INDIEKINO MAG #7, Juli 2020

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D UNDINE Herz der Stadt D MONOS Kalte Berge, heisser Dschungel D DIE SCHÖNSTEN JAHRE EINES LEBENS Traum vom Kino D SCHWARZE MILCH Schichten von Fremdheit D SUICIDE TOURIST Alptraum im Flow D DER FALL RICHARD JEWELL Eastwoods geschmähte Helden D ALS WIR TANZTEN Unbändige Energie D BERLIN ALEXANDERPLATZ Dämonische Leinwand D THE WILD PEAR TREE Grundfragen der Existenz D EINE GROESSERE WELT ­Schamanin­ werden D SUNBURNED Hinter der Ferienfassade D AFTER MIDNIGHT Beziehungs-Horror D DREISSIG Raum für ­Spekulation D LEIF IN CONCERT, VOL. 2 Stammkneipe D MARIE CURIE – ELEMENTE DES LEBENS Farbenfroh verspielt

Magazin FÜR unabhängigeS KINO

D 7 D JULI 2020

indiekinoMAG

BERLIN ALEXANDERPLATZ – Start am 16.7.2020


„Paula Beer und Franz Rogowski

SIND GRANDIOS.“ THE HOLLYWOOD REPORTER

„Kraftvoll und bezaubernd,

EIN LIEBESMÄRCHEN.“ OUTNOW

Paula BEER Franz ROGOWSKI

Ein Film von CHRISTIAN PETZOLD

AB 2. JULI ENDLICH IM KINO


Editorial Nach drei Monaten Corona-Kinopause öffnen im Juli die meisten Kinos wieder, in einigen Bundesländern ging es auch schon früher los. Vorsichtig werden Hygienekonzepte erprobt und Sitzplätze auseinandergestellt. Viele Kolleg:innen haben die Zeit auch zum Renovieren genutzt. Aus alten und neuen Filmstarts, Filmklassikern und Lieblingsfilmen werden nun erste Programme gestrickt. Entsprechend enthält auch unser Heft diesmal Filme, die wir eigentlich schon besprochen hatten, die aber aufgrund der Kinoschließungen nur ganz kurz oder gar nicht ins Kino gekommen sind, und die sich unbedingt lohnen. FOR SAMA beispielsweise, LA VÉRITÉ oder WAVES. Es gibt aber auch gleich eine Reihe

04 Magazin 06 „WER DIE WISSENSCHAFT ABLEHNT, LEHNT AUCH DAS MENSCHSEIN AB“ INTERVIEW MIT MARJANE SATRAPI ZU MARIE CURIE – ELEMENTE DES LEBENS 08 HERZ DER STADT UNDINE

interessanter Neustarts. UNDINE, BERLIN ALEXANDERPLATZ und der fröhlich machende ALS WIR TANZTEN waren auf der Berlinale zuerst zu sehen. Mit MONOS positioniert sich der Newcomer Alejandro Landes als neues Talent, in DIE SCHÖNSTEN JAHRE EINES LEBBENS kehren Jean-Louis Trintignant und Anouk Aimée als Paar zurück, und Marjane Satrapis poppiges, ausuferndes Biopic MARIE CURIE ist ihr bester Film seit PERSEPOLIS. Viel Spaß beim Lesen, viel Spaß im Kino und passt auf euch auf! Eure INDIEKINO Redaktion

10 KALTE BERGE, HEISSER DSCHUNGEL MONOS 23 UNBÄNDIGE ENERGIE ALS WIR TANZTEN 26 Kinohighlights 30 Nachbild 31 Kinoadressen, Impressum, Abo

Neu im Juni/Juli 20 23 17 22 12 25 25 14

After Midnight Als wir tanzten Berlin Alexanderplatz Dreissig Der Fall Richard Jewell Die Farbe aus dem All For Sama Gegen den Strom

Starts der Woche JUNI 12 25 25 21 14 10 19 25

Der Fall Richard Jewell Die Farbe aus dem All For Sama Eine Geschichte von drei Schwestern Krautrock 1 Monos Nationalstrasse Paris Calligrammes

21 18 21 24 14 14 16

Eine Geschichte von drei Schwestern Eine größere Welt Harriet – Der Weg in die Freiheit Jean Paul Gaultier: Freak & Chic Die Kordillere der Träume Krautrock 1 Leif in Concert, Vol. 2

16 10 19 25 15 13 12

19 15 25 18

Sunburned Suzy Q La Vérité The Wild Pear Tree

9.7.

2.7. 24 13 22 13 8

Jean Paul Gaultier: Freak & Chic Die schönsten Jahre eines Lebens Siberia Suicide Tourist Undine

14 18 21 15

Marie Curie – Elemente des Lebens Monos Nationalstrasse Paris Calligrammes Ronnie Wood: Somebody up there Likes Me Die schönsten Jahre eines Lebens Schwarze Milch

Gegen den Strom Eine grössere Welt Harriet – Der Weg in die Freiheit Ronnie Wood: Somebody up there Likes Me

16.7. 20 After Midnight 17 Berlin Alexanderplatz 14 Die Kordillere der Träume

22 20 13 19 15 8 25 24 18 21

Siberia Sibyl – Therapie zwecklos Suicide Tourist Sunburned Suzy Q Undine La Vérité Waves The Wild Pear Tree Wir Eltern

16 16 20 24 21

Leif in Concert, Vol. 2 Marie Curie – Elemente des Lebens Sibyl – Therapie zwecklos Waves Wir Eltern

23.7. 23 Als wir tanzten 22 Dreissig 12 Schwarze Milch

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A Heap of Trouble

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SHORTS ATTACK Die Shorts Attacks touren jeden Monat mit einem neuen Kurzfilmpaket durch 25 deutsche Kinos. Im Juli versammeln sich unter dem Titel „Kreisch!“ 22 Kultfilme und Klassiker der letzten Jahre. Mit dabei sind beispielsweise Steve Sullivans schräge Männer-Massenpsychose A HEAP OF TROUBLE, der Plüschsesselporno ROOF SEX und der lustige und sehr, sehr hektische ONE MINUTE FLY, in dem eine Eintagsfliege ihre To Do-Liste abarbeitet. shortsattack.com

NATURVISION FESTIVAL – ONLINE Das Ludwigsburger NaturVision Filmfestival für Natur, Wildlife, Umwelt und Nachhaltigkeit hatte sich für 2020 das Motto „Umdenken“ gesucht – an die Umstellung auf ein Online-Festivalprogramm hatten die Macher:innen dabei wahrscheinlich weniger gedacht. Nun sind die rund 70 Festivalfilme über Ernährung, Landwirtschaft, Umweltschutz, Waldbau, Bären, Hörnchen und Biber vom 16.–23. Juli online zu sehen, auch für Workshops und Gespräche soll es eine Online-Variante geben. natur-vision.de

BLACK LIVES USA Anlässlich der Proteste gegen Rassismus, die die

Do Not Resist

Ermordung George Floyds weltweit, und auch in Deutschland ausgelöst hat, hat das Cinema Münster für den Juli eine „Black Lives Matter“-Filmreihe zusammengestellt, die sich mit der Situation der Schwarzen in den USA beschäftigt. Unter anderem sind der grandiose NÄCHSTER HALT FRUITVALE STATION von Ryan Coogler und BEALE STREET von Barry Jenkins zu sehen. Jenkins Oscarprämierter MOONLIGHT war schon 2017 der Anlass für das Casablanca in Nürnberg, regelmäßig Filme afroamerikanischer Regisseur:innen zu zeigen. Im Juli laufen in der Reihe „Black Lives in America“ JUST MERCY, QUEEN & SLIM und die Doku über die Militarisierung des US-amerikanischen Polizeiapparates DO NOT RESIST. Mehr unter cinema-muenster.de und casablanca-nuernberg.de

SLEEPING SCREENS Seit März hat die Gruppe Karin Dor (Simon Dickel und Martin Erlenmaier) geschlossene Kinos mit den kreativen Botschaften auf ihren Anzeigentafeln fotografiert und weltweit dazu eingeladen, ihnen Fotos zu schicken. Mehr als 60 Kinos sind mittlerweile auf der Webseite sleepingscreens.com veröffentlicht. Eine Auswahl der Fotos ist ab Juli in gleich zwei Ausstellungen zu sehen: Am Mittwoch, den 1. Juli um 18 Uhr wird die Ausstellung Sleeping Screens im Bundesplatz-Kino Berlin eröffnet und am Freitag, den 10. Juli um 19 Uhr im Kino Traumstern in Lich.

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VERLOSUNG: EIN VERBORGENES LEBEN Terrence Malicks jüngste Arbeit dreht sich um den österreichischen Pazifisten Franz Jägerstätter, der Hitler den Kriegsdienst verweigerte und dafür hingerichtet wurde. Vor umwerfenden Bergpanoramen und in wortkargen Gesprächen versucht August Diehl als Jägerstätter eine Entscheidung zu fassen, die seine kleine Familie den Vater kosten kann. In der Frankfurter Rundschau schwärmte Daniel Kothenschulte „Das dreistündige Meisterwerk EIN VERBORGENES LEBEN ist im aktuellen Kino ein faszinierender Fremdkörper. Wie nur wenige Filmemacher modelliert Malick die Zeit wie ein Bildhauer.“ Wir verlosen je zwei DVDs und Blurays. Bei Interesse schreibt uns bis zum 15.7. eine Mail an info@indiekino.de. Betreff: Ein verborgenes Leben.


INDIEMAGAZiN

Eeb Allay Ooo!

17. INDISCHES FILMFESTIVAL STUTTGART – ONLINE Das 17. Indische Filmfestival findet vom 15.-19. Juli statt, aber in diesem Jahr ausschließlich online. Alle Filme und Gespräche werden auf der Website indisches-filmfestival.de präsentiert. Zu den Highlights im Filmprogramm zählt die Sozialsatire EEB ALLAY OOO! von Prateek Vats, über einen Migranten in Dehli, der einen Job als Affenvertreiber vor einem Tempel übernimmt. Engagiertes Kino, das an Kino von Ken Loach erinnert. FRAYED LINES von Priya Belliappa erzählt von einer Wanderarbeiterin ohne Papiere, der als Muslima unter der neuen Gesetzgebung der Regierung von Narendra Modi keine Bürgerechte mehr zustehen. Im Dokumentarfilm AAYI GAYI von Anandana Kapur geht es um die Frage, ob es ein Recht auf Strom gibt. Das Land hat einen Stromüberschuss, aber Stromdiebe werden für Engpässe verantwortlich gemacht. Gleichzeitig können viele Menschen ihren Strom nicht bezahlen. Das Festivalteam vom Filmbüro Baden-Württemberg sieht auch Chancen in der Online-Variante, will im nächsten Jahr aber wieder ein richtiges Kinofestival mit rotem Teppich veranstalten.

OPEN SCREENING IM SPUTNIK Beim Open Screening im Berliner Sputnik-Kino kann jede und jeder seine oder ihre Filme einfach mitbringen, die Zuschauer:innen haben aber ein Veto-Recht, und können mit einer roten Karte anmelden, dass abgebrochen werden soll. Weil das nächste Open Screening am 15. Juli um 20 Uhr mit weniger Publikum stattfinden muss und der Laden eigentlich immer proppenvoll ist, wird das Event erstmalig auch per Stream übertragen. Filmgespräche finden per Zoom statt. openscreening.de


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„Wer die Wissenschaft ablehnt, Marjane Satrapi wurde 1969 im Iran geboren und als junger Teenager von ihren Eltern nach Wien auf die Schule geschickt, um sie vor dem Regime zu schützen. Über ihre Erfahrungen im Exil zeichnete sie die Graphic Novel Persepolis (2000–2003), die zu einem weltweiten Erfolg wurde und die Grundlage für ihren ersten Film bildete. Nach PERSEPOLIS (2007) kamen in Deutschland von Satrapi HUHN MIT PFLAUMEN (2011) und THE VOICES (2014) ins Kino. Patrick Heidmann hat mit Marjane Satrapi über ihren jüngsten Film MARIE CURIE – ELEMENTE DES LEBENS gesprochen. Filmbesprechung auf Seite 16.

INDIEKINO: Frau Satrapi, was macht Marie Curie zur idealen Filmheldin? Marjane Satrapi: Ich fand es einfach unglaublich reizvoll, von einer Frau zu erzählen, die allein aufgrund ihrer Lebensleistung einen Film wert ist, nicht weil sie die Ehefrau, Mutter oder Tochter von jemandem ist. Viel zu oft werden weibliche Figuren im Kino immer nur im Kontext von anderen verhandelt. Vermutlich hätte ich auch mit Freuden einen Film über Marie Curie gedreht, wenn sie ein Mann gewesen wäre. Tatsächlich? Ja, denn das Faszinierende ist ihre wissenschaftliche Arbeit. Ihre Entdeckungen, die unsere Welt für immer verändert haben. Für sie war das eigene Geschlecht eher unwichtig. Sie sah tatsächlich null Unterschied D6

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zwischen sich und den Männern. Deswegen hat sie sich auch praktisch herausgehalten aus den damals beginnenden Frauenbewegungen. Sie erinnert mich ein bisschen an meine Großmutter. Über feministische Aktivistinnen hat die immer gesagt: Warum müssen die immer so laut schreien? Wir haben mehr drauf als die Männer, aber das müssen wir doch niemandem beweisen. Für sie – wie für Marie Curie – war Gleichberechtigung eine Selbstverständlichkeit. Aber natürlich wurde Marie Curie zu einem leuchtenden Symbol, weil sie sich über damalige Konventionen hinweggesetzt hat. Weil sie fest davon überzeugt war, dass die Wissenschaft etwas für alle Menschen ist und dass ein weibliches Gehirn zu den gleichen Leistungen fähig ist wie ein männliches. Man erschrickt immer ein wenig, wenn man realisiert, dass sie vor rund 100 Jahren die erste Frau in ganz Europa war, die überhaupt je im Fach Physik eine Dissertation schrieb... Und noch mehr sollten wir erschrecken, wenn wir uns vor Augen führen, dass die Gleichberechtigung, von der sie so selbstverständlich ausging, bis heute nicht in allen Köpfen angekommen ist. Unsere patriarchale Gesellschaft trichtert Kindern bis heute ein, dass Mathe und Naturwissenschaften Jungssache sind. Mädchen sind zu sensibel und emotional, die können das nicht. Fragen Sie mal Mädchen im Alter von sieben oder acht Jahren, was ihr Lieblingsfach ist. In den meisten Fällen werden sie eine Antwort bekommen, die mit Literatur oder Sprache zu tun hat. Nicht


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Interview mit Marjane Satrapi zu MARIE CURIE – ELEMENTE DES LEBENS

lehnt auch das Menschsein ab“ Mathematik, denn den Mythos, dass sie dafür nicht gemacht – und letztlich also minderwertiger – seien, haben sie da längst verinnerlicht.

Ihr Film macht keinen Hehl daraus, wie viel Leid mit den Entdeckungen der Curies auch einherging...

Haben Sie das als Kind auch so erlebt?

Selbstverständlich! Wenige Themen halte ich für wichtiger als die Wissenschaftsethik. Radioaktivität kann nicht nur Krebs heilen, sondern auch als Atomwaffe unendliche Vernichtung nach sich ziehen. Aber dafür ist nicht Madame Curie verantwortlich, nur weil sie diese Entdeckung gemacht hat. Genau wie die Person, die damals das Feuer entdeckt hat, nicht für alle Kriege und Brände seither verantwortlich ist. Hätte sie ihre Forschungsergebnisse zurückhalten sollen aus Angst davor, was die Menschheit daraus macht? Das wäre schon deshalb Quatsch gewesen, weil früher oder später jemand anderes die gleiche Entdeckung gemacht hätte. Deswegen will ich den Film auch unbedingt als pro-wissenschaftlich verstanden wissen. Und damit als pro-menschlich.

Nicht zuhause, denn ich hatte eine starke Frau als Mutter, die viel Wert darauf gelegt hat, dass ich selbständig bin und tun und lassen kann, was ich will. Aber insgesamt kann man sich den gesellschaftlichen Mustern, wie man doch bitte als Frau zu sein habe, ja praktisch nirgends entziehen. Wenn ich allein an die Filme denke, die wir immer wieder zu sehen bekommen, in der selbst die smarten Frauen erst dann wirklich glücklich sind, wenn sie unter der Haube und schwanger sind. Sie merken schon: Bei diesen Themen könnte ich mich in Rage reden ... Auch in MARIE CURIE – ELEMENTE DES LEBENS geht es um die Ehe zwischen Marie und Pierre Curie. Welche Rolle wollten Sie der Liebesgeschichte einräumen? Nicht die zentrale, aber eine große, denn das Spannende an diesem Paar ist ja, das alles zusammenhängt, die Liebe mit der wissenschaftlichen Arbeit, in der diese beiden hervorragenden Forscher sich gegenseitig befruchtet haben. Beide hatten die gleiche Leidenschaft für die Wissenschaft – und einander. Sogar ihr beider Tod hängt damit zusammen, schließlich dürfte sich selbst Pierres Unfall darauf zurückführen lassen, dass er durch die radioaktiven Materialien, mit denen sie arbeiteten, schwer geschwächt war.

Wie meinen Sie das? Wer die Wissenschaft verteufelt oder ablehnt, lehnt in meinen Augen auch das Menschsein ab. Was uns Menschen einzigartig macht, ist unsere Neugier. Dass wir wissen wollen, wie die Welt um uns herum funktioniert. Dass wir Zusammenhänge verstehen wollen. Wer sich nicht für die Wissenschaft interessiert, hat diese Neugier also nicht mehr – und seine Menschlichkeit preisgegeben. Fortsetzung auf Seite 26 D

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Zugegeben, ich hatte mir ein bisschen Sorgen gemacht. Sowohl in TRANSIT als auch in PHOENIX waren es die mysteriösen, verschwindenden Frauen, die mehr Idee als Person waren, die ich in Christian Petzolds Filmen am wenigsten mochte, und nun kommt ein Film über den Wassergeist Undine – eine Nymphe, die nur eine Seele bekommt, wenn sie geliebt wird. Doch die Sorgen waren unbegründet, Paula Beer als Wasserwesen Undine ist sehr präsent und sehr gegenwärtig. In der ersten Szene sitzt sie im Café, kurz zuvor muss das Gespräch stattgefunden haben, in dem ihr Freund Johannes (Jacob Matschenz) ihr die Trennung mitgeteilt hat. „Das kannst du nicht“, sagt sie, „Du weißt, dass ich dich töten muss, wenn du gehst“, und so wie Paula Beer das sagt, klingt es beinahe alltäglich, wie die Worte einer sehr verletzten Frau, die gerade verlassen wurde, an einem grauen Berliner Tag.

Undine Herz der Stadt

Der Zauber von Petzolds Verfilmung der Sage liegt eben in jener Alltäglichkeit. Undine ist Historikerin und erklärt Besuchergruppen des Senats anhand der Modelle im Märkischen Museum die Stadtentwicklung. Die Entstehung der sozialistischen Prunkbauten an der ehemaligen KarlMarx-Allee beispielsweise, die Weiterentwicklung der Stadt nach dem Zusammenbruch der DDR – „Manche nennen es Revolution“ – oder die Geschichte des Berliner Stadtschlosses, seine Lage am Rand der Stadt und graduelle Verschiebung zu einem zentralen Ankerpunkt der Stadtgestaltung. Undine ist verwoben mit der Stadt Berlin, deren Name slawischen Ursprungs ist und „Sumpf“ bedeutet oder auch „trockene Stelle im Sumpf“, wie sie in einer Führung erläutert. Vielleicht ist Undine so etwas wie die Mitte der Stadt, von der man nicht exakt sagen kann, wo sie liegt. Vielleicht muss die Stadt wie Undine geliebt werden, damit sie eine Seele bekommt, und rächt sich, wenn man sie verrät oder verkauft. Die wissenschaftlichen Vorträge tragen zum bewusst trockenen Sound des Films bei. Auch sonst herrscht Sachlichkeit. Die Farben sind klar und eher kalt, die Jahreszeit dazwischen und die Tageszeit um die Mittagsstunde herum. Es ist weder sonnig noch düster. Die Orte sind erkennbar aber nicht spektakulär: das Café am Märkischen Museum, eine Wohnung in den Hochhäusern am Alex, eine S-Bahnstation, der Hauptbahnhof. Die Dialoge sind knapp und umfassen nur das Nötigste – aber das Nötigste kann auch poetisch sein. So wie Christophs (Franz Rogowski) Arbeit als Industrietaucher. Undine lernt ihn bei einer Führung kennen und Christoph stellt sich als der treue Freund heraus, der Undines Seele hätte retten können, aber ist es dafür schon zu spät? UNDINE ist Christian Petzolds bisher verspieltester Film, sogar ein ziemlich guter Witz hat es ins Skript geschafft. Dabei liegt Teil des Spaßes aber gerade in der wie immer der großen Ernsthaftigkeit, mit der Petzold erzählt, und dabei keine Unterscheidungen zwischen Prosaischem und Magischen trifft. Wenn sich vor Christophs Visier im schlammigen Wasser ein Wesen abzuzeichnen beginnt, dann ist es mal ein Wassergeist, aber manchmal auch ein besonders dicker Wels. D Hendrike Bake D8

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Deutschland/Frankreich 2020 D R: Christian Petzold D D: Paula Beer, Franz Rogowski, Jacob Matschenz D V: Piffl Medien

Start am 2.7.2020 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de

Undine, a nymph who only gets a soul if she‘s loved, works as a historian in the Berlin senate.


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Die Reste eines Bunkers, über den Wolken. Zwei Jugendliche haben die Augen verbunden und atmen schwer. Das sieht zunächst aus wie bei einem Erschießungskommando, aber tatsächlich spielen sie Fußball nach Gehör, eine Aufmerksamkeitsübung. Die Jugendlichen sind Guerilleros in einem nicht genau bestimmten Konflikt in einem südamerikanischen Land. Ihre Aufgabe ist das Bewachen einer „Kriegsgefangenen“, einer englischsprachigen Frau, die sie „Doctora“ nennen. Um welchen Krieg und um welches Land es geht, erfahren wir nicht, die Jugendlichen kennen sich gegenseitig nur unter ihren Kampfnamen: Rambo, Lobo, Lady, Perro, Bum Bum. Ihr einziger Kontakt zu der Organisation, für die sie kämpfen, ist der „Bote“ (Wilson Salazar, der einst selbst FARC-Guerillero war), ein kleinwüchsiger, durchtrainierter, autoritärer Mann, der die Jugendlichen „Monos“ nennt: „Affen“. Er genehmigt Beziehungen, ernennt die Anführer und gibt ihnen eine zusätzliche Aufgabe: Sie sollen sich um eine Kuh kümmern. Als das schiefgeht, eskaliert die Gewalt auch innerhalb der Gruppe.

Monos

Kalte Berge, heißer Dschungel Die Ausgangssituation mag nach „Herr der Fliegen“-Metaphorik klingen, aber der Film von Alejandro Landes ist zugleich konkreter und abstrakter. Die Furcht der „Monos“ vor dem Regime ist so greifbar wie die vor den Strafen der eigenen Organisation. Sie sind gefangen in einer Kriegsmaschine, die Disziplin verlangt, aber vor allem Verrohung produziert. Die Szenerie, zunächst in den nebligen, kalten Bergen, später im heißen Dschungel, wirkt immer bedrohlich. Der minimalistische Soundtrack von Mica Levi (UNDER THE SKIN) lässt die Synthesizer grollen, als könnte jederzeit die Welt untergehen, während einfache melodische Motive an geheime Pfeifsignale erinnern. MONOS wird im Verlauf des Films zu einem irrwitzigen, intensiven Thriller mit Folter, Fluchten und Verfolgungsjagden. Der brasilianische Regisseur Alejandro Landes hat früher dokumentarisch gearbeitet, und der überhöhte Realismus seines Stils lässt die Hitze und den Geruch dieser Welt so spürbar wie möglich werden. Wenn alles mit rechten Dingen zugeht, hat Alejandro Landes in ein paar Jahren einen Oscar in der Tasche. Ob seine Filme als internationale Produktionen noch intensiver werden können, ist eine andere Frage. MONOS ist ein herausragendes und aufwühlendes cineastisches Erlebnis. D Tom Dorow

Originaltitel: Monos D Kolumbien/Argentinien/Niederlande/Deutschland/Dänemark/ Schweden/Uruguay 2019 D 102 min D R: Alejandro Landes D B: Alexis Dos Santos, Alejandro Landes D K: Jasper Wolf D S: Ted Guard, Yorgos Mavropsaridis, Santiago Otheguy D M: Mica Levi D D: Julianne Nicholson, Moises Arias, Sofia Buenaventura, Julián Giraldo D V: DCM Film

Start am 4.6.2020 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de

A group of teenagers, guerillas in an unspecified conflict in a South American country, are trapped in the war machine that demands discipline but, above all, generates brutalization.

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INDIEKRITIKEN Originaltitel: Richard Jewell D USA 2019 D 131 min D R: Clint Eastwood D B: Billy Ray D K: Yves Bélanger D S: Joel Cox D M: Arturo Sandova D D: Paul Walter Hauser, Sam Rockwell, Kathy Bates, Jon Hamm, Olivia Wilde, Nina Arianda D V: Warner Bros.

Der Fall Richard Jewell Eastwoods geschmähte Helden

Clint Eastwood haben es in letzter Zeit vor allem US-Amerikaner angetan, die zuerst von der Öffentlichkeit gefeiert und dann von den Behörden, den Medien oder dem eigenen Gewissen in die Mangel genommen werden. AMERICAN SNIPER, Eastwoods fragwürdiges Porträt eines der unfehlbarsten Elite-Scharfschützen des US-Militärs, gehört dazu, sowie SULLY über den Flugkapitän, der im Winter 2009 ein vollbesetztes Passagierflugzeug sicher auf dem Hudson River notlandete und sich danach dafür rechtfertigen musste. DER FALL RICHARD JEWELL liegt in dieser Trilogie irgendwo dazwischen. Hingebungsvoll verkörpert Paul Walter Hauser darin jenen Wachmann, der im Sommer 1996 bei den Olympischen Spielen in Atlanta ein schweres Bombenattentat verhinderte und anschließend zum tragischen Opfer einer falschen Anklage und des darauf folgenden medialen Fegefeuers wurde. Doch Eastwood macht es sich zu einfach, wenn es um die Darlegung der Fakten und einige der eingebauten Fiktionen geht. Vor allem das Verhältnis zwischen dem FBI und der Presse sowie die Charakterisierung einiger Nebenrollen wirken unglaubwürdig und klischeehaft. Es scheint mitunter so, als würde dem Meisterregisseur die Schärfe und Brillanz seiner früheren Werke heute zunehmend spürbar abgehen. Dennoch gelingt es Eastwood in der gewohnt formal reduzierten Art, das Unglück eines Mannes darzulegen, der alles für sein Land tun würde, aufgrund seiner Statur und seiner Eigenheiten für das FBI aber viel besser ins Profil des Terroristen passt. Sam Rockwell spielt den legeren, aber mitfühlenden Anwalt des zu Unrecht Angeklagten mit Esprit und Elan, während Hauser Jewells haarsträubende Naivität mit einer angemessen stoischen Gelassenheit vor sich herträgt. Ihre Zwiegespräche sowie Jewells Unfähigkeit, die vereinbarten Verteidigungstaktiken auch nur annähernd zu befolgen, gehören zu den stärksten Momenten des Films. D Pamela Jahn

Start am 25.6.2020 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de

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Security guard Richard Jewell discovers a bomb in the 1996 Olympic Games in Atlanta and is celebrated at first, but is later grilled by the authorities and the media.

Deutschland/Mongolei 2020 D 91 min D R: Uisenma Borchu D B: Uisenma Borchu D K: Sven Zellner D S: Uisenma Borchu, Christine Schorr D M: Daniel Murena D D: Gunsmaa Tsogzol, Uisenma Borchu, Franz Rogowski, Terbish Demberel, Borchu Bawaa, Bayarsaikhan Renchinjugder D V: Alpenrepublik

Schwarze Milch Schichten von Fremdheit

Im letzten Bild sitzt Wessi in der Steppe, inmitten des kreisrunden Abdrucks, den die Jurte hinterlassen hat, die dort in der vorangegangenen Nacht noch stand. Allein bleibt sie nicht lange. Ihre Schwester Ossi, die ihr gefolgt ist, teilt mit ihr den Fleck Erde in der Leere: In Uisenma Borchus SCHWARZE MILCH, der dieses Jahr im Panorama der Berlinale lief, treffen zwei Frauen und zwei Kulturen aufeinander. „Findest du, wir sind uns fremd?“ fragt Wessi, von der Regisseurin selbst gespielt, ihre Schwester Ossi (Gunsmaa Tsogzol). „Bist du blind? Natürlich sind wir das“, antwortet diese. SCHWARZE MILCH, der bis auf die ersten paar Minuten ausschließlich in der Mongolei spielt, deckt die Fremdheit Schicht für Schicht auf: Die langsame Annäherung nach vielen Jahren, das gegenseitige Erstaunen gegenüber Ansichten und Traditionen, die über die Jahre eingegrabenen Differenzen zwischen dem Leben in einer deutschen Großstadt, das Wessi seit langem führt, und dem als Nomadin in einer mongolischen Jurte, dem Ossi treu geblieben ist. Wessis Offenheit, ihre forsche Art, mit Männern umzugehen und über Begehren zu sprechen, kontrastiert mit Ossi, die, um ein Tier zu schlachten, auf ihren Mann warten will. Es wird um Werte gerangelt, die sich nicht ohne Weiteres von einer Kultur in die andere übertragen lassen. Borchu verhandelt anhand ihrer eigenen Geschichte als in die DDR ausgewanderte Mongolin den Konflikt von zwei scheinbar unvereinbaren Identitäten, patriarchale und rassistische Strukturen in beiden Gesellschaften und den dringenden Wunsch, aus diesen auszubrechen. Borchu lässt ihren Figuren und Bildern Zeit und Raum, um zu atmen, sprunghafte Schnitte betonen Unvorhersehbarkeit. Sven Zellners Kamera blickt immer wieder in die weite, helle Steppe, zu den Schafherden, dazwischen in die Dunkelheit der Jurte. Zwischen hell und dunkel, weiß und schwarz, findet sich die Geschichte. D Lili Hering Start am 23.7.2020 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de

Wessie has lived in Germany for years, her sister Ossie stayed in the Gobi Desert as a nomad. In Uisenma Borchu’s BLACK MILK, which ran in this year’s Panorama section at the Berlinale, two women and two cultures encounter each other.

Termine unter www.indiekino.de


INDIEKRITIKEN Originaltitel: Selvmordsturisten D Dänemark/Norwegen/Deutschland 2019 D 90 min D R: Jonas Alexander Arnby D B: Rasmus Birch D K: Niels Thastum D S: Yorgos Mavropsaridis D M: Mikkel Hess D D: Nikolaj Coster-Waldau, Tuva Novotny, Kate Ashfield, Robert Aramayo D V: DCM Film

Suicide Tourist Alptraum im Flow

Originaltitel: Les plus belles années d’une vie D Frankreich 2019 D 90 min D R: Claude Lelouch D B: Claude Lelouch D K: Robert Alazraki D S: Stéphane Mazalaigue D D: JeanLouis Trintignant, Anouk Aimée, Souad Amidou, Marianne Denicourt, Monica Bellucci D V: Wild Bunch Germany

Die schönsten Jahre eines Lebens Traum vom Kino

In WHEN ANIMALS DREAM (2014) entfaltete sich eine surreale Geschichte aus einem naturalistischen Szenario. In einem klaustrophobischen Fischerdorf erlebt eine junge Frau seltsame Veränderungen: In Mondnächten wachsen ihr Haare und ein unstillbarer Blutdurst überkommt sie. Die Art wie die feindseligen Dorfbewohner auf das Exzessive, Fremde reagieren, dass sie repräsentiert, war einem nicht nur aus Werwolf-Geschichten vertraut. Das damalige Dreamteam aus Jonas Alexander Arnby (Regie), Niels Thastum (Kamera) und Mikkel Hess (Musik) hat nun einen neuen, ähnlich atmosphärischen, elegant dahinschwebenden Alptraum gedreht. Wieder nimmt das Drama seinen Ausgang in einer vertraut wirkenden Gegenwart: Max (Nikolaj Coster-Waldau) hat einen unheilbaren Gehirntumor, und während er sich gegenüber seiner Freundin Laerke (Tuva Novotny) um Fassung bemüht, möchte er eigentlich am liebsten sterben. SUICIDE TOURIST erzählt von seinem Gefühlszustand als einer großen Benommenheit, in die nur wenig einzudringen vermag. Spärliches graues Licht fällt hier und da in überwiegend verschattete Bilder. Oft ist die Sicht verstellt und die Geräusche orientieren sich an Max’ Innenleben. Seine Freundin hört er kaum, doch das Brummen des CT fräst sich ins Gehirn. Über einen Versicherungsfall, den er betreut, erfährt Max eines Tages von einem „Hotel Aurora“, das Lebensmüden beim Sterben hilft, und checkt dort ein. Ein Hubschrauber bringt ihn in die norwegischen Berge in ein abgeschiedenes hyper-modernes Luxus-Wellnes-Paradies aus Sichtbeton und Vollholz, in dem die Insassen in sanften Gesprächen ihren Traum-Tod planen. Die Idylle trägt jedoch nur so lange, wie die Kunden sich willig führen lassen, wer Zweifel bekommt, und den Schöner-Sterben-Alptraum beenden möchte, lernt: Aus dem Hotel Aurora kehrt niemand zurück. D Hendrike Bake

Start am 2.7.2020 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de

Termine unter www.indiekino.de

Max has an incurable brain tumor. One day he finds out about the remote luxury wellness paradise “Hotel Aurora” that helps those weary of life with dying and checks himself in.

DIE SCHÖNSTEN JAHRE EINES LEBENS ist der dritte Teil einer der am weitesten gespannten Film-Trilogien der Filmgeschichte. 1966 gewann Claude Lelouch mit UN HOMME ET UNE FEMME die Goldene Palme bei den Filmfestspielen in Cannes und zwei Oscars. Sein Film war eine melancholische, verträumte Liebesgeschichte zwischen dem Rennfahrer JeanLouis (Jean-Louis Trintignant) und dem Scriptgirl Anne (Anouk Aimée) mit einem exquisiten Pop-Soundtrack von Francis Lai. Er verhandelte die Möglichkeit einer zweiten Liebe, nachdem die Ehepartner der beiden sich Begehrenden verstorben waren. Lelouchs Film bestand ausschließlich aus Gesten, Blicken und atmosphärischen Bildern von Autorennen und dem winterlichen Seebad Deauville. Es war reines Gefühlskino, das zum Vorbild für moderne Liebesfilme wie etwa die Filme von Wong Kar-Wai wurde. 20 Jahre später drehte Lelouch einen zweiten Film: UN HOMME ET UNE FEMME – 20 ANS DEJA. Das Paar ist nicht mehr zusammen, ihre Kinder aus den früheren Beziehungen sind erwachsen. Anne ist nun Filmproduzentin und will nach einem gefloppten Historienfilm die eigene Liebesgeschichte verfilmen. Der zweite Teil der Trilogie scheint im dritten ausgelöscht zu sein. Hier ist Jean-Louis 90 Jahre alt, sitzt im Rollstuhl und wirkt beim Gedächtnistraining im Altersheim abwesend. Lieber ist er im Garten, sagt Verlaines Gedichte auf und träumt sich in die Vergangenheit. Seine Träume sind Bilder aus dem Film von 1966, und das wirkt im Kontext des neuen, digital gedrehten Materials, wie ein Traum, nicht nur vom richtigen Leben, sondern auch vom richtigen Kino. Die alten Bilder atmen eine Sehnsucht und Materialität, die aktuelles, digitales Kino nicht erreichen kann. Als Anne ihn auf Bitte seines Sohns hin besucht, wird in beiden die Erinnerung an intensive Momente wach. Für eine dritte Liebe reicht es nicht, aber für Träume von Flucht und die Spurensuche nach der alten Anziehung. D Tom Dorow Start am 2.7.2020 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de

In Claude Lelouch’s film UN HOMME ET UNE FEMME from 1966 Anouk Aimée and Jean-Louis Trintignant played one of the most beautiful, romantic, and glamorous couples of the 60s. Now the couple is meeting again after 50 years.

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INDIEKRITIKEN Originaltitel: La cordillera de los suenos D Frankreich/Chile 2019 D 84 min D R: Patricio Guzmán D B: Patricio Guzmán D K: Samuel Lahu D V: Real Fiction

Krautrock 1

Die Kordillere der Träume Erinnerung und Gegenwart der Diktatur

Der Exilchilene Patricio Guzmán ist ohne Zweifel einer der besten Dokumentar- und Essayfilmemacher der Welt. In seinen letzten Filmen NOSTALGIA DE LA LUZ (2010) und DER PERLMUTTKNOPF (2015) verband er Geschichten von chilenischen Landschaften mit der Geschichte des Militärputsches gegen das demokratische Chile von 1973 und der Pinochet-Diktatur. Der Perlmuttknopf, den Guzmán an der Küste von Patagonien findet, wo einst Kolonialisten die Einheimischen ermordeten, führte zurück zu den gefolterten und ermordeten Gegnern der Diktatur, deren Leichen das Militär über dem Meer aus Flugzeugen geworfen hatte. So konkret sind die Linien, die Guzmán in DIE KORDILLERE DER TRÄUME zieht, nicht. Die Kordillere ist die zentrale Gebirgskette der Anden, die auch die Skyline der Hauptstadt Santiago bestimmt. Der Film zeigt sie zunächst als monumentales Gemälde in einer U-Bahn-Station, das von einem chilenischen Exilanten in Paris nach Fotografien und als Erinnerungsarbeit gemalt wurde. Die Kordillere, die Guzmán, als er noch in seinem Heimatland lebte, nur als alltägliche Kulisse wahrgenommen hatte, ist in den Jahrzehnten des Exils zu einem Symbol geworden, in dem sich die Geschichte des Landes eingeschrieben hat. Guzmán spricht mit den Bildhauern Francisco Gazitúa und Vicente Gajardo und dem Autor Jorge Baradit. Sie sehen den Neoliberalismus, der als Wirtschaftsideologie zuerst in Chile nach dem Putsch erprobt wurde, als Sediment der Diktatur, dem selbst die Bergkette unterworfen wurde. Große Teile der chilenischen Anden sind heute privatisiert und werden rücksichtslos ausgebeutet. Der Filmemacher Pablo Salas ist nach 1973 im Land geblieben und hat in den vergangenen Jahrzehnten ein kolossales Archiv mit Filmen über die Diktatur und die Protestbewegung angelegt. Ein reales Gedächtnis, das, es ebenso zu entdecken gilt, wie die reale Bergkette, jenseits der Nostalgie. D Tom Dorow

Start am 16.7.2020 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de

D 14

D JULI 2020

For Chilean documentary filmmaker Patricio Guzmán, the Cordillera, the central mountain range in the Andes, became a symbol in which Chilean history has been inscribed in during his decades of exile.

KRAUTROCK (PART 1) ist der vierte Teil der Reihe „Romantic Warriors: A Progressive Music Saga“ von Adele Schmidt und José Zegarra Holder. Die sehr beflissene Doku wendet sich eher an Eingeweihte, für die hier vor allem die Interviews mit Mitgliedern von Can und Neu! Interessant sein dürften. In den kurzen Clips mit Liveauftritten der Band entfaltet sich dagegen die hypnotische Wirkung der Musik von Faust kaum, und im Teil über Kraftwerk fehlen die Kernmitglieder Ralph Hütter und Florian Schneider. Start am 18.6.2020

Originaltitel: Romantic Warriors IV: Krautrock (Part I) D USA 2019 D 128 min D R: Adele Schmidt, Jose Zegarra Holder D D: Wolfgang Flür, Jean-Hervé Peron, Michael Rother

Gegen den Strom Nach mehr als 20 Jahren im Untergrund kann Thomas Walter, der in Deutschland wegen der versuchten Sprengung eines Abschiebeknasts seit 1996 auf der Fahndungsliste steht, wieder auftauchen. Venezuela hat dem Linksautonomen Asyl gewährt. Sobo Swobodnik, der über zwei Ecken mit Walter bekannt ist, besucht ihn in Venezuela, befragt ihn zu seinem Leben und seiner Flucht und porträtiert seinen bescheidenen Alltag in dem wirtschaftlich gebeutelten Land. Später kommt ein Freund, der Musiker Mal Élevé, hinzu und sie machen gemeinsam Musik. Start am 9.7.2020

Deutschland 2019 D 84 min D R: Sobo Swobodnik

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METROPOLITAN FILMEXPORT PRÄSENTIERT

ANOUK AIMEE JEAN-LOUIS TRINTIGNANT MIT DER BETEILIGUNG VON

MARIANNE DENICOURT SOUAD AMIDOU ANTOINE SIRE MONICA BELLUCCI

Suzi Q In den siebziger Jahren zählte Suzi Quatro zu den erfolgreichsten Popstars in Europa. In den USA blieb die in Detroit geborene Quatro dagegen weitgehend erfolglos, inspirierte aber zahlreiche Musikerinnen. Die australische Doku SUZI Q erzählt die Geschichte der Bassistin und Sängerin seit den Anfängen, als sie 1964 mit ihren Schwestern Patti und Arlene die Garagenband The Pleasure Seekers gründete und im Alter von 15 Jahren zu touren begann, und setzt ihr ein angemessenes, wenn auch etwas melancholisches Denkmal. Start am 4.6.2020

Australien 2019 D 100 min D R: Liam Firmager

Ronnie Wood: Somebody up There Likes Me Wenn Jagger und Richards die Glimmer Twins waren, war Ron Wood der Glam-Rocker. Heute ist er ein 70-Jähriger, der Spaß hat an der kreativen Arbeit, die er leistet, der glücklich ist, die wilden Jahre hinter sich zu haben und sich dennoch (oder deswegen?) nicht älter als 29 fühlt. Regisseur Mike Figgis, selbst Musiker, setzt aus Interviewstücken ein Porträt des Mannes zusammen, der bei den Stones die zweite Gitarre spielt, und ohne den nichts geht, weder im Sound noch im Persönlichkeitszirkus der Band. Start am 9.7.2020

Großbritannien 2019 D 82 min D R: Mike Figgis

EIN FILM VON

CLAUDE LELOUCH Termine unter www.indiekino.de

AB 2.7.2020 IM KINO


INDIEKRITIKEN Deutschland 2019 D 109 min D R: Christian Klandt D B: Christian Klandt D K: René Gorski D S: Jörg Schreyer, Christian Klandt D D: Luise Heyer, Klaus Manchen, Michael Klammer, Jule Böwe, Bela B. Felsenheimer D V: missingFILMs

Leif In Concert, Vol. 2 Stammkneipe

Originaltitel: Radioactive D Großbritannien 2019 D 103 min D R: Marjane Satrapi D B: Jack Thorne, Lauren Redniss D K: Anthony Dod Mantle D S: Stéphane Roche D M: Evgueni Galperine, Sacha Galperine D D: Rosamund Pike, Anya Taylor-Joy, Sam Riley, Aneurin Barnard D V: STUDIOCANAL

Marie Curie – Elemente des Lebens Farbenfroh verspielt

Lene ist zurück! Nach acht Monaten unterwegs steht die junge Frau wieder hinter dem Tresen einer Jazzkellerbar in einer deutschen Großstadt. Und sie hat ihre Stammgäste doch etwas vermisst, genauso wie die sie. Vor allem hat Lene an diesem Abend die Hände voll zu tun, den langersehnten Auftritt von Leif aka „Poorboy“ vorzubereiten. Bier muss bestellt und der Zigarettenautomat aufgefüllt werden, und natürlich ist genau an diesem Tag das Klo verstopft. Während die Uhr tickt, kommen ständig Leute, die Bitten oder Probleme haben, oder wissen wollen, ob Lene die Bar irgendwann wie geplant übernehmen wird. Da will sie sich Lene aber noch nicht festlegen. Erst recht nicht, als ihr aufgeht, dass sie etwas übersehen hat, was den ganzen Abend sprengen könnte. Zum Glück ist die Bar ein Ort, wo mehr als einmal kleine Wunder geschehen und in der das Leben nicht nur von Schnaps befeuert wird. Viel wichtiger als Lenes Weg zum großen Kneipenchefgeheimnis sind die absurden Gespräche ihrer Gäste. In einer Ecke wird über Koboldmusik, Wasserstoffbomben und die RAMBO-Filme diskutiert, Bela B. entwickelt mit Jule Böwe revolutionäre Apps für Handys und Feuerzeuge, und ein Redakteur, der Dr. Mark Benecke interviewt, ist entschlossen, sich dabei das Rauchen anzugewöhnen [Sic!]. Nicht zu vergessen auch das Kleinkunstprogramm, das das Publikum vor und hinter der Leinwand für Leifs Starauftritt anheizt. Für LEIF IN CONCERT, VOL. 2 hat Christian Klandt (LITTLE THIRTEEN) alte Freunde und Gaststars zu einer Nummernrevue versammelt, die alles bietet, was man sich von einem Abend in der Stammkneipe erhofft, und die Dinge dabei so charmant überzeichnet, dass es nichts macht, wenn zwischendurch der Faden kurz verloren geht. Luise Heyer hält als Lene den Film zusammen und lässt hoffen, dass der geplante LEIF IN CONCERT, VOL. 1 mehr von ihrer Reise erzählt und vielleicht sogar auch erklärt, wieso Lene mindestens sieben Sprachen fließend beherrscht. D Christian Klose Start am 16.7.2020 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de

D 16

D JULI 2020

Barkeeper Lene who has been sorely missed by her regulars is back in town. A night at a bar.

Wenige Frauen haben so Geschichte geschrieben wie die zweimalige Nobelpreisträgerin Marie Curie. Ihr unbeugsamer Wille steht im Zentrum von Marjane Satrapis (PERSEPOLIS) neuester Comic-Verfilmung RADIOACTIVE (so heißt MARIE CURIE im Original). Titelgebend ist eine Reise durch die Welt der Radioaktivität: von der Entdeckung radioaktiver Strahlung über Krebstherapie und Röntgen bis hin zu Tschernobyl und Hiroshima. All diese historische Wucht wird in Ausschnitten gezeigt, während sich die eigentliche Erzählung detailverliebt auf Maries Curies Leben konzentriert. Die farbenfrohe Verspieltheit, mit der die so ernsthafte, sich der Wissenschaft verschrieben habende Curie in der Graphic Novel von Lauren Redniss porträtiert wird, wirkt auf der Leinwand erst etwas deplatziert. Das Zusammenspiel von Rosamund Pike und Sam Riley als Marie und Pierre Curie aber berührt und vereint das vermeintlich Unvereinbare. So richtig an Kraft gewinnt das feministische Biopic allerdings erst, als die Männer in den Hintergrund treten und Curie nicht länger als die Ehefrau oder Geliebte gesehen wird, sondern als ein Mensch, dem große wissenschaftliche Durchbrüche gelungen sind, die unser Leben bis heute prägen. Dafür lohnt es sich, Geduld zu haben, auch um am Rande noch die weniger bekannten wissenschaftlichen Errungenschaften von Tochter Irène Joliot-Curie anzuerkennen. RADIOACTIVE überrascht mit seiner Farbwelt, aber nicht immer liegt das an einer comic-haften Überzeichnung: So ist das Bild von Curie, die mit dem hochgiftigen Uranium im Bett schläft, keine leuchtende Fantasie, sondern historische Tatsache. In RADIOACTIVE vermittelt Satrapi überzeugend, wie anders die Welt ohne den Beitrag von Frauen aussehen würde Aktueller denn je ist auch die Frage, ob wir es verdienen, die Geheimnisse der natürlichen Ressourcen unserer Erde zu kennen. D Anna Hantelmann

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Marjane Satrapi’s colorful graphic novel adaptation is about Marie Curie and travels across the world of radioactivity from the discovery of radioactive radiation through to cancer therapy to Chernobyl and Hiroshima.

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INDIEKRITIKEN

Berlin Alexanderplatz Dämonische Leinwand

Burhan Qurbanis Adaption des Montage-Romans von Alfred Döblin ist die dritte Verfilmung des Stoffs. Sowohl der Film von Piel Jutzi nach Döblins eigenem Drehbuch von 1931 als auch Rainer Werner Fassbinders lange Version von 1980 waren ganz auf der Höhe ihrer Zeit. Jutzis brutale Montagen, Fassbinders Überführung des Textes in ein distanziertes Melodram, das gleichzeitig Döblins Sprache und Form viel Raum gab – das ist eine mächtige Tradition, an die man sich erst einmal heranwagen muss. Qurbani setzt auf einen überhöhten, beinahe expressionistischen Stil, der die Handlung in ein Film-Berlin verfrachtet, das mehr Ausdruck als Darstellung unterschiedlicher Lebenswelten in der heutigen Großstadt ist. Franz Biberkopf wird zu Francis (Welket Bungué), einem Migranten aus Guinea-Bissau, der sich für den Ertrinkungstod seiner Frau im Mittelmeer verantwortlich fühlt, und deshalb ein guter Mensch werden will – und ist

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Burhan Qurbani’s vaguely expressionistic adaptation of Alfred Döblin’s novel shows Francis, a Black refugee from Guinea-Bissau, stumbling through the Berlin drug, crime and party scene, and trying to keep his vow to become “a good person”.

Deutschland/Niederlande 2020 D 183 min D R: Burhan Qurbani D B: Martin Behnke, Alfred Döblin, Burhan Qurban D K: Yoshi Heimrath D S: Philipp Thomas D M: Dascha Dauenhauer D D: Welket Bungué, Jella Haase, Albrecht Schuch, Joachim Król, Annabelle Mandeng D V: eOne

damit stärker als der Totschläger und Vergewaltiger Franz Biberkopf auch Sympathieträger. Er arbeitet als illegal beschäftigter Tagelöhner in einer Fabrik, bis der Kleinkriminelle Reinhold in der Geflüchteten-Unterkunft erscheint, und viel Geld für wenig Arbeit verspricht. Francis wird zu Reinholds rechter Hand beim Drogenhandel in der Hasenheide, und folgt ihm in die kriminelle Unterwelt um den Gangsterboss Pums (Joachim Król). Diese Welt mehr oder weniger organisierter Kriminalität verbindet Qurbani mit der pansexuellen Partyszene Berlins, die in ihrer Fremdheit für Francis die Eingangskapitel aus Döblins Roman ersetzt, in denen Biberkopf von Juden im Scheunenviertel wieder aufgepäppelt wird. Welket Bungués Francis ist ein großer, wuchtiger Mann, der einen brüterischen Mittelpunkt im Panoptikum des Films darstellt. Vor allem Albrecht Schuch als verwachsener, psychopathischer Reinhold, spielt dagegen, als sei er direkt der dämonischen Leinwand eines deutschen Stummfilms der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts entsprungen. Qurbani zielt auf eine brachiale, alptraumhafte Form, in der manchmal auch mit wilder Entschlossenheit zusammengeführt wird, was wenig miteinander zu tun hat, was durchaus Döblins Formsprache entspricht. Es gibt Filme, deren Bilder man schnell wieder vergisst. Die exaltierten Szenen aus BERLIN ALEXANDERPLATZ bekommt man nicht so schnell wieder aus dem Kopf. D Tom Dorow JULI 2020 D

17 D


INDIEKRITIKEN Originaltitel: Ahlat Agaci D Türkei 2018 D 188 min D R: Nuri-Bilge Ceylan D B: Nuri-Bilge Ceylan, Ebru Ceylan, Akin Aksu D D: Dogu Demirkol, Murat Cemcir, Bennu Yildirimlar D V: Kinostar

The Wild Pear Tree Grundfragen der Existenz

Die Tiefgründigkeit von Nuri Bilge Ceylans THE WILD PEAR TREE ist vergleichbar mit Andrej Zvyagintsevs LEVIATHAN von 2014: Beide Filme bündeln Grundfragen der menschlichen Existenz in einer Serie von geschliffenen Dialogen und verpacken diese in einem visuell und klanglich gleichermaßen eindrücklichen Epos. Während die Charaktere in LEVIATHAN jedoch bisweilen zu reinen Medien für die politischen und philosophischen Überzeugungen des Regisseurs geraten, verwachsen in THE WILD PEAR TREE die künstlerische Aussage und das filmische Setting zu einem überzeugenden Ganzen. Dabei bleibt die eigentliche Handlung simpel: Ein angehender Lehrer und Schriftsteller kehrt zurück in seine Heimatstadt, wo er hofft, sein erstes Buch zu veröffentlichen. Dieser Plan wird jedoch verkompliziert durch seine konfliktreichen Beziehungen zu Freunden und Familie, besonders zu seinem undurchschaubaren Vater (Murat Cemcir). Der Wildbirnenbaum gerät dabei zum Symbol für regionale Verbundenheit und intellektuelle Selbstisolation gleichermaßen. Dass sich aus den Gesprächen und Konflikten des Schriftstellers mit den Bewohnern seiner westanatolischen Heimatstadt Çan immer neue Perspektiven auf Religion, Kultur oder Ethik ergeben, ist immer nachvollziehbar und bisweilen sogar sehr unterhaltsam. So behält die inhaltliche und filmische Imposanz von THE WILD PEAR TREE stets eine angenehme Natürlichkeit, was auch den großartigen Schauspieler:innen geschuldet ist: vom verbissenen Antihelden Sinan Karasu (Dogu Demirkol) bis zu seiner melancholischen Jugendliebe Hatice (Hazar Ergüçlü) balanciert die gesamte Besetzung die Pole von erzählerischem Archetyp und lebensechtem Individuum perfekt aus. Und ohne sich in schwüler Symbolik zu ergehen, verwandelt das Team von Nuri Bilge Ceylan den einfachen Plot in jeder Hinsicht in ein Meisterwerk. D Yorick Berta

Start am 18.6.2020 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de

D 18

D JULI 2020

A prospective teacher and writer returns to his West Anatolian hometown Çan. New perspectives on religion, culture, and ethics arise from his conversations and conflicts with friends and family.

Originaltitel: Un Monde plus grande D Frankreich 2019 D 100 min D R: Fabienne Berthaud D B: Claire Barré Fabienne Berthaud D K: Nathalie Durand D S: Simon Jacquet D M: Valentin Hadjadj D D: Cécile de France, Arieh Worthalter, Tserendarizav Dashnyam D V: MFA+

Eine grössere Welt Schamanin werden

Seit dem Tod ihres Partners stolpert Corine Sombrun (Cécile de France) in tiefer Trauer durch ihren Alltag. Als sie im Tonstudio vergisst, den Aufnahmeknopf zu drücken, nimmt ihr Kollege sie zur Seite und schlägt ihr vor, mal rauszukommen. Es müssten noch Atmo-Tonaufnahmen für eine ethnografische Filmreihe gemacht werden. „Was ist am weitesten weg?“ fragt Corine und macht sich auf den Weg in die Mongolei, um in einem kleinen Hüttendorf eine Schamanin der Tsaatan bei ihren Ritualen aufzunehmen. Als Corine zum ersten Mal die große Trommel der Schamanin hört, fällt sie selbst in eine angsteinflößende Trance. Die Schamanin eröffnet ihr, dass sie, Corine, eine Berufene sei und eine Ausbildung zur Schamanin machen müsse, um die Gabe zu beherrschen und den Weg aus dem Reich der Geister zurückfinden zu können. Zunächst tut Corine das als Humbug ab und fährt zurück nach Paris, aber wann immer sie die Aufzeichnung der Trommel hört, beginnt sie erneut, Trancezustände zu erleben, die den Weg in eine andere Welt und vielleicht auch zu ihrem verstorbenen Liebsten zu öffnen scheinen… Corines Geschichte beruht auf wahren Begebenheiten. Fabienne Berthaud erzählt sie – mit Ausnahme der Traumsequenzen, die Corinnes Erlebnisse während der Trancen bebildern – mit großem Naturalismus und so reduzierten Mitteln, dass man sich, mindestens in den Handlungsteilen, die in der Mongolei spielen, selbst in einem ethnografischen Film zu befinden meint. Das heißt dann auch, dass man Corinne zu Beginn ihrer Schamaninnen-Ausbildung erstmal eine Weile beim Wasserholen und Ziegenmelken zusieht und dass nicht alle losen Enden aufgewickelt werden. Ebenso angenehm zurückhaltend behandelt Berthaud die Frage, ob es eine jenseitige Welt gibt: Sie zeigt die tiefe Überzeugung der Tsaatan, dass dem so ist, und die ebenso tiefverwurzelte Skepsis von Corines Pariser Zirkel. D Hendrike Bake

Start am 9.7.2020 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de

Sound engineer Corine takes a job in Mongolia to escape her grief after losing her husband. While there she discovers she has the ability to go into a ritual trance.

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INDIEKRITIKEN Originaltitel: Národní třída D Deutschland/Tschechische Republik 2019 D 91 min D R: Štěpán Altrichter D B: Jaroslav Rudiš, Štěpán Altrichter D K: Cristian Pirjol D D: Hynek Cermák, Jan Cina, Kateřina Janečková D V: Neue Visionen

Nationalstrasse Konfrontation

„Vandam“ (Hynek Cermák) war einer von denen, die es losgetreten haben am 17. November 1989, als unten in der Prager Altstadt auf der Nationalstraße die „samtene Revolution“ ins Rollen kam, die einige Wochen später das kommunistische Regime wegfegte. Damals war er Polizist mittendrin, bevor er unehrenhaft aus dem Dienst entlassen wurde. Seine Saufkumpanen in der kleinen Kneipe inmitten der Trabantenstadt vor den Toren Prags feiern ihn trotzdem als Nationalheld und er lässt sich das gerne gefallen. Aber wenn ihm einer dumm kommt, wird ihm die Fresse poliert. Es braucht nicht viel, um den bulligen Typen zu reizen. „Frieden“, so sagt er, „ist nur die Pause zwischen zwei Kriegen.“ In den leeren Momenten, wenn er alleine in der Plattenbauwohnung sitzt, sieht er seinen Vater auf dem Balkon stehen, die Bierflasche in der Hand und ins Nichts starrend. Sein einziger Lichtblick in der Leere ist die Barbesitzerin Lucy (Katerina Janecková), die er umgarnt, unsicher wie ein Teenager. Als ein Kredithai droht, ihre Kneipe zu schließen, setzt „Vandam“ alles daran, dies zu verhindern – und lässt sich dabei von niemandem aufhalten. Der tschechische Schriftsteller Jaroslav Rudiš blickt mit seinem Roman NATIONALSTRASSE tief in die Psyche eines unangenehmen Zeitgenossen. Dieser „Vandam“, dessen Spitzname von seiner Liebe zum Actionklassiker BLOODSPORT herrührt, ist ein Schläger, ein Rassist, der nach eigener Aussage niemandem etwas zu Leide tut – solange er sich nicht mit ihm anlegt. Und doch gelingt es Rudiš, diesen Kerl menschlich darzustellen. Das liegt auch an der selbstsicheren Verkörperung von Hynek Cermák. Der Figurenkosmos kaputter Typen, der ein wenig an die Romane von Clemens Meyer erinnert, bleibt nachhaltig im Gedächtnis. D Lars Tunçay

Start am 11.6.2020 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de

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“Peace”, according to Czech ex-cop Vandam, “is just the break between two wars”.

Deutschland/Niederlande/Polen 2020 D 94 min D R: Carolina Hellsgård D B: Carolina Hellsgård D K: Wojciech Staron D S: Ruth Schönegge D M: Alex Simu D D: Zita Gaier, Gedion Oduor Wekesa, Sabine Timoteo, Nicolais Borger D V: Camino

Sunburned Hinter der Ferienfassade

Aus der Vogelperspektive fängt die Kamera tosende Wellen an der andalusischen Küste ein. Hier verbringt die 13-jährige Claire (Zita Gaier) mit ihrer Schwester und ihrer Mutter (Sabine Timoteo) die Ferien. Doch kaum im schneeweißen, cleanen Hotelkomplex angekommen, muss Claire feststellen, dass ihre Mutter sich nur für sich selbst interessiert – und für Marco, der sie beim Sonnenbaden umgarnt. Da sich Zoe (Nicolais Borger), Claires zwei Jahre ältere Schwester, in den gleichaltrigen Michael verliebt, ist Claire auf sich allein gestellt. Mit Chantal und Sandra, die sie bei der hoteleigenen Animation für Jugendliche kennenlernt, verbindet sie nicht viel. Als ein junger Strandverkäufer sie anspricht, will sie weiterlaufen, aber als Amram (Gedion Oduor Wekesa) sagt, Claire sei schön, kauft sie ihm doch eine Halskette ab. Amram, der aus dem Senegal kommt, braucht dringend Geld, das er seinem Vater schicken kann. Die unbefangene Claire will ihrem neuen Freund helfen, doch sie kommt auf eine Idee, mit der sie Amrams aussichtslose Lage aus Versehen noch verschlimmert. Claires Coming-of-Age-Geschichte verknüpft die in Berlin lebende schwedische Regisseurin und Drehbuchautorin Carolina Hellsgård in SUNBURNED mit der eines nach Südspanien geflüchteten senegalesischen Teenagers. In dem namenlosen, typisch südeuropäischen Ferienort, in dem Tourist:innen abgeschottet in luxuriösen Clubhotels Urlaub machen, kämpft Amram ums Überleben. Claire will ihn unterstützen und schaut hinter die Fassade des Badeortes, während ihre Schwester und die Mutter am Pool liegen und in ihrer exklusiven Blase bleiben, ohne sich näher mit ihrer Umgebung zu beschäftigen. Berückend schöne, surreale Landschaftsaufnahmen durchziehen den feinfühlig inszenierten Film – Bilder, in denen alle Grenzen verwischen. D Stefanie Borowsky

Start am 11.6.2020 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de

Berlin-based Swedish director and screenwriter Carolina Hellsgård links Claire’s coming-of-age story with a Senegalese teenager who fled to southern Spain in SUNBURNED.

JULI 2020 D

19 D


INDIEKRITIKEN Originaltitel: Something Else D USA 2019 D 83 min D R: Jeremy Gardner, Christian Stella D B: Jeremy Gardner D K: Christian Stella D S: Jeremy Gardner, Christian Stella D D: Jeremy Gardner, Brea Grant, Justin Benson, Nicola Masciotra D V: drop-out Cinema

After Midnight Beziehungs-Horror

Originaltitel: Sibyl D Frankreich 2019 D 100 min D R: Justine Triet D B: Arthur Harari, Justine Triet D K: Simon Beaufils D S: Laurent Sénéchal D D: Virginie Efira, Adèle Exarchopoulos, Gaspard Ulliel, Sandra Hüller, Niels Schneider D V: Alamode Film

Sibyl – Therapie zwecklos Getriggerte Psychologin

Ein statisches Rauschen liegt über dem Wald. Kosmische Mikrowellenhintergrundstrahlung, erklärt Hank der verzauberten Abby. Das junge Paar bezieht gerade eine alte Farm, in eben diesem unheimlichen Forst. Wie beim Texas-Kettensägen-Massaker, scherzt Abby. Dann kauert Hank plötzlich bewaffnet im verbarrikadierten Haus, als draußen etwas fauchend und brüllend die Tür mit Kratzern hinterlässt. Abby hat ihn verlassen und der einsame Hank kommt in den Nächten dem Wahnsinn nahe. Ein Monster treibt sich herum. Auch wenn ihm das keiner glaubt. Als Abby kurz vor ihrem Geburtstag wiederauftaucht, um eine lang geplante Party im Haus zu feiern, erzählt ihr Hank von dem Monster. Sie begibt sich mit ihm auf die Lauer. Wein fließt und Trennungsaufarbeitung ist das Thema der Stunde, doch das Monster lässt sich ausgerechnet in dieser Nacht nicht blicken. In harten Schnitten springen die Zeitebenen zwischen dem Einzug der Verliebten und dem nachfolgenden Schrecken hin und her, bis sich eine Chronologie der Ereignisse entfaltet. Das Regie-Duo Jeremy Gardner und Christian Stella hat bereits für sein Debüt BEN & MICKEY VS. THE DEAD (2012) ein klassisches Coming-ofAge-Thema in einen Zombie-Streifen verpackt. Was dort als witzig-intelligenter Genre-Mix gefeiert wurde, wiederholt sich bei AFTER MIDNIGHT nicht ganz. Während die zu kurz kommenden Horrorsequenzen durch feine Bildeffekte Spaß machen, sind die Beziehungsrückblenden teils bis zum Kitsch mit Musik und Filtern belegt. Die Ebenen finden nicht recht zusammen und die Love-Story von Hank und Abby ist oft erzählt – so wie die Monsterlegenden aus aller Welt. Jeder See hat sein Seeungeheuer, jeder Wald seinen Big Foot, sagt ein Freund zu Hank, als der ihm von seinen nächtlichen Heimsuchungen berichtet. D Clarissa Lempp

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D 20

D JULI 2020

Abby has left him and lonely Hank gets close to going mad during the nights in his forest cabin. A monster is roving about.

Bereits in Justine Triets VICTORIA – MÄNNER & ANDERE MISSGESCHICKE spielte Virginie Efira eine berufstätige Mutter am Rande des Nervenzusammenbruchs. In Triets jüngstem Film, SYBIL, wirkt sie dagegen auf den ersten Blick eher gut sortiert. Die Psychologin Sybil beschließt, ihre Patient:innen abzugeben und sich wieder aufs Schreiben zu konzentrieren, aber als das Telefon eines Nachts unermüdlich klingelt, geht sie doch ran. Am anderen Ende ist Margot (Adèle Exarchopoulos), eine junge Schauspielerin, die in eine Affäre mit ihrem Kollegen Igor (Gaspard Ulliel) verwickelt ist, der seinerseits ein Verhältnis mit der Regisseurin (Sandra Hüller) hat. Margot ist schwanger und weiß nicht, was sie machen soll. Der Fall triggert etwas in Sybil, und sie geht immer weiter auf Margots Vorschläge ein, trifft sich zu den unmöglichsten Zeiten und fährt sogar aufs Filmset – während sie in ihren eigenen Fantasien immer öfter Flashbacks zu einer vergangenen, wilden Beziehung erlebt. Triet schildert das Auseinanderfallen Sybils in einer abrupten Montage, die zwischen den Zeitebenen und Schauplätzen wild hin- und herspringt: Von der Therapiesession mit Margot zu einer Erinnerung an rauschende Nächte, zum Gespräch mit dem Supervisor, zu einer Szene in der heimischen Wohnung mit der schrägen Schwester und den Kindern, wieder zurück zu Margot, und immer wieder dazwischen sitzt Sybil am Laptop und tippt das frisch Erlebte in ihren neuen Roman. Umso wilder sich das abstruse Karussell dreht, von dem nicht ganz klar ist, ob es Komödie oder Drama ist, umso krasser werden die Grenzüberschreitungen, und umso mehr verliert Sybil die Kontrolle, die sie andererseits vielleicht auch nie wirklich hatte. Die vielleicht auch sonst niemand wirklich hat, denn obwohl Sybil das Zentrum ist, um das sich alles dreht, verrät ein Blick auf die Nebenfiguren, dass eigentlich alle gleichermaßen am Rad drehen. D Toni Ohms

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Psychologist Sybil wants to focus on writing again, but instead she gets more and more involved with the case of a young patient who reminds her of a past relationship of hers.

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INDIEKRITIKEN Originaltitel: Kƒ±z Karde≈üler D Türkei/Deutschland/Niederlande/Griechenland 2019 D 107 min D R: Emin Alper D B: Emin Alper D K: Emre Erkmen D S: Cicek Kahraman D M: Giorgos Papaioannou, Nikos Papaioannou D D: Cemre Ebüziyya, Ece Yüksel, Helin Kandemir, Kayhan Açikgöz, Müfit Kayacan, Kubilay Tunçer D V: Grandfilm

Harriet – Der Weg in die Freiheit

Eine Geschichte von drei Schwestern Brutale Männer, (er)leidende Frauen

Drei Schwestern, einst zur Adoption freigegeben, kehren zurück zu ihrem biologischen Vater (Müfit Kayacan). Sie tauschen ein Leben als Dienstmädchen in der Stadt gegen eines als Dienstmädchen in einem winzigen Dorf in den Bergen Anatoliens. Die Übergabe wickeln die beiden „Väter“ ab, ohne nur einmal über die Gefühle ihrer Töchter zu sprechen. „Tut was Nützliches, statt euch zu streiten“, sagt der Vater zu den Töchtern, die mit der neuen Situation schwer klarkommen. Reyhan (Cemre Ebüzziya) hat ein Baby und einen Mann, den sie nicht liebt. Nurhan (Ece Yüksel) hat Mist gebaut und will einfach nur wieder zurück, und auf der Jüngsten, Havva (Helin Kandemir), lasten alle Erwartungen. Es ist nicht einfach, die gezeigten kulturellen Konventionen zu entschlüsseln, wenn man sich nicht auskennt. Einiges versteht sich aber auch von selbst: Die in Armut lebende Familie, die ihre Töchter zum Herrn Doktor (Kubilay Tunçer) in die Stadt schickt, damit sie dort die Kinder hüten und einen ordentlichen Mann finden. Die Natur, die ein wenig an die Alpen erinnert. Die Männer, die am Feuer sitzen und sich betrinken, und die Frauen, die sich nützlich machen und im Hintergrund bleiben. Brutale Männer, (er-)leidende Frauen. Dass die Täter im Film so viel Raum bekommen, ist schwer zu ertragen. Anrührend sind dagegen die Gespräche zwischen den Schwestern, die von ihrem Kampf um ein selbstbestimmtes Leben erzählen. Es entfaltet sich ein Trauerspiel wie aus einem Theaterstück, das man in der Schule liest, wo alles kommt, wie es kommen muss und alles genau so schlimm ist, wie es nur sein kann. Drastisch und ein wenig konstruiert zeigt der Berlinale-Wettbewerbsbeitrag EINE GESCHICHTE VON DREI SCHWESTERN, den Aper tatsächlich lose an Tschechows Stück „Drei Schwestern“ angelehnt hat, die Konsequenzen einer patriarchalen Ordnung, der niemand entrinnen kann. D Eva Szulkowski

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Three sisters who were put up for adoption return to their biological father. They exchange a life as a maid in the city with one as a maid in a tiny village in the Anatolian mountains.

Die geplante Ausgabe des 20 Dollar Scheins mit dem Abbild Harriet Tubmans ist von Trump-Regierung gestoppt worden. Tubman war eine der herausragenden Figuren der Underground Railroad, die mit einem Netz von geheimen „Safehouses“ entflohenen Sklaven bei der Flucht in die Nordstaaten verhalf und im Bürgerkrieg auf der Seite der Vereinigten Staaten gegen die Sklavenhalter-Konföderation kämpfte. Kasi Lemons Film erzählt ihre Lebensgeschichte, beginnend mit ihrer eigenen Flucht von einer Baumwollplantage. Start am 9.7.2020

Originaltitel: Harriet D USA 2019 D 125 min D R: Kasi Lemmons D D: Cynthia Erivo, Janelle Monáe, Leslie Odom Jr., Vondie Curtis-Hall

Wir Eltern Wenn Erziehung der Versuch ist, die Welt um sich herum zu ordnen, so misslingt das den Eltern in WIR ELTERN auf ganzer Linie. Chaos, verschlossene Türen, Widerworte – so danken ihnen ihre beiden erwachsenen Söhne ihre elterliche Fürsorge. Schauplatz der Handlung ist das Zuhause von Autorin Ruth Schweikert und Regisseur Eric Bergkraut. Das Drehbuch ist eine Groteske des eigenen, quälenden Familienlebens. Neben Eric Bergkraut spielen auch die drei Söhne des Paares, Ruben, Elia und Orell Bergkraut, fiktionalisierte Versionen ihrer Selbst. Start am 16.7.2020

Schweiz 2019 D 94 min D R: Eric Bergkraut, Ruth Schweikert D D: Elisabeth Niederer, Eric Bergkraut, Elia Bergkraut, Ruben Bergkraut, Orell Bergkraut

JULI 2020 D

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INDIEKRITIKEN Deutschland 2019 D 120 min D R: Simona Kostova D B: Simona Kostova D K: Anselm Belser D S: Simona Kostova D D: Övünc Güvenisik, Pascal Houdus, Raha Emami Khansari, Kara Schröder, Henner Borchers D V: déjà-vu film

Dreissig

Siberia

Raum für Spekulation

Reise ins Unterbewusstsein

Ein Tag, eine Nacht und eine lose Clique aus sechs jungen Menschen, die ihr Glück suchen. Der programmatische Titel von Simona Kostovas Spielfilmdebüt lautet: DREISSIG. Drehort ist Berlin. Und zwar nicht irgendwo, sondern in Neukölln, dem Szenekiez für hippe Dreißigjährige. Was für ein Film folgt, ist nicht schwer zu erraten. Zwischen der nächsten großen Reise, der letzten Vernissage und anhaltender Trennungskrise wird ordentlich gefeiert. Der dreißigste Geburtstag von Schriftsteller Övünç (Övünç Güvenisik) muss begossen werden. Seine vierköpfige Crew und eine neue Bekanntschaft von der Eckkneipe sind natürlich am Start. Neuköllns andere Seite als Arbeiter- und Einwandererviertel sucht man an Kostovas Drehorten vergebens – bis auf die arabische Musik im Taxi und das billige Imbissfrühstück im Morgengrauen. Die schlicht schönen WG-Zimmer, Vintage-Klamotten und zwischen Jazz und Techno oszillierenden Bars könnten auch in jeder anderen Metropole der Welt sein. So ist der Film weniger eine Hommage an Berlin als an eine Generation, die über den Sinn des Lebens philosophiert, aber auf keinen Fall zu streng mit sich sein will. Lebensentwürfe werden nur angerissen und lassen viel Raum für Spekulation, wenn das Stimmengewirr in der Bar oder der Mixer in der kleinen WG-Küche alles übertönt. Und so bleiben die Schicksale der einzelnen Protagonisten abstrakt, Momentaufnahmen dominieren. Von den statischen Einstellungen am Anfang gleitet die Kamera in immer fließendere Bewegungen, bis sie ganz im Strudel der Nacht aufgeht. Das Bild verharrt allein, um Momente von Leere und Nichts einzufangen – und die gibt es zu Genüge. So wie manche Nächte endlos sind, aber nicht unbedingt gefüllt. Stattdessen erscheint DREISSIG als ein großes Vakuum für die Gefühle, die man mit dieser Lebenszahl heute assoziiert. Statt festem Job, Heirat, Kindern: eine Ansammlung von Flüchtigkeiten. D Anna Hantelmann

Start am 23.7.2020 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de

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Italien/Deutschland/Mexiko 2020 D 92 min D R: Abel Ferrara D B: Abel Ferrara, Christ Zois D K: Stefano Falivene D S: Fabio Nunziata, Leonardo D. Bianchi D M: Joe Delia D D: Willem Dafoe, Simon McBurney, Dounia Sichov, Cristina Chiriac D V: Port au Prince

A homage to a generation that philosophizes about the meaning of life but by no means wants to be too strict with themselves.

Manche Filme werfen einen Schatten voraus. In der März-Ausgabe von Indiekino war die Rede von Abel Ferraras TOMMASO UND DER TANZ DER GEISTER, in dem es um einen Regisseur ging, der an den sich in die Länge ziehenden Vorbereitungen für einen Film namens SIBERIA zu verzweifeln droht. Damals spielte Willem Dafoe den an sich zweifelnden Regisseur, nun ist es wieder Dafoe, der einen Mann spielt, der an der Welt verzweifelt ist und die Einsamkeit gesucht hat. Clint heißt dieser Mann, der in einer abgelegenen, verschneiten Berghütte lebt, die als eine Art Laden und Bar dient, auch wenn nur ganz selten jemand vorbeizukommen scheint. Ein Bär ist schließlich die Initialzündung für eine Reise, in deren Verlauf immer unklarer wird, welche Teile in der Realität stattfinden und welche nur in Clints Phantasie existieren. Klar ist jedoch, dass Clint eine typische Ferrara-Figur ist, also ein Mann, der mit seinen Dämonen kämpft. Unterschiedlichsten Menschen bzw. Fragmenten aus seiner Vergangenheit begegnet Clint, einer Ex-Frau, die er einst im Streit verlassen hat, seinem jüngeren Ich, seinem Vater, der passenderweise ebenfalls von Dafoe gespielt wird und mit dem Clint nie im Reinen war. Zunehmend fragmentarisch werden die Szenen, gleiten immer stärker ins Unterbewusstsein ab, Geisterbeschwörer und andere seltsame Gestalten tauchen auf, ebenso die bei Ferrara wohl unvermeidlichen schönen, nackten Frauen, die offenbar aus der Gedankenwelt des Regisseurs nicht wegzudenken sind. Und so ist SIBERIA am Ende auch ein Film über Ferrara selbst und als solcher eine Art Gegenstück zu TOMMASO. Zwar nicht so konzentriert wie der Vorgänger, in seinem extrovertierten Exzess auch ein ums andere Mal ziemlich anstrengend, aber am Ende doch ein sehenswerter Trip in die Psyche einer extremen Figur, ins Unterbewusstsein eines extremen Regisseurs. D Michael Meyns

Start am 2.7.2020 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de

Clint tends a bar in the snowy sticks of possibly Canada. But his journey leads him into himself, towards his past, his regrets and the women he loved.

Termine unter www.indiekino.de


INDIEKRITIKEN

Als wir tanzten Unbändige Energie

„Wie ein Nagel“ solle er sich halten, „gerade wie ein Denkmal“ stehen, wird Merab von seinem Trainer aufgefordert. Der traditionelle Tanz, den er an der Akademie des Georgischen Nationalballetts einstudiert, ist eine ernste Angelegenheit: Dessen ist sich Merab (Levan Gelbakhiani) bewusst, sein unbedingter Wunsch ist, den einen freien Platz im Ensemble zu erhalten. Der Tänzer, um dessen Platz Merab ringt, musste gehen, nachdem er beim Sex mit einem Mann erwischt worden war, wird sich in den Pausen erzählt. Homosexuelle Liebe und Nationaltanz sind in Georgien noch eine brisante Kombination, das zeigen auch die Proteste und Demonstrationen anlässlich der Premiere des Films in Tiflis. ALS WIR TANZTEN schlägt einen klassischen narrativen Bogen, dessen Wendungen keine großen Überraschungen bereithalten. Mit dem selbstbewussten Irakli (Bachi Valishvili) erscheint ein Neuer in der Ballettakademie, es kommt zwischen Merab und Irakli zu Begegnung, Faszination, Annäherung, dann Verunsicherung, Drama und Verletzung. Zum Glücksfall macht den Film etwas anderes: Levan Gelbakhianis unbändige Energie beim Tanzen und die langen Szenen, die ihn durch den Raum wirbeln sehen, seine Blicke, die so viel mehr aussagen, als sie es wollen. Die Anziehungskraft zwischen Merab und seinem Gegenpart Irakli, die Leichtfüßigkeit der beiden Hauptdarsteller und das strahlende Licht. Man kommt nicht umhin, bei der Dynamik zwischen den beiden an Oliver und Elio aus CALL ME BY YOUR NAME zu denken: hier der ältere,

Start am 23.7.2020 ¢ Alle Spielorte und Termine auf www.indiekino.de

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Levan Gelbakhiani as Merab frolics with unrestrained energy and a disarming smile in this Georgian love drama about two ballet students.

Schweden/Georgien/Frankreich 2019 D 113 min D R: Levan Akin D B: Levan Akin D K: Lisabi Fridell D D: Ana Javakishvili, Giorgi Tsereteli, Tamar Bukhnikashvili, Marika Gogichaishvili D V: Edition Salzgeber

selbstbewusste Mann und dort der sich soeben erst entdeckende Jüngere, der sich seiner Liebe dann jedoch schnell und ungestüm sicher ist. Der ältere Irakli kommt aus Batumi, trägt einen Ohrring und schert sich wenig um das, was andere von ihm halten. Schnell wird er in Merabs Clique aufgenommen, die Aufmerksamkeit der Frauen ist ihm sicher, für Merab ist er dagegen zuerst ein Konkurrent. Als sie eines morgens zu zweit ihre Tänze üben und sich langsam näherkommen, blickt Irakli Merab an, als wüsste er mehr über ihn, als dieser sich selbst eingestehen will. Im Auto, auf dem Weg zu einem Geburtstagsfest in den Bergen mit Wein und Tanz, läuft ein georgischer Song im Radio: Alle singen „Bist du etwa der Monat April, der nicht weiß, was er will?“ Irgendwann weiß es Merab: Nachdem er erst skeptisch, dann aufmerksam auf Irakli geblickt hat, kann er seine Gefühle bald nicht mehr aus seinem Blick verbannen: die stille Freude, als Irakli im Bus zur Schule auf seiner Schulter einschläft, das verliebte Grinsen, das ihm nicht aus dem Gesicht weichen will. Das Ballett jedoch ist immer noch eine Bastion des Konservativismus, homosexuelle Liebe wird dort geächtet. Die rückwärtsgewandten Ansichten dort scheinen aus einer anderen Zeit zu stammen. Gleichzeitig, am anderen Ende des Spektrums tanzt sich Merab offenherzig durch die Tifliser Nacht, die iPhones und der Techno-Club Bassiani zeugen vom Heute. Der in Schweden geborene Regisseur Levan Akin spricht in einem Interview davon, dass er einen Film habe machen wollen, der ihn auf seine Kultur stolz sein lasse, „auch wenn dir manche Leute diktieren wollen, dass du kein Teil davon sein darfst, weil du nicht der Norm entsprichst.“ Eine Zeit lang versucht Merab, sich anzupassen. Er führt irgendeine Form von Beziehung mit seiner Tanzpartnerin Marit, in den Umkleidekabinen macht er mit bei den Männergesprächen, und auch die von ihm erwarteten Kraftakte im Tanztraining bringt er auf. Doch von Anfang an wirkt er zu anders und zu unangepasst: „Im georgischen Tanz gibt es keine Sexualität“, ermahnt ihn der Lehrer, als Merab und Marit mit zu viel Spaß an der Sache ein Duett tanzen. In flirrend schönen Bildern stellt ALS WIR TANZTEN der unbeweglichen Idee von Tanz, Nationalstolz und Männlichkeit eine schillernde Alternative entgegen, auch wenn diese im gegenwärtigen Georgien – noch – nicht sorgenfrei lebbar sein mag. D Lili Hering JULI 2020 D

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INDIEKRITIKEN

Waves

Jean-Paul Gaultier: Freak & Chic

Das furiose Familiendrama WAVES erzählt die Geschichte einer gut situierten Schwarzen Familie, die so überraschende Wendungen nimmt, dass es am besten ist, nichts von ihr zu verraten. WAVES ist eine emotionale Achterbahnfahrt, zunächst ein Rausch der Geschwindigkeit zu einem wuchtigen Soundtrack von Trent Reznor und Atticus Ross, wenn nicht gerade Songs von Kanye West, Animal Collective, Frank Ocean oder Tyler The Creator in den Mix einfließen. Ein Schockmoment verändert die Welt der Familie.

Die vor zwei Jahre entstandene Revue „Fashion Freak Show“ führt als roter Faden durch den Dokumentarfilm. In der von der Film- und Theaterregisseurin Tonie Marshall inszenierten Show ließ Gaultier sein Leben Revue passieren und das an einem ganz besonderen Ort: dem Folies Bergères, einem der berühmtesten Nachtclubs Paris’. Aufnahmen von Proben und Entstehung der Revue wechseln sich mit Bildern des fertigen Produkts ab, ergänzt um kurze Aussagen, in denen Wegbegleiter Gaultiers Genie preisen und der Meister selbst aus seinem Leben erzählt

Start am 16.7.2020

USA 2019 D 135 min D R: Trey Edward Shults D D: Lucas Hedges, Sterling K. Brown, Taylor Russell, Elisa Lau

Start am 2.7.2020

Frankreich 2019 D 94 min D R: Yann L’Hénoret

La Vérité – Leben und Lügen lassen

For Sama

Fabienne Dangeville (Catherine Deneuve) ist ganz Schauspielerin und Diva, nichts und niemand ist ihr wichtiger als die aktuelle Performance, und gerade hat sie, sehr zum Ärger ihrer Tochter (Juliette Binoche), ihre Memoiren veröffentlicht … Kore-edas exzellentes Gespür für zwischenmenschliche Schwingungen funktioniert auch im dysfunktionalen französischen Schauspieler-Familien-Mikrokosmos. Geschickt täuscht er am Anfang ein großes, dunkles Geheimnis vor, nur um dann ein viel komplexeres Geflecht zu spinnen.

Die Regisseurin Waad Al-Kateab hat einen Film für ihre Tochter gedreht, damit sie sich irgendwann an das Syrien erinnern kann, das Al-Kateab verließ, und damit sie sehen und vielleicht verstehen kann, warum ihre Mutter bleiben wollte und schließlich doch floh. Der Film ist ein erschütterndes Dokument der Proteste, des Krieges und der Zerstörung, vor allem aber ein Dokument des Alltags der kleinen Familie, die in einem Krankenhaus in Ost-Aleppo lebte, das Hamza Al-Kateab, der Mann der Filmemacherin, aufbaute.

Start am 5.3.2020

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Originaltitel: La vérité D Japan/Frankreich 2019 D 106 min D R: Hirokazu Koreeda D D: Catherine Deneuve, Juliette Binoche, Ludivine Sagnier, Ethan Hawke

Start am 18.6.2020

Originaltitel: For Sama D Grossbritannien/ Syrien 2019 D 95 min D R: Waad Al-Khateab, Edward Watts

Termine unter www.indiekino.de


Paris Calligrammes Die 78-Jährige Malerin und Filmemacherin Ulrike Ottinger blickt auf die Anfänge ihres künstlerischen Schaffens im Paris der 1960er-Jahre zurück. Sie besucht für sie damals wichtige Orte und stellt alte und neue, dokumentarische und fiktionale Filmaufnahmen – von Méliès’ DIE REISE ZUM MOND über Bilder brutaler Polizeigewalt gegen friedlich demonstrierende Algerier:innen bis hin zur 68er-Bewegung – zu einer klugen filmischen Collage zusammen, ergänzt durch Gedichte, Theaterszenen, Konzertausschnitte und ihre eigenen, damals entstandenen Kunstwerke. Start am 11.6.2020

Deutschland/Frankreich 2019 D 129 min D R: Ulrike Ottinger

Die Farbe aus dem All Richard Stanleys freie Verfilmung der gleichnamigen Geschichte von H.P. Lovecraft ist voller Verweise für Eingeweihte, mit psychedelischen Effekten und Nicolas Cage, der sein übliches Ding macht. Ein Meteor stürzt in den Garten einer Familie und löst Mutationen aus, die an John Carpenters THE THING erinnern. Das sieht alles hübsch aus, mit wenig CGI und vielen analogen Special Effects und einem größtenteils elektronischen Soundtrack, der von Donnergrollen bis zum Tinnitus-Fiepen eine effektive Terror-Soundkulisse aufbaut. Start am 5.3.2020

Termine unter www.indiekino.de

Originaltitel: Color Out Of Space D USA 2019 D 111 min D R: Richard Stanley D D: Nicolas Cage, Q’Orianka Kilcher, Joely Richardson, Tommy Chong


INDIEFEATURE

„Wer die Wissenschaft ablehnt, D Fortsetzung von Seite 6

Der Film basiert auf einer Graphic Novel namens Radiocative. Wie wichtig waren Ihnen die historischen Fakten?

Was ja auch schon damit anfängt, dass Sie den Film nicht auf Französisch, sondern auf Englisch gedreht haben!

Wirklich wichtig waren vor allem die von Marie Curie selbst geschriebenen Briefe. Natürlich habe ich auch Bücher über sie gelesen, aber Biografien sind mit Vorsicht zu genießen, finde ich. In denen steckt immer ein Großteil Fantasie und die Perspektive ist stets sehr subjektiv. Aber aus Briefen kann man viel lernen, denn in unseren Worten und unserem Schreibstil drücken wir immer viel über uns selbst aus. Der Marie Curie, die ich darin entdeckte, wollte ich gerecht werden. Und ansonsten nicht aus dem Auge verlieren, dass es sich bei unserem Projekt natürlich um Fiktion handelt.

Aber das ist ja nun wirklich zweitrangig. Klar, es gibt auch Filme, spielt die Sprache eine entscheidende Rolle für die Geschichte und man muss wahrhaftig bleiben. Aber denken Sie an PERSEPOLIS! Den habe ich auch nicht auf Persisch, sondern auf Französisch gedreht. Weil mir das besser passte, weil ich ein größeres Publikum erreichen wollte, und weil ich viele Mitarbeiter hatte, die nur Französisch sprachen. So ähnlich war es nun auch mit MARIE CURIE – ELEMENTE DES LEBENS, der ja nun einmal eine britische Produktion ist.

Also stimmt im Film nicht jedes Detail?

Wie lange dauerte es, bis Sie in Rosamund Pike die richtige Hauptdarstellerin gefunden hatten?

Hier und da haben wir bei den Daten ein bisschen geschummelt, aus dramaturgischen Gründen. Besser, ich werde den Jahreszahlen untreu als meiner Protagonistin selbst, oder? Ich habe den Film auch Curies Enkelkindern gezeigt, die heute 91 und 88 Jahre alt sind. Die meinten zum Beispiel, sie könnten sich nicht vorstellen, dass ihre Großeltern je so gestritten hätten, wie ich es zeige. Aber ich habe nun einmal einen Film gedreht, da brauchte ich nicht nur Realität, sondern auch Drama. Es ist mit mir also wie mit den erwähnten Biografien: Was Sie sehen, ist nicht die reine Wahrheit, sondern meine Interpretation.

Eine ganze Weile, denn Marie Curies Intellekt machte die Sache schwer. Wissen Sie, eine kluge Schauspielerin kann problemlos jemand Dummen spielen. Aber eine nicht ganz so kluge Schauspielerin wird es nie schaffen, überzeugend als intelligent herüberzukommen. Ich brauchte also eine verdammt smarte Darstellerin – und davon gibt es nicht allzu viele. Aber dann traf ich Rosamund, die für mich, jenseits ihrer Schönheit und ihres Glamours, tatsächlich ein großes Gehirn auf zwei Beinen ist. Sie liebt Wissenschaft und hat sich geradezu reingeschmissen in die theoretische Vorbereitung. Ich kann Ihnen versichern: Wenn sie im Film über Physik oder

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INDIEFEATURE

lehnt auch das Menschsein ab“ Chemie spricht, dann weiß sie auch tatsächlich, was sie da sagt. Und dass sie von einer Sekunde zur nächsten jeden Raum zum Leuchten bringt, wenn sie zu lächeln beginnt, schadete natürlich auch nicht. Ihr Produzent Paul Webster hat gesagt, MARIE CURIE – ELEMENTE DES LEBENS sei etwas geradliniger als Ihre bisherigen Filme, aber immer noch ein typischer Satrapi. Stimmen Sie zu? Puh, ich weiß ja nicht, ob ich das Wort geradlinig verwenden würde. Immerhin handelt es sich nicht um ein typisches Biopic, sondern wir springen von Curies Leben ausgehend durch die ganze folgende Menschheitsgeschichte und zeigen die langfristigen Folgen ihrer Forschungen. Wir zeigen sogar das Radium selbst, also die visuelle Umsetzung eines chemischen Elements. Ich könnte Ihnen allerdings auch nicht unbedingt sagen, was ein typischer Marjane Satrapi-Film ist. Vielleicht habe ich einen bestimmten visuellen Stil? Es gibt natürlich bestimmte Arten der Bildgestaltung, die ich sehr mag. Und gewisse Farben, die ich nicht ausstehen kann. Doch ob man da rote Fäden von einem meiner Filme zum nächsten ziehen kann, müssen Sie sagen, nicht ich. Zumal ich ja bei jedem Dreh wieder aufs Neue dazulerne.

gelassen. Ohne jetzt arrogant klingen zu wollen, aber ich veröffentlichte meine erste, bekam dafür ganz viele Preise, für die zweite dann ebenfalls – und irgendwie hatte ich dann fast das Gefühl, dieses Medium für mich erschöpft zu haben. Eine Geschichte als Film zu erzählen ist sehr viel komplexer und schwieriger. Auch weil Sie nicht die alleinige Kontrolle haben wie bei einer Graphic Novel? Genau. Aber weil ich kein Kontrollfreak bin und Überraschungen liebe, finde ich das gerade aufregend. Privat bin ich recht einzelgängerisch und nicht zuletzt deswegen male und zeichne ich inzwischen sehr viel. Doch ab und zu brauche ich es dann auch, dass ich mich wieder einem Film widme und mit anderen Menschen zusammenarbeite. Zu einem Film trägt jeder einzelne seinen Teil bei, hat seine eigenen Ideen und Gefühle. Das finde ich als Künstlerin unglaublich bereichernd, deswegen ist mir in diesem Medium das Gefühl, alles zu kennen und zu können, noch sehr fern. D Das Gespräch führte Patrick Heidmann

Ach, tatsächlich? Ja, klar, deswegen liebe ich ja die Arbeit beim Film auch so. Und wahrscheinlich habe ich auch deswegen irgendwann die Graphic Novel sein JULI 2020 D

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Herausgeber: INDIEKINO BERLIN UG (haftungsbeschränkt) Rudolfstr. 11, 10245 Berlin Telefon: 030 – 209 897 24, info@indiekino.de, www.indiekino.de

Monate und bietet einen Überblick über Neustarts, Festivals und Wiederaufführungen. Unser Herz gehört dem unabhängigen Film und dem unabhängigen Kino.

Geschäftsführung: Hendrike Bake Redaktion: Hendrike Bake, Thomas Dorow redaktion@indiekino.de Filmtexte: Hendrike Bake, Yorick Berta, Stefanie Borowsky, Tom Dorow, Anna Hantelmann, Lili Hering, Christian Klose, Clarissa Lempp, Elinor Lewy, Michael Meyns, Harald Mühlbeyer, Toni Ohms, Pamela Jahn, Hannes Stein, Eva Szulkowski, Lars Tunçay Texte Kinohighlights: INDIEKINO MAGAZIN und Kinos Grafik: Michael Zettler, Nora Wiesner (Zett Media)

Bildnachweis: Filmbilder/Plakatmotive: Filmverleiher/Filmfestivals Open Screening (S. 4/5): Sputnik Kino, Berlin Ausstellung Sleeping Screens (S. 4/5): Martin Erlenmeier, Bundesplatz Kino, Berlin Indisches Filmfest (S. 4/5): Indisches Filmfest

Akquise/Marketing: Print: Hendrike Bake, info@indiekino.de Online: Michael Spiegel, spiegel@indiekino.de Druck: Bonifatius Druck, Paderborn Auflage: 25.000

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Eine Gewähr für die Richtigkeit der Termine kann nicht übernommen werden. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Ein Nachdruck ist nur mit Genehmigung von Redaktion und Autor und mit Quellenangabe gestattet. Für unverlangt eingesandtes Textmaterial wird keine Haftung übernommen.



Nachbild

ALS WIR TANZTEN ist Levan Gelbakhianis erster Film. Für seine Rolle als Merab, der am Georgischen Nationalballett tanzt und sich in seinen Konkurrenten verliebt, wurde der inzwischen 22-jährige Tänzer weltweit mit

vorschau INDIEKINO im AUGUST

Preisen überhäuft und war als „European Shooting Star“ bei der Berlinale eingeladen. Die Tanzszenen in ALS WIR TANZTEN versprühen eine Energie, die über die Leinwand hinaus fast körperlich spürbar wird (nach dem Film haben wir eine Stunde lang georgische Tanzvideos gegoogelt, aber die wenigsten kamen an die Filmszenen heran). Aber auch wenn er nur dasitzt und zuschaut, ist Gelbkhiani quicklebendig und präsent. Wie Wolkenschatten an einem windigen Tag wandern die Gefühle und Gedanken über sein bewegliches und offenes Gesicht. Niemals scheint er eine Rolle zu spielen. Zum Glück will Gelbakhiani dem Kino wohl erhalten bleiben, zu seinen Lieblingsregisseuren gehören angeblich Lars von Trier und Wes Anderson.

D Auf der Couch in Tunis Palaver D KOKON Berliner Sommerliebe D Master Cheng in Pohjanjoki Kochen in Finnland D TENET Nolan wieder übernatürlich D GIRAFFE Migration, innereuropäisch D THE CLIMB Toxische Buddies D WIR BEIDE Spätes Outing D IL TRADITORE Legendärer Prozess D NUR EIN AUGENBLICK Ins Kriegsgebiet D SOHN DER WEISSEN STUTE Psychedelic-Animation D THE ROADS NOT TAKEN Möglichkeiten D THE KING OF STATEN ISLAND Judd Apatow bittersüß EXIL Deutsches Mobbing SEBASTIAN SPRINGT ÜBER GELÄNDER Lebensphasen D ASPHALT BÖRNING Autokomödie D ASK DR. RUTH Aufklärerin D See der wilden Gänse Stylischer Wuhan-Noir D YALDA Vergebung oder Tod D Be Natural: The Untold Story of Alice Guy-Blaché Die erste Filmemacherin D 30

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