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Interview mit Alice Diop über SAINT OMER
Alice Diops Eltern wanderten in den sechziger Jahren nach Frankreich ein. Ihr Vater arbeitete als Automechaniker, ihre Mutter als Putzfrau. Diop studierte Geschichte und „Visual Sociology“ und im Dokumentarfilmatelier der Filmhochschule La Femís. Diops Dokumentarfilm LA PERMANENCE (IM SPRECHZIMMER, 2016) begleitet Ärzte in einem Bereitschaftsdienst, die vor allem männliche Migranten behandeln. Ihr zweiter Langfilm NOUS, der sich mit der Schnellbahn RER B von Nord nach Süd durch Paris bewegt und die Reisenden porträtiert, gewann die Sektion Encounters der Berlinale 2021. SAINT OMER ist Diops erster Spielfilm. Beim Filmfestival in Cannes erhielt der Film den Großen Preis der Jury. Für INDIEKINO sprach Pamela Jahn mit Alice Diop.
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INDIEKINO: Ihr Film basiert auf einem realen Fall von 2016. Wann stand für Sie fest, dass Sie die Geschichte verfilmen wollten?
Alice Diop: Ich hatte die Idee, nachdem ich fünf Tage lang dem Prozess gegen die Frau beigewohnt hatte, die ihr kleines Mädchen unter den gleichen Umständen getötet hat, wie sie im Film beschrieben werden. Diese Erfahrung weckte in mir sehr persönliche Gefühle und warf jede Menge Fragen auf. Sie veranlasste mich, tief in mich zu gehen und mein eigenes Verhältnis zur Mutterschaft zu hinterfragen. Und ich spürte, dass es nicht nur mir so ging, sondern auch allen anderen Frauen, die im Gerichtssaal anwesend waren.
Wie haben Sie von dem Vorfall erfahren?
Ich las einen Artikel in der Zeitung „Le Monde“, und das erste Bild, das ich sah, entstammte einer Fahndungsmeldung der Polizei, die die Leiche eines kleinen Mädchens an einem Strand in Nordfrankreich gefunden hatte. Auf dem Foto war eine Frau zu sehen, die einen Kinderwagen mit mehreren Kindern schob. Als ich das Gesicht dieser Frau sah, hatte ich den Eindruck, sie zu kennen, obwohl ich ihr natürlich noch nie begegnet war. Aber da war etwas in ihrem Gesicht, in ihren Zügen, das mir bekannt vorkam. Ein paar Tage später legte sie ein Geständnis ab, und es stellte sich heraus, dass sie auch aus dem Senegal stammte. Wir waren mehr oder weniger im gleichen Alter, obwohl wir einen sehr unterschiedlichen Lebensweg hatten. Ich war sehr fasziniert von dieser Geschichte, über die in Frankreich viel berichtet wurde. In dieser Zeit lass ich noch einen anderen Zeitungsartikel, der sich mit der Frage beschäftigte, wie die Angeklagte ihre Tochter getötet hatte. Und sie sagte: „Ich habe sie am Strand zurückgelassen, als die Wellen kamen.“ Ihre Haltung und diese doch sehr spezielle Wortwahl, all das hat mich neugierig gemacht. Daraufhin beschloss ich, zum Prozess zu gehen.
Was genau hat Sie an den Worten beeindruckt?
Die Antwort hatte etwas Lyrisches und Psychoanalytisches an sich. Sie hat eine Aura geschaffen, die mich dazu brachte, mehr über diese Person erfahren zu wollen. Die Literatur ermöglicht es uns, tief in das Leben eines anderen Menschen einzudringen und an Ereignissen teilzuhaben, die so schockierend und so gewalttätig sind, dass man sich ihnen sonst vielleicht nicht genähert hätte. Als ich schließlich im Gerichtssaal saß, merkte ich natürlich, dass diese Aura, die in meiner Vorstellung das Verbrechen, das sie begangen hatte, gewissermaßen verschleiert hatte, nicht mehr da war. Es war nur ein Missverständnis aufgrund dieses einen Satzes, den sie gesagt hatte. Tatsächlich hatte sie eine konkrete, gewalttätige und kriminelle Tat begangen. Aber die mythologische Dimension in meinem Kopf war da, und so blieb ich die ganzen fünf Tage, in denen ich, wie alle Anwesenden, völlig überwältigt war von der Tat dieser Frau. Meine Co-Autorin Marie Ndiaye hat nach unserer gemeinsamen Arbeit an dem Drehbuch sogar einen Roman über die Geschichte geschrieben.
Sie sind bisher vor allem als Dokumentarfilmerin bekannt. SAINT OMER ist ihre erste fiktionale Regiearbeit. Worin bestand für Sie die größte Herausforderung?
Ich glaube nicht, dass sich meine Herangehensweise an das Filmemachen geändert hat. Ich bin immer auf der Suche nach neuen filmischen Formen und Mitteln, die am besten geeignet sind, um das auszudrücken, was ich vermitteln möchte. SAINT OMER ist in dem Sinn Teil eines Entwicklungsprozesses, eine Art Weiterführung dessen, was ich in der Vergangenheit gemacht habe. Der Film liegt auf der gleichen Wellenlänge mit meinen Dokumentarfilmen. Ich sehe keinen großen Unterschied in der Art meines Denkens. Aber natürlich war das Besondere, dass ich diesmal mit Schauspieler*innen gearbeitet habe.
Sie haben die Bilder von der schrecklichen Tat, die Sie im Rahmen der Verhandlung gesehen haben, im Film bewusst ausgespart. Was steckt hinter dieser Entscheidung?
Es stand für mich von Vornherein außer Frage, vor allem aus ethischen und moralischen Gründen, aber auch aus filmischen. Diese Tat ist ein Rätsel, sie ist mir immer völlig unerklärlich. Ich habe es nicht verstanden, und ich denke, auch sie selbst hat bis heute keine Erklärung dafür, warum sie es getan hat. Es wäre unehrlich und pornografisch gewesen, wenn ich versucht hätte, die Tat darzustellen oder irgendwie zu rekonstruieren. Ich glaube an die Macht des Mediums, an das, was außerhalb des Bildrahmens passiert, was meiner Meinung nach genauso wichtig ist wie das, was im Bild ist. Und an die Macht der Worte. Indem ich die Zuschauer auffordere, sich auf das zu konzentrieren, was sie nicht sehen können, begleite ich sie auf eine Reise zu Ihrem Bewusst- und Unterbewusstsein - einer Reise, die sehr offen ist, weil man sich mit dem, was nicht dargestellt wird, in der Fantasie auseinandersetzt. Und ich denke, das eröffnet die Möglichkeit, mehr über die Worte nachzudenken, die gesagt werden.
Die Worte, die Sie im Drehbuch finden, gleichen einer literarischen Sprache, die im Kino eher ungewöhnlich ist, aber in Ihrem Film enorm wichtig erscheint.
Die Worte basieren auf den wahren Gerichtsprotokollen. Sie entsprechen der Art und Weise, wie die Angeklagte sich ausgedrückt hat. Sie gab ihren Bericht in dieser literarischen Sprache wieder, um sich von dem Gesagten und von der Tat selbst zu distanzieren, von etwas, das sonst einfach unaussprechlich und unbeschreiblich gewesen wäre. Wahrscheinlich ging es ihr darum, sich zu verteidigen. Sie versuchte, sich zu profilieren, Abstand zu gewinnen, sich gegen alle Projektionen zu wehren, die sich möglicherweise ereignet haben.
Sie haben erwähnt, dass dieser Fall Ihnen Ihr eigenes Verhältnis zur Mutterschaft bewusst gemacht hat. Was haben Sie dabei für sich persönlich erkannt?
Alle meine Filme sind ein Weg oder eine Reise in Gedanken. Ich verstehe diese Frau nicht, ich habe sie bei der Verhandlung nicht verstanden habe und verstehe sie auch jetzt nicht. Weil dem so ist, war ich veranlasst, mir selbst Fragen zu stellen. Genau das ist es, was ich auch dem Publikum anbiete - sich selbst Fragen zu stellen. Ich glaube nicht, dass es notwendig ist, über meine persönlichen Gefühle zu sprechen. Unsere private Beziehung zum Thema Mutterschaft, ist etwas, das man selbst lebt und erlebt. Wir alle müssen uns selbst erforschen, darauf kommt es an.
In Ihrem Film spiegeln Sie das Universelle der Geschichte in der Figur einer Schwarzen Frau. Was ist das Geheimnis, warum sich Ihr Film in gewisser Weise so persönlich anfühlt?
Rama hätte auch weiß sein können, das ist klar, aber die Tatsache, dass sie Schwarz ist, ist ein politisches Statement. Ich habe ihr auch einen sozialen Status gegeben, sie ist Lehrerin für Literatur, und das ist etwas, auf das ich wirklich stolz bin und das in gewisser Weise ein Spiegel meiner selbst ist. Aber je nachdem, ob man eine weiße oder eine Schwarze Frau ist, ob man ein Mann in den Vereinigten Staaten, ein Franzose oder Rumäne ist, sieht jeder diesen Film von seinem Standpunkt oder seiner Position aus. Er gibt uns ein Gefühl dafür, wo die Welt in Bezug auf die Kolonialfrage, die Geschlechterfrage und die patriarchalische Frage steht.
Ihr Film hat in Venedig einen Silbernen Löwen gewonnen und wurde von Frankreich ins Rennen für eine Nominierung als bester ausländischer Film bei der Oscarverleihung geschickt. Wo sehen Sie Ihren Platz in der französischen Filmindustrie?
Das ist eine Frage, die ich mir schon lange nicht mehr stelle. Es geht mir nicht darum, irgendwo dazuzugehören, und es interessiert mich nicht, wo ich im französischen Kino hingehöre. Ich habe eine lange Erfahrung als Aktivistin, und ich will meine Energie nicht mehr darauf verschwenden, herauszufinden, wo mein Platz in der Branche ist. Ich möchte meine Kraft in das stecken, was ich zu sagen habe, und das ist politisch. Ich habe immer das getan, was ich tue, und wenn sich die Art und Weise, wie die Leute mich sehen, geändert hat, ist das großartig, aber meine Priorität ist es, weiter voranzukommen und mich in meine Arbeit zu vertiefen.
D Das Gespräch führte Pamela Jahn.
TÁR ist auch ein Berlin-Film, der die Stadt als Puzzle aus altem und neuem Luxus und verfluchten Abgründen zeichnet. Lydia verbringt ihren Arbeitstag in den gediegenen holzgetäfelten Hinterzimmern der Philharmonie und ebensolchen Cafés. Mit Sharon residiert sie in einem Sichtbeton-Luxusapartment, das im Penthouse auf dem Boros-Bunker gedreht wurde. Doch wenn Lydia ihre Joggingrunden dreht, muss sie Unterführungen durchqueren, die an die Yorck-Brücken erinnern, und sie begegnet ihren Dämonen (wortwörtlich) im Keller eines Abbruchhauses. Und dann ist