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LITERATUR
Wenn die Luft im Raum brennt
Ganz große Wort-Magie garantieren diese Lese-Abende. Und fast so viel Nervenkitzel wie ein Fußball-Endspiel
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Kennt sich mit Familiengeistern aus: FATMA AYDEMIR
Was für eine Vorstellung: Sie hat ein Faible für Whisky-Cocktails und alte Sozialdemokratinnen, hat schlechte Backenzähne, Geldprobleme und ein Talent für den Umgang mit Holz. So einfühlsam schräg beschreibt Katharina Adler die Protagonistin ihres neuen Hinterhofromans „Iglhaut“. Es ist eine bunte Hausgemeinschaft, die
Singt und schreibt für die gute Sache: BILLY BRAGG
sich zusammenraufen muss. Mit ihrem Erstling „Ida“ zog die gebürtige Münchnerin Adler viel Lob auf sich. Nun legt sie nach. (Literaturhaus, 2.5.)
Billy Bragg ist eines der verbliebenen guten Gewissen Großbritanniens. Und er ist natürlich ein Multitalent. Wer ein Herz hat, schätzt ihn für seine starken Straßenkämpfersongs, die den Schwachen eine Stimme geben. Was noch nicht ganz so weitverbreitet ist: Der Singer-Songwriter, der sich schon immer mit den Mächtigen anlegte, ist auch ein klarer Denker und präziser Chronist. Nun stellt er seine neueste Studie „Die drei Dimensionen der Freiheit“ vor, die völlig zu Recht den Untertitel „Ein politischer Weckruf“ trägt. Bragg erinnert daran, was den Kitt der Gesellschaft ausmachen sollte: Liberalität, Gleichheit und Verantwortlichkeit. Klingt vage vertraut? Eben, Hirnkastl durchblasen lassen! (Muffatwerk, 4.5.)
Stewart O’Nan ist einer der meistgelesenen Autoren der USA. Und das auch, weil er besonders genau hinsieht und sich dem Klischee verweigert. Oberflächlich könnte man seinen neuen Roman, den er im Gepäck hat, für einen Krimi halten. Klar: „Ocean State“ erzählt von einer Schülerin, die von einer Mitschülerin ermordet wurde. Die Fakten liegen auf dem Tisch. Doch O’Nan bohrt dann doch viel tiefer. (Literaturhaus, 4.5.)
Einen Familienroman von metaphysischer Wucht hat Fatma Aydemir geschrieben. Sie erzählt von Vater Hüseyin, der nach 30 Jahren im kalten Deutschland endlich wieder in seine Heimatstadt Istanbul zieht. Und dort stirbt er. Die Verwandtschaft reist an. Sechs sehr verschieden tickende Menschen, die nur noch das zufällige Band von Familie zusammenhält. Sie versammeln sich zur Totenwache, lassen die titelgebenden „Dschinns“ den Raum durchstreifen. Es wird unheimlich. Weil die Geschichten schon lange nicht mehr zusammenpassen. (Literaturhaus, 9.5.)
Eine magische Aura geht auch vom Tischchen aus, an das sich Klaus Maria Brandauer setzt. Er muss nur zu sprechen beginnen, schon flirrt Energie im Raum. Wie einst im „Mephisto“-Film gelingt es ihm immer wieder, das Publi-
HÖRBUCH
Paul ain’t dead
— He did it again. Paul Temple. Die Urgroßmutter aller Hörspielserien switcht in den Comeback-Modus. Klare Extraleben-Ansage für das Vermächtnis des olldollen Cliffhangerfabrikanten Francis Durbridge: Der Fall Valentine. Produziert nach dem neu übersetzten 46er-Originalskript. Wie fast immer klopft Scotland-Yard-Schnarchi Graham Forbes bei snobby Krimi- und Privat-Eye-Star Paul Temple. Zehn rätselhafte Lady-Suizide dopen die Gazettenauflagen. Paul trarat wegen seiner Krimi-Deadline. Dann steigt er doch herab vom Elfenbein möblierten Olymp und zeigt den Londoner BrainSchotten, wo bei Sherlock 2.0 die Lupe hängt. Der Neumach einer Temple-Episode ist eine Hardboiled-Challenge, eine Mission No-Go, quasi Absaufen mit Ansage. Bei der Krautserie sogar noch mehr. René „the Hexer“ Deltgen als Paul Temple und Annemarie Cordes als seine First Lady Steve waren ein epochemarkerndes Radiomagnetduo von 1949 bis 1962. Quasi in der Straßenfegerliga von Pierre Brice und Lex Barker. Während die MarathonSteve des BBC, Marjorie Westbury (aktiv 1945-1968), so teetantchenhaft und frisurvolumenaffin stimmfächelte wie ihre genausoviele Dienstjahre runtertippselnde 007Kollegin Lois Maxwell (Miss Moneypenny 1962-1985)aussah, veredelte Annemarie Cordes als krautspeaking Steve die Rolle zwar angemessen spießig, aber doch um Funkturmlängen emmapeeliger. Nach einem skrupellos verhunzten Pseudo-Parodie-Fake-Remake von WDR und SWR (Fall Gregory, 2014), angelte sich nun die Pixar-Gang gleich drei verschollene Fälle, die alle 2022 einchecken. Sure, es gibt nur einen René Deltgen und eine Annemarie Cordes. Da kann man sich worshiplevelmäßig bestenfalls annähern. Aber zumindest Herbert Hennies als „Okay“-abgewöhn-resistenter Kult-Charlie bekam mit Klaus Krückemeyer ein mehr als okayes Update. NeuPaul kommt dezent, aber solide; NeuSteve okay, obgleich etwas jung und stellenweise arg um Steveness bemüht. Der achtteilige Plot galoppiert wild und laut. Showdown und Auflösung hätten etwas mehr Raum verdient. Und das Making-Of im Booklet entlockt noch dem schlimmsten Temple-Gschaftler ein nachhaltiges „okay!“ Thumbs up. JONNY RIEDER
Francis Durbridge: Paul Temple und der Fall Valentine. Hörspiel von Antonio Fernandes Lopes (Regie) und Georg Pagitz (Übersetzung/Bearbeitung) mit Katja Keßler (Steve), Matthias Kiel (Paul), Klaus Krückemeyer (Charlie), Walter von Hauff (Sir Graham) u. v. a., HNYWOOD 2022, 1 mp3-CD, ca. 4 Std., pidax-film.de
kum in seinen Bann zu schlagen. Ja sogar zu hypnotisieren. Die Texte der Lesung tun das Ihre dazu: Brandauer trägt Erinnerungstexte des großen spanischen Filmemachers und Surrealisten Luis Buñuel vor. Wow! (Prinzregententheater, 11.5.)
Es brennt die Luft, wenn Martin Suter und Bastian Schweinsteiger auflaufen. Der große elegante Schweizer hat sich selbst eine Aufgabe abverlangt: In der Biografie „Einer von Euch“ nähert er sich nicht nur dem WM-Star an, sondern auch dem Fußball, der ihm zuvor wenig sagte. Über die gemeinsame Arbeit sind die beiden so etwas wie Team-Kameraden, wenn nicht sogar Freunde geworden. Angekündigt wird eine Lesung „wie ein WM-Endspiel“, mit Talk-Elementen und moderiert von Ex-„Sportschau“-Mann Matthias Opdenhövel. (HP8, Isarphilharmonie, 17.5.)
Von der Magie des Spiels der Spiele versteht natürlich auch Andreas Bernard eine ganze Menge. „Wir gingen raus und spielten Fußball“ erzählt von einer Kicker-Kindheit in München – in den 70er und 80er Jahren. Ganz nebenbei, aber vor allem in erster Linie ist das große Literatur. (Stadion an der Schleißheimerstraße, 17.5.)
Einen Höhepunkt hat dann schließlich auch noch das weiter laufende Krimifestival zu bieten: Martin Walker, der im Périgord lebende und genießende Schotte, ist ein gern gesehener Gast in der mordlustigen Stadt. Er stellt seinen neuen Polizeichef-Bruno-Roman vor. Dabei holt sich der Ermittler diesmal Schützenhilfe aus der Prähistorie. Im Museum erfährt man mehr, welche spannenden Geschichten sich aus Knochenfunden herauslesen lassen können. Man lernt nie aus. (Hugendubel Stachus, 28.5.)
Und zum Schluss hat sich noch ein richtiges Krimischwergewicht angekündigt: Don Winslow wird aus dem ersten Band seiner „City On Fire“-Trilogie lesen, nach einer Twitter-Meldung sind das die letzten Werke des Autors vor dem Ruhestand. Angekündigt ist ein grandioser Thriller über Loyalität, Betrug, Ehre und Korruption auf beiden Seiten des Gesetzes. Moderation: Anette Lippert. (Substanz, 29.5.) rupert sommer
PHILIPP WINKLER
Creep
(Aufbau) Schon mal im Darknet unterwegs gewesen? Macht nix, Philipp Winkler hat das anscheinend bei der Recherche für seinen neuen Roman für die Leser übernommen, so detailliert und schockierend ist die Ansammlung menschlicher Perversionen in Threads, Communities und Links geschildert, deren Türen sich durch den Tor-Browser öffnen. Fanni arbeitet in einer Überwachungsanlagen-Firma und ist süchtig nach der voyeuristischen Nähe zu einer Kundenfamilie; Junya in Japan ist ein „Hikikomori“, der sein Zimmer nur nachts verlässt, um in Häuser einzubrechen, bei laufender GoPro mit einem Hammer auf schlafende Menschen einzuschlagen und anschließend die Videos ins Darknet stellt. Auch Fanni hat in ihrer Jugend Erfahrung mit Gewaltvideos gemacht – ist hier ihre fast aseptische digitale Isolation begründet? Einen „Blick ins dunkle Herz der Hypermoderne“ betitelt der Verlag Winklers parallel und spannend erzählte Charakter- und Gesellschaftsstudie von einer Welt von Morgen, die heute zum Teil schon aktuell ist. Und ziemlich beängstigend, wenn man bedenkt, wer sich da im Netz tummelt und unter uns lebt.
RAINER GERMANN
MICHAEL BULGAKOW
Der Meister und Margarita
(Anaconda) Des Teufels. In der Frühlingshitze kurz vor Sonnenuntergang sitzen Berlioz, Vorsitzender des Moskauer Schrift- stellerverbands MassLit und der junge Dichter Besdomny im Schatten frisch ergrünter Linden am Patriarchenteich, trinken Aprikosensprudel und diskutieren über Jesus Christus. Den hat’s doch nie gegeben, alles nur Fiktion, Mythos … Da gesellt sich ein Fremder zu ihnen, verwickelt sie in ein Gespräch über Gott, Kant, Gut und Böse, stellt sich vor als „Spezialist für Schwarze Magie“ – und erzählt von Pontius Pilatus, (der zu feige war, den pazifistischen Wanderprediger Jeschua freizusprechen) so, als wäre er dabei gewesen. Das ist nur der Anfang einer großartigen Groteske, die im Moskau der 1930er spielt: Wo jeder jeden verdächtigt, unbegreifliche Dinge geschehen, Menschen verschwinden, der sicherste Ort für den „Meister“, einen Schriftsteller, der sich der Wahrheit verpflichtet fühlt, das Irrenhaus ist … wo der Teufel die Stadt aufmischt und Margarita, die frühere Geliebte des „Meisters“, in eine Hexe verwandelt, um die beiden wieder zu vereinen. Alexandra Berlina hat Michael Bulgakows in der Sowjetunion lange verbotenes Meisterwerk, das in den 1980er und 1990ern weltweit Kultstatus errang, jetzt neu übersetzt. Fantastisch!
HERMANN BARTH
WOLFRAM HIRCHE
Spottlichter
(p. machinery) Paul Heyse, der sich nach seiner Lieblingsunterführung benannte, weil er dort seinen ärztlich empfohlenen Jahresbedarf an Feinstaub und CO2 zackig abgreifen konnte – eine Durchfahrt auf dem Fahrrad genügte – war ansonsten ein ziemlicher Schnarchprovider. Folglich hat Subway-Paul nur einen nebensätzlichen Auftritt in diesen staubfreien 87 Spottlichtern (20102021), die Wolfram Hirche für die ganzjährig monatlich vorbeischneienden Literaturseiten München kolumniert hat. Hier gehts um das neodadaeske Abclashen zweier Planeten, die gerne Sicherheitsabstand zueinander einhalten: Gesellschaft und Literatur. Beide überschätzen ihre Fuckability ungemein. So kommen Hirches vorgetäuschte Paarungen umso harryundsallyger. Oh ja! In „Jesus-Nights“ (oh ja, auch die Bibel ist Literatur, wenngleich eindeutig Schundliteratur - gemäß oldschooligem E-U-Klassismus) checkt Hirche (coolsprich: „Hörtschi“) erinnernd an die damalige „Fuck-up-Nights“-Wave, wie sich Jesus als Start-upler geschlagen hätte: „Jesus zeigte als Juniorchef alles, was ein Erfolgsmensch braucht, sparte nicht an Wundern und Dämonen-Aus - treibungen, gewann jede Menge Follower.“ Der Hipster aus Nazareth als role model für die künftigen Kapitalismuskapitäne. Smells like Spottspirit.
JONNY RIEDER
CHLOÉ DELAUME
Das synthetische Herz
(Liebeskind) Adélaide gibt sich keinen Illusionen hin. Dafür ist die patente Pressefrau eines Pariser Literaturverlags zu sehr Profi. Es gibt statistisch gesehen mehr Frauen als Männer. Und die gerne dann doch so schnell dickwanstigen, oft unerträglichen und schnell verlotterten vermeintlichen Herren der Schöpfung sterben in der Regel ja auch deutlich schneller. Beziehungsmathematisch gesehen sind das nicht die besten Ausgangsbedingungen, nach einer langen, zuletzt arg enervierenden Beziehungsödnis die Karten noch einmal komplett neu zu mischen. Doch jedem Neuanfang wohnt bekanntlich ein Zauber inne – warum nicht auch mit fast 50? Dumm nur, dass Adélaide, geschult an vielen Liebesromanzen, die tagtäglich über ihren Schreibtisch gehen, vielleicht ein wenig zu sehr aufs Gas drückt. Sie stürzt sich ins Pariser Nachtleben. Und landet doch viel zu oft allein mit viel zu schwerem Alkohol am Tresen. Oder gleich wieder zuhause beim Kätzchen. Elektronische Flirthilfen lehnt sie ab. Eher schon könnten die tollen, irren Freundinnen mit sinnlichen Beschwörungsritualen helfen. Dem Direktzug zu einem klebrigen Happy End verweigert sich der Roman natürlich. Dafür hält er sich mit allerlei Boshaftigkeiten, großartigem schwarzen Großstadthumor und Satiresticheleien gegen die Eitelkeiten der Kunst-Elite, gegen die Medienmacher und natürlich die vielen lächerlichen Labersäcke auf. Macht Mut, tut gut!
RUPERT SOMMER
VERLOSUNG: Julia Engelmann
Am 14. Mai in der Kleinen Olympiahalle
Die in Elmshorn geborene Wortakrobatin ist ein absolutes Multitalent. Sie ist Dichterin, Musikerin, Schauspielerin und Deutschlands berühmteste Poetry-Slammerin, außerdem sechsfache Spiegel-Besteller-Autorin und die Stimme ihrer Generation. Weit über 170 000 Besucher konnte sie bereits mit ihrem „engelmannschen“ Wortzauber sprichwörtlich in den Bann ziehen. Nun kommt die 28jährige Vollzeitpoetin mit neuer Poesie und Musik unter dem Titel „Glücksverkatert“ auf große Live-Tour durch Deutschland und präsentiert ihr neuestes Buch „Lass mal an uns selber glauben: Meine schönsten Gedichte”.
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