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CaTE BLaNCHETT
DIE rOLLE NICHT aNGENOmmEN, HÄTTE ICH DEN FILm NICHT GEDrEHT“ Interview
INDIEKINO: Tár ist die Geschichte einer Dirigentin, an der Spitze eines der besten Orchester der Welt. Haben Sie einen Bezug zur Welt der klassischen Musik?
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Todd Field: Eigentlich gar nicht. Mich interessierte zunächst einmal weniger diese Welt als die Figur darin. Sie stammt aus einer ganz anderen, letztlich kulturlosen Umgebung, doch die frühe Begegnung mit der Klassik löst etwas in ihr aus. Sie beginnt, mit aller Macht diesem Traum nachzujagen und wird exzellent, ja ikonisch. Sie kommt ganz oben an und ist in der Lage, Magie zu kreieren. Aber sie steht eben auch an der Spitze einer höchst bürokratischen, hierarchischen Organisation, deren Macht sie bedienen und verwalten muss. Diese Balance zwischen dem kapriziösen Künstlertum und dem machtpolitischen Manövrieren reizte mich – und die Welt der klassischen Musik stellte dafür eine ergiebige Kulisse dar.
Haben Sie eine weibliche Protagonistin gewählt, weil es in der Klassik-Szene noch ein langer Weg zur Gleichberechtigung ist?
Man könnte unseren Film als Science-Fiction bezeichnen, so unrealistisch erscheint es zumindest bei den großen Orchestern in Mitteleuropa bis heute, dass es eine Frau so weit nach oben schafft wie Lydia Tár. Aber eine Frau war die Figur schon bevor ich mich für dieses Setting entschied. Einen Mann in dieser Position hätte ich nicht so interessant gefunden, auch nicht, wenn der Film in der Welt des Profisports oder in Hollywood spielen würde.
In Tár werden viele Themen und Debatten mindestens gestreift, die seit einiger Zeit viel diskutiert werden, von #MeToo über Identitätspolitik bis hin zur Cancel Culture. Sehen Sie den Film auch als Kommentar zum derzeitigen Zustand unserer Gesellschaft?
Nein, ich finde es im Gegenteil schwierig, wenn man auf Teufel komm raus einen Film drehen will, der brandaktuelle Debatten abbilden soll. Damit schießt man sich schnell in den Fuß. Ehrlich gesagt könnte TÁR über weite Teile auch ein Historienfilm sein, der irgendwann im 20. Jahrhundert spielt. Denn wovon ich erzähle, sind Machtstrukturen und die Korrumpierung durch Erfolg. Und was damit einhergeht, ist heute im Großen und Ganzen nicht anders als früher.
Geht es im Film um ein deutsches Orchester, weil die die elitärsten der Welt sind?
Für Dirigent*innen sind die großen Orchester in Deutschland und Österreich zumindest so etwas wie der Mount Everest ihrer Branche. Dort liegt der Kanon der klassischen Musik begründet, die Traditionen reichen zurück bis zu Wagner, Mahler und Co. Die Zahl der Menschen, die es dorthin schaffen können, ist sehr überschaubar. Und für TÁR suchte ich obendrein natürlich auch nach dem größtmöglichen Gegensatz zu ihrer bescheidenen Herkunft aus dem amerikanischen Niemandsland von Staten Island.
Stimmt es, dass Sie schon beim Schreiben Cate Blanchett im Kopf hatten?
Ja, und hätte sie die Rolle nicht angenommen, hätte ich den Film nicht gedreht. Normalerweise schreibe ich Drehbücher nicht für bestimmte Schauspieler, aber als ich zu Beginn der Pandemie 2020 mit TÁR anfing, war sie einfach schon in meinem Kopf. Dabei kannte ich sie nur flüchtig, wir hatten uns einmal für ein Joan Didion-Projekt getroffen, aus dem nichts wurde. Und es war nicht so, dass ich so arrogant war zu glauben, dass sie die Rolle auf jeden Fall annehmen würde. Wenn nicht, wäre das auch okay gewesen. Dann hätte ich eben einmal mehr ein Skript für die Schublade geschrieben.
Sie haben Ihr dann für diese Rolle einiges abverlangt, nicht wahr?
Das meiste hat sie sich selbst abverlangt. Ich bin noch nie jemandem begegnet, der an sich selbst derart hohe Ansprüche in der Arbeit anlegt. Man muss ein ziemlicher Verrenkungskünstler sein, um das hinzukriegen, was sie alles macht. Sie musste Deutsch lernen und Klavier spielen, sich den passenden amerikanischen Akzent zulegen und vor allem enorm viel Hintergrundwissen draufschaffen, was diesen Beruf und die klassische Musik angeht. Ganz zu schweigen davon, dass sie natürlich ein ganzes Orchester dirigieren und nebenbei auch noch in die psychologischen Abgründe dieser Figur hinabsteigen musste. Für all das, wofür Lydia Tár in ihrer Karriere 25 Jahre brauchte, hatte Cate ein Jahr Zeit. Das war – selbst angesichts toller Coaches und Lehrmeisterinnen an ihrer Seite – eine unglaubliche Leistung.
Todd Field wurde 1964 in Pomono, Kalifornien geboren und ist in Portland, Oregon aufgewachsen, wo er als Kind zusammen mit Kurt Russell Baseball spielte. Nach einer Ausbildung als Musiker und Schauspieler arbeitete er als zunächst als Schauspieler, später auch als Produzent, Komponist, Autor und Regisseur. Gleich sein erster Film IN THE BEDROOM (2001), ein intensives Familiendrama mit Sissy Spacek, Tom Wilkinson und Marisa Tomei wurde für fünf Oscars nominiert, und vor allem unter Filmkritiker*innen galt Field als Independent-Nachwuchshoffnung. Auch in seinem zweiten Film LITTLE CHILDREN (2006), die Geschichte einer Affäre nach einem Roman von Tom Perotta, inszenierte Field die Nuancen in Beziehungen unter Stress. Dann folgten 16 (!) Jahre Stille – bzw. unrealisierte Projekte mit u.a. Joan Didion, Jonathan Franzen und Cormack McCarthy – bevor Field 2022 mit TÀR wieder auf der Bildfläche erschien. Der Film ist aktuell für sieben Oscars nominiert und Cate Blanchett hat bereits zahlreiche Darstellerinnenpreise erhalten, darunter den Golden Globe und den Silbernen Löwen in Venedig. Patrick Heidmann hat sich mit Todd Field unterhalten.
Sie selbst mussten aber vermutlich auch einiges lernen, oder?
Stimmt, und ich hatte dafür zum Glück einen wunderbaren Lehrer. John Mauceri begann seine Dirigentenkarriere als Assistent von Leonard Bernstein. Er war der Einzige außer sich selbst, den Bernstein zu Lebzeiten sein Orchester dirigieren ließ. Später leitete Mauceri auch lange das Hollywood Bowl Orchestra und schrieb tolle Bücher. Einen besseren Coach hätte ich mir nicht wünschen können.
Würden Sie eigentlich sagen, dass es Parallelen gibt zwischen der Arbeit eines Dirigenten und der eines Regisseurs?
Absolut, sehr viele sogar. Beiden Berufen wohnt eine ähnliche Machtstruktur inne, ganz gleich, ob man die für real oder behauptet hält. Auch die Art und Weise, wie ein Regisseur mit seiner Crew kommuniziert ist der Arbeit in einem Orchester nicht unähnlich. Und die Schauspieler spielen eben, und sind genau wie Musiker empfindsame Künstler. In beiden Fällen hat man es mit sehr vielen Mitarbeitern zu tun und muss ein riesiges Projekt mit enorm vielen beweglichen Einzelteilen stemmen. Meistens sind alle müde, und natürlich hat man es mit dutzenden individuellen
Persönlichkeiten zu tun, die auch mal schlechte Tage haben. Einen Film zu drehen oder eine Sinfonie auf die Bühne zu bringen ist beides Teamwork, aber eben keine Demokratie. Deswegen gehören gewisse Führungsqualitäten und ein Gespür für Management in beiden Fällen dazu.
Sie erwähnten vorhin Drehbücher, die Sie nie verwirklichen konnten. Das kam in den zurückliegenden 16 Jahren seit Ihrem letzten Film IN THE BEDROOM häufiger vor, oder?
Ja, und das ist nie leicht. An dem Klischee, dass die Dinge, die Geschichten, die man schreibt, so etwas wie seine Kinder sind, ist halt doch etwas dran, und es nie ein schönes Gefühl, wenn
TÁr
Ikonische Anti-Heldin andere Leute die eigenen Kinder nicht so hübsch und großartig findet wie man selbst. Aber irgendwann macht man auch seinen Frieden damit. Zumindest habe ich für mich irgendwann verstanden, dass der Prozess des Schreibens, als das künstlerische Schöpfen manchmal befriedigender und erfüllender ist als das Endergebnis. Deswegen bereue ich nichts. Ich habe Werbeclips inszeniert, so kam ich nicht aus der Übung und blieb technisch auf der Höhe. Und ich habe als Autor Auftragsarbeiten angenommen, um die Kassen zu füllen. Warum auch nicht, das ist ja keine Schande. Nur als Regisseur einfach irgendetwas gegen Geld zu drehen, hinter dem ich nicht mit Leidenschaft stehe – das könnte ich nicht. Dann warte ich lieber 16 Jahre, bis wieder ein eigenes Projekt klappt. D Das Gespräch führte Patrick Heidmann
Lydia Tár wird in die Filmgeschichte eingehen wie Tony Montana oder Travis Bickle. Bereits jetzt hat die vollkommen fiktionale
Tár eine vorzeigbare Anhängerschaft auf Social Media, und es machen sich Leute auf Twitter halb-ernsthaft Gedanken darüber, was Lydia Tár wohl zu diesem oder jenem Vorfall sagen würde, oder sie schreiben „OMG I saw Lydia Tár“, wenn sie Cate Blanchett irgendwo gesehen haben, die Tár spielt.
Das mag auch daran liegen, dass Regisseur Todd Field seine Hauptfigur außerordentlich geschmeidig in die reale Welt der E-Musik einbaut. Die Berliner Philharmoniker, die Lydia Tár dirigiert, gibt es ebenso wie die Promis, mit deren Namen sie so souverän hantiert, seien es Leonard „Lenny“ Bernstein oder Antonia Brico. In einer fast zehnminütigen Szene gleich zu Beginn des Films interviewt Adam Gopnik, der wirkliche Autor des echten New Yorker Magazins die fiktionale Lydia Tár auf einer fiktionalen Session beim New Yorker Festival über ihre Arbeit als Dirigentin und ihr Verständnis von Musik. Die Szene ist mutig (außer einem eher sachlichen Dialog passiert nichts) und komisch (die kleinen Eitelkeiten der Kulturelite sind perfekt eingefangen), und es lohnt sich zuzuhören, denn fast alles, was Tár hier äußert, wird später im Film kommentiert, widerlegt oder gespiegelt werden.
Das Interview zeigt Lydia auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Souverän hört sie zu, wie Gopnik ihre Erfolge auflistet. Charismatisch spricht sie über ihre Arbeit, flicht hier und da einen kleinen Scherz ein, erinnert an ihren guten Freund „Lenny“, und ist sich ihrer Wirkung voll bewusst. Cate Blanchett als Tár glänzt und funkelt, lässt Abgründe ahnen und eine komplizierte Lebensgeschichte, deren Details wir nie erfahren werden. Sie spielt Lydia Tár vielschichtig und ambivalent als gleichermaßen mysteriös-ikonische Heldin und als zutiefst toxische Persönlichkeit, die sich wie ein Chamäleon an ihre Umgebung anpasst, überall die Fäden zieht und mit jedem Satz manipuliert.
Das New Yorker-Interview markiert den Anfang ihres Untergangs. Wenig später sehen wir, wie sie sich in einem Uni-Seminar nahezu sadistisch über einen Studenten of Colour lustig macht, der sich aus politischen Gründen nicht für Bach begeistern kann. Die Szene ist ein Kabinettstück über Identitäts- und Kunstdiskurse, zeigt aber vor allem, dass Lydia ihr Gefühlt für Zeitgeist verliert, für die derzeit gefragteste Positionierung. Und natürlich filmt jemand mit. Während Lydia noch dabei ist, bei den Philharmonikern in Personalfragen zu intrigieren und eine neue junge Cellistin zu „protegieren“, holen sie Gerüchte über eine ehemalige Studentin ein, die sich nach einer Affäre mit Tár umgebracht hat.
Todd Field (LITTLE CHILDREN) erzählt diese Geschichte einer Demontage langsam und genau, und entwickelt dabei eine ungeheure Spannung, bei der es auf jede Kleinigkeit und jede Nuance ankommt. Er seziert präzise die Mechanismen, mit der Lydia ihre Macht ausspielt, auch in ihrer Beziehung mit Orchesterleiterin Sharon (fantastisch präsent mit kleinsten Gesten: Nina Hoss), und hat dennoch Sympathie für die manipulative Aufsteigerin aus kleinen Verhältnissen, die virtuos mit dem Habitus der Hochkultur spielt.
TÁR ist ein Thriller um Aufstieg und Fall einer Dirigentin. TÁR ist ein Horrorfilm, in dem sich das von Lydia Verdrängte in Störgeräuschen und Ticks manifestiert. TÁR ist eine Komödie über Hochkultur im Influencer-Zeitalter. TÁR ist einer der interessantesten
Filme des Jahres D Hendrike Bake
¢ Start am 2.3.2023
GLETSCHErGraB
Der isländische Thriller nach dem gleichnamigen Roman von Arnaldur Indriðason erzählt eine wild konstruierte Geschichte um ein 1945 verschollenes Flugzeug, das auf einmal aus den Eismassen des Gletschers Vatnajökull wieder auftaucht. Das Geheimnis des Flugzeugs wird von den auf Island stationierten Amerikanern mit allen Mitteln gehütet, und als die Bankangestellte Kristin, ihr Bruder Elias und Kristins Ex, der britische Historiker Steve der Operation durch Zufall in die Quere kommen, müssen sie um ihr Leben fürchten.
¢ Start am 9.3.2023
Originaltitel: Operation Napoleon D Island/Deutschland 2023 D R: Óskar Thór Axelsson D D: Vivian Ólafsdóttir, Jack Fox, Iain Glen
aNNE-SOPHIE mUTTEr – VIVaCE
Im Alter von dreizehn Jahren wurde die Violinistin Anne-Sophie Mutter von Herbert von Karajan entdeckt und später zum Weltstar. Für ihr Porträt unternahm die Regisseurin Sigrid Faltin eine lange Bergwanderung in den Alpen mit der Musikerin und filmte sie in Gesprächssituationen mit Gesprächspartnern ihrer Wahl. Mit Tennisprofi Roger Federer, dem New Yorker Magier Steve Cohen und den Musikern Daniel Barenboim, John Williams, Jörg Widmann und Lambert Orkis spricht Mutter über ihre Karriere, die Musik und auch ihr Privatleben.
¢ Start am 28.3.2023
Deutschland 2023 D R: Sigrid Faltin
Deutschland 2023 D 89 min D R: Charly Wai Feldman D K: Zamarin Wahdat D
S: Franziska von Berlepsch D M: Laurens von Oswald, Leopold Faerberboeck D
V:
Sara marDINI –GEGEN DEN STrOm
Komplexes Porträt der Aktivistin
Die 20-jährige syrische Leistungsschwimmerin Sara Mardini und ihre drei Jahre jüngere Schwester Yusra befinden sich 2015 auf einem Schlauchboot im Mittelmeer, als der Motor aussetzt und das Boot zu sinken beginnt. Sara und Yusra springen ins Wasser, ziehen und schieben das Boot drei Stunden lang bis an die Küste von Lesbos. Sie retten 18 Menschen das Leben. Die Schwestern werden zu Medienstars. Sie erhalten den „Bambi“-Preis der Burda-Medien-Gruppe in der Kategorie „Stille Helden“, treten auf Ted-Talks und auf Konferenzen auf und werden von US-Präsident Obama empfangen. Yusra startet 2016 und 2021 bei den Olympischen Spielen und repräsentiert das neu gegründete internationale Team der Geflüchteten. Netflix produziert einen Spielfilm, THE SWIMMERS. Während Yusra weiter trainiert, kehrt Sara zurück nach Lesbos und arbeitet als ehrenamtliche Helferin. 2018 wird sie von griechischen Behörden verhaftet und wegen Beihilfe zur illegalen Einreise (Schleusung), Geldwäsche, Betrug und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung angeklagt. Nach drei Monaten in einem Hochsicherheitsgefängnis wird sie auf Kaution freigelassen. Seitdem wartet sie auf ihre Verhandlung. Filmemacherin Charly Wai Feldman dokumentiert Saras Geschichte seit 2018. Sie zeigt Mardini als Kämpfern, die ihre eigenen Motivationsreden ernst meint, aber sich damit auch gegen die drohende Depression und ihr Trauma zu wappnen versucht. Sara bricht ihr Studium am Bard College ab und geht auf einem Schiff von „Sea-Watch“ erneut auf Rettungsmission. Wie sehr es sie bewegt, dass die europäische Politik Menschen im Meer ertrinken lässt, während Retter kriminalisiert werden, ist ihr jederzeit anzumerken. SARA MARDINI ist ein komplexes Aktivistinnen-Portrait, das nicht nur von Mut, sondern auch von Verzweiflung und Einsamkeit erzählt. D Tom Dorow
¢ Start am 23.3.2023
A documentary about the Syrian professional swimmer Sara Mardini who got involved in refugee aid after fleeing herself and is currently being accused of espionage and human trafficking.
Deutschland 2022 D 119 min D R: David Wnendt D B: David Wnendt, Felix Lobrecht D K: Jieun Yi D S: Andreas Wodraschke D M: Enis Rotthoff, Konstantin Djorkaeff Scherer D D: Nicole Johannhanwahr, Roland Wolf, Franziska Wulf, Jörg Rühl D V: Constantin Film Verleih
Sonne Und Beton
Aktion, Aggression, Geblödel
Berlin, Neukölln, Gropiusstadt, Anfang des Jahrtausends. Im Fernsehen verkündet Gerhard Schröder die Agenda 2010, bei den Nokias sind ständig Akku und Guthaben leer, im Hintergrund läuft Aggro Berlin.
Von seinem Wesen her ist Lukas ein freundlicher, schüchterner Junge, aber das kann sich in der Gropiusstadt kein Jugendlicher leisten, zumal nicht, wenn er einen Freund wie Julius hat, der –nicht besonders helle, dafür aber unerschrocken - den Stress auch noch produziert. Es hätte vielleicht gereicht, einfach weiterzugehen, Richtung Park, aber Julius bleibt stehen und mackert herum, die Lage eskaliert, und plötzlich prügeln sich die arabischen und türkischen Drogendealer auf der Wiese, und Lukas, Gino und Julius sind mittendrin. Als eine Art Wiedergutmachung verlangen die „Arabs“ 500 Euro von Lukas. Als rettende Lösung erscheinen die nagelneuen Computer, die Lukas‘ Problemschule im Problemkiez gerade vom Senat bekommen hat. Sie zu klauen, ist, wie sich wenig überraschend herausstellt, keine gute Idee. David Wnendts SONNE UND BETON nach dem autofiktionalen Bestseller von Felix Lobrecht erinnert an die Filme von Danny Boyle: poppig, bunt, bei aller Härte grundsätzlich gut gelaunt und immer in Bewegung. Die Jungs sind immer unterwegs, auf den Grünflächen, in den Hochhausblocks, über den Dächern, während im Hintergrund die Sonne auf- oder untergeht. Sie sind auf dem Weg zur Schule, zu einer Party oder zum Freibad. Sie sind auf Mission: Freunde abholen, vor Gegnern flüchten, Drogen organisieren, Computer verticken. Die Kamera fährt an Lukas‘ Buzzcut den Hinterkopf entlang, saust durch die Gänge des Schulgebäudes, fliegt über die Dächer, dreht sich im Kreis. Auch das Kiezdeutsch – „lass mal Gropius gehen“ - ist immer Aktion, Aggression, Gegenaggression, Geblödel. D Hendrike Bake ¢ Start am 2.3.2023
David Wnendts SUN AND CONCRETE about four teenage friends in Berlin’s “Problemkiez” Gropiusstadt is based on the auto fictional bestelling novel by Felix Lobrecht.
Die eiche
Naturdoku ohne Erklärbär
Der schöne Dokumentarfilm von Michel Seydoux und Laurent Charbonnier ist angenehm kurz und kommt ganz ohne Erklärungen aus. Eine dynamische aber nie hektische Kamera beobachtet ein Jahr lang – von Spätsommer bis Frühsommer – was auf einer über zweihundert Jahre alten Eiche im Departement Loire und um sie herum vor sich geht. Der Baum ist Heimat für eine Reihe von Tieren: Zwischen den Wurzeln haust eine Waldmausfamilie, in den Zweigen haben sich Eichhörnchen und ein Eichelhäherpaar ihre Nester gebaut, und auf der rissigen Rinde, der alten Baumhaut, an der die geschmeidige Kamera immer wieder entlang gleitet, krabbeln spacige Käfer – die Eichelbohrer. Sie leben auf dem Baum, paaren sich auf den Eicheln und legen ihre Eier dann gleich in den Früchten ab. Wenn die Larven schlüpfen, verkriechen sie sich zwischen den Wurzeln der Eiche in der Erde und werden über den Winter zur nächsten Eichel-Käfergeneration.
Im Herbst, wenn die Eicheln reif sind, sind dann alle da: Die Rehe, die Wildschweine, die Vögel, auch ein Nutria und ein Igel schauen vorbei, und im Teich stehen die Kraniche. Der Film lässt genügend Zeit zum entspannten Hinschauen, aber immer wieder ist etwas los, so geht gleich am Anfang ein Gewitter über dem Wald nieder und lässt in der Mausehöhle das Wasser steigen. Zu den spektakulärsten Szenen des Films gehören Makro-Aufnahmen von Insekten und Regentropfen, die Mausehöhle aus verschiedenen Perspektiven und eine spannend inszenierte Verfolgungsjagd von Greif- und Singvögeln, bei der ein Habicht senkrecht zwischen den Baumstämmen durchzischt. Dass die einen für die anderen Futter sind, ist klar, aber der freundliche Film lässt unsere Held*innen überleben und ist überhaupt mehr an der Symbiose der Lebensformen interessiert als am Überlebenskampf. D Hendrike Bake ¢ Start am 9.3.2023
Deutschland 2022 D 89 min, FSK: 6 D R: Till Endemann D B: Till Endemann, Andreas Cordes D S: Jens Müller D M: Rutger Reinders D D: Valerie Arnemann,
Lucy ist jetzt GanGster
Bankraub für die Eisdiele
„Ich bin Lucy und irgendwann im Laufe dieser Geschichte werde ich eine Bank überfallen“, sagt die zehnjährige Grundschülerin zu Beginn in die Kamera. Dabei ist die brave Lucy eigentlich zu gut für diese Welt. Mit ihrem hilfsbereiten Verhalten möchte sie die Taten böser Menschen ausgleichen, damit die Welt nicht umkippt. Im märchenhaft-malerischen Städtchen Werlach-Bimsheim betreiben Lucys Eltern Pietro und Nadine die Gelateria Felicità, in der sie bunte, fantasievolle Eissorten verkaufen, die gegen jede Art von Kummer helfen und sofort glücklich machen. Und wer glücklich ist, der macht die Welt ein bisschen besser! Daran glaubt Lucy ganz fest. Doch eines Tages explodiert durch ein Missgeschick die 30 000 Euro teure Eismaschine – und die örtliche Bank weigert sich, der Familie einen Kredit für eine neue zu geben. Als ihr Patenonkel Carlo ihr erzählt, jede*r könne Gangster werden, und Lucy im Fernsehen einen Beitrag über einen Banküberfall sieht, kommt ihr eine Idee: Sie muss Bankräuberin werden, um die Eisdiele vor dem Aus zu retten! Ihr versetzungsgefährdeter Mitschüler Tristan, der größte Bösewicht der Schule, erklärt sich bereit, mit Lucy Erpressung, Diebstahl und Betrug zu trainieren, wenn sie ihm dafür Nachhilfe gibt.
Regisseur Till Endemann hat mit LUCY IST JETZT GANGSTER einen humorvollen, spannenden und zeitlosen Kinderfilm gedreht, dessen farbenfrohes, detailverliebtes Szenenbild oft an die 50erund 60er-Jahre erinnert. Es geht um immerwährende Themen wie Glück und Gemeinschaft – und darum, ein guter Mensch zu sein. Die überzeugenden, vielschichtigen Figuren Lucy und Tristan machen im Laufe des Films eine Entwicklung durch, freunden sich an und fragen sich: „Kann man wirklich glücklich sein, wenn man andere unglücklich macht?“ D Stefanie Borowsky
¢ Start am 2.3.2023
Lucy’s parents Pietro and Nadine own an ice cream shop with ice cream that makes you immediately happy. When the expensive ice cream machine explodes and the family can‘t afford a new one, Lucy gets the idea to become a gangster and rob a bank.