INDIEKINO MAG #22, Oktober 2022

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TRIANGLE OF SADNESS – START Am 13.10.2022 D 22 D OKTOBER 2022mAGAzIN FÜR uNABhäNGIGES KINO indiekinomAG D TRIANGLE OF SADNESS Bitterböses Panorama D IN EINEm LAND, DAS ES NIChT mEhR GIBT Unter dem Radar D TAuSEND zEILEN Relotius-Affäre D NAChBARN Syrische Kindheit D WAS DEIN hERz DIR SAGT Nichts zu verlieren D IGOR LEVIT. NO FEAR Zuallererst Zuhören D mONA LISA AND ThE BLOOD mOON Fantastischer Trip D RImINI Die Zeit steht nicht still D BELLEVILLE. BELLE ET REBELLE Hemmungslos nostalgisch D RADICAL DREAmER – WERNER hERzOG Mystischer Mythos SChWEIGEND STEhT DER WALD Erstaunlich fies D GIRL GANG Modernes Märchen D mARTIN SuTER. ALLES AuSSER DER WAhRhEIT Geschichtenerzähler D ACh Du SChEISSE! Gefangen im Dixie-Klo
Organisiert von In Kooperation mit
Im Kino und als Stream hrffb.de
BEYOND REDLINES

Der Oktober bringt den Cannes-Gewinner. In TRIANGLE OF SAD NESS zeichnet Ruben Östlund (THE SQUARE) das bitterböse Por trät einer unheilbaren Klassengesellschaft. Ana Lily Amirpour (A GIRL WALKS HOME ALONE AT NIGHT) ist mit dem trippigen MONA LISA AND THE BLOOD MOON zurück, einer Außenseiterstory in New Orleans, und Aelrun Goette erzählt in IN EINEM LAND, DAS ES NICHT MEHR GIBT eine autofiktionale Geschichte aus der DDR-Mo deszene der 1980er Jahre. Mit BROS kommt die erste Mainstre am-Rom-Com ins Kino, die einen überwiegend queeren Cast und

ein schwules Paar im Zentrum hat – den schlaksigen, lebhaften und ziemlich grantigen Leiter des LGBTQ+ Museums Bobby (Comedian Billy Eichner), und den durchtrainierten und eher zurückhaltenden Notar Aaron (Luke Mcfarlane). Außerdem beschäftigen sich Doku mentarfilme mit dem Schweizer Schriftsteller Martin Suter, der Filmemacherlegende Werner Herzog und dem Pianisten Igor Levit.

Viel Spaß beim Lesen und viel Spaß im Kino Eure INDIEKINO Redaktion

04 mAGAzIN

06 „DIE SChLIChTE LÖSuNG LAuTET: BEuTE KEINE mENSChEN AuS!“ INTERVIEW mIT RuBEN ÖSTLuND ÜBER TRIANGLE OF SADNESS

22 DIE zEIT STEhT NIChT STILL RImINI

28 „FÜR mICh IST DER GRÖSSTE ANTAGONIST ImmER DAS SYSTEm“ INTERVIEW mIT ANA LILY AmIRPOuR ÜBER mONA LISA AND ThE BLOOD mOON

30 NAChBILD

31 KINOS, ImPRESSum, ABONNEmENT

NEu Im OKTOBER

13 Ach du Scheisse!

10 Alles über Martin Suter. Ausser die Wahrheit

14 Anima - Die Kleider meines Vaters

24 Atlas

18 Belleville. Belle et rebelle

12 Bros

STARTS DER WOChE

29.9.

10 Tausend Zeilen

6.10.

10 Alles über Martin Suter. Ausser die Wahrheit

25 Drop Out (WA)

20 Horizont

19 Igor Levit. No Fear

11 In einem Land, das es nicht mehr gibt

25 Drop Out (WA)

26 Girl Gang

20 Horizont

19 Igor Levit. No Fear

11 In einem Land, das es nicht mehr gibt

16 Mona Lisa and the Blood Moon

14 Mutter Mutter Kind

12 Nachbarn

24 Der Nachname

14 Nicht verRecken

15 The North Drift – Plastik in Strömen

25 November

20 Der Passfälscher

24 Rheingold

22 Rimini

24 Rise up

16 Mona Lisa and the Blood Moon

22 Rimini

26 Vesper Chronicles

15 Wild – Jäger und Sammler

13.10.

18 Belleville. Belle et rebelle

12 Nachbarn

14 Nicht verRecken

20 Der Passfälscher

6 Triangle of Sadness

20.10.

13 Ach du Scheisse!

26 Girl Gang

14 Mutter Mutter Kind

24 Der Nachname

25 November

21 Was dein Herz dir sagt –Adieu ihr Idioten!

27.10.

14 Anima – Die Kleider meines Vaters

24 Atlas

18 Schweigend steht der Wald

10 Tausend Zeilen

6 Triangle of Sadness

26 Vesper Chronicles

21 Was dein Herz dir sagt –Adieu ihr Idioten!

23 Werner Herzog –Radical Dreamer

15 Wild – Jäger und Sammler

12 Bros

15

The North Drift –Plastik in Strömen

24 Rheingold

24 Rise up

18 Schweigend steht der Wald

23 Werner Herzog –Radical Dreamer

OKTOBER 2022 D 3 D
EDITORIAL

INDIEKINO CLuB

Im Oktober zeigt der Club die unverwüstlichen Klassiker SOLARIS (Russland 1972) von Andrei Tarkowski und DRAGON INN (Taiwan 1967) von King Hu. In der zauberhaft feministischen Horrorkomödie THE LOVE WITCH (USA 2021) von Anna Biller rührt die moderne Hexe Elaine Männern Liebestränke ein – mit gemischten Ergebnissen und in unserer „Asia Noir“ Sonderreihe freuen wir uns sehr auf BRANDED TO KILL (Japan 1967): Aus den Tropen des Noir- und Yakuza-Genres komponiert Seijun Suzuki eine fast abstrakte Todesmelodie. Es gibt keinerlei Psychologie, nur einen Taumel in den Untergang. Die elliptische Erzählweise zeigt nur Ergebnisse und Zustände, keine Entwicklungen, keine Prozesse. Die brutalistische Architektur hat nicht einmal Antonioni so kalt, so morbide und so sexy gefilmt. indiekino-club.de

AuS DEN PARTNERKINOS: CINEmA DELLA

CASA

Im Casablanca Nürnberg stellen einmal im Monat Mitarbeiter*innen Lieblingsfilme im „Cinema della Casa – Kino nach Art des Hauses“ vor. Es laufen Filme „nicht, weil ein Verleih sie auf den Startkalender gesetzt hat oder weil wir sie im Rah men einer Kooperation ausgesucht haben, sondern deshalb, weil jemand von uns der Meinung war, dass genau dieser Film (noch) einmal gezeigt werden muss.“ Am 17.10. zeigt Vorführerin Diana: MESSER IM HERZ, Erotik-Psycho-Melodram und Hommage ans französische Underground-Kino der 70er Jahre. casablanca-nuernberg.de

DOK LEIPzIG

Vom 17.–23.10. findet mit DOK Leipzig das deutschlandweit wichtigste Festival für Dokumentar- und Animationsfilm statt. Als Eröffnungsfilm wird NO DOGS OR ITALIANS ALLOWED gezeigt, in dem der französische Regisseur und Drehbuchautor Alain Ughetto mit Hilfe von Stop-Motion-Animation das Leben seiner Großeltern in Norditalien und deren Migration nach Frankreich im frühen 20. Jahrhundert nachzeichnet. Zwei Filmreihen widmen sich dem Klima-Aktivismus, und die diesjährige Retrospektive würdigt in sechs Programmen „Die Dokumentaristinnen der DDR“. dok-leipzig.de

SPRÜhENDE REALITäT: SPANISChER DOKFILm

Spanien ist in diesem Jahr mit dem Motto „Creatividad Desbordante“ Gastland der Frankfurter Buch messe und hat ein Filmprogramm kuratiert, das unter dem Titel “Die sprühende Realität. Unabhängiges spanisches Kino (2015-2020)” ab Oktober auf Tournee geht. Zehn Filme, ausgewählt von fünf Kurator*in nen aus der spanischen Film- und Festivalszene, präsentieren aktuel les Dokfilmschaffen, vom Interviewfilm CONVERSO, in dem Regisseur David Arratibel versucht herauszufinden, warum seine Schwestern zum Katholizismus konvertiert sind, bis hin zur Rekonstruktion einer Kindheit aus VHS-Aufnahmen in Emma Tussels VIDEO BLUES.

Video Blues The Love Witch
D 4 D OKTOBER 2022
IN DIEMAGAZIN

BEST OF CINEmA: RESERVOIR

DOGS

Die „Best of Cinema“ Filmreihe holt am 4.10. Quentin Tarantinos dichtes und dreckiges Debüt wieder ins Kino. Nachdem ein Raubüberfall geplatzt ist, treffen sich die über lebenden Gangster – Tim Roth, Harvey Keitel, Steve Buscemi und Michael Madsen – in einer Lagerhalle wieder. Außer ihren Decknamen wissen die Kleingangster nichts voneinander. Nur so viel: Es gibt einen Maulwurf unter ihnen.

INTERNATIONAL QuEER FILm

FESTIVAL hh

Das „International Queer Festival Hamburg“, 1989 aus einer studentischen Initiative entstanden als „Lesbisch Schwule Filmtage Hamburg“, ist Deutschlands ältestes, größtes und von Beginn an queeres Filmfestival. Jedes Jahr besuchen an 15.000 Zuschauer*innen die Filmvorführun gen, Workshops und Partys. In diesem Jahr tagt es vom 18.23.10. Das Programm stand zu Redaktionsschluss noch nicht fest. lsf-hamburg.de

VERLOSuNG: SuNDOWN

Der Mexi

kaner Michel Franco ist einer der vielversprechendsten jungen Filmemacher. Nach seinem Polit-Thriller NEW ORDER (2021) hat er mit SUNDOWN ein sonnig-morbides Familiendrama in Acapulco gedreht: Neil (Tim Roth) und Alice (Charlotte Gains bourgh) erreicht im Luxusurlaub die Nachricht eines Todesfalls in der Familie. Alice fliegt zurück nach Eng land, aber Neil drückt sich um die Rückkehr. Wir verlosen zwei DVDs oder Blurays. Bei Interesse schreibt uns bis zum 15.10. an info@ indiekino.de, Stichwort: Sundown.

CHARLBI DEAN HARRIS DICKINSON WOODY HARRELSON
AB 1 3 . OKTOBER IM KINO TRI ANGLE OF SADNESS EIN FILM VON RUBEN ÖSTLUND
UND www.triangleofsadness-film.de „DIE PERFEKTE KOMÖDIEFÜR UNSERE ZEIT“ TIME OUT

In seinen Filmen seziert Ruben Östlund die bürgerliche Gesell schaft. In PLAY – NUR EIN SPIEL (2011) war Alltagsrassismus Thema, in HÖHERE GEWALT (2014) die moderne Kleinfamilie und ihr möglichweise doch nicht so aufgeklärtes Rollenverständnis, und die Satire THE SQUARE, die 2017 die Goldene Palme gewann, amü sierte sich mit dem Kunstzirkus. In TRIANGLE OF SADNESS, der in diesem Jahr die Fimfestspiele in Cannes gewonnen hat, nimmt sich der Regisseur, der mit einer deutschen Modefotografin verheiratet ist, die Welt der Reichen und Schönen vor. Dieter Oßwald hat sich mit Ruben Östlund über seinen neuen Film unterhalten.

Die schlichte lösung lautet: Beute keine Menschen aus!

INDIEKINO: Herr Östlund, muss man sich Zyniker als glückliche Menschen vorstellen? In der Mode-Show zu Beginn von TRI ANGLE OF SADNESS sagt ein Schriftzug: „Zynismus maskiert sich als Optimismus.“

Ruben Östlund: Ursprünglich hatte das Wort Zyniker eine ganz andere Bedeutung als heute. Im antiken Griechenland war das eine Bewegung, die eine kritische Haltung zur Gesellschaft hatte. Sehr beängstigend finde ich die heutige Bedeutung, die mit die sem Spruch auf der Mode-Show im Film zum Ausdruck kommt: „Zynismus maskiert sich als Optimismus“.

Wie sieht diese Maskierung aus?

Schauen Sie sich doch nur dieses ganze „Greenwashing“ an, wo sich große Unternehmen mit positiven Werten schmücken. Und die Menschen klicken dazu in sozialen Medien brav mit einem Daumen nach oben. Das ist übelste Realsatire, die Kunst gar nicht mehr steigern kann. Große gesellschaftliche Fragen, wie die Klimakrise, auf das Individuelle herunterzubrechen, ist der größte Zynismus unserer Zeit. Zu behaupten, man verzichte jetzt mehr aufs Fliegen, ist grotesk. Denn das ändert wenig, für eine Lösung braucht es Beschränkungen auf globaler Ebene.

Als Mode-Fotografin steckt Ihre Frau mitten in dieser GlamourIndustrie

Meine Frau ist keine Zynikerin, sie verdummt auch keine Men schen. Sie würde nie von nachhaltiger Mode sprechen, weil sie genau weiß, dass so eine Bezeichnung völliger Unsinn ist. Mode wird jedes Frühjahr und jeden Herbst neu in die Läden gebracht, da kann doch niemand von „nachhaltig“ sprechen!

Verstehen Sie sich als ein Moralist?

Moralisten sind Typen, die anderen immer erklären, was sie falsch machen. Ich zeige nicht gerne mit dem Finger auf andere, ich zeige lieber auf mich selbst. Mit sämtlichen schlechten Eigen schaften und Fehlern meiner Figuren kann ich mich identifizieren! Bei einer Lawine hätte ich wohl auch feige meine Familie verlas sen. Als Museumschef hätte ich skrupellos meine Macht miss braucht. Und ich verstehe, wie die alte Frau im Rettungsboot ihre Position gnadenlos für Sex mit einem hübschen Model ausnutzt. Nein, ich bin also kein Moralist! (Lacht)

Ihr Model ist jung und hübsch und verdient sein Geld damit. Was bedeutet Schönheit für Sie?

Meine Mutter, eine Lehrerin, sagte immer: „Alle Kinder sind schön!“. Aber wenn wir irgendwann die Konkurrenz und unsere Position in der Hierarchie spüren, dann passiert etwas. Wenn eine sehr schöne Person einen Raum betritt, ändert das die ganz Dynamik in diesem Raum. Es lässt sich nicht leugnen, dass es eine objektive Schönheit gibt. Attraktivität ist eine Währung, die man ohne Geld, ohne Abstammung und ohne Ausbildung

… D 6 D OKTOBER 2022
IN DIEFEATURE

bekommen kann. Wer aus ärmsten Verhältnissen stammt, für den kann Schönheit der Jackpot zum gesellschaftlichen Aufstieg sein.

Der britische „Guardian“ beschrieb Ihre filmische Methode als „Vorschlaghammer und Skalpell“ - teilen Sie die Einschätzung?

Das ist ein wunderbares Kompliment. Das notiere ich mir gleich einmal! Zu meinen Idolen gehört Michael Haneke, der steht wirk lich für das Skalpell im Kino. Zugleich wollte ich wild und über raschend sein. Ich möchte wegkommen vom Arthouse-Kino, wie es heute aussieht. Mein Konzept war eine wilde, unterhaltsame Achterbahn für Erwachsene.

Die Achterbahn wäre zu schlicht, warfen Ihnen manche Kritiker in Cannes vor. Was sagen Sie denen?

Fuck You! (Lacht) Wir sagen gerne, die Probleme unserer Gesell schaft wären sehr komplex. Das stimmt aber nicht. Die schlichte Lösung lautet: Beute keine Menschen aus! So einfach ist das, damit wäre das Problem gelöst. Aber wir leben in einer Welt, in der wir die Ausbeutung von Menschen akzeptieren. Und in der wir uns komfortabel in dieser Position eingerichtet haben. Menschen geben nur ungern ihre Privilegien ab. Doch das müssten wir alle gemeinsam und gleichzeitig tun.

Wie fühlen Sie sich mit dieser Einstellung im dekadenten Cham pagner-Kosmos von Cannes mit Glamour, Bonzen und dicken

Yachten? Haben Sie je daran gedacht, die zweite Palme zu verweigern?

Nein, ich möchte jetzt auch noch eine dritte Palme haben! Für mich ist der Preis Fiktion, das nehme ich nicht allzu ernst. Can nes bietet eine großartige Bühne, um einen Film wie meinen einem möglichst großen Publikum zu präsentieren. Natürlich ist man glücklich über die bloße Teilnahme und erst recht über eine Auszeichnung. Aber übertrieben ernst kann man das nicht nehmen.

Mit Iris Berben engagieren Sie einen der wenigen deutschen Stars, lassen sie aber nur immer denselben Satz „In den Wolken“ sprechen. Was hat es damit auf sich?

Die Figur basiert zu hundert Prozent auf meiner Schwiegermutter. Ich bin sehr glücklich, dass ich Iris für den Film gewinnen konnte, für mich spielt sie diese Rolle absolut fantastisch.

Was wird Ihr nächstes Projekt?

Es geht um einen Langstreckenflug, bei dem gleich nach dem Start das Unterhaltungsprogramm ausfällt. Die Passagiere erwar tet ein fünfzehnstündiger Flug ohne jede digitale Ablenkung. So wird das Flugzeug im Film zum Laboratorium für ein soziologi sches Experiment. Der Titel lautet „The Entertainment-System is down“.

D Das Gespräch führte Dieter Oßwald

OKTOBER 2022 D 7 D
IN DIEFEATURE

TRIANGLE OF SADNESS

„Jetzt Balenciaga!“ Die Riege männlicher Models macht ernste, kantige Gesichter. Jeder für sich und gegen die Welt. „Jetzt H&M!“ Alle präsentieren ihr strahlendstes Lächeln und machen auf Freundesgruppe. „Balenciaga! H&M! Balenciaga! H&M!“ Wie eine menschliche Lichterkette knipsen die jungen Männer ihr Lächeln an und aus. Einer von ihnen ist Carl (Harris Dickinson), male Model im Abstieg begriffen. Seine Freundin, die Influencerin Yaya (Charlbi Dean) ist gerade im Kommen, trotzdem lässt sie ihn beim Dinner zahlen. Die Szene im Restaurant, bei der Yaya und Carl Geld, Status und Rollenverteilung verhandeln, gehört zu den besten des Films und erinnert an Ruben Östlunds HÖHERE GEWALT (2014), in dem er sehr präzise, gemein und amüsant eine Paarbeziehung vor dem Hintergrund eines schicken Ski-Ressorts auseinandernahm.

Der Rest der dystopischen Satire in drei Akten, die in Cannes die ses Jahr mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde, knüpft eher an Östlunds THE SQUARE (2017) an, ebenfalls ein Palme d’Or-Gewinner. Waren damals die großbürgerliche Kunstwelt und ihre hohlen Rituale die Zielscheibe für Östlunds Breitseiten, sind es diesmal die Superreichen und Superschönen, kurz, Menschen mit Kapital. Yaya nimmt Carl als Begleitung auf eine Luxus-Kreuz fahrt mit, die sie promoten soll. Dort treffen sie unter anderem auf einen jovialen russischen Düngemittel-Unternehmer (Zlatko Buric) nebst Frau und Geliebter und ein distinguiert wirkendes britisches Waffenhändlerpärchen. Die Mitreisenden sind so, wie man sie aus DER DISKRETE CHARME DER BOURGEOISIE oder DAS GROSSE FRESSEN kennt, wahlweise langweilig, vulgär, ego istisch oder selbstgerecht, und ohne jedes Geheimnis. Aber Öst lund hat auch die Angestellten im Blick – den versoffenen Kapitän (Woody Harrelson), die zackige Chefstewardess Paula (Vicky Ber lin), das Personal an und das unter Deck – und die Beziehungen zwischen denen mit Kapital und denen ohne.

Ähnlich wie in THE SQUARE inszeniert Östlund das als deftige Satire mit psychologischen Einsprengseln und surrealen, fast

theaterhaften Momenten, der dritte Akt hat dann sogar etwas von „Warten auf Godot“. Ein Sammelsurium aus Gästen und Mannschaft – darunter Carl und Yaya, der russische Unterneh mer und die philippinische Putzfrau Abigail (Dolly De Leon) – hat sich nach einer Havarie auf eine einsame Insel gerettet und hofft dort auf Rettung. Ein Kiesstrand, ein Rettungsboot, ein Esel und Salzstangen nehmen tragende Rollen ein, und schon nach weni gen Stunden hat sich eine neue Hierarchie etabliert, mit Abigail, die als einzige in der Wildnis Nahrung zu beschaffen vermag, an der Spitze.

TRIANGLE OF SADNESS hat fulminante Momente, vor allem den rasanten Einstieg und das bitterböse Ende, zwischendrin gibt es auch ein paar Längen. Das Gesellschaftspanorama, das Östlund zeichnet, scheint manchmal etwas einfach konstruiert, dann wie der – etwa wenn die Reichen darauf bestehen, dass das Personal „Spaß“ hat, um selbst die Klassenunterschiede nicht so merken zu müssen – auf den Punkt. Der Film knapst an der gleichen Widersprüchlichkeit, wie schon THE SQUARE: Östlund prangert die Nutznießer*innen eines Systems an, das ausschließlich auf Verwertbarkeit ausgerichtet ist, aber er scheint nicht in der Lage, sich ein anderes System überhaupt vorzustellen. Ähnlich wie William Goldings Roman „Lord of the Flies“ liegt TRIANGLE OF SADNESS ein zutiefst pessimistisches Menschenbild zugrunde. Sobald man die bisherigen Zwänge wegnimmt, bildet sich eine neue Klassengesellschaft. Lediglich Kapitän Woody Harrelson stellt sich gegen die Verhältnisse, wenn er im Suff beim Cap tain‘s Dinner Marx zitiert – ohne jede Wirkung, aber mit Gefühl.

D Hendrike Bake ¢ Start am 13.10.2022 Ruben Östlunds target in THE SQUARE was the upper class art world and their empty rituals, and this time it’s the super rich and super beautiful, in short, people with capital. The dystopian social satire in three acts won the Palm D’Or at Cannes 2022.Triangle Of Sadness Schweden 2022 D 147 min D R: Ruben Östlund D B: Ruben Östlund D K: Fredrik Wenzel D S: Mikel Cee Karlsson, Ruben Östlund D D: Harris Dickinson, Charlbi Dean Kriek, Woody Harrelson, Vicky Berlin, Zlatko Buric, Iris Berben, Amanda Walker, Oliver Ford Davies, Sunnyi Melles, Dolly De Leon D V: Alamode Filmverleih
IN DIEFEATURE D 8 D OKTOBER 2022
www.InEinemLand.de EIN FILM VON AELRUN GOETTE © 2022 ZIEGLER FILM GMBH & CO. KG TOBIS FILM GMBH STUDIO BABELSBERG AG GRETCHENFILM GMBH RBB DEGETO FILM GMBH WDR MDR SWR INSPIRIERT VON WAHREN BEGEBENHEITEN MARLENE BUROW SABIN TAMBREA DAVID SCHÜTTER CLAUDIA MICHELSEN JÖRDIS TRIEBEL AB 6. OKTOBER IM KINO

TAUSEND ZEILEN

Michael „Bully“ Herbigs Film TAUSEND ZEILEN beruht auf dem Buch „Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deut sche Journalismus“ von Juan Moreno, der während der Arbeit an einem gemeinsamen Artikel mit dem vielfach ausgezeichneten „Spiegel“-Journalisten Claas Relotius entdeckte, dass der seine Artikel mit frei erfundenen Erlebnissen, Interviews und Begegnun gen angereichert hatte. Herbigs Film ist eine Komödie, und das Vorbild SCHTONK! über die „Stern“-Affäre und die gefälschten Hitler-Tagebücher ist schon an den pomadigen Frisuren der Redak teure wiederzuerkennen. Herbig schlägt komische Funken aus der Nettigkeit von „Lars Bogenius“ (Jonas Nay), die sich freilich später als Tarnung für schnöselige Heimtücke entpuppt. Elyas M’Barek als „Juan Romero“ ist sympathisch und komisch und zeigt einige sou veräne Slapstick-Standardsituation. Wenn der Film etwas kritisiert, dann, dass Relotius geschrieben hat, was die Redakteure erwartet haben und was in das ideologische Gerüst des Magazins passt. Das reicht nicht wirklich für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema, und es spiegelt die talking points von Positionen, die am liebsten auch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk abschaffen würden und „objektive Berichterstattung“ fordern, als könne es die geben. Das Problem ist nicht, dass sich die politischen Positio nen der Redaktionen in deren Inhalten spiegeln, ob bei „Spiegel“, „Welt“ oder „Junge Welt“. Das Problem ist eine der Form von politi scher Kommunikation und politischer Öffentlichkeit. Bully Herbigs satirische Komödie ist nettes Unterhaltungskino, das das Schnö seltum, die verblendete Arroganz und die Ambitionen von Karrie retextern auf die Schippe nimmt. Das ist ganz in Ordnung. Eine Art BAD BANKS über die Krise der Öffentlichkeit wäre auch schön, aber das kann ja noch kommen. D Tom Dorow  Start am 29.9.2022

ALLES ÜBER mARTIN SUTER. AUSSER DIE WAHRHEIT

Ein Schriftsteller und seine Geschichten Ein leeres Blatt am Abend, das kennt er nicht. Wenn Martin Suter arbeitet, steht am Ende des Tages auch etwas auf dem Papier. Manchmal ist es nicht richtig gut, das räumt er ein. Aber Suter verfolgt sein Schriftstellerdasein mit Beharrlichkeit und Disziplin. Sein ewiges Motiv ist dabei so zugänglich und rätselhaft wie er selbst: „Ich möchte eine Geschichte mit einem Geheimnis erzäh len“. So wurde Suter im Laufe der letzten 25 Jahre zu einem der erfolgreichsten Schweizer Schriftsteller der Gegenwart. Aber als solchen stellt ihn André Schäfer in seinem Film nicht vor – oder nicht direkt. Er lässt Suter auf seine eigenen Figuren treffen, die ein Erzähler (Andreas Fröhlich) zum Leben erweckt. Auf diese Weise lernen die Zuschauer Autor und Werk gleichermaßen ken nen, wobei der heute 74-jährige Suter, der in der Öffentlichkeit am liebsten Anzug und Krawatte trägt, stets auf der Hut ist, am Ende nicht zu viel von sich preiszugeben. Etwa dass er zunächst Werbetexter und Kolumnist war, bevor er sich 1997 an sein erstes Buch wagte. Überraschend nah wirken dagegen die Szenen, in denen er gemeinsam mit seiner Familie über den 2009 verstor benen Adoptivsohn spricht. Es ist der Moment, in dem die Wahr heit am klarsten und schmerzlichsten zu Tage tritt. Davor und danach zeigt Schäfer vor allem, wie Suter selbst immer wieder Teil der Inszenierung ist, als Außenstehender, als würde er sich seine eigenen Romane anschauen. Es ist ein reizvoller Ansatz, weil Suters Geschichten einen unmittelbar in ihren Bann ziehen, auch wenn man sie nur in Fragmenten zu hören bekommt. Am spannendsten sind jedoch die Augenblicke, in denen wir dem Schriftsteller begegnen, wenn er mal ernst, mal voller Schalk und Selbstironie über sich selbst und die Suche nach der seiner Iden tität als Künstler spricht. D Pamela Jahn  Start am 6.10.2022

Schweiz 2022 D 90 min D R: André Schäfer D K: Andi Widmer D S: Fritz Busse D M: Martin Skalsky D D: Martin Suter, Margrith Nay Suter, Ana Suter, Stephan Eicher, Benjamin von Stuckrad-Barre, Bastian Schweinsteiger, Philipp Keel D V: DCM Film Distribution Swiss writer Martin Suter writes crime novels with socially critical elements. The portrait of the writer shows him in private and professional situations and lets him dive into his own world of fiction. Bully Herbig’s adaptation of Juan Moreno’s “Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus” is a comedy and its role model, SCHTONK, can immediately be identified because of the editors’ greasy hairstyles. Deutschland 2021 D 93 min D R: Michael Bully Herbig D K: Torsten Breuer D S: Alexander Dittner D M: Ralf Wengenmayr D D: Elyas M’Barek, Jonas Nay D V: Warner Bros.
D 10 D OKTOBER 2022 Termine unTer www.indiekino.de in DiekriTiken

IN EINEm LAND, DAS ES NICHT mEHR GIBT

Unter dem Radar

Aelrun Goette ist vor allem für ihre abgründigen dokumentari schen Psychogramme von Frauen bekannt geworden (DIE KIN DER SIND TOT). Das Drehbuch zu IN EINEM LAND, DAS ES NICHT MEHR GIBT basiert auf der eigenen Geschichte der Regisseurin. Goette durfte ebenso wie ihre Hauptfigur Suzie in der DDR erst nicht studieren, weil man sie mit einem Aufnäher der Friedensbe wegung erwischte, und wurde dann Ende der 80er auf der Straße als Model für die Sybille, die Vogue des Ostens, entdeckt. Diese „Nische, in der eine Freiheit lebendig war, die ich so im Westen nie wieder erlebt habe“, so Goette, inszeniert die Filmemache rin in den besten Momenten à la SOLO SUNNY. Allerdings ist Marlene Burow nicht Renate Krößner. Sie ist wunderschön, fast

ätherisch, es fehlen aber die Untiefen. Zwar deutet Goette an, welche Felder die junge Frau zu bearbeiten hat: die verstorbene Mutter, die der Vater nicht ersetzen kann, ihre Verantwortung für die kleine Schwester, ihre Naivität, mit der sie dem Modebusi ness nicht gewachsen ist, und das Zartbesaitete, das in einer Fab rik untergeht. Den inneren Abgrund „trifft“ Burow mit ihrem Spiel jedoch nicht immer.

Dafür vermittelt Goette jenseits von ostalgischer Nostalgie oder gut ausgeleuchtetem tristen Grau einen erfrischend authenti schen Einblick in die Modeszene der DDR. Diese lag zwar nicht außerhalb des repressiven Systems, konnte aber ein wenig unter dem Radar fliegen. Für die Sibylle arbeiteten auch deshalb einige der besten Fotograf*innen der DDR – Sibylle Bergemann, Arno Fischer, Ute Mahler. Hier trifft Suzie auch auf Rudi (Sabin Tam brea), so etwas wie der schwarze Schwan des Ostberliner Unter grunds, der mit seinen queeren Freunden die Mode und das Leben exzessiv feiert. Er nimmt sie unter seine Fittiche, und das Mädchen wird erwachsen und Rudis weißer Schwan. D Susanne Kim

Start am 6.10.2022

Deutschland 2022 D 100 min D R: Aelrun Goette D B: Aelrun Goette D K: Benedict Neuenfels D M: Boris Bojadzhiev D D: Marlene Burow, David Schütter, Sabin Tambrea, Claudia Michelsen, Jördis Triebel D V: Tobis Film The late 80s in the GDR: Suzie is photographed on the street and discov ered as a model. Aelrun Goette’s autofictional film offers a refreshingly authentic view of GDR’s fashion scene that goes beyond GDR nostalgia.
OKTOBER 2022 D 11 D IN DIEKRITIKEN TERmINE uNTER www.INdIEKINo.dE

NACHBARN

Syrische Kindheit

Ein Dorf wie eine ganze Welt. Für den sechsjährigen Sero (Serhed Khalil), einen kurdischen Jungen mit Knopfaugen und Pausba cken, braucht es nicht mehr. Er wächst im Schoß seiner Familie an der syrisch-türkischen Grenze auf, umgeben von Onkeln und Tanten und den Großeltern seines Vaters (Heval Naif). An Sabbat darf er bei seiner jüdischen Nachbarin Hannah (Derya Uygurlar) die Lichter anzünden, aber viel lieber würde er sich Zeichentrick filme im Fernsehen anschauen. Allerdings gibt es in den frühen 1980er-Jahren in seiner Gemeinde noch immer keinen Strom. Und so bleibt Sero zunächst nur, weiterhin hartnäckig zu hoffen, dass Allah seinen Wunsch irgendwann erhört. In der Schule erlebt er, wie der um sich greifende Nationalismus sein heiles Leben zerstört. Der neue Lehrer (Jalal Al Tawil) besteht darauf, dass er Arabisch spricht. Sero soll Assad verehren und die Juden hassen. Die grausame Realität kollidiert mit dem friedlichen Dasein der Gemeinde und stellt sämtliche Gewissheiten in Frage, die ihren Alltag bisher bestimmten. Es ist eine klug abgewogene Mischung aus ernsten und heiteren Momenten, die der seit Mitte der 1990er Jahre in der Schweiz lebende syrisch-kurdische Regisseur Mano Khalil in NACHBARN findet. Inspiriert von den eigenen Kindheits erinnerungen beschreibt er eine Welt voller Liebe und Hass, Gemeinschaft und Patriarchat, Diktatur und naiver Unbeschwert heit. Die stille Würde der Dorfbewohner im Angesicht der Tyran nei und Korruption syrischer Regierungsbeamter und türkischer Grenzsoldaten geht unter die Haut. Die Art und Weise, wie der mit einer kraftvollen Bildsprache erzählte NACHBARN mit Kinder augen in die Vergangenheit schaut, erinnert an Kenneth Branaghs BELFAST: der Film bewegt, erscheint jedoch stellenweise ähnlich unkritisch oder sentimental. D Pamela Jahn

 Start am 13.10.2022

BROS

„Love is not Love“ ist das Motto von Bobby, gespielt vom Dreh buchautor und Hauptdarsteller von BROS, dem Comedian Billy Eichner. Der schwule Podcaster, Gewinner des „cis white gay per son of the year“-Awards und Gründer des New Yorker LGBTQ+ Museums wehrt sich gegen die Vereinnahmung queerer Liebe in den heteronormativen Mainstream und beharrt vehement auf seinem glücklichen Single-Status - auch wenn die meisten seiner Online-Hook-ups, konversationstechnisch gesehen, nicht sehr weit über „What’s up?“ hinausgehen. Als er bei einer Clubnacht auf den hyper-durchtrainierten Notar Aaron (Luke Mcfarlane) trifft, ist er misstrauisch. Ein Glück, dass Aaron auch nicht nach einer Beziehung sucht. BROS hat alles, was eine gute Rom-Com ausmacht. Ein liebenswertes Paar, das tatsächlich auf den ersten Blick nicht so recht zueinander zu passen scheint, aber echtes Feuer und eine eigene Sprache entwickelt. Einen richtigen Kon flikt, der mitfiebern lässt. Und natürlich Dialogwitz, Situationsko mik und Tempo, Tempo, Tempo. Den Dialogwitz stemmt in weiten Teilen Bobby/Eichner, der absolut nichts unkommentiert durch gehen lassen kann und sich dabei um Kopf und Kragen redet. Sehr schön ist aber auch, wie Aaron mit seiner ruhigen Art und einem verschmitzten Blick das ganze Wortsoufflé zum Einsturz bringen kann. Und dann ist da noch der divers besetzte und sehr streitbare Vereinsvorstand des LGBTQ+ Museums und die Frage, was denn nun in den letzten Ausstellungsraum soll? Ein absolut fulminantes Drehbuch (Oscar 2023?!) hält die Handlungsstränge und Ideen zusammen und schafft es, gleichermaßen zu erzählen, dass Liebe natürlich Liebe ist, aber dann wiederum eben auch nicht. Oder, wie es ausgerechnet der meinungsstarke Bobby for muliert „We need to be more fluid.“ D Hendrike Bake

 Start am 27.10.2022

Sero grows up on the Syrian-Turkish border as the child of Kurdish parents. At a time of escalating nationalism, there are also moments of a normal childhood. Schweiz/Frankreich 2021 D 124 min D R: Mano Khalil D K: Stéphane Kuthy D S: Thomas Bachmann D M: Mario Batkoviƒá D D: Serhed Khalil, Jalal Altawil, Jay Abdo, Zîrek, Heval Naif, Tuna Dwek, Mazen Al Natour, Ismail Zagros D V: barnsteiner film USA 2022 D R: Nicholas Stoller D B: Nicholas Stoller, Billy Eichner D K: Brandon Trost D S: Daniel Gabbe D M: Marc Shaiman D D: Billy Eichner, Luke Macfarlane, Jim Rash, Bowen Yang, Ts Madison D V: Universal Pictures The first completely queer mainstream romcom. Screenwriter: Billy Eichner. New York Rom-Com
D 12 D OKTOBER 2022 Termine unTer www.indiekino.de in DiekriTiken

ACH DU SCHEISSE

Gefangen im Dixie-Klo

Kleines Budget – kleiner Raum – super Idee – krasse Umsetzung: ACH DU SCHEISSE! zeigt, wie man einen Film machen kann, und wie man sich dabei herauswindet aus Vorurteilen und Kli schees zum deutschen Kino: verweichlicht und harmlos, fernseh gerecht und massentauglich, das alles vermeidet Lukas Ringer tunlichst. Dabei gäbe es eine Menge Möglichkeiten für simplen Pipikacka-Humor, der ja im deutschen Film auch gerne als Zutat genommen wird …

Frank erwacht. Er liegt im Dixiklo. Das Dixiklo liegt in einer Bau grube. Frank muss sich befreien. Er hat einen Hammer und einen Meterstab, einen Laser-Entfernungsmesser, und dann ist da noch der Koffer des Bürgermeisters. Das Handy liegt unten in der Toi lettensoße, die Tür ist abgeschlossen, und Franks rechter Arm ist festgenagelt von einem Eisenstab. In einer halben Stunde wird alles in die Luft gesprengt. Und Frank muss sich befreien, rekon struiert nebenbei in Erinnerungsblitzen das Geschehene, spricht mit dem Klodeckel, klärt ein psychopathisches Verbrechen auf. Er ist Architekt, Planung ist sein Leben, das kommt ihm zugute, aber das Handy fällt in die Fäkalien, die brennende Hose, die er als Signal rausbugsiert, verpasst ihm fast eine Rauchvergiftung, das Kaninchen, das er an die Sprengkabel lockt, hoppelt weg. Es geht um Verrat und um Beziehungskrise, um Wahnsinn und Mord, um den Gamsbartkauz; es geht um Blut und Ekel und um den unbedingten Überlebenswillen, dem das alles scheißegal ist. Lukas Rinker holt alles raus aus dem Schauplatz Klo und der Figur Frank. So einfallsreich hat man selten jemanden mit dem Minima lismus spielen sehen. Rinker inszeniert völlig souverän zwischen Hochspannungsthriller, pechschwarzer Komödie und heftigem Splatter – so ein Film ist bisher nicht in Deutschland produziert worden. D Harald Mühlbeyer  Start am 20.10.2022

Deutschland 2022 D 90 min D R: Lukas Rinker D B: Lukas Rinker D K: Knut Adass D M: Andreas Lucas D D: Thomas Niehaus, Gedeon Burkhard, Micaela Schäfer, Friederike Kempter, Uke Bosse D V: drop-out Cinema Frank wakes up. He’s in a portable toilet. The toilet is in a construction pit. Frank has to free himself. Lukas Rinker confidently switches between a highly tense thriller, pitch-black comedy and violent splatter.
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AB 29. SEPTEMBER IM KINO www.mindjazz-pictures.de/mutter mutter_derfilm mutterderfilm PREMIEREN MIT REGISSEURIN Mo. 26.9.2022 18 Uhr fsk Kino 19:30 Uhr Hackesche Höfe Kino „Ein filmisches Feuerwerk mit Fantasie und Humor“ Festival Max Ophüls Preis „Die Sehnsucht nach einer diversen und freieren Welt“ Achtung Berlin Film Festival ANIMA Die Kleider meines Vaters Ein Dokumentarfilm von Uli Decker AB 20. OKTOBER IM KINO / anima_derfilm/ ANIMAderfilm

NICHT VERRECKEN

Martin Gressmanns Dokumentarfilm über die Todesmärsche aus dem KZ Sachsenhausen enthüllt Details der Grausamkeit am Ende des Zweiten Weltkriegs. Gressmanns Film konzentriert sich auf eine Route, aber manche seiner betagten Gesprächspartner waren bereits aus anderen Lagern im Osten nach Sachsenhau sen, wenige Kilometer nördlich von Berlin marschiert. Simcha Applebaum aus Ostpolen war bereits seit Januar auf Todesmär schen von Auschwitz nach Gleiwitz, zum KZ Buchenwald und nach Sachsenhausen. Zwangsmärsche hatte es im KZ Sachsen hausen schon früher gegeben: Deutsche Unternehmen, darunter Salamander, Continental, Bata, Leiser und Freudenberg (Vileda) unterhielten im KZ eine Schuhprüfstrecke, auf der Gefangene bis zum Umfallen marschieren mussten, um Lederersatzstoffe zu tes ten, die dann nach dem Krieg zur Marktreife kamen. Die Männer, die hier zu Wort kommen, waren zwischen 15 und 24 Jahre alt, als sie von der SS mit Peitschen und Hunden, ohne Wasser und Verpflegung, auf Nebenwegen durch Brandenburg und Mecklenburg getrieben wurden. Wer zurückblieb, wurde erschossen und am Wegrand liegen gelassen. Wenn die Kolonnen rasteten, fanden sie oft nicht einmal mehr Gras oder Wurzeln zum Essen, weil zuvor bereits andere Kolonnen durchgezogen waren. Gressmann folgt den Wegen der Kolonnen, filmt die Orte, an denen die SS mordete. Manchmal sind noch Zeichen der Geschichte zu erkennen. Im Belower Wald, wo die SS ein improvisiertes Lager eingerichtet hatten, ist noch zu erkennen, dass die Gefangenen die Rinde von Bäumen schälten, um etwas essen zu können, und dass manche Zeichen und Bilder in die Rinde kratzten. Ein geduldiger, sorgfältiger Film, an dem Gressmann, wie schon an DAS GELÄNDE (2016) über die Orte der SS- und Gestapo-Führung in Berlin, meh rere Jahre arbeitete. D Tom Dorow  Start am 13.10.2022

ANImA: DIE KLEIDER mEINES VATERS

In Oberbayern wächst Uli zwischen Blaskapellen, Bibelkreis und neugierigen Nachbar*innen auf. Von klein auf hadert sie mit den starren Geschlechterrollen, die man nicht nur in ihrem Heimat dorf, sondern auch in ihrer Familie hochhält. Kurz bevor der Vater stirbt, sagt ihre Mutter den Satz zu Uli und ihrer Schwester, der alles verändert: „Euer Vater war Transvestit.“ Im Nachlass ihres Vaters findet Uli Decker Frauenkleider, Kosmetik und Tagebücher – und dreht einen Film über das jahrzehntelang streng gehütete Familiengeheimnis.

 Start am 20.10.2022

Deutschland 2021 D 94 min D R: Uli Decker

mUTTER mUTTER KIND

Per Zeitungsannonce suchen Pedi und Anni einen Samenspender. Mit dem Kinderwunsch des Paares beginnt das Langzeitporträt über eine Familie, die mit traditionellen Vorstellungen bricht. Die beiden Frauen finden Eike und bekommen drei Söhne. Jahre spä ter taucht ein Mädchen auf, das ihre Brüder kennenlernen will –offenbar hat Eike noch mehr Frauen geholfen, wovon Pedi und Anni nicht wussten.

 Start am 20.10.2022

Deutschland 2021 D 97 min D R: Annette Ernst Martin Gressmann‘s documentary NICHT VERRECKEN about the death marches at Sachsenhausen concentration camp is a patient, meticulous film. Deutschland 2021 D 110 min D R: Martin Gressmann D K: Volker Gläser, Sabine Herpich D S: Stefan Oliveira-Pita D M: Brynmor Jones D V: Edition Salzgeber
D 14 D OKTOBER 2022 Termine unTer www.indiekino.de in DiekriTiken

THE NORTH DRIFT – PLASTIK IN STRÖmEN

Der Regisseur Steffen Krones hat eine Frage: Nördlich des Polar kreises auf den Lofoten haben er und sein Freund Kris Plastik und Bierdosen entdeckt, die aus Deutschland stammen. Kann es wirklich sein, dass der Müll den ganzen Weg von seiner Heimat stadt Dresden bis ins Polarmeer zurücklegt? Steffen beschließt, das praktisch nachzuweisen, indem er „Drifter“ baut, Schwimm objekte mit Peilsender. Während die erstmal Richtung Hamburg treiben, trifft Steffen Expert*innen, die sich mit den Auswirkun gen des Plastikmülls auf das Polarmeer beschäftigen.

Start am 27.10.2022

WILD – JäGER UND SAmmLER

Die Liebe zur Natur hat viele Formen – manche verzichten auf tie rische Nahrungsmittel, andere gehen Wandern oder Waldbaden, wieder andere erschießen Wild. Wie das zusammengeht, zeigt der Dokumentarfilm über Hobby- und Berufsjäger in den Schweizer Alpen. Im Laufe des exzellent gedrehten Films scheinen unter schiedliche Motivationen für das Jagen auf: die Kameradschaft der Jäger*innen, der Schutz von Ökosystemen, die Pflege lokaler Bräuche und die Lust am Töten. Der Ambivalenz ihrer Tätigkeit scheinen sich die Jäger*innen – allen voran der Regisseur und Jäger Mario Theus selbst – sehr bewusst zu sein.

Start am 20.10.2022

Schweiz 2021 D 88 min D R: Mario Theus

Termine unTer www.indiekino.de
Deutschland 2022 D 94 min D R: Steffen Krones
D 16 D OKTOBER 2022 IN DIEFEATURE mONA LISA AND THE BLOOD mOON Fantastischer Trip

Zehn Jahre verbrachte Mona Lisa in einem katatonischen Zustand in einer gruseligen psychiatrischen Anstalt, doch in dieser Blut mondnacht erwacht sie – und mit ihr ihre telepathischen Super kräfte. Die erweisen sich auch direkt als brauchbar, denn ein Aus bruch in der Zwangsjacke ist gar nicht so einfach, und ganz ohne Blutvergießen geht es auch nicht. Auf ihrer Flucht durchs Hin terland von New Orleans trifft sie Fuzz, einen Rave-Prince-Char ming, der statt auf einem weißen Pferd in seinem Diskokugel-Ride zur Rettung eilt, und schließlich Bonnie Belle, die abgeklärte und schlagfertige Stripperin, und ihren altklugen Sohn Charly, einen neunjährigen Metalhead. Bonnie weiß Mona Lisas Kräfte geschäftstüchtig, aber nicht gesetzestreu, einzusetzen, und bald heftet sich ein Polizist an ihre Fersen, der bereits schmerzhaft Zeuge von Mona Lisas Superpower wurde.

Wie bei A GIRL WALKS HOME ALONE AT NIGHT ist auch in Ana Lily Amirpours neuem Werk die Story ziemlich geradeaus und lebt erst als cineastisches Ganzes auf. Die schrillen und doch warmen Charaktere, der coole 90s-Neon-Look der sich durch Bild und Set zieht und der treibende Techno-Sound – von Bottin bis Acid Pauli – fließen zu einem fantastischen Trip zusammen. MONA LISA AND THE BLOOD MOON ist aber mehr als ein flippiger Ritt. Die feministische Horror-Komödie zerlegt auch genüsslich Gen der-Stereotype. Mona Lisa und Bonnie schlagen als Anti-Heldin nen den Männern ein Schnippchen, und während Pillendealer Fuzz hyperromantisch in Mona Lisa seine Seelenverwandte zu finden glaubt, sind die Polo-Shirt-tragenden Collegeboys in den Strip-Clubs misogyne Schläger. Amirpour verwandelt die Straßen von New Orleans in ein Rave-ästhetisches Wunderland, das sie auch durch den großartigen Cast mit Jun Jong Seo in der Haupt rolle, Kate Hudson als Belle und Ed Skrein als Fuzz völlig abfeiert. D Clarissa Lempp  Start am 6.10.2022

The feminist horror comedy gleefully deconstructs gender stereotypes and the shrill but warm characters, cool 90s neon look and the propelling techno sound merge into a fantastic trip.

USA 2022 D 106 min D R: Ana Lily Amirpour D B: Ana Lily Amirpour D K: Pawel Pogorzelski D S: Taylor Levy D D: Kate Hudson, Ed Skrein, Craig Robinson, Jong-seo Jun D V: Weltkino
OKTOBER 2022 D 17 D IN DIEFEATURE

BELLEVILLE. BELLE ET REBELLE

Hemmungslos nostalgisch

Die schöne schwarzweiße Kinematografie in Daniela Abkes Film BELLEVILLE: BELLE ET REBELLE erinnert an die Straßenfotogra fie von Robert Doisneau, der auch in Belleville fotografierte, und an Eugene Atgets frühe Fotografien von Paris. BELLEVILLE ist ein hemmungslos nostalgischer Film, beinahe ein Thesenpapier über die Kraft der Nostalgie. Ein alter Anarchist und Scheckfäl scher, der Baske Lucio Urtubia, ist der erste Seelenführer, der die Kamera in die Bar „La Vielle Belleville“ führt, dann auf den Fried hof Père-Lachaise, zu den Gräbern der Gefallenen der Pariser Commune und ihrer Dichter. Lucio singt am Grab Eugene Pottiers eine Strophe der „Internationale“, und am Grab von Jean-Bap tiste Clément dessen Lied „La temps de cerises“ über Liebe und Revolution, gemeinsam mit seinem Begleiter Robert Bober, einst Regieassistent von François Truffaut. Belleville ist ein Quartier in Paris, das vor allem von Exilanten und Auswanderern des 20. Jahrhunderts bewohnt wird, von heute sehr französischen Spani ern und Nordafrikanern. Sie treffen sich im „Vielle Belleville“, eine der letzten „Bars Musettes“. Abends singen der Drehorgelspieler Riton la Manivelle oder die ehemalige Sportlehrerin Minette mit den Gästen französische Chansons, aber auch Lieder vergange ner Revolutionen und Rebellionen. Draußen spielen die Schwar zen Jungs Fußball, drinnen sitzen die älteren weißen Franzosen, träumen und tanzen den Valse Musette. BELLEVILLE träumt von einer linken, revolutionären oder wenigsten rebellischen Gemein schaft, die es so eigentlich nicht mehr gibt. Aber die Rebellion ist hier nicht nur Pose. Lucio kämpft für die Freilassung der ETA-Angehörigen Lorentxa Beyrie, was 2021 auch gelang. Die Bar Musette hält Träume am Leben. Das mag nicht alles sein, aber es ist mehr als nichts. BELLEVILLE lädt, zur Länge eines Liedes von Fréhel, zum Mitträumen ein. D Tom Dorow  Start am 13.10.2022

Belleville is a quarter in Paris that is mostly populated by expats and migrants of the 20th century and very French Spaniards and North Africans today. They meet in “Vielle Bellevile”, one of the last “Bars Musettes”.

SCHWEIGEND STEHT DER WALD

Erstaunlich fies

Wenn ein Ex-Polizist, dessen Hobby es ist, kleine Vögel auszustop fen, sich bei seinem Sohn über das „ewige Suhlen in der Schuld“ beschwert, ist klar, dass es in diesem Film um mehr geht, als um den Mord an einem Urlauber. SCHWEIGEND STEHT DER WALD erinnert in seinem Bezug auf Geschichte an US-Horrorfilme der sechziger und siebziger Jahre. So wie I SPIT ON YOUR GRAVE die Holocaust-Prozesse oder THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE konservative christliche Familienwerte verhandelte, bezieht sich SCHWEIGEND STEHT DER WALD auf die deutsche Verdrängung und Verschleierung der Nazi-Vergangenheit, die dann immer wie der brutal hervorbricht. Dabei handelt es sich hier nicht um einen Horrorfilm, sondern um einen Krimi, wenn auch mit der Seele des älteren, dämonischeren Genres. „Die Stinkf… muss weg“, brüllt der Ex-Polizist. Gemeint ist Anja, Praktikantin beim Förster, in der Oberpfalz der neunziger Jahre. Vor zwanzig Jahren war ihre Familie in den Ferien hier, und ihr Vater verschwand plötzlich auf einer Wanderung. Jetzt nimmt Anja Bodenproben des Waldes, auch in Waldstücken, in denen sie nicht graben sollte. Das kostet bald Opfer, und jedes gefährdet das „Märchenwald“-Projekt mit „Baumwipfelpfad“ das hier entstehen soll. Dass Anja mit Nach namen „Grimm“ heißt, und gegen Ende eine brutal-realistische Version von „Hänsel und Gretel“ erzählt, ist schon etwas dick auf getragen. Manchmal verrät der Debütfilm von Saralisa Volm, dass er auf einer Romanvorlage von Wolfram Fleischhauer beruht. Die Motive sind grob und etwas pompös gestrickt, aber Volms Film hat schöne Bildideen. Zudem wirkt der Wald real und erin nert dennoch an deutsche Wald-Mythen, von Goethes tödlicher Ruhe über den Wipfeln bis zu Elias Canettis deutschem Wald als bedrohlich strammstehende Masse. Erstaunlich fies. D Tom Dorow

 Start am 27.10.2022

Deutschland/Frankreich 2021 D 98 min D R: Daniela Abke D B: Daniela Abke D K: Isabele Casez D S: Sebastian Winkels, Daniela Abke D V: Real Fiction Deutschland 2022 D 95 min D R: Saralisa Volm D B: Wolfram Fleischhauer D K: Roland Stuprich D S: Daniel Kundrat D D: Henriette Confurius, Robert Stadlober, Noah Saavedra, August Zirner, Johanna Bittenbinder D V: Alpenrepublik Filmverleih When forestry student Anja finds herself in the Upper Palatine forest of her childhood, a murder occurs and her investigation sheds light on the past.
D 18 D OKTOBER 2022 Termine unTer www.indiekino.de in DiekriTiken

IGOR LEVIT. NO FEAR

Das Jahr 2020 sollte das arbeitsreichste und glamouröseste in Igor Levits Karriere werden. Bereits zu Jahresanfang war der Pia nist für 108 Konzerte in den renommiertesten Konzerthäusern der Welt gebucht. Es sollte anders kommen. Am 10. März 2020 (seinem Geburtstag) spielt Levit noch in der Elbphilharmonie, bereits am 12. März gibt er das erste seiner 52 „Hauskonzerte“, die er live auf Twitter und Instagram streamt, und bei denen am Schluss jeweils 20.000 Menschen anspruchsvoller E-Musik lau schen – von Beethoven, immer wieder Beethoven, bis zu Ronald Stevenson und Morton Feldman. In ihrem Dokumentarfilm beglei tet Regina Schilling den Künstler etwa ein Jahr lang, vom Herbst 2019 bis zum Dezember 2020, als Levit Open Air für die Klimakti vist*innen im Dannenröder Forst spielt. Auch wenn die Pandemie damit zu einer zentralen Passage wird, geht es Schilling in erster Linie um den Musiker und die Musik. Sie hört und sieht Levit bei Konzerten und Tonaufnahmen zu und lässt viele Stücke dankens werterweise intakt. Biografisches und Persönliches ist eher am Rande eingestreut. Levits politisches Engagement spiegelt sich in seinen Social Media-Postings, die der Film immer wieder einblen det, oder in einem „Love Music Hate Racism“-T-Shirt. Auf seine Migrationsgeschichte wird Levit, der mit acht Jahren als jüdi scher „Kontingentflüchtling“ in Hannover ankam, immer wieder angesprochen. Für ihn selbst hat seine russische Herkunft wenig Bedeutung. Ein kurzer Filmausschnitt erinnert an seine Wunder kind-Karriere. Im Gespräch erlebt man den Musiker freundlich, begeisterungsfähig aber auch in sich gekehrt, konzentriert. Im Umgang mit Freunden, Kolleginnen und Vertrauten zeigt er sich als sehr herzlicher Mensch. Ein schönes Porträt, das sich dem Porträtierten mit Zurückhaltung nähert und zuallererst zum Zuhö ren einlädt. D Hendrike Bake

Start am 6.10.2022

A beautiful portrait of the famous and politically engaged pianist that gets cautiously close to the subject and first and foremost invites viewers to listen.

Deutschland 2021 D 118 min D R: Regina Schilling D K: Jule Katinka Cramer, Johann Feindt, Thomas Keller, Piotr Rosolowski, Axel Schneppat, Hajo Schome rus D S: Carina Mergens D V: Piffl Medien
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/ ElfriedeJelinekFilm AB 10. NOVEMBER IM KINO Copyright: Karin Rocholl Jelinek ELFRIEDE DIE SPRACHE VON DER LEINE LASSEN EIN FILM VON CLAUDIA MÜLLER Kino in der Kulturbrauerei + Haus für Poesie INTERNATIONAL COMPETITION FOCUS UKRAINE 3.— 6.11. 2022

HORIZONT

Politisierung & Protest

Die 17-jährige Adja Cissokho (Tracy Gotoas), die in einem armen Pariser Vorort lebt, interessiert sich vor allem fürs Tanzen, Feiern und Spaß haben. Sie ist jung und möchte ihr Leben genießen. Doch während ihr Bruder Tawfiq (Dembélé) an seiner erfolgrei chen Fußballerkarriere arbeitet und ihre Freundin Sabira (Niia Hall) zur Influencerin avanciert, wird sie beim Praktikum im Altenheim mit dem Tod konfrontiert. Ihr Kollege Arthur (Sylvaine LeGall) ist für sie da, obwohl sie und ihre Freundinnen sich immer über ihn lustig machen. Er lebt mit seinen Eltern in einer Kommune und kämpft in seiner Freizeit gegen den Klimawandel. Seiner Familie droht die Zwangsräumung, ihr Biobauernhof soll einem Enter tainment-Komplex weichen. Nach und nach wird Adja bewusst, welche Folgen die Klimakatastrophe bereits heute für Menschen hat – vor allem für ohnehin marginalisierte Menschen. Dass die Klimabewegung dennoch in erster Linie ein Luxusprojekt von wei ßen und wohlhabenden Menschen zu sein scheint, damit hadert Adja. Ihr Besuch einer Demo, die gewaltsam aufgelöst wird, trägt dazu bei, dass sie sich trotzdem immer mehr zu der Kommune hingezogen fühlt. „Das Leben, das sie uns verkaufen wollen, hat keine Zukunft auf diesem Planeten“, so ein Slogan der Gruppe. Begleitet von schönen visuellen Einfällen und einem hervorragen den Soundtrack widmet sich HORIZONT von Regisseurin Emilie Carpentier diesem Lebensgefühl der Jugend. Besonders stechen dabei die beeindruckend inszenierten Straßenschlachten und Verfolgungsjagden mit der Polizei hervor. Die Sequenzen zeugen von der typisch französischen Protestkultur, zeigen die Brutalität der systematischen Polizeigewalt und stellen sich ganz entschie den auf die Seite der Demonstrant*innen. D Eva Szulkowski  Start am 6.10.2022

DER PASSFäLSCHER

Berlin zu Beginn der 1940er Jahre: die Massendeportation deut scher Juden ist in vollem Gange, die Stadt wird bombardiert, Lebensmittel sind rationiert. Die Eltern von Cioma Schönhaus (Louis Hofmann) sind schon ostwärts verschleppt, er selbst, Gra fiker in Ausbildung, „darf“ als Jude noch in Berlin bleiben, da er zur Arbeit für die Rüstungsindustrie verpflichtet ist. Sein Freund Det ist schon illegalisiert und schlägt sich durch, indem er für Markt frauen Kleider umnäht und sich bei ihnen prostituiert. Während die Beiden auf dem schmalen Grat des prekären Lebens im fal schen wandern, kann Cioma andere Verfolgte durch das Fälschen von Ausweisdokumenten unterstützen. Er hält Mimikry generell für eine gute Überlebensstrategie und wagt sich als freundlicher Hochstapler mitten in die nationalsozialistische Öffentlichkeit, will sich das gesellschaftliche Leben nicht verwehren lassen. Dabei muss der Lebenskünstler, zusätzlich diszipliniert durch die Sorge vor Entdeckung, in absurder und erniedrigender Weise mit helfen bei der Siegelanbringung am Zimmer seiner Eltern, als die Kripo ihr Eigentum beschlagnahmt. Kurz flammt der Schmerz auf. Die menschenfeindliche Grausamkeit des Systems wird deutlich, doch nie lässt der Film das Böse über den Geist von Cioma gewin nen. Cioma bewahrt sich nicht nur seine Leichtfüßigkeit, sondern auch einen zwischenmenschlichen Großmut, der seinesgleichen sucht. Bei allem Realismus der Darstellung und einem sorgfälti gen Szenenbild verharrt der Film fast kammerspielartig bei seinen Menschen. Es ist Regisseurin Maggie Peren wichtiger, ein Gesicht nahe zu betrachten als eine Bombennacht als Spektakel zu zele brieren. So gelingt ein emotionales Porträt zwischen Anspannung und Lebensfreude, beruhend auf einer wahren Geschichte.

D Anna Stemmler  Start am 13.10.2022

Originaltitel: L’Horizon D Frankreich 2021 D 85 min D R: Émilie Carpentier D K: Elin Kirschfink D S: Laurence Manheimer D D: Tracy Gotoas, Sylvain Le Gall, Niia D V: Arsenal Filmverleih Deutschland 2022 D 117 min D R: Maggie Peren D B: Maggie Peren D K: Christian Stangassinger D S: Robert Sterna D M: Mario Grigorov D D: Louis Hofmann, Jonathan Berlin, Luna Wedler, Nina Gummich, Marc Limpach D V: X Verleih 17 year old Adja, who lives in a poor Parisian suburb, is primarily interested in dancing, partying and having fun. She comes into contact with the envi ronmental movement through a colleague and starts getting involved. Berlin in the early 1940s: graphic designer Cioma Schönhaus is “allowed” to remain in Berlin as a Jew because he is obligated to work for the arms industry. He secretly works as a passport forger and dares to be incognito in the middle of the Nazi public.
D 20 D OKTOBER 2022 Termine unTer www.indiekino.de in DiekriTiken

WAS DEIN HERZ DIR SAGT –ADIEU IHR IDIOTEN!

Nichts zu verlieren

Lasst euch nicht vom Titel verwirren! WAS DEIN HERZ DIR SAGT ist alles andere als das romantische französische Versöhnungs kino, das hier suggeriert wird, sondern eine schnelle, kluge und sehr originelle Komödie, die uns eher ans belgische Kino erin nert hat. Der französische Titel ADIEU LES CONS (zu dt. vielleicht Tschau, ihr Arschgeigen!) trifft es dagegen ganz gut: Unsere drei Held*innen sind fertig mit der Welt. Virginie Efira spielt die Fri seurin Suze Trappet, deren vom Haarspray ruinierte Lungen nicht mehr lange durchhalten werden. Im Arztgespräch fragt sie „Wie viel Zeit habe ich noch?“, woraufhin der behandelnde Arzt, typisch für die Empathielosigkeit aller Autoritätspersonen des Films, erst mal in Ruhe anfängt zu philosophieren „Zeit ist ja relativ. Ihre Zeit mag ganz anders aussehen als meine Zeit …“ Als er aufsieht, ist

Suze weg. Ihre Zeit ist kostbar, denn sie muss vor ihrem Tod das Kind finden, das sie als 15-Jährige zur Adoption freigeben musste. Auf dem Amt blitzt sie ab („Geschenkt ist geschenkt, wiederho len ist gestohlen“), findet aber durch eine wilde Verkettung von Umständen einen Verbündeten: den IT-Spezialisten Jean-Baptiste Cuchas, gespielt von Regisseur Albert Dupontel, der mit dem Leben abgeschlossen hat, nachdem er beim jüngsten Großpro jekt übergangen wurde. Unterwegs gabeln sie noch den blinden Monsieur Blin (Nicolas Marié) auf, der einsam und abgeschoben ein Archiv verwaltet, von dem keiner in der Behörde überhaupt sicher ist, ob es existiert. 2021 räumte WAS DEIN HERZ DIR SAGT sehr zu Recht bei den französischen Césars ab. Der Humor des Films entsteht aus Slapstick, treffsicheren Running Gags, alber nen Verwechslungen und aus der Gewissheit der Figuren, wirklich nichts mehr zu verlieren zu haben. Dabei zeigt die so schwindeler regend wie grandiose Kamera immer wieder, was schon verloren ist. Wenn Suze innehält und an ihr unbekanntes Kind denkt. Oder, wenn der blinde M. Blin einen Weg beschreibt, während Suze fährt, und wir in den Spiegelungen sehen, dass nichts mehr übrig ist, von der Stadt, die M. Blin noch kennt, nur ein Café, aber das ist verfallen und geschlossen. D Hendrike Bake/Tom Dorow  Start am 20.10.2022

An adoption drama as a loopy slapstick comedy: Suze (Virginie Efira) finds out that she is gravely ill and decides to look for the child she had to give up when she was 15. An enthusiastic blind archivist and a man suffering from burnout help her. Originaltitel: Adieu Les Cons D Frankreich 2020 D 87 min D R: Albert Dupontel D K: Alexis Kavyrchine D S: Christophe Pinel D M: Christophe Julien D D: Albert Dupontel, Virginie Efira, Nicolas Marié D V: Happy Entertainment
OKTOBER 2022 D 21 D IN DIEKRITIKEN TERmINE uNTER www.INdIEKINo.dE

RImINI

Die Zeit steht nicht still

In Uli Seidls RIMINI geht es eigentlich um Sehnsucht und Schla ger, aber auch um ein altes Ideal eines egomanischen Künstlers, das zerbröselt. Manchmal holt die Kunst die Realität ein, und so befindet sich der Regisseur selbst derzeit in der Mitte einer Dis kussion über ausbeuterische Tendenzen im Film. Am 3.9.2022 veröffentlichte das Magazin „Der Spiegel“ eine Recherchei über den Dreh des österreichischen Regisseurs zum RIMINI-Nachfol ger SPARTA, der im Herbst auf Festivals debütieren soll. SPARTA wurde in einer kleinen Ortschaft in Rumänien gedreht, mit Laien als Neben-Cast. Seidl-typisch. Mit der Spiegelrecherche stehen Berichte der darstellenden Kinder, ihrer Eltern und Anwesender am Set im Raum, die Familien seien nicht über den Inhalt des Films aufgeklärt und die Kinder übergriffigen, teils gewaltvollen Situationen durch die Produktion ausgesetzt gewesen. Seidl ver öffentlichte ein Statementii dazu, das widerspricht, ohne auf die beschriebenen Situationen einzugehen.

Seidls Filme schauen an die Seitenränder der Gesellschaft, in die Abgründe. Es gibt schiache Szenen, wie es in Österreich heißt. Gewalt, Sex, Einsamkeit, Wahn. Es ist nicht das erste Mal, das Seidls Arbeit mit Laiendarsteller*innen in diesem Kontext hin terfragt wird. Die Vorwürfe zum SPARTA-Dreh sind konkret und heftig und müssen aufgeklärt werden – und das auch weiterden kend. Dass Dreharbeiten mit Kindern und Laiendarsteller*innen oft nicht genügend überwacht, betreut und geplant werden, dafür gibt es etliche Beispiele, eines ist Sarah Polleys Erfah rung als Kinderdarstellerin in Terry Gilliams DER BARON VON MÜNCHHAUSEN.

RIMINI und SPARTA sind inhaltlich verbunden durch ihre Prota gonisten und waren ursprünglich als ein Film geplant. Es geht um zwei Brüder. Der eine lebt als abgehalfterter Schlagerstar im italie nischen Rimini. Der andere, ein Jugend-Sporttrainer in Rumänien, hat pädophile Gedanken. In Österreich sitzt der demenzkranke

Vater im Heim. Michael Thomas singt und spielt den Schlager sänger Richie Bravo, der durch das winterliche Rimini zieht. Wo im Sommer die Adriaküste mit Touristen zugepackt ist, wabert jetzt der Nebel. Schnee fällt auf Palmen, und unter den Dächern der Strandhütten kauern Geflüchtete. Richie geht an ihnen vorbei, im Pelzmantel, die Schultern hochgezogen. Er geht in Hotels, trifft sich mit Fans. Schläft mit den älteren Frauen. Betrinkt sich und singt. Richie verkauft die Sehnsucht nach der wahren Liebe, in seiner Musik und als sexuelle Dienstleistung. Aber das Geld ist knapp, die guten Zeiten sind vorbei.

Seidls Bildsprache ist ikonisch, atmosphärisch, gleichzeitig zärt lich und harsch. Auch RIMINI lebt davon. Richies kerniger Körper im enganliegenden Goldanzug, langes, blondgesträhntes Haar steht er vor einem Panoramafenster und singt inbrünstig. Hin ter den Scheiben rast der Verkehr. Die Zeit steht nicht still, und Richie kommt nicht hinterher. Seine Sprache ist rassistisch, sein Blick auf die Welt eigennützig. Als seine Tochter auftaucht, um die er sich nie gekümmert hat, will sie statt der großen Versöhnung, wie sie Richie fantasiert, einfach Geld als Wiedergutmachung. Richie beschafft es, aber versteht nicht, was seine Tochter ihm vorhält, wie alles, was nicht in seine Richie-Welt passt. Während er sich besäuft und bemitleidet, sieht er nicht die Verbindung zu den Menschen um sich, zu seiner Tochter und den Geflüchteten, die sich bald in seinem Garten einrichten. Wie ihn treibt sie die Sehnsucht nach einem besseren Leben nach Rimini. Richies Ein samkeit ist nicht die eines alternden Künstlers, sondern die eines aus der Zeit gefallenen. Für Richie Bravos ist kein Platz mehr, außer der Nostalgie. D Clarissa Lempp  Start am 6.10.2022

Michael Thomas sings and plays pop singer Richie Bravo moves around win tery Rimini. While the Adriatic coast is packed with tourists in the summer, there are now wisps of fog. Snow is falling on the palm trees and refugees are crouching under beach hut roofs. Österreich/Deutschland/Frankreich 2022 D 114 min D R: Ulrich Seidl D B: Ulrich Seidl, Veronika Franz D K: Wolfgang Thaler D S: Monika Willi D M: Fritz Ostermayer, Herwig Zamernik D D: Michael Thomas, HansMichael Rehberg, Tessa Göttlicher, Inge Maux, Claudia Martini, Georg Friedrich D V: Neue Visionen Filmverleih
D 22 D OKTOBER 2022 Termine unTer www.indiekino.de in DiekriTiken

RADICAL DREAmER –WERNER HERZOG

Mystischer Mythos

Er hat vor Publikum seinen Schuh aufgegessen. Er wurde wäh rend eines Interviews beschossen. Aber dies alles ist unwesent lich. Wesentlich ist, dass er von München nach Paris lief, um gehend die schwer kranke Lotte Eisner zu heilen. Dass er die Dar steller von HERZ AUS GLAS hypnotisiert hat. Dass er für FITZCAR RALDO einen 300-Tonnen-Dampfer über einen Berg geschleppt hat. Dass er seit Mitte der 60er Filme inszeniert, dass er bis heute aktiv ist, dass er sich in die Filmgeschichte eingeschrieben hat mit unglaublichen Bildwelten, die sich auf der Kinoleinwand ent falten und ins Gedächtnis einbrennen. Mit diesem ersten abend füllenden Dokumentarfilm über Werner Herzog können diejeni gen Anschluss an dieses gewaltige Óuvre finden, die seine Filme bisher kaum gesehen haben, ihn vielleicht als bizarren Sidekick der Popkultur von den „Simpsons“ bis „The Mandalorian“ kennen. Und die Herzog-Experten können in Filmausschnitten schwelgen, können Herzogs Stimme lauschen, wenn er über seine Arbeit und seine Gedankenwelten spricht, können die Ansichten seiner Brü der Tilman und Lucki, seiner Kameramänner Thomas Mauch und Peter Zeitlinger nachverfolgen.

Von Herzog ist jüngst eine lesenswerte Autobiografie erschienen. Thomas von Steinaeckers Film ist eine wichtige Ergänzung, zumal gleichgewichtig die Herzog-Klassiker aus deutscher Produktion wie auch die hierzulande kaum bekannten amerikanischen Filme, die Spielfilme wie die Dokumentarfilme gewürdigt werden. Glück licherweise bleibt Herzog nach wie vor mystischer Mythos, der mit seinen Filmen, mit jedem einzelnen Filmbild hinter der Oberflä che der Realität die höhere Wahrheit sucht. Er träume nie, erklärt Herzog gleich zu Beginn des Films – zum Glück: Sonst gäbe es vielleicht seine Filme nicht. D Harald Mühlbeyer  Start am 27.10.2022

Deutschland 2022 D 102 min D R: Thomas von Steinaecker D B: Thomas von Steinaecker D K: Henning Brümmer D S: Volker Schaner D M: Philip Stegers V: Real Fiction A documentary about the life and work of Werner Herzog, the autodidactic filmmaker who became internationally renowned for his eccentric films.
Termine unTer www.indiekino.de
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EIN FILM VON REGINA SCHILLING AB 6. OKTOBER IM KINO Das inspirierende Porträt eines außergewöhnlichen Künstlers.

DER NACHNAmE

2018 inszenierte Sönke Wortmann die schwungvolle Dialog-Ko mödie DER VORNAME. DER NACHNAME bringt die Protago nist*innen nun wieder zusammen. Anlass ist eine Reise ins Fami lien-Ferienhaus auf Lanzarote, wo Mutter Dorothea und René mittlerweile Wein und Gras anbauen. Während DER VORNAME sich elegant um Nichtigkeiten – blöde Witze, Eitelkeiten und Res sentiments aufgrund vergangener Schmähungen – drehte, fährt DER NACHNAME weit schwerere Geschütze auf. Jede und jeder trägt ein Geheimnis mit sich herum, dass nun im Zuge der Familiendebatten offengelegt wird.

 Start am 20.10.2022

RHEINGOLD

Fatih Akins neuen Film gab es erst nach Redaktionsschluss zu sehen. Es geht um die Autobiografie von Giwar Hajabi, als Rapper, Produzent und Plattenlabelbesitzer bekannt unter dem Namen Xatar. Als Großdealer machte Hajabi Schulden bei einem Drogen kartell. 2009 war er an einem Überfall auf einen Geldtranspor ter beteiligt. Erbeutet wurden Schmuck und Zahngold im Wert von 1,7 Millionen, die nie wieder auftauchten. Xatar floh in den Irak, wurde dort verhaftet und nach Deutschland ausgeliefert.

 Start am 27.10.2022

Deutschland 2022 D R: Fatih Akin D D: Emilio Sakraya, Mona Pirzad, Sogol Faghani, Kardo Razzazi, Ugur Yücel, Denis Moschitto

ATLAS

Bei einer Bersteigertour in Marokko wird Allegras Freundesgruppe Opfer eines Terroranschlags. Allegra überlebt als Einzige, schwer verletzt. Zuhause hat sie nur ein Ziel vor Augen: wieder körperlich stark genug zum Bergsteigen zu werden. Alle Hilfsangebote, lehnt sie, teils aggressiv, ab und leidet im Stillen. Die Begegnung mit dem Geflüchteten Arad bricht durch ihre starke Fassade. Nach anfänglicher Panik fasziniert er sie, und sie lernt ihn näher ken nen. Auch Arad hat Wunden, über die er nicht sprechen möchte.  Start am 27.10.2022

RISE UP

RISE UP ist ein Porträt von fünf Aktivist*innen: Kali Akuno enga giert sich in Jackson gegen Rassismus, Shahida Issel hat in Süd afrika gegen die Apartheid gekämpft, Camila Cárcers organisierte feministische Demos in Chile, Judith Brabant war Teil der Bürger bewegung in der DDR. Der Film von Marco Heinig, Steffen Mau rer, Luise Burchard und Luca Vogel, die als „Kollektiv leftvision“ politische Filme produzieren, versteht sich als ein Aufruf zum poli tischen Handeln.

 Start am 27.10.2022

Deutschland 2022 D 89 min D R: Marco Heinig, Steffen Maurer, Luise Burchard, Luca Vogel

Schweiz/Belgien/Italien 2021 D 88 min D R: Niccolò Castelli D D: Matilda De Angelis, Helmi Dridi, Irene Casagrande Deutschland 2021 D R: Sönke Wortmann D D: Iris Berben, Christoph Maria Herbst, Caroline Peters, Florian David Fitz, Justus von Dohnanyi
D 24 D OKTOBER 2022 Termine unTer www.indiekino.de in DiekriTiken

DROP OuT –NIPPELSuSE SChLäGT zuRÜCK (WA)

Marion Niplowskis Kopf hatte einen kleinen Drop-Out, als sie bei den Ermittlungen zu ihrem ersten Fall als Privatdetektivin zuerst in den angesagtesten Schuppen von Hamburg und anschließend auf einer privaten Sex-und-Drogen-Party landete. Sie hat keine Erinne rungen daran, wie ihre Zielperson ermordet wurde, die Leiche kurz verschwand und Marion nun selbst als Hauptverdächtige dasteht. Alles am Film wirkt uneben und fragmentiert, angefangen mit der Bildqualität der genutzten Videokamera. Aber in Beatrice Manow skis Film von 1998 gehört das alles so, auf Messers Schneide zwi schen Low-Budget und Parodie.

¢ Start am 6.10.2022

NOVEmBER

Der Französische Actionthriller verfilmt die hektische Suche der Polizei nach den Tätern und Hintermännern der islamistischen Attentate in Paris vom 13. November 2015. Jean Dujardin und Sandrine Kiberlaine jagen Terroristen und rächen symbolisch die 130 Opfer. „Ein Polizeithriller, der den Glauben an das System wiederherstellen soll“ (Variety)

¢ Start am 20.10.2022

Deutschland 1997 D 110 min D R: Beatrice Manowski D D: Beatrice Manowski, Erdal Yildiz, Axel Pape, Martina Schießer, Robert Viktor Minich Originaltitel: Novembre D Frankreich 2022 D 100 min D R: Cédric Jimenez D D: Lyna Khoudri, Jean Dujardin, Marine Vacth, Anaïs Demoustier, Sandrine Kiberlain, Stéphane Bak, Cédric Kahn von Mano Khalil
Termine unTer www.indiekino.de
NACHBARN „Reich, menschlich, herzbrechend und wunderschön!“ Greg Garret für die BBC MEHR ALS 40 INTERNATIONALE FESTIVALAWARDS Ein Film
barnsteiner-film ab 13. Oktober im Kino barnsteinerfilm AB 6. OKTOBER NUR IM KINO

VESPER ChRONICLES

Nach der Umwelt-Apokalypse

Im postapokalyptischen Sci-Fi-Abenteuer VESPER CHRONICLES lebt die 13-jährige Vesper (Raffiella Chapman) ein hartes und ein sames Leben in einem verödeten Niemandsland. Das Ökosystem der Erde ist zusammengebrochen, die Natur menschenfeindlich und unfruchtbar geworden. Einzig in den Zitadellen soll so etwas wie ein normales Leben möglich sein. Die nicht reingelassen wer den, müssen zusehen, wie sie klarkommen – und im Klarkom men ist Vesper eine Expertin. Wohl oder übel musste sie lernen, sich um alles selbst zu kümmern, vor allem darum, ihren Vater (Richard Brake) am Leben zu erhalten, der bettlägerig ist und nur über eine modifizierte Drohne mit ihr kommunizieren kann. Als sie im Wald die Zitadellenbewohnerin Camellia findet, wittert sie neue Möglichkeiten, dem Elend ihres Daseins zu entkommen. Regieduo Kristina Buozyte und Bruno Samper geht mit den Ner ven der Zuschauer*innen nicht gerade zimperlich um. Das schau rig-schrullige Setdesign lässt mit viel Aufwand und Detailfreude eine Welt voller Alpträume und Absonderlichkeiten entstehen, die sumpfig, schmerzhaft und greifbar nah wirkt. Zudem machen sich die Menschen gegenseitig das Leben zur Hölle. Das Böse personifizieren Männer, die Frankenstein-esk Leben erschaffen und für ihre Zwecke missbrauchen. Vesper will sich von den übermächtigen Gegnern nicht unterkriegen lassen und der Natur wieder neues Leben einhauchen. So eklig und fies VESPERs Welt sonst ist, so herzergreifend schön sind die lebendigen, leuchten den Pflanzen in ihrem Gewächshaus. Hoffnung spendet auch die zarte Freundschaft, die unter Extrembedingungen zwischen Ves per und Camille entsteht. Mit ihrem intensiven Spiel lassen uns Chapman und McEwen die gemeinsame Reise der beiden so sehr mitfühlen, dass es manchmal nur gerade so noch auszuhalten ist.

Szulkowski

Start am 6.10.2022

GIRL GANG

GIRL GANG beginnt wie ein Märchen. Zu sphärischen Gesängen spricht eine sanfte Frauenstimme: „Es war einmal eine Zeit, da lebte ein Mädchen am Rande einer großen Stadt. Als das Mäd chen alt genug war, da schenkten ihm die Eltern einen kleinen schwarzen Spiegel. Eines schönen Tages fand es in den Tiefen des Spiegels viele andere Mädchen, und wenn es hineinschaute und zum Spiegel sprach, konnten alle anderen Mädchen dieser Welt es sehen, denn auch sie besaßen so einen schwarzen Spie gel.“ Die poetischen Zeilen beschwören die Faszination, die die Welt der Influencerinnen auf viele junge Mädchen ausübt – 86% aller Teenager träumen laut der im Film zitierten Studie „The Influ encer Report“ von einer Karriere als Influencerin. Der Film von Susanne Meures (RAVING IRAN) fängt dann in entsättigten, fast überbelichteten Bildern vor allem die prosaische Wirklichkeit hin ter den Instagram- und Snapchat-Posts ein. Leonie (@leoobalys) ist zu Beginn des Film 14 Jahre alt und lebt mit ihren Eltern Andy und Sani im Osten Berlins. Sie steht am Anfang einer Karriere als Influencerin und kann im Verlauf des Films 500.000 Follower feiern (heute sind es 1,5 Millionen). Damit wird das, was als Spaß mit Alltags-Postings begann, zu einem sehr lukrativem Business. Ein Manager stellt Millionen in Aussicht, meint aber auch „du musst authentischer werden“. Leonies Eltern übernehmen das Management lieber selbst, und GIRL GANG zeigt, wie die Familie als Firma funktioniert. Gereizte Drehs, Promo-Aktionen im Shop ping-Center und Produktwerbung für McDonalds wechseln sich ab, und ständig wird aufgenommen, bearbeitet, das Leben ver wertet. Auf der anderen Seite des Spiegels, in einem bayerischen Dorf, baut das Mädchen Melanie an einer Fanpage und träumt von einer Freundin wie Leonie und einem anderen, glamouröse ren Leben. D Toni Ohms ¢ Start am 20.10.2022

Schweiz 2022 D 98 min, FSK: 6 D R: Susanne Regina Meures D B: Susanne Regina Meures D S: Katja Dringenberg D V: Rise And Shine Cinema Leonie is 14 years old and lives with her parents in East Berlin. She is at the start of her career as an influencer and celebrates having 500,000 followers over the course of the film. What started off as being just for fun becomes a very lucrative business. Litauen/Frankreich/Belgien 2022 D 112 min, FSK: 16 D R: Kristina Buozyte, Bruno Samper D B: Kristina Buozyte, Brian Clark, Bruno Samper D K: Feliksas Abrukauskas D S: Suzanne Fenn D M: Dan Levy D D: Raffiella Chapman, Eddie Marsan, Rosy McEwen D V: Plaion Pictures In the post-apocalyptic sci-fi adventure movie VESPER CHRONICLES, 13 year old Vesper has a hard and lonely life in a desolate no man’s land – until she meets and befriends citadel inhabitant Camelia in the forest.
D 26 D OKTOBER 2022 Termine unTer www.indiekino.de in DiekriTiken
D Eva
¢

Die LegenDe vom TigernesT

Der stille Waisenjunge Balmani beschließt eines Nachts, das Heim zu verlassen und sich auf die Suche nach dem sagenum wobenen Tigernest im Himalaya zu machen, von dem ihm seine Mutter einst erzählte. Als er Zeuge wird, wie Wilderer eine Tiger mutter erschießen, rettet er kurzerhand ihren Nachwuchs. Die Freundschaft zwischen dem Jungen und dem wenige Wochen alten Tiger in der Wildnis von Nepal erzählt der italienische Doku mentarfilmregisseur Brando Quilici in großen Naturpanoramen und mit erstaunlichen Tieraufnahmen.

Originaltitel: Ta’igara: An adventure in the Himalayas D Italien 2022 D 94 min, FSK: 6 D R: Brando Quilici D D: Claudia Gerini, Sunny Pawar, Amandeep Singh, Yoon C. Joyce

LyLe – Mein Freund, das KroKodiL

Nach dem Umzug der Familie Primm nach New York findet ihr jun ger Sohn Josh es schwierig, neue Freunde zu finden. Das ändert sich, als er Lyle entdeckt – ein singendes Krokodil, das gerne badet, Kaviar liebt und gute Musik. Die beiden werden schnell beste Freunde. Doch als Lyles Existenz von dem bösen Nachbarn Mr. Grumps bedroht wird, müssen die Primms zusammen mit Lyles charismatischem Besitzer Hector P. Valenti versuchen, der Welt zu zeigen, dass nichts falsch daran ist, wenn man ein großes, singendes Krokodil ist.

Originaltitel: Lyle, Lyle, Crocodile D USA 2022 D R: Josh Gordon, Will Speck D D: Constance Wu, Javier Bardem, Scoot McNairy, Sal Viscuso

Die Mucklas … unD wie sie zu Pettersson unD FinDus kaMen

Die Mucklas sind kleine, chaotische Kobolde, die gerne Basteln und Sachen sammeln. Ihr Wohnort war bis jetzt ein kleiner, unor dentlicher Kramladen. Doch leider stirbt der alte Besitzer und der neue räumt erstmal ordentlich auf, zu ordentlich für die wuseligen Mucklas. Also machen sich Svunja, Tjorben und Smartö auf die Suche nach einem neuen Zuhause …

Deutschland, Luxemburg 2019 D 75 min, FSK: 0 D R: Ali Samadi Ahadi, Markus Dietrich

EIN FESSELNDES ABENTEUER DIE GESCHICHTE EINER GROSSEN
Termine unTer www.indiekino.de IN DIEKINdEr
EIN FILM VON BRANDO QUILICI
FREUNDSCHAFT ab 20. Oktober nur im Kino

Für mich iST der gröSSTe

AnTAgoniST immer dAS SySTem

Interview mit Ana Lily Amirpour über MONA LISA AND THE BLOOD MOON

INDIEKINO: Ihr Film wirkt wie ein dunkles Märchen, fast wie eine moderne Version von Frankenstein.

Ana Lily Amirpour: Das gefällt mir. Ich habe den Film schon lange nicht mehr gesehen. Als Kind habe ich mich dabei gegruselt. Aber ich mag die Idee. Wenn man es so nimmt, sucht Frankenstein auch nur einen Freund. Und im Grunde wird er auf ähnliche Weise konstruiert, wie sich auch Mona Lisa im Laufe der Zeit entwickelt. Allerdings ist sie etwas agiler und unberechenbarer. Frankenstein bewegt sich sehr langsam.

Aus welcher Motivation heraus haben Sie Ihre Hauptfigur konstruiert?

Zuallererst wollte ich einen Film in der Art machen, wie ich sie als Kind geliebt habe. Einen Abenteuerfilm, mit einem Hauch von Horror. Und ich wollte meine eigene Superheldin erfinden. Ich hatte eine werwolfartige Figur im Sinn. Es ging mir darum, den Mond als etwas Ursprüngliches und Mächtiges herauszustellen, das tief mit unserem Inneren verbunden ist. Aber ähnlich wie in meinen anderen Geschichten, ist für mich der größte Antagonist eigentlich immer das System. Es ist ja nicht unbedingt so, dass es wie im Western stets einen Guten und einen Bösen geben muss. Die Welt, in der man lebt, fordert einen genug heraus. Sie setzt ein bestimmtes Verhalten voraus, und das beeinflusst letztendlich auch, ob und wo man sich zugehörig fühlt. Aber Mona Lisa ist jemand, die dieses Gefühl noch nie gespürt hat. Deshalb kann

Ana Lily Amipour hatte ihren internationalen Durchbruch 2014 mit A GIRL WALKS HOME ALONE AT NIGHT, einem Vampirwestern mit einer coolen Vampirin im Tschador. Nachdem ihr Wüstenkannibal*innenfilm THE BAD BATCH auf Netflix unterging, ist MONA LISA AND THE BLOOD MOON Amirpours zweiter Kinofilm, mit Jeon Jong-seo (BURNING) und Kate Hudson (ALMOST FAMOUS) in den Hauptrollen. Pamela Jahn hat sich mit Ana Lily Armirpour über ihren neuen Film unterhalten.
D 28 D OKTOBER 2022
IEFEATuRE

sie durchs Leben ziehen, ohne sich um irgendjemanden oder das, was passieren kann, Sorgen zu machen. Sie hat immer die Kon trolle. Ich fand das ein starkes Bild. Und ich wünschte, ich könnte das auch von mir selbst behaupten. Das wäre toll.

Andererseits ist Mona Lisa auch eine junge Frau, die niemand versteht. Sie ist ein großes Mysterium.

Genau. Ich denke, für uns Frauen liegt die ultimative Freiheit heute darin, unser Aussehen und Verhalten ändern zu können, aber es ist nicht sehr üblich. Mädchen werden immer noch zu oft und zu schnell über ihr Äußeres definiert. Deshalb war es mir wichtig, dass Mona Lisa sich ständig verwandeln und verändern kann. Aber die Fragestellung bleibt die gleiche: Wie findest man sich selbst?

Der Film spielt in New Orleans, und man bekommt den Eindruck, dass es ein ziemlich brutaler Ort ist. Haben Sie das auch so empfunden?

Das ist Teil der Kultur von New Orleans. Es ist ein sehr kraftvoller, wilder, schmutziger, lustiger und hedonistischer Ort. Und es ist ein Ort, der sehr alt ist. In der Stadt kommt alles zusammen. Ich verbrachte viel Zeit in all den Stripclubs, die es dort gibt, habe viele der Frauen getroffen und mich lange mit ihnen unterhalten, als ich das Drehbuch schrieb. Aber man muss auch die andere Seite sehen, die Tatsache, dass überall Polizisten herumlaufen. Jeden Tag holen sie betrunkene Mädchen von der Straße, damit sie aufhören, auf den Gehweg zu pissen und zu kotzen. Alles in dieser Stadt funktioniert auf eine bestimmte Art und Weise.

In gewisser Hinsicht ist New Orleans wie ein eigener Charakter in der Geschichte.

Die Stadt ist wie Bonnie. Sie wird immer wieder hart getroffen und steht trotzdem immer wieder auf. Sie ist eine Überlebens künstlerin. So wie alle Menschen, die dort leben, Überlebens künstler sind.

Wie in allen Ihren Filmen spielt Musik erneut eine große Rolle. Entwickeln Sie den Soundtack parallel zum Drehbuch?

Sobald ich anfange, über eine Figur nachzudenken, kommen mir diverse Songs in den Sinn. Ich höre privat auch viel Musik, eine ganz bestimmte Art von House-Musik. Aber wenn ich mich an ein neues Drehbuch setze, wollen die Figuren im Film unterschied liche Songs hören. Charlie hatte für mich etwas von einer Art Thrasher-Metalhead, und bei Bonnie hatte ich ein eher loungiges Gefühl, so wie die Musik, die in dem Club gespielt wird, in dem sie tanzt. Mona Lisa dagegen ist voller optimistischer, dynamischer Energie, und Fuzz hatte diese Art von dreckigem industriellem Techno-Sound an sich. So hat jeder seinen eigenen Sound. Und

ich liebe es, auch am Set Musik zu spielen. Ich habe einen Ghet toblaster mit Griff, den ich ständig mit mir herumtrage. Und wenn ich den Schauspieler*innen das fertige Drehbuch in die Hand gebe, liegt immer ein Brief auf der Titelseite, in dem steht: „Bitte höre Dir jeden Song an, während Du das Drehbuch durcharbei test, damit Du ein Gefühl dafür bekommst.“

Sie scheinen generell ein großes Herz für Außenseiter und Einzel gänger zu haben. Woher kommt das?

Das liegt daran, dass ich selbst mein Leben lang das Gefühl hatte, eine Außenseiterin zu sein. Meine Eltern kommen aus dem Iran, ich wurde in England geboren, und dann gingen wir nach Amerika. Aber wir sprachen eine andere Sprache, ich sah anders aus und wir aßen anderes Essen. Ich habe immer versucht zu verstehen, wo ich hinpasse. Ich habe mich auch nie so weiblich gefühlt, wie die anderen Mädchen um mich herum. Ich wollte lieber im Dreck sitzen und Frösche fangen und auf Bäume klettern und Horror filme anschauen. Es gab keinen Platz für mich, also war ich allein. Aber ich war nicht traurig. Wenn man gezwungen ist, sich auf sich selbst zu verlassen, kann man die Fantasie schweifen lassen und sich eine ganz eigene Welt erschaffen, wie Bastian in „Die unendliche Geschichte“. Und man bekommt ein gutes Gespür für andere Menschen, denen es vielleicht genauso geht.

Gibt es etwas, dass Ihnen ein Gefühl von Zugehörigkeit vermittelt?

Ich habe erst im Kino angefangen, einen Gemeinschaftssinn zu spüren. Wir alle lieben Geschichten, wir lieben Schauspieler*in nen, wir lieben diese Kunstform. Ich bin sehr glücklich, heute von Menschen umgeben zu sein, die das ähnlich sehen. Andererseits ist es nicht schlecht, ein Außenseiter zu sein. Darin liegt eine enorme Kraft, weil man sich auf niemanden oder irgendetwas verlassen muss, außer auf sich selbst.

Apropos Außenseiter, arbeiten Sie weiterhin an Ihrer weiblichen Version von CLIFFHANGER?

Ja, aber so würde ich es nicht formulieren. Ich arbeite an einem Remake von CLIFFHANGER. Und ich freue mich sehr darauf. Es wird wirklich ziemlich verrückt und anders, weil CLIFFHANGER ein Kultfilm ist, sowas kann man nicht wiederholen. Aber davon abgesehen würde ich mir wünschen, dass die Medien einen neuen Weg finden, über weibliche Hauptfiguren zu schreiben. Dieses explizite Hervorheben von weiblichen Heldinnen, davon habe ich genug. Zumindest sollten wir dann beides gleichwer tig herausstellen. Wie beim Tennis, da gibt es Damentennis und Herrentennis. Es heißt ja nicht Frauentennis und Tennis, oder? Und wenn wir jedes Mal betonen würden, wenn ein Mann die Hauptrolle spielt, dann würden wir schnell merken, wie dumm das ist.

D Das Gespräch führte Pamela Jahn

IN DIEFEATURE OKTOBER 2022 D 29 D

Filmkomödien werden selten mit Preisen für die Kamera ausge zeichnet. WAS DEIN HERZ DIR SAGT – ADIEU IHR IDIOTEN! ist eher die Ausnahme als die Regel. Alexis Kavyrchine, der auch für Cedric Klapischs DAS LEBEN EIN TANZ die Kinematografie besorgte, konstruiert in seinen Bildern verschachtelte symboli sche Räume. Die Betriebsamkeit der Welt steht der Perspektive von Suze (Virginie Efira), Jean Baptiste (Albert Dupontel, der den Film auch schrieb und inszenierte) und Monsieur Blin (Nicolas Marié) gegenüber. Sie sind immer wieder in Spiegelungen gefan gen, glitzernde Hochhäuser stehen für eine Geschäftigkeit, zu der sie keinen Zugang mehr haben. In dieser Szene, in der Suze das

Archiv einer riesigen Behörde auf einem verwirrenden Schaubild sucht, sperrt der Kamerablick sie hinter der Glasscheibe ein, die eigentlich die Transparenz und Durchlässigkeit moderner Institu tionen repräsentieren soll.

VORSChAu INDIEKINO Im NOVEmBER uND DEzEmBER

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D 30 D OKTOBER 2022
NAChBILD

ÜBER uNS Das INDIEKINO MAGAZIN erscheint alle ein bis zwei Monate und bietet einen Überblick über Neustarts, Festivals und Wiederaufführungen. Unser Herz gehört dem unabhängigen Film und dem unabhängigen Kino.

Alpirsbach: Subiaco Kino Bad Driburg: Kino Bad Driburg Bad Füssing: Filmgalerie

Bamberg: Lichtspiel & Odeon Berlin: Acud Kino, b-ware!ladenkino, Bali Kino, Brotfabrik Kino, Bundesplatz Kino, City Kino Wedding, Eva-Lichtspiele, filmkunst66, Filmrauschpalast, FLB Weissensee, FLK Insel, fsk-Kino, Hacke sche Höfe Kino, Hofkino, Il Kino, Intimes, Kino im Planetarium, Krokodil, Mobile Kino, Sputnik Kino, Tilsiter Lichtspiele, Union Filmtheater, Wolf Kino, Xenon Kino, Z-inema, Zukunft

Bielefeld: Lichtwerk im Ravensberger Park, Kamera Filmkunsttheater

Bochum: endstation.kino, Casablanca

Bonn: Rex Filmtheater, Neue Filmbühne, Kino in der Brotfabrik

Bremen: Atlantis Filmtheater, Gondel Filmtheater, Schauburg

Brühl: ZOOM Kino

Chemnitz: Kino Metropol Chemnitz

Dießen am Ammersee: Kinowelt am Ammersee

Dortmund: Schauburg, SweetSixteen

Dresden: Filmgalerie Phase IV

Duisburg: Filmforum

Enkenbach-Alsenborn: Provinz Programmkino

Erfurt: Kinoclub Erfurt

Erlangen: E-Werk

Essen: Essener Filmkunsttheater

Esslingen: Kommunales Kino

Frankfurt: Mal Seh’n Kino

Freudenstadt: Subiaco Kino im Kurhaus Fellbach: Orfeo-Programmkino

Fürstenfeldbruck: Lichtspielhaus Fürstenfeldbruck Fürstenwalde: Union Gießen: Kinocenter Gießen Göttingen: Lumiere, Meliès Halle: Luchs Kino am Zoo, Puschkino Hachenburg: Cinexx

Hamburg: 3001 Kino, B-Movie, Elbe Theater, Filmraum, Die Koralle, StudioKino, Blankeneser Kino, Zeise Kinos Heidelberg: Gloria Filmtheater

Heilbronn: Kinostar-Arthaus

Hillesheim: Eifel-Film-Bühne Hemsbach: Brennessel

Immenstadt: Union Filmtheater

Kaiserslautern: Union-Studio für Filmkunst

Karlsruhe: Schauburg Kassel: Bali, Gloria, Filmladen

Kiel: Traumkino

Kirchberg: Kino Klappe Koblenz: Apollo & Odeon Köln: Filmpalette, Filmhaus, Lichtspiele Kalk, Odeon Kino, OFF Broadway, Weiss haus Kino

Leverkusen: Scala Lich: Kino Traumstern Ludwigsburg: Caligari Kino, Luna Ludwigslust: Luna Filmtheater

Lüneburg: Scala Programmkino

Mainz: Capitol & Palatin

München: Arena Filmtheater, Monopol Kino, Neues Maxim, Rio Filmpalast

Münster: Cinema Münster

Neitersen: Wied-Scala

Neuss: Hitch

Nürnberg: Casablanca Filmkunsttheater

Oberhausen: Kino im Walzenlager

Oberstdorf: Kur-Filmtehater

Ochsenfurt: Casablanca Kino

Oldenburg: cine k

Pforzheim: Cineplex Pforzheim, Kommu nales Kino, Rex Filmpalast

Ratingen: Kino 1+2

Rendsburg: Schauburg, Koki

Reutlingen: Kamino

Rottenburg: Kino im Waldhorn

Rottweil: Central Kino

Schneverdingen: Lichtspiel Schneverdingen

Schramberg: Subiaco Kino

Schwäbisch-Gmünd: Brazil Kino

Soest: Schlachthof Kino

Templin: Multikulturelles Centrum Titisee-Neustadt: Krone Theater

Tübingen: Arsenal, Atelier

Weimar: Kommunales Kino im Mon Ami Weinheim: Modernes Theater

Zollhaus/Hahnstätten: Kreml Kulturhaus

ABONNEmENT Sie können das INDIEKINO MAGAZIN per Post direkt nach Hause bekommen.

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ImPRESSum

Herausgeber: INDIEKINO BERLIN UG (haftungsbeschränkt)

Rudolfstr. 11, 10245 Berlin

Telefon: 030 – 209 897 24, info@indiekino.de, www.indiekino.de

Geschäftsführung: Hendrike Bake

Redaktion: Hendrike Bake, Thomas Dorow redaktion@indiekino.de

Filmtexte: Hendrike Bake, Yorick Berta, Stefanie Borowsky, Tom Dorow, Pamela Jahn, Sus anne Kim, Christian Klose, Clarissa Lempp, Elinor Lewy, Harald Mühlbeyer, Toni Ohms, Anna Stemmler, Eva Szulkowski, Lars Tunçay

Texte Kinohighlights: INDIEKINO MAGAZIN und Kinos

Bildnachweis: Filmbilder/Plakatmotive: Filmverleiher/Filmfestivals

Grafik: Michael Zettler, Nora Wiesner (Zett Media)

Akquise/Marketing: Hendrike Bake, info@indiekino.de

Druck: Bonifatius Druck, Paderborn

Auflage: 25.000

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OKTOBER 2022 D 31 D IN DIESERVICE
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STEHT DER WALD

Henriette CONFURIUS Robert STADLOBER Noah SAAVEDRA August ZIRNER
SCHWEIGEND
EIN FILM VON SARALISA VOLM NACH DEM GLEICHNAMIGEN ROMAN VON WOLFRAM FLEISCHHAUER www.schweigendstehtderwald.de FB/Schweigendstehtderwald AB 27. OKTOBER IM KINO

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