sich als ein Moralist?
Moralisten sind Typen, die anderen immer erklären, was sie falsch machen. Ich zeige nicht gerne mit dem Finger auf andere, ich zeige lieber auf mich selbst. Mit sämtlichen schlechten Eigenschaften und Fehlern meiner Figuren kann ich mich identifizieren! Bei einer Lawine hätte ich wohl auch feige meine Familie verlassen. Als Museumschef hätte ich skrupellos meine Macht missbraucht. Und ich verstehe, wie die alte Frau im Rettungsboot ihre Position gnadenlos für Sex mit einem hübschen Model ausnutzt. Nein, ich bin also kein Moralist! (Lacht)
Ihr Model ist jung und hübsch und verdient sein Geld damit. Was bedeutet Schönheit für Sie?
Meine Mutter, eine Lehrerin, sagte immer: „Alle Kinder sind schön!“. Aber wenn wir irgendwann die Konkurrenz und unsere Position in der Hierarchie spüren, dann passiert etwas. Wenn eine sehr schöne Person einen Raum betritt, ändert das die ganz Dynamik in diesem Raum. Es lässt sich nicht leugnen, dass es eine objektive Schönheit gibt. Attraktivität ist eine Währung, die man ohne Geld, ohne Abstammung und ohne Ausbildung
bekommen kann. Wer aus ärmsten Verhältnissen stammt, für den kann Schönheit der Jackpot zum gesellschaftlichen Aufstieg sein.
Der britische „Guardian“ beschrieb Ihre filmische Methode als „Vorschlaghammer und Skalpell“ - teilen Sie die Einschätzung?
Das ist ein wunderbares Kompliment. Das notiere ich mir gleich einmal! Zu meinen Idolen gehört Michael Haneke, der steht wirklich für das Skalpell im Kino. Zugleich wollte ich wild und überraschend sein. Ich möchte wegkommen vom Arthouse-Kino, wie es heute aussieht. Mein Konzept war eine wilde, unterhaltsame Achterbahn für Erwachsene.
Die Achterbahn wäre zu schlicht, warfen Ihnen manche Kritiker in Cannes vor. Was sagen Sie denen?
Fuck You! (Lacht) Wir sagen gerne, die Probleme unserer Gesellschaft wären sehr komplex. Das stimmt aber nicht. Die schlichte Lösung lautet: Beute keine Menschen aus! So einfach ist das, damit wäre das Problem gelöst. Aber wir leben in einer Welt, in der wir die Ausbeutung von Menschen akzeptieren. Und in der wir uns komfortabel in dieser Position eingerichtet haben. Menschen geben nur ungern ihre Privilegien ab. Doch das müssten wir alle gemeinsam und gleichzeitig tun. Yachten? Haben Sie je daran gedacht, die zweite Palme zu verweigern?
Nein, ich möchte jetzt auch noch eine dritte Palme haben! Für mich ist der Preis Fiktion, das nehme ich nicht allzu ernst. Cannes bietet eine großartige Bühne, um einen Film wie meinen einem möglichst großen Publikum zu präsentieren. Natürlich ist man glücklich über die bloße Teilnahme und erst recht über eine Auszeichnung. Aber übertrieben ernst kann man das nicht nehmen.
Mit Iris Berben engagieren Sie einen der wenigen deutschen Stars, lassen sie aber nur immer denselben Satz „In den Wolken“ sprechen. Was hat es damit auf sich?
Die Figur basiert zu hundert Prozent auf meiner Schwiegermutter. Ich bin sehr glücklich, dass ich Iris für den Film gewinnen konnte, für mich spielt sie diese Rolle absolut fantastisch.
Was wird Ihr nächstes Projekt?
Es geht um einen Langstreckenflug, bei dem gleich nach dem Start das Unterhaltungsprogramm ausfällt. Die Passagiere erwartet ein fünfzehnstündiger Flug ohne jede digitale Ablenkung. So wird das Flugzeug im Film zum Laboratorium für ein soziologisches Experiment. Der Titel lautet „The Entertainment-System is down“.
TRIANGLE OF SADNESS
Bitterböses Gesellschaftspanorama
„Jetzt Balenciaga!“ Die Riege männlicher Models macht ernste, kantige Gesichter. Jeder für sich und gegen die Welt. „Jetzt H&M!“ Alle präsentieren ihr strahlendstes Lächeln und machen auf Freundesgruppe. „Balenciaga! H&M! Balenciaga! H&M!“ Wie eine menschliche Lichterkette knipsen die jungen Männer ihr Lächeln an und aus. Einer von ihnen ist Carl (Harris Dickinson), male Model im Abstieg begriffen. Seine Freundin, die Influencerin Yaya (Charlbi Dean) ist gerade im Kommen, trotzdem lässt sie ihn beim Dinner zahlen. Die Szene im Restaurant, bei der Yaya und Carl Geld, Status und Rollenverteilung verhandeln, gehört zu den besten des Films und erinnert an Ruben Östlunds HÖHERE GEWALT (2014), in dem er sehr präzise, gemein und amüsant eine Paarbeziehung vor dem Hintergrund eines schicken Ski-Ressorts auseinandernahm.
Der Rest der dystopischen Satire in drei Akten, die in Cannes dieses Jahr mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde, knüpft eher an Östlunds THE SQUARE (2017) an, ebenfalls ein Palme d’Or-Gewinner. Waren damals die großbürgerliche Kunstwelt und ihre hohlen Rituale die Zielscheibe für Östlunds Breitseiten, sind es diesmal die Superreichen und Superschönen, kurz, Menschen mit Kapital. Yaya nimmt Carl als Begleitung auf eine Luxus-Kreuzfahrt mit, die sie promoten soll. Dort treffen sie unter anderem auf einen jovialen russischen Düngemittel-Unternehmer (Zlatko Buric) nebst Frau und Geliebter und ein distinguiert wirkendes britisches Waffenhändlerpärchen. Die Mitreisenden sind so, wie man sie aus DER DISKRETE CHARME DER BOURGEOISIE oder DAS GROSSE FRESSEN kennt, wahlweise langweilig, vulgär, egoistisch oder selbstgerecht, und ohne jedes Geheimnis. Aber Östlund hat auch die Angestellten im Blick – den versoffenen Kapitän (Woody Harrelson), die zackige Chefstewardess Paula (Vicky Berlin), das Personal an und das unter Deck – und die Beziehungen zwischen denen mit Kapital und denen ohne. theaterhaften Momenten, der dritte Akt hat dann sogar etwas von „Warten auf Godot“. Ein Sammelsurium aus Gästen und Mannschaft – darunter Carl und Yaya, der russische Unternehmer und die philippinische Putzfrau Abigail (Dolly De Leon) – hat sich nach einer Havarie auf eine einsame Insel gerettet und hofft dort auf Rettung. Ein Kiesstrand, ein Rettungsboot, ein Esel und Salzstangen nehmen tragende Rollen ein, und schon nach wenigen Stunden hat sich eine neue Hierarchie etabliert, mit Abigail, die als einzige in der Wildnis Nahrung zu beschaffen vermag, an der Spitze.
TRIANGLE OF SADNESS hat fulminante Momente, vor allem den rasanten Einstieg und das bitterböse Ende, zwischendrin gibt es auch ein paar Längen. Das Gesellschaftspanorama, das Östlund zeichnet, scheint manchmal etwas einfach konstruiert, dann wieder – etwa wenn die Reichen darauf bestehen, dass das Personal „Spaß“ hat, um selbst die Klassenunterschiede nicht so merken zu müssen – auf den Punkt. Der Film knapst an der gleichen Widersprüchlichkeit, wie schon THE SQUARE: Östlund prangert die Nutznießer*innen eines Systems an, das ausschließlich auf Verwertbarkeit ausgerichtet ist, aber er scheint nicht in der Lage, sich ein anderes System überhaupt vorzustellen. Ähnlich wie William Goldings Roman „Lord of the Flies“ liegt TRIANGLE OF SADNESS ein zutiefst pessimistisches Menschenbild zugrunde. Sobald man die bisherigen Zwänge wegnimmt, bildet sich eine neue Klassengesellschaft. Lediglich Kapitän Woody Harrelson stellt sich gegen die Verhältnisse, wenn er im Suff beim Captain‘s Dinner Marx zitiert – ohne jede Wirkung, aber mit Gefühl.
Schweden 2022 D 147 min D R: Ruben Östlund D B: Ruben Östlund D K: Fredrik Wenzel D S: Mikel Cee Karlsson, Ruben Östlund D D: Harris Dickinson, Charlbi Dean Kriek, Woody Harrelson, Vicky Berlin, Zlatko Buric, Iris Berben, Amanda Walker, Oliver Ford Davies, Sunnyi Melles, Dolly De Leon D V: Alamode Filmverleih
D Hendrike Bake Start am 13.10.2022
Ruben Östlunds target in THE SQUARE was the upper class art world and their empty rituals, and this time it’s the super rich and super beautiful, in short, people with capital. The dystopian social satire in three acts won the Palm D’Or at Cannes 2022.Triangle Of Sadness
Deutschland 2021 D 93 min D R: Michael Bully Herbig D K: Torsten Breuer D S: Alexander Dittner D M: Ralf Wengenmayr D D: Elyas M’Barek, Jonas Nay D V: Warner Bros.
TAUSEND ZEILEN
Relotius-Affäre, komisch
Michael „Bully“ Herbigs Film TAUSEND ZEILEN beruht auf dem Buch „Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus“ von Juan Moreno, der während der Arbeit an einem gemeinsamen Artikel mit dem vielfach ausgezeichneten „Spiegel“-Journalisten Claas Relotius entdeckte, dass der seine Artikel mit frei erfundenen Erlebnissen, Interviews und Begegnungen angereichert hatte. Herbigs Film ist eine Komödie, und das Vorbild SCHTONK! über die „Stern“-Affäre und die gefälschten Hitler-Tagebücher ist schon an den pomadigen Frisuren der Redakteure wiederzuerkennen. Herbig schlägt komische Funken aus der Nettigkeit von „Lars Bogenius“ (Jonas Nay), die sich freilich später als Tarnung für schnöselige Heimtücke entpuppt. Elyas M’Barek als „Juan Romero“ ist sympathisch und komisch und zeigt einige souveräne Slapstick-Standardsituation. Wenn der Film etwas kritisiert, dann, dass Relotius geschrieben hat, was die Redakteure erwartet haben und was in das ideologische Gerüst des Magazins passt. Das reicht nicht wirklich für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema, und es spiegelt die talking points von Positionen, die am liebsten auch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk abschaffen würden und „objektive Berichterstattung“ fordern, als könne es die geben. Das Problem ist nicht, dass sich die politischen Positionen der Redaktionen in deren Inhalten spiegeln, ob bei „Spiegel“, „Welt“ oder „Junge Welt“. Das Problem ist eine der Form von politischer Kommunikation und politischer Öffentlichkeit. Bully Herbigs satirische Komödie ist nettes Unterhaltungskino, das das Schnöseltum, die verblendete Arroganz und die Ambitionen von Karrieretextern auf die Schippe nimmt. Das ist ganz in Ordnung. Eine Art BAD BANKS über die Krise der Öffentlichkeit wäre auch schön, aber das kann ja noch kommen. D Tom Dorow Start am 29.9.2022
Bully Herbig’s adaptation of Juan Moreno’s “Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus” is a comedy and its role model, SCHTONK, can immediately be identified because of the editors’ greasy hairstyles. Schweiz 2022 D 90 min D R: André Schäfer D K: Andi Widmer D S: Fritz Busse D M: Martin Skalsky D D: Martin Suter, Margrith Nay Suter, Ana Suter, Stephan Eicher, Benjamin von Stuckrad-Barre, Bastian Schweinsteiger, Philipp Keel D V: DCM Film Distribution
ALLES ÜBER mARTIN SUTER. AUSSER DIE WAHRHEIT
Ein Schriftsteller und seine Geschichten
Ein leeres Blatt am Abend, das kennt er nicht. Wenn Martin Suter arbeitet, steht am Ende des Tages auch etwas auf dem Papier. Manchmal ist es nicht richtig gut, das räumt er ein. Aber Suter verfolgt sein Schriftstellerdasein mit Beharrlichkeit und Disziplin. Sein ewiges Motiv ist dabei so zugänglich und rätselhaft wie er selbst: „Ich möchte eine Geschichte mit einem Geheimnis erzählen“. So wurde Suter im Laufe der letzten 25 Jahre zu einem der erfolgreichsten Schweizer Schriftsteller der Gegenwart. Aber als solchen stellt ihn André Schäfer in seinem Film nicht vor – oder nicht direkt. Er lässt Suter auf seine eigenen Figuren treffen, die ein Erzähler (Andreas Fröhlich) zum Leben erweckt. Auf diese Weise lernen die Zuschauer Autor und Werk gleichermaßen kennen, wobei der heute 74-jährige Suter, der in der Öffentlichkeit am liebsten Anzug und Krawatte trägt, stets auf der Hut ist, am Ende nicht zu viel von sich preiszugeben. Etwa dass er zunächst Werbetexter und Kolumnist war, bevor er sich 1997 an sein erstes Buch wagte. Überraschend nah wirken dagegen die Szenen, in denen er gemeinsam mit seiner Familie über den 2009 verstorbenen Adoptivsohn spricht. Es ist der Moment, in dem die Wahrheit am klarsten und schmerzlichsten zu Tage tritt. Davor und danach zeigt Schäfer vor allem, wie Suter selbst immer wieder Teil der Inszenierung ist, als Außenstehender, als würde er sich seine eigenen Romane anschauen. Es ist ein reizvoller Ansatz, weil Suters Geschichten einen unmittelbar in ihren Bann ziehen, auch wenn man sie nur in Fragmenten zu hören bekommt. Am spannendsten sind jedoch die Augenblicke, in denen wir dem Schriftsteller begegnen, wenn er mal ernst, mal voller Schalk und Selbstironie über sich selbst und die Suche nach der seiner Iden-
tität als Künstler spricht. D Pamela Jahn Start am 6.10.2022
Swiss writer Martin Suter writes crime novels with socially critical elements. The portrait of the writer shows him in private and professional situations and lets him dive into his own world of fiction.
IN EINEm LAND, DAS ES NICHT mEHR GIBT
Unter dem Radar
Aelrun Goette ist vor allem für ihre abgründigen dokumentarischen Psychogramme von Frauen bekannt geworden (DIE KINDER SIND TOT). Das Drehbuch zu IN EINEM LAND, DAS ES NICHT MEHR GIBT basiert auf der eigenen Geschichte der Regisseurin. Goette durfte ebenso wie ihre Hauptfigur Suzie in der DDR erst nicht studieren, weil man sie mit einem Aufnäher der Friedensbewegung erwischte, und wurde dann Ende der 80er auf der Straße als Model für die Sybille, die Vogue des Ostens, entdeckt. Diese „Nische, in der eine Freiheit lebendig war, die ich so im Westen nie wieder erlebt habe“, so Goette, inszeniert die Filmemacherin in den besten Momenten à la SOLO SUNNY. Allerdings ist Marlene Burow nicht Renate Krößner. Sie ist wunderschön, fast ätherisch, es fehlen aber die Untiefen. Zwar deutet Goette an, welche Felder die junge Frau zu bearbeiten hat: die verstorbene Mutter, die der Vater nicht ersetzen kann, ihre Verantwortung für die kleine Schwester, ihre Naivität, mit der sie dem Modebusiness nicht gewachsen ist, und das Zartbesaitete, das in einer Fabrik untergeht. Den inneren Abgrund „trifft“ Burow mit ihrem Spiel jedoch nicht immer.
Dafür vermittelt Goette jenseits von ostalgischer Nostalgie oder gut ausgeleuchtetem tristen Grau einen erfrischend authentischen Einblick in die Modeszene der DDR. Diese lag zwar nicht außerhalb des repressiven Systems, konnte aber ein wenig unter dem Radar fliegen. Für die Sibylle arbeiteten auch deshalb einige der besten Fotograf*innen der DDR – Sibylle Bergemann, Arno Fischer, Ute Mahler. Hier trifft Suzie auch auf Rudi (Sabin Tambrea), so etwas wie der schwarze Schwan des Ostberliner Untergrunds, der mit seinen queeren Freunden die Mode und das Leben exzessiv feiert. Er nimmt sie unter seine Fittiche, und das Mädchen wird erwachsen und Rudis weißer Schwan. D Susanne Kim
The late 80s in the GDR: Suzie is photographed on the street and discovered as a model. Aelrun Goette’s autofictional film offers a refreshingly authentic view of GDR’s fashion scene that goes beyond GDR nostalgia. Deutschland 2022 D 100 min D R: Aelrun Goette D B: Aelrun Goette D K: Benedict Neuenfels D M: Boris Bojadzhiev D D: Marlene Burow, David Schütter, Sabin Tambrea, Claudia Michelsen, Jördis Triebel D V: Tobis Film
Schweiz/Frankreich 2021 D 124 min D R: Mano Khalil D K: Stéphane Kuthy D S: Thomas Bachmann D M: Mario Batkoviƒá D D: Serhed Khalil, Jalal Altawil, Jay Abdo, Zîrek, Heval Naif, Tuna Dwek, Mazen Al Natour, Ismail Zagros D V: barnsteiner film
NACHBARN
Syrische Kindheit
Ein Dorf wie eine ganze Welt. Für den sechsjährigen Sero (Serhed Khalil), einen kurdischen Jungen mit Knopfaugen und Pausbacken, braucht es nicht mehr. Er wächst im Schoß seiner Familie an der syrisch-türkischen Grenze auf, umgeben von Onkeln und Tanten und den Großeltern seines Vaters (Heval Naif). An Sabbat darf er bei seiner jüdischen Nachbarin Hannah (Derya Uygurlar) die Lichter anzünden, aber viel lieber würde er sich Zeichentrickfilme im Fernsehen anschauen. Allerdings gibt es in den frühen 1980er-Jahren in seiner Gemeinde noch immer keinen Strom. Und so bleibt Sero zunächst nur, weiterhin hartnäckig zu hoffen, dass Allah seinen Wunsch irgendwann erhört. In der Schule erlebt er, wie der um sich greifende Nationalismus sein heiles Leben zerstört. Der neue Lehrer (Jalal Al Tawil) besteht darauf, dass er Arabisch spricht. Sero soll Assad verehren und die Juden hassen. Die grausame Realität kollidiert mit dem friedlichen Dasein der Gemeinde und stellt sämtliche Gewissheiten in Frage, die ihren Alltag bisher bestimmten. Es ist eine klug abgewogene Mischung aus ernsten und heiteren Momenten, die der seit Mitte der 1990er Jahre in der Schweiz lebende syrisch-kurdische Regisseur Mano Khalil in NACHBARN findet. Inspiriert von den eigenen Kindheitserinnerungen beschreibt er eine Welt voller Liebe und Hass, Gemeinschaft und Patriarchat, Diktatur und naiver Unbeschwertheit. Die stille Würde der Dorfbewohner im Angesicht der Tyrannei und Korruption syrischer Regierungsbeamter und türkischer Grenzsoldaten geht unter die Haut. Die Art und Weise, wie der mit einer kraftvollen Bildsprache erzählte NACHBARN mit Kinderaugen in die Vergangenheit schaut, erinnert an Kenneth Branaghs BELFAST: der Film bewegt, erscheint jedoch stellenweise ähnlich unkritisch oder sentimental. D Pamela Jahn
Start am 13.10.2022 USA 2022 D R: Nicholas Stoller D B: Nicholas Stoller, Billy Eichner D K: Brandon Trost D S: Daniel Gabbe D M: Marc Shaiman D D: Billy Eichner, Luke Macfarlane, Jim Rash, Bowen Yang, Ts Madison D V: Universal Pictures
The first completely queer mainstream romcom. Screenwriter: Billy Eichner.
BROS
New York Rom-Com
„Love is not Love“ ist das Motto von Bobby, gespielt vom Drehbuchautor und Hauptdarsteller von BROS, dem Comedian Billy Eichner. Der schwule Podcaster, Gewinner des „cis white gay person of the year“-Awards und Gründer des New Yorker LGBTQ+ Museums wehrt sich gegen die Vereinnahmung queerer Liebe in den heteronormativen Mainstream und beharrt vehement auf seinem glücklichen Single-Status - auch wenn die meisten seiner Online-Hook-ups, konversationstechnisch gesehen, nicht sehr weit über „What’s up?“ hinausgehen. Als er bei einer Clubnacht auf den hyper-durchtrainierten Notar Aaron (Luke Mcfarlane) trifft, ist er misstrauisch. Ein Glück, dass Aaron auch nicht nach einer Beziehung sucht. BROS hat alles, was eine gute Rom-Com ausmacht. Ein liebenswertes Paar, das tatsächlich auf den ersten Blick nicht so recht zueinander zu passen scheint, aber echtes Feuer und eine eigene Sprache entwickelt. Einen richtigen Konflikt, der mitfiebern lässt. Und natürlich Dialogwitz, Situationskomik und Tempo, Tempo, Tempo. Den Dialogwitz stemmt in weiten Teilen Bobby/Eichner, der absolut nichts unkommentiert durchgehen lassen kann und sich dabei um Kopf und Kragen redet. Sehr schön ist aber auch, wie Aaron mit seiner ruhigen Art und einem verschmitzten Blick das ganze Wortsoufflé zum Einsturz bringen kann. Und dann ist da noch der divers besetzte und sehr streitbare Vereinsvorstand des LGBTQ+ Museums und die Frage, was denn nun in den letzten Ausstellungsraum soll? Ein absolut fulminantes Drehbuch (Oscar 2023?!) hält die Handlungsstränge und Ideen zusammen und schafft es, gleichermaßen zu erzählen, dass Liebe natürlich Liebe ist, aber dann wiederum eben auch nicht. Oder, wie es ausgerechnet der meinungsstarke Bobby formuliert „We need to be more fluid.“ D Hendrike Bake
Start am 27.10.2022
Sero grows up on the Syrian-Turkish border as the child of Kurdish parents. At a time of escalating nationalism, there are also moments of a normal childhood.
Deutschland 2022 D 90 min D R: Lukas Rinker D B: Lukas Rinker D K: Knut Adass D M: Andreas Lucas D D: Thomas Niehaus, Gedeon Burkhard, Micaela Schäfer, Friederike Kempter, Uke Bosse D V: drop-out Cinema
Frank wakes up. He’s in a portable toilet. The toilet is in a construction pit. Frank has to free himself. Lukas Rinker confidently switches between a highly tense thriller, pitch-black comedy and violent splatter.
ACH DU SCHEISSE
Gefangen im Dixie-Klo
Kleines Budget – kleiner Raum – super Idee – krasse Umsetzung: ACH DU SCHEISSE! zeigt, wie man einen Film machen kann, und wie man sich dabei herauswindet aus Vorurteilen und Klischees zum deutschen Kino: verweichlicht und harmlos, fernsehgerecht und massentauglich, das alles vermeidet Lukas Ringer tunlichst. Dabei gäbe es eine Menge Möglichkeiten für simplen Pipikacka-Humor, der ja im deutschen Film auch gerne als Zutat genommen wird … Frank erwacht. Er liegt im Dixiklo. Das Dixiklo liegt in einer Baugrube. Frank muss sich befreien. Er hat einen Hammer und einen Meterstab, einen Laser-Entfernungsmesser, und dann ist da noch der Koffer des Bürgermeisters. Das Handy liegt unten in der Toilettensoße, die Tür ist abgeschlossen, und Franks rechter Arm ist festgenagelt von einem Eisenstab. In einer halben Stunde wird alles in die Luft gesprengt. Und Frank muss sich befreien, rekonstruiert nebenbei in Erinnerungsblitzen das Geschehene, spricht mit dem Klodeckel, klärt ein psychopathisches Verbrechen auf. Er ist Architekt, Planung ist sein Leben, das kommt ihm zugute, aber das Handy fällt in die Fäkalien, die brennende Hose, die er als Signal rausbugsiert, verpasst ihm fast eine Rauchvergiftung, das Kaninchen, das er an die Sprengkabel lockt, hoppelt weg. Es geht um Verrat und um Beziehungskrise, um Wahnsinn und Mord, um den Gamsbartkauz; es geht um Blut und Ekel und um den unbedingten Überlebenswillen, dem das alles scheißegal ist. Lukas Rinker holt alles raus aus dem Schauplatz Klo und der Figur Frank. So einfallsreich hat man selten jemanden mit dem Minimalismus spielen sehen. Rinker inszeniert völlig souverän zwischen Hochspannungsthriller, pechschwarzer Komödie und heftigem Splatter – so ein Film ist bisher nicht in Deutschland produziert
worden. D Harald Mühlbeyer Start am 20.10.2022
ANIMA
Die Kleider meines Vaters
„Ein fi lmisches Feuerwerk mit Fantasie und Humor“
Festival Max Ophüls Preis
„Die Sehnsucht nach einer diversen und freieren Welt“
Achtung Berlin Film Festival
Ein Dokumentarfi lm von Uli Decker
/ ANIMAderfilm / anima_derfilm
AB 20. OKTOBER IM KINO
AB 29. SEPTEMBER IM KINO
PREMIEREN MIT REGISSEURIN Mo. 26.9.2022 18 Uhr fsk Kino 19:30 Uhr Hackesche Höfe Kino
Deutschland 2021 D 110 min D R: Martin Gressmann D K: Volker Gläser, Sabine Herpich D S: Stefan Oliveira-Pita D M: Brynmor Jones D V: Edition Salzgeber
NICHT VERRECKEN
Todesmärsche
Martin Gressmanns Dokumentarfilm über die Todesmärsche aus dem KZ Sachsenhausen enthüllt Details der Grausamkeit am Ende des Zweiten Weltkriegs. Gressmanns Film konzentriert sich auf eine Route, aber manche seiner betagten Gesprächspartner waren bereits aus anderen Lagern im Osten nach Sachsenhausen, wenige Kilometer nördlich von Berlin marschiert. Simcha Applebaum aus Ostpolen war bereits seit Januar auf Todesmärschen von Auschwitz nach Gleiwitz, zum KZ Buchenwald und nach Sachsenhausen. Zwangsmärsche hatte es im KZ Sachsenhausen schon früher gegeben: Deutsche Unternehmen, darunter Salamander, Continental, Bata, Leiser und Freudenberg (Vileda) unterhielten im KZ eine Schuhprüfstrecke, auf der Gefangene bis zum Umfallen marschieren mussten, um Lederersatzstoffe zu testen, die dann nach dem Krieg zur Marktreife kamen. Die Männer, die hier zu Wort kommen, waren zwischen 15 und 24 Jahre alt, als sie von der SS mit Peitschen und Hunden, ohne Wasser und Verpflegung, auf Nebenwegen durch Brandenburg und Mecklenburg getrieben wurden. Wer zurückblieb, wurde erschossen und am Wegrand liegen gelassen. Wenn die Kolonnen rasteten, fanden sie oft nicht einmal mehr Gras oder Wurzeln zum Essen, weil zuvor bereits andere Kolonnen durchgezogen waren. Gressmann folgt den Wegen der Kolonnen, filmt die Orte, an denen die SS mordete. Manchmal sind noch Zeichen der Geschichte zu erkennen. Im Belower Wald, wo die SS ein improvisiertes Lager eingerichtet hatten, ist noch zu erkennen, dass die Gefangenen die Rinde von Bäumen schälten, um etwas essen zu können, und dass manche Zeichen und Bilder in die Rinde kratzten. Ein geduldiger, sorgfältiger Film, an dem Gressmann, wie schon an DAS GELÄNDE (2016) über die Orte der SS- und Gestapo-Führung in Berlin, meh-
rere Jahre arbeitete. D Tom Dorow Start am 13.10.2022
Martin Gressmann‘s documentary NICHT VERRECKEN about the death marches at Sachsenhausen concentration camp is a patient, meticulous film.
ANImA: DIE KLEIDER mEINES VATERS
In Oberbayern wächst Uli zwischen Blaskapellen, Bibelkreis und neugierigen Nachbar*innen auf. Von klein auf hadert sie mit den starren Geschlechterrollen, die man nicht nur in ihrem Heimatdorf, sondern auch in ihrer Familie hochhält. Kurz bevor der Vater stirbt, sagt ihre Mutter den Satz zu Uli und ihrer Schwester, der alles verändert: „Euer Vater war Transvestit.“ Im Nachlass ihres Vaters findet Uli Decker Frauenkleider, Kosmetik und Tagebücher – und dreht einen Film über das jahrzehntelang streng gehütete Familiengeheimnis.
Start am 20.10.2022
Deutschland 2021 D 94 min D R: Uli Decker
mUTTER mUTTER KIND
Per Zeitungsannonce suchen Pedi und Anni einen Samenspender. Mit dem Kinderwunsch des Paares beginnt das Langzeitporträt über eine Familie, die mit traditionellen Vorstellungen bricht. Die beiden Frauen finden Eike und bekommen drei Söhne. Jahre später taucht ein Mädchen auf, das ihre Brüder kennenlernen will – offenbar hat Eike noch mehr Frauen geholfen, wovon Pedi und Anni nicht wussten.
Start am 20.10.2022
Deutschland 2021 D 97 min D R: Annette Ernst
THE NORTH DRIFT – PLASTIK IN STRÖmEN
Der Regisseur Steffen Krones hat eine Frage: Nördlich des Polarkreises auf den Lofoten haben er und sein Freund Kris Plastik und Bierdosen entdeckt, die aus Deutschland stammen. Kann es wirklich sein, dass der Müll den ganzen Weg von seiner Heimatstadt Dresden bis ins Polarmeer zurücklegt? Steffen beschließt, das praktisch nachzuweisen, indem er „Drifter“ baut, Schwimmobjekte mit Peilsender. Während die erstmal Richtung Hamburg treiben, trifft Steffen Expert*innen, die sich mit den Auswirkungen des Plastikmülls auf das Polarmeer beschäftigen.
Start am 27.10.2022
Deutschland 2022 D 94 min D R: Steffen Krones
WILD – JäGER UND SAmmLER
Die Liebe zur Natur hat viele Formen – manche verzichten auf tierische Nahrungsmittel, andere gehen Wandern oder Waldbaden, wieder andere erschießen Wild. Wie das zusammengeht, zeigt der Dokumentarfilm über Hobby- und Berufsjäger in den Schweizer Alpen. Im Laufe des exzellent gedrehten Films scheinen unterschiedliche Motivationen für das Jagen auf: die Kameradschaft der Jäger*innen, der Schutz von Ökosystemen, die Pflege lokaler Bräuche und die Lust am Töten. Der Ambivalenz ihrer Tätigkeit scheinen sich die Jäger*innen – allen voran der Regisseur und Jäger Mario Theus selbst – sehr bewusst zu sein.
Start am 20.10.2022
Schweiz 2021 D 88 min D R: Mario Theus