IN MÜNCHEN 05/2022 - Stadtleben, Kultur und Programm von 1.05. bis 31.05.2022

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Redaktion_0522 25.04.2022 14:39 Seite 23

Literatur Lesungen

Wenn die Luft im Raum brennt Ganz große Wort-Magie garantieren diese Lese-Abende. Und fast so viel Nervenkitzel wie ein Fußball-Endspiel

W

as für eine Vorstellung: Sie hat ein Faible für Whisky-Cocktails und alte Sozialdemokratinnen, hat schlechte Backenzähne, Geldprobleme und ein Talent für den Umgang mit Holz. So einfühlsam schräg beschreibt Katharina Adler die Protagonistin ihres neuen Hinterhofromans „Iglhaut“. Es ist eine bunte Hausgemeinschaft, die

Singt und schreibt für die gute Sache: BILLY BRAGG

sich zusammenraufen muss. Mit ihrem Erstling „Ida“ zog die gebürtige Münchnerin Adler viel Lob auf sich. Nun legt sie nach. (Literaturhaus, 2.5.) Billy Bragg ist eines der verbliebenen guten Gewissen Großbritanniens. Und er ist natürlich ein Multitalent. Wer ein Herz hat, schätzt ihn für seine starken Straßenkämpfersongs, die den Schwachen eine Stimme geben. Was noch nicht ganz so weitverbreitet ist: Der Singer-Songwriter, der sich schon immer mit den Mächtigen anlegte, ist auch ein klarer Denker und präziser Chronist. Nun stellt er seine neueste Studie „Die drei Dimensionen der Freiheit“ vor, die völlig zu Recht den Untertitel „Ein politischer Weckruf“ trägt. Bragg erinnert daran, was den Kitt der Gesellschaft ausmachen sollte: Liberalität, Gleichheit und Verantwortlichkeit. Klingt vage vertraut? Eben, Hirnkastl durchblasen lassen! (Muffatwerk, 4.5.) Stewart O’Nan ist einer der meistgelesenen Autoren der USA. Und das auch, weil er besonders genau hinsieht und sich dem Klischee verweigert. Oberflächlich könnte man seinen neuen Roman, den er im Gepäck hat, für einen Krimi halten. Klar: „Ocean State“ er-

HÖRBUCH

Paul ain’t dead — He did it again. Paul Temple. Die Urgroßmutter aller Hörspielserien switcht in den Comeback-Modus. Klare Extraleben-Ansage für das Vermächtnis des olldollen Cliffhangerfabrikanten Francis Durbridge: Der Fall Valentine. Produziert nach dem neu übersetzten 46er-Originalskript. Wie fast immer klopft Scotland-Yard-Schnarchi Graham Forbes bei snobby Krimi- und Privat-Eye-Star Paul Temple. Zehn rätselhafte Lady-Suizide dopen die Gazettenauflagen. Paul trarat wegen seiner Krimi-Deadline. Dann steigt er doch herab vom Elfenbein möblierten Olymp und zeigt den Londoner BrainSchotten, wo bei Sherlock 2.0 die Lupe hängt. Der Neumach einer Temple-Episode ist eine Hardboiled-Challenge, eine Mission No-Go, quasi Absaufen mit Ansage. Bei der Krautserie sogar noch mehr. René „the Hexer“ Deltgen als Paul Temple und Annemarie Cordes als seine First Lady Steve waren ein epochemarkerndes Radiomagnetduo von 1949 bis 1962. Quasi in der Straßenfegerliga von Pierre Brice und Lex Barker. Während die MarathonSteve des BBC, Marjorie Westbury (aktiv 1945-1968), so teetantchenhaft und frisurvolumenaffin stimmfächelte wie ihre genausoviele Dienstjahre runtertippselnde 00742

Kennt sich mit Familiengeistern aus: FATMA AYDEMIR

zählt von einer Schülerin, die von einer Mitschülerin ermordet wurde. Die Fakten liegen auf dem Tisch. Doch O’Nan bohrt dann doch viel tiefer. (Literaturhaus, 4.5.) Einen Familienroman von metaphysischer Wucht hat Fatma Aydemir geschrieben. Sie erzählt von Vater Hüseyin, der nach 30 Jahren im kalten Deutschland endlich wieder in seine Heimatstadt Istanbul zieht. Und dort stirbt er. Die Verwandtschaft reist an. Sechs sehr verschieden tickende Menschen, die nur noch das zufällige Band von Familie zusammenhält. Sie versammeln sich zur Totenwache, lassen die titelgebenden „Dschinns“ den Raum durchstreifen. Es wird unheimlich. Weil die Geschichten schon lange nicht mehr zusammenpassen. (Literaturhaus, 9.5.) Eine magische Aura geht auch vom Tischchen aus, an das sich Klaus Maria Brandauer setzt. Er muss nur zu sprechen beginnen, schon flirrt Energie im Raum. Wie einst im „Mephisto“-Film gelingt es ihm immer wieder, das Publi-

Kollegin Lois Maxwell (Miss Moneypenny 1962-1985)aussah, veredelte Annemarie Cordes als krautspeaking Steve die Rolle zwar angemessen spießig, aber doch um Funkturmlängen emmapeeliger. Nach einem skrupellos verhunzten Pseudo-Parodie-Fake-Remake von WDR und SWR (Fall Gregory, 2014), angelte sich nun die Pixar-Gang gleich drei verschollene Fälle, die alle 2022 einchecken. Sure, es gibt nur einen René Deltgen und eine Annemarie Cordes. Da kann man sich worshiplevelmäßig bestenfalls annähern. Aber zumindest Herbert Hennies als „Okay“-abgewöhn-resistenter Kult-Charlie bekam mit Klaus Krückemeyer ein mehr als okayes Update. NeuPaul kommt dezent, aber solide; NeuSteve okay, obgleich etwas jung und stellenweise arg um Steveness bemüht. Der achtteilige Plot galoppiert wild und laut. Showdown und Auflösung hätten etwas mehr Raum verdient. Und das Making-Of im Booklet entlockt noch dem schlimmsten Temple-Gschaftler ein nachhaltiges „okay!“ Thumbs JO N N Y RIE D E R up.

Francis Durbridge: Paul Temple und der Fall Valentine . Hörspiel von Antonio Fernandes Lopes (Regie) und Georg Pagitz (Übersetzung/Bearbeitung) mit Katja Keßler (Steve), Matthias Kiel (Paul), Klaus Krückemeyer (Charlie), Walter von Hauff (Sir Graham) u. v. a., HNYWOOD 2022, 1 mp3-CD, ca. 4 Std., pidax-film.de

kum in seinen Bann zu schlagen. Ja sogar zu hypnotisieren. Die Texte der Lesung tun das Ihre dazu: Brandauer trägt Erinnerungstexte des großen spanischen Filmemachers und Surrealisten Luis Buñuel vor. Wow! (Prinzregententheater, 11.5.) Es brennt die Luft, wenn Martin Suter und Bastian Schweinsteiger auflaufen. Der große elegante Schweizer hat sich selbst eine Aufgabe abverlangt: In der Biografie „Einer von Euch“ nähert er sich nicht nur dem WM-Star an, sondern auch dem Fußball, der ihm zuvor wenig sagte. Über die gemeinsame Arbeit sind die beiden so etwas wie Team-Kameraden, wenn nicht sogar Freunde geworden. Angekündigt wird eine Lesung „wie ein WM-Endspiel“, mit Talk-Elementen und moderiert von Ex-„Sportschau“-Mann Matthias Opdenhövel. (HP8, Isarphilharmonie, 17.5.) Von der Magie des Spiels der Spiele versteht natürlich auch Andreas Bernard eine ganze Menge. „Wir gingen raus und spielten Fußball“ erzählt von einer Kicker-Kindheit in München – in den 70er und 80er Jahren. Ganz nebenbei, aber vor allem in erster Linie ist das große Literatur. (Stadion an der Schleißheimerstraße, 17.5.) Einen Höhepunkt hat dann schließlich auch noch das weiter laufende Krimifestival zu bieten: Martin Walker, der im Périgord lebende und genießende Schotte, ist ein gern gesehener Gast in der mordlustigen Stadt. Er stellt seinen neuen Polizeichef-Bruno-Roman vor. Dabei holt sich der Ermittler diesmal Schützenhilfe aus der Prähistorie. Im Museum erfährt man mehr, welche spannenden Geschichten sich aus Knochenfunden herauslesen lassen können. Man lernt nie aus. (Hugendubel Stachus, 28.5.) Und zum Schluss hat sich noch ein richtiges Krimischwergewicht angekündigt: Don Winslow wird aus dem ersten Band seiner „City On Fire“-Trilogie lesen, nach einer Twitter-Meldung sind das die letzten Werke des Autors vor dem Ruhestand. Angekündigt ist ein grandioser Thriller über Loyalität, Betrug, Ehre und Korruption auf beiden Seiten des Gesetzes. Moderation: Anette Lippert. (Substanz, 29.5.)

rupert sommer


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