Tatort Franken Nr. 4 | Autor Killen McNeill

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Killen McNeill Gut in der Zeit »Fahr mal raus, Georg.« »Hältst es nimmer aus?« »Nein.« »Wir sind doch gleich daheim. Da tät’s nix kosten.« »Mein Gott, jetzt willst du das Sparen anfangen. Nach den ganzen Einkäufen. Die zwanzig Cent.« »Siebzig.« »Fünfzig kriegt man doch zurück, wenn man etwas kauft.« »Dann dauert’s noch länger.« »Was hast es denn so eilig?« »Wir waren halt so gut in der Zeit.« Autobahnausfahrt Raststätte Steigerwald Süd. Zum Klo vorfahren, Frau aussteigen lassen. Na also. Geht doch. Fast wie früher unterhalten wir uns. Weihnachten ist eine schwierige Zeit, ganz klar. Aber es wird immer besser. Das Schwierigste ist Geschenke einkaufen, wenn man das geschafft hat, dann läuft der Rest fast von alleine. Früher habe ich mir wenig Gedanken darüber gemacht, das meiste hat ja Anita besorgt. Jetzt schreiben wir die Liste gemeinsam, die Liste gibt Halt, es muss nur vorher alles geklärt sein. Dann wird nach Würzburg gefahren, in den Kaufhof, Liste in der Hand, alles nacheinander abgehakt und fertig. Man darf halt nicht darüber nachdenken, wer nicht draufsteht. Das erste Jahr waren wir in Nürnberg, wie früher, das 130


war natürlich eine Katastrophe. Seitdem wir in Würzburg einkaufen, wird es immer besser. Und nun liegen alle Geschenke auf dem Rücksitz. Jetzt müssen wir nur noch Weihnachten selbst hinter uns bringen. »Tock, tock« an der Fensterscheibe. Ich lasse sie he­runter. »Da könner S’ fei net parken, Masster.« Hausmeistertyp mit Schiebermütze. Blaumann, irgendein Logo auf der Brusttasche. Hat wohl was zu sagen. »Mei Frau iss glei wieder da. Sie geht bloß schnell aufs Klo.« »Dess songs alle. Nix gibt’s. Feierwehrzufahrt. Parken S’ do driem.« Der Depp bleibt mit verschränkten Armen stehen und schaut zu. Herrschaftszeiten. Aber drüben ist kein Platz frei. Auch weiter hinten nicht. Verdammt, jetzt bin ich gleich wieder an der Ausfahrt. Da, ein Parkplatz mitten unter verwaisten Lastwagen. Toll. Findet Anita nie. Rückwärts einparken. Auf der anderen Straßenseite, schräg gegenüber Richtung Rasthaus, steht vor einem Auto ein Paar. Ich steige aus und fange an, in der Abenddämmerung zur Toilette zurückzulaufen. Plätscher- und Würgegeräusche, schon lange nicht mehr gehört, aber bestens bekannt aus der Jugendzeit. Von hinter dem Tanzsaal oder vom Heimweg aus dem Wirtshaus. Im Freien, auf jeden Fall, wenn man Glück hatte. Noch schöner, wenn man’s nicht selber war. Ich will nicht hinschauen, ich muss aber an dem Paar vorbei, halt, kein Paar, Vater und Tochter wohl, er ein Riesenkerl, hält sie fest, Fohlentyp, dünne, schlaksige Beine, dreizehn, vierzehn, ein Fuß im Turnschuh, einer ohne, im Strumpf, gebückt, speiend. 131


Igitt. Die jungen Leute heutzutage mit ihrem Komasaufen. Der Vater tut mir leid. Sie schaut zu mir hoch. Sieht elend aus. Die Arme. Plötzlich reißt sie sich los von ihrem Vater und humpelt in ihrem einen Schuh auf mich zu. »Helfen Sie mir, er hat mich entführt, nein, bleiben Sie nicht stehen, laufen Sie weiter, nehmen Sie mich mit, er hat eine Waffe!« Ich bin aber stehen geblieben – wie benommen. In meinem Kopf ist ein lähmendes Restgefühl der Solidarität mit dem vermeintlichen Vater. Ich frage: »Wo ist dein Schuh?« Und schon ist der Mann da. »Entschuldigen Sie, meine Tochter, Sie verstehen, alleinerziehend, ich habe sie von einem Fest abgeholt, furchtbar. Ich kümmere mich um sie.« Breite Schultern, Dreitagebart, rasierte Glatze, sonore Stimme, Machertyp. »Glauben Sie ihm kein Wort, ich habe ihn noch nie gesehen, er hat mich auf dem Heimweg von der Schule abgepasst, hat mich mit irgendwas betäubt und in sein Auto geschleppt.« Der Mann ist ganz schnell, er zieht etwas aus seiner Innentasche, etwas Schwarzes, Glänzendes, es ist tatsächlich eine Pistole. Bevor er sie auf mich richten kann, trete ich ihm instinktiv in die Eier. Im letzten Moment dreht er sich leicht weg, aber ich erwische ihn doch so, dass er aufstöhnt und sich krümmt. Ich bin erschrocken über mich selbst. Das letzte Mal, dass ich den Tritt benutzt habe, war auf dem Realschulpausenhof. »Schnell, gehen wir zu Ihrem Auto«, sagt das Mädchen, während es den Schuh wegschleudert. Sie packt mich am Arm, und wir laufen zurück. Scheiße, wo ist der Schlüssel? Linke Jackentasche, rechte Jackentasche, 132


wieder linke Jackentasche, da ist er, wir steigen ein, ich schnalle mich an, stecke den Schlüssel ein, drehe, der Motor keucht, stirbt, o Gott nicht jetzt, er kommt, wir fahren zur Toilette vor, an dem Typen wieder vorbei, der sich gerade aufrichtet. Ping-Ping macht der Gurtwarner. »Schnall dich bitte an«, sage ich zum Mädchen, es betrachtet mich entsetzt, aber rastet zum Glück seinen Gurt ein. Da kommt seelenruhig meine Frau daher. Ich halte, sie kommt auf die Beifahrerseite zu, sieht das Mädchen da sitzen, bleibt erschrocken stehen, ich lasse das Beifahrerfenster runter. Ich kann mir vorstellen, was Anita durch den Kopf geht, aber ich habe keine Zeit. »Steig ein. Hinten.« Im Rückspiegel sehe ich, wie der Mann auf uns zuläuft. Er fängt an zu rennen. Anita steht da wie versteinert. »Was ist hier los? Spinnst du? Soll das ein Witz sein? Wir nehmen doch nie jemanden mit.« »Steig bitte ein.« Wenn wir nur näher am Rasthaus wären. Wenn nur Leute um uns wären. »Da ist doch gar kein Platz, da sind doch die Geschenke. Wer ist das überhaupt? Was ist hier los? Georg!« Der Mann ist neben ihr. »Sie kommen jetzt mit mir mit«, sagt er, etwas außer Atem, aber ganz ruhig, zu meiner Frau. »Und Sie fahren wieder zurück, dahin, wo Sie Ihr Auto geparkt hatten«, sagt er zu mir durchs Fenster. »Sie rufen niemanden an. Wir fahren dann wohin, wo wir die Damen austauschen. Dann wird alles gut und niemandem passiert etwas.« »Das fällt mir gar nicht ein«, sagt meine Frau, und schon hat er ihr mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen, in ihre Haare gegriffen, ihren Kopf nach 133


unten verdreht, ich habe mich schon abgeschnallt und die Tür geöffnet, aber er hält die Pistole an ihre Wange. »Ganz ruhig. Sie fahren rückwärts«, sagt er zu mir, »wir laufen hinter Ihnen her. Sie laufen vor mir«, zu meiner Frau, »immer schön geradeaus, wir holen mein Auto und fahren los, Sie uns hinterher, und wir machen den Austausch. Los jetzt.« Ich schnalle mich wieder an, lege den Rückwärtsgang ein, Scheinwerfer an, und fahre los. Ich muss mich nach hinten drehen, um zu schauen, wie ich fahre, zwischendurch schaue ich nach vorne in das verängstigte Gesicht meiner Frau. Wenn ich eine Bremsung hinlege, fällt sie als Erste auf meine Haube, ich kann nicht erkennen, ob er die Pistole hält. Das hat sich der Typ gut ausgedacht. »Bitte tauschen Sie mich nicht aus«, sagt das Mädchen. Mein Gott, sieht denn hier niemand, was los ist? Kein Mensch ist unterwegs, und schon sind wir wieder draußen bei den Lastwagen, ich parke genauso wie vorhin rückwärts ein, uns gegenüber schauen Anita und der Typ zu, ein Laster fährt vorbei, versperrt die Sicht auf die zwei, der nächste rollt heran. Als er weg ist, sehe ich, wie der Typ Anita am Arm gepackt hat und zu seinem Auto zerrt, einem schwarzen Mercedes. Er öffnet die Fahrertür und schubst meine Frau hinein. Dann knallt er die Tür zu, zieht die Pistole heraus und läuft vorne um das Auto herum, immer auf meine Frau zielend. Kein Mensch ist in der Nähe, nur wir vier. Er steigt auf der Beifahrerseite ein. Das Auto fährt los, Richtung Autobahn, ich fahre hinterher. Das Letzte, woran das Mädchen sich erinnert, ist, dass sie durch ein ruhiges Viertel in Troisdorf bei Köln heute 134


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